Die Wissensformen und die Gesellschaft - Max Scheler - E-Book

Die Wissensformen und die Gesellschaft E-Book

Max Scheler

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Beschreibung

Scheler entwickelte in seinen Schriften – ausgehend von der Phänomenologie Husserls – eine umfassende philosophisch-soziologische Anthropologie. Sein am stärksten soziologisches Werk – durch das er als Mitbegründer der Wissenssoziologie gilt – ist das 1926 erschienene Buch 'Die Wissensformen und die Gesellschaft', welches seine soziologischen Studien zusammenfasst, die er seit dem Ersten Weltkrieg betrieben hatte.

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Impressum.

Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2013 ISBN: 978-3-934616-64-6 www.heptagon.de

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Das Buch, das ich unter dem Titel »Die Wissensformen und die Gesellschaft« der Öffentlichkeit übergebe, enthält einen wesentlichen Teil der Ergebnisse meiner soziologischen und erkenntnistheoretischen Forschungen in den letzten zehn Jahren. Die gleichzeitige Aufnahme einer wissenssoziologischen Abhandlung und einer ausgedehnten erkenntnistheoretischen und ontologischen Arbeit in ein und dasselbe Werk könnte auf den ersten Blick Verwunderung erregen. Sie hat ihren tieferen Grund in der mich leitenden prinzipiellen Überzeugung, daß erkenntnistheoretische Untersuchungen ohne gleichzeitige Erforschung der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der obersten Typen menschlichen Wissens und Erkennens zu Leere und Unfruchtbarkeit verurteilt sind; eine Entwicklungslehre und Soziologie des menschlichen Wissens aber – wie sie in ausgedehnter Weise zuerst Condorcet und Comte versuchten – richtungs- und haltlos und ohne letztes Fundament bleiben muß, wenn nicht klar bewußte erkenntnistheoretisch sachliche Überzeugungen das Unternehmen führen. Nicht die menschliche »Vernunft« ihrem formalsten Wesen nach, die den »Menschen« mitdefiniert, wohl aber das, was man ihre »Organisation« und ihr subjektiv-kategoriales Gefüge zu nennen pflegt, befindet sich im Werden und in einer Entwicklung, die wahrscheinlich Wachstum und Verlust zugleich ist. Eine absolute geschichtliche Konstanz »menschlicher« Vernunftformen und -prinzipien, die der größte Teil aller bisherigen Erkenntnistheorie als unwandelbaren Gegenstand ihrer Forschung naiv vorausgesetzt hat, ist nach der in diesem Buche vertretenen Ansicht ein Idol.

Die beiden größeren Abhandlungen des Bandes, »Probleme einer Soziologie des Wissens« und »Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt«, stehen also im Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung zueinander, und zwar in dem Sinne, daß sie – obzwar streng methodisch unabhängig voneinander unternommen und ausgeführt – zu denselben Resultaten hin frei und ungezwungen konvergieren. Eben in dieser »freien Konvergenz«, unter gegenseitigen Bestätigungen und Verifizierungen ihrer Resultate über die »Formen des menschlichen Wissens« und die Gesetze des Erkennens in diesen Formen, erblickt der Verfasser den Hauptwert seiner Untersuchungen und die Bekräftigung der Wahrheit seiner Grundlehren.

Solche Konvergenz ergibt sich im besonderen Maße da, wo es sich um die genaue Bestimmung der Bedeutung handelt, welche die praktisch-technische Einstellung des Menschen europäischer Neuzeit auf Beherrschung der Welt (im Gegensatz zu rein theoretischer, liebend-kontemplativer Grundeinstellung) für die Ausbildung schon der eigenartigen Ausgangspunkte, der Ziele und der kategorialen Formen seines Welterkennens besaß und zum Teil noch besitzt. Unser Zeitalter – zum erstenmal in der bisherigen Geschichte der sog. Neuzeit – erteilt uns durch die gewaltig gewachsenen Vergleichsmöglichkeiten der Wissenskulturen und Erkenntnisformen der Volker und Zeitalter, und nicht minder kraft der tiefgehenden Erschütterungen fast aller Grundlagen des neuzeitlichen Weltbildes, die volle und souveräne Freiheit und die genügende Distanz, ein neues Wort über die Entwicklungsgesetze des menschlichen Wissens und seiner Formen zu wagen: ein Wort zugleich, das wesentlich andere Zukunftsperspektiven für die Weiterentwicklung unseres ganzen theoretischen Weltbildes in Philosophie und Wissenschaft eröffnet, als die Ganz- und Halbformen der positivistischen und kritizistischen philosophischen und entwicklungstheoretischen Lehren uns gegeben hatten und von ihren Voraussetzungen aus geben mußten. Eine eigentliche umfassende Entwicklungslehre des menschlichen Wissens hatte hierbei – und das ist ihr großer Vorzug – bisher nur die Philosophie des positivistischen Gedankenkreises (von Condorcet, A. Comte, H. Spencer bis E. Mach, E. Durkheim und L. Lévy-Bruhl) gegeben. Die deutsche Philosophie, insoweit sie an Kant insbesondere orientiert war, blieb auf diesem Boden, im ganzen gesehen, unfruchtbar.1 Trotz allen bisherigen kritischen Versuchen, z.B. über Comtes »Dreistadiengesetz«, hat keine Lehre auf die europäische Bildung suggestiver eingewirkt als die positivistische. Sie war – offen ausgesprochen oder verschwiegen – geradezu ein Grundartikel der Überzeugung des wissenschaftlich Gebildeten unseres Zeitalters. Eben diese Lehre wird durch dieses Buch nicht nur streng widerlegt, indem ihre vielfachen Irrtumsquellen aufgedeckt werden; sie wird zugleich auf positive Weise ersetzt durch ein neues, völlig anders gestaltetes Bild der Entwicklung, in welchem das, was Comte als die Grundrichtung der Entwicklung menschlichen Wissens erschienen ist, nur als eine partikulare, in manchen Hinsichten sogar rückläufige Nebenrichtung des westeuropäischen Denkens auf einem kleinen Kurvenstuck der weltgeschichtlichen Wissensbewegung erscheint. Die Ursachen dieser rückläufigen Nebenrichtung, insbesondere die Ursachen für das zeitweilige Zurücktreten der metaphysischen Erkenntnisversuche zugunsten der positiven Wissenschaften einerseits, der kirchlichen Restaurationen anderseits werden genau aufgewiesen.

Die »Soziologie des Wissens« ist in ihrem ersten Teile, der »Wesen und Ordnung der geschichtlichen Kausalfaktoren« behandelt, zugleich aber der erste positive Versuch, die Einseitigkeiten und prinzipiellen Irrtümer sowohl der naturalistischen Geschichtslehren, voran des Ökonomismus von Karl Marx, als auch der ideologischen und scientifistischen Geschichtsauffassungen (Hegel und Comte) prinzipiell zu überwinden. Das hier entwickelte Grundgesetz der zeitlich und nach Epochen der Kultur wechselnden Arten des Zusammenspiels der geistig-ideenhaften und der triebhaft-realen Determinations- und Wirkfaktoren des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens wird in der ihrem Abschluß entgegengehenden »Anthropologie« des Verfassers (insbesondere in dem Teile, der von der Psychologie des Alterns handelt) eine noch tiefere Fundierung erhalten, als sie in diesem Rahmen zu geben möglich war.

Beide größeren Abhandlungen aber haben im Zusammenhange der Veröffentlichungen des Verfassers und seiner geistigen Entwicklung – unabhängig von ihrem Eigenwert für die speziellen Gegenstände, die sie behandeln – den gewichtigen Sinn, ein Eingangstor zu eröffnen für streng methodisches metaphysisches Erkennen und Denken. Dieser Denkart eine freie Bahn zu brechen – gegen Mystik, Obskurantismus aller Art und Positivismus zugleich – ist eines der Hauptziele dieses Buches. Erst in zweiter Linie ist das Buch auch eine Einleitung in die Metaphysik des Verfassers, wie sie in tiefreichenden Erschütterungen insbesondere seiner religiösen Gedankenwelt in den letzten fünf Jahren in ihm langsam zur Reife und zur Klarheit gekommen ist. Sowohl der historisch-soziologische Versuch, die metaphysische Erkenntnisart und ihre Methodik als eine geschichtlich »überlebte« Stufe des menschlichen Geistes darzutun (Comte, Spencer, Dilthey u.a.), als auch die erkenntnistheoretischen Versuche, unser Erkennen einzubannen in die sog. »Grenzen möglicher Erfahrung, Beobachtung und Messung«, sind eben durch die beiden größeren Arbeiten dieses Buches vom Verfasser als streng widerlegt erachtet. Die hier nur nach der prinzipiellen Seite ausgeführte Logik, Erkenntnistheorie und – das wichtigste – Erkenntnistechnik der philosophischen Metaphysik selbst wird im ersten Bande der Metaphysik des Verfassers, der sich ausschließlich mit Wesen und Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis beschäftigt, eine weit eingehendere gründliche Durchführung im einzelnen finden. Man wird die Metaphysik des Verfassers nur verstehen, wenn man dieses Buch gelesen hat. Auch die im Texte dieses Bandes einmal als Teil des Buches selbst genannte Abhandlung »Soziologie der dinglichen Vergottung des Stifters«, welche einige Andeutungen in der »Soziologie des Wissens« breit zu fundieren bestimmt ist, hat die indirekte Nebenbedeutung, das Daseinsrecht der Metaphysik gegen die sie eng begrenzenden und zugleich erstarrenden Ansprüche der Offenbarungskirchen neu zu begründen; ist doch die »dingliche Vergottung des Stifters« (oder seiner Lehre, z.B. Koran) überall, wo sich Kirchen- und Dogmenbildung in der Geschichte abspielte, der primäre Grundvorgang, sozusagen die prima causa des ganzen Prozesses, d.h. des Prozesses, der auch im Abendlande das selbständige metaphysische Erkennen und Denken noch weit tiefgehender und machtvoller untergraben hat als selbst die Theorie und die einseitige, ja zeitweise fast ausschließliche Praxis einer nur positivistisch-pragmatischen Arbeits- und Leistungswissenschaft. Der Aufsatz konnte indes in diesen Band nicht mehr aufgenommen werden, da sein Umfang für das Werk zu groß wurde. Er wird daher an anderer Stelle veröffentlicht werden.

Wie also einerseits das hier vorliegende Buch eine »Einleitung« sein soll für die Metaphysik des Verfassers und eine Rechtfertigung ihres Unternehmens und insofern auf die Zukunft deutet, so deutet es andrerseits auf ältere Arbeiten des Verfassers zurück, die demselben Problemkreis angehören. Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich über alles zu unterrichten, was der Verfasser über die Probleme dieses Bandes früher gesagt hat, sei auf das folgende verwiesen:

1. Der Vortrag »Die Formen des Wissens und die Bildung« (Bonn 1925) fundiert die Lehre von den »Wissensarten« tiefer, die der Verfasser auch in den vorliegenden Arbeiten gibt. Er bringt sie zugleich in enge Verbindung mit der Idee und dem Prozesse der Menschenbildung, gibt auch auf die Anthropologie und Metaphysik des Verfassers schon einige vordeutende Hinweise.

2. Die Abhandlungen »Über die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens« und die Aufgaben einer Soziologie der Erkenntnis (Das Dreistadiengesetz des Auguste Comte) und »Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung« (beide enthalten in »Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre« I, Leipzig 1923) sind Vorarbeiten zur Soziologie des Wissens, die einige Punkte genauer behandeln, als es im Rahmen des vorliegenden Bandes möglich war.

3. Wie die »Arbeit« in diesem Bande untersucht wird nach dem Maße ihrer Gestaltungskraft für die Welterkenntnis, so hat Bd. 3 der »Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre« (Leipzig 1924) die Arbeit in ihrer Stellung im Reich der Werte genauer ins Auge gefaßt (vgl. ferner hierzu die Abhandlung »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen« in »Vom Umsturz der Werte« und die Schrift »Die Ursachen des Deutschenhasses«). Nur zusammengenommen mit dem vorliegenden Buche geben diese Aufsätze das Ganze der »Philosophie der Arbeit« des Verfassers. –

Die »Probleme einer Soziologie des Wissens« betitelte Abhandlung war zuerst als einleitender Teil des im Auftrag des Kölner Forschungsinstitutes für Sozialwissenschaften erschienenen Sammelwerkes »Versuche zu einer Soziologie des Wissens« (München 1924) erschienen. Da ein Sonderdruck vom Autor vertraglich nicht zugelassen, aber von vielen Seiten lebhaft gewünscht wurde, erscheint die Abhandlung neu in diesem Bande. Sie ist dabei nicht nur durchgesehen und vielfach stilistisch verbessert worden, sondern auch recht erheblich (um ca. ein Drittel) erweitert und ergänzt worden. Die Lehre von der »Logik der Klassen« z.B. ist ganz neu hinzugefügt.

Die zweite Abhandlung »Erkenntnis und Arbeit« wird hier zuerst veröffentlicht. Sie löst ein Versprechen ein, das der Verfasser schon vor Jahren gegeben hatte. Sie möchte an erster Stelle das Wahre vom Falschen innerhalb der vielförmigen philosophischen Gedankenbewegung des sog. Pragmatismus genau scheiden. Der Verfasser weiß sich dabei im scharfen Gegensatze ebenso zur pragmatistischen Philosophie jeder Art, wie zu aller einseitigen unbedachten Verwerfung, die der Pragmatismus, auch in seiner methodischen Bedeutung für die exakten Wissenschaften, besonders in Deutschland bisher gefunden hat. Die Abhandlung gibt zweitens eine eingehende Lehre von den faktischen und möglichen philosophischen Deutungen der mechanischen Naturlehre und eine genau abgewogene Entscheidung in diesen zentralen Fragen der Naturphilosophie. Das Stück über die Arten der Naturerkenntnis ist auch für die Erkenntnistheorie der Metaphysik von erheblicher Bedeutung. Die Abhandlung gibt drittens die Grundlegung einer Philosophie der Wahrnehmung, der Phantasietätigkeit und des Realitätserlebnisses, die gleichfalls für die Erkenntnistheorie der Metaphysik von entscheidender Bedeutung ist. Daß der Verfasser das in diesen Teilen Gegebene nur zu finden vermochte auf dem breiten Boden der Leistungen der gerade für die philosophischen Fundamentalprobleme so fruchtbaren neueren deutschen experimentellen Psychologie, wird der Kundige sofort bemerken. Leider konnte der Verfasser die für die Philosophie der Wahrnehmung und des Realitätsbewußtseins sehr wichtige Arbeit von David Katz »Der Aufbau der Tastwelt« (Leipzig 1925) nicht mehr berücksichtigen. Nicht weniger wird der Kundige das enge Band bemerken, das dem Verfasser mit den Arbeiten seiner medizinischen Freunde aus der jugendkräftig emporstrebenden Psychopathologie verbindet.

Der dritte Aufsatz »Universität und Volkshochschule« ist zuerst in dem Sammelwerk »Soziologie des Volksbildungswesens« (München 1921), im Auftrage des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften in Köln herausgegeben von L. von Wiese, gedruckt worden. Er wurde in diesen Band aufgenommen (verbessert), da die Forderungen, die er in bezug auf die Gestaltung unseres deutschen Bildungswesens enthält, erst auf dem Hintergrunde der hier vorgelegten Theorie und Soziologie der Wissensformen ihr volles Gewicht und ihre tiefere Begründung erhalten.

Köln, im November 1925. MAX SCHELER

1

Nur Ernst Cassirer versucht neuerdings (1921) in seiner bedeutenden »Philosophie der symbolischen Formen« (bisher Sprache und Mythos) etwas Ähnliches. Leider nahm ich von dem hier besonders in Frage kommenden Teil II seines Werkes zu spät Kenntnis, um ihn hier noch verwerten zu können. Der Kundige wird indes bemerken, wie in vielen und wesentlichen Punkten sich Resultate Cassirers (trotz der grundverschiedenen sachphilosophischen Voraussetzungen) mit den meinigen decken.

PROBLEME EINER SOZIOLOGIE DES WISSENS

I. WESEN UND BEGRIFF DER KULTURSOZIOLOGIE

Kultursoziologie – Realsoziologie, und das Ordnungsgesetz der Wirksamkeit der Idealfaktoren und Realfaktoren

Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen ein begrenztes Ziel. Sie wollen die Einheit einer Soziologie des Wissens als eines Teiles der Kultursoziologie herausstellen, und vor allem die Probleme dieser Wissenschaft systematisch entwickeln. Sie beanspruchen keines dieser Probleme endgültig zu lösen; wohl aber wollen sie die Richtungen und Wege eingehend diskutieren, auf welchen dem Verfasser ihre Lösungen zu liegen scheinen. Sie wollen in einer Rhapsodie, in einer ungeordneten Menge vorhandener, teils durch die Wissenschaft schon voll ergriffener, teils nur halb erfaßter oder nur geahnter Probleme, wie sie die fundamentale Tatsache der sozialen Natur alles Wissens, aller Wissensbewahrung und -überlieferung, aller methodischen Erweiterung und Förderung des Wissens stellt, systematische Einheit zu bewirken suchen. Die Beziehungen einer Soziologie des Wissens zur Ursprungs- und Geltungslehre des Wissens (Erkenntnistheorie und Logik), zur entwicklungsgenetischen und -psychologischen Betrachtung des Wissens von Tier zu Mensch, vom Kind zum Erwachsenen, vom Primitiven zum Zivilisierten, von Stadium zu Stadium innerhalb reifer Kulturen, d.h. zur Entwicklungspsychologie, zur positiven Geschichte des Wissens jeder Art, zur Metaphysik des Wissens, zu den übrigen Teilen der Kultursoziologie (Religions-, Kunst-, Rechtssoziologie usw.) und zur Realsoziologie (Soziologie der Bluts-, Macht- und Wirtschaftsgruppen und ihrer wechselnden »Einrichtungen«) müssen dabei notwendig berührt werden.

Zur Festlegung des Oberbegriffes »Soziologie« überhaupt dienen uns hierbei nur zwei Merkmale: Erstens, daß diese Wissenschaft es nicht mit individuellen Tatsachen und Ereignissen (in der Zeit (Geschichte)), sondern mit Regeln, Typen (Durchschnitts- und logischen Idealtypen) und womöglich Gesetzen zu tun hat. Und zweitens, daß sie die ganze Fülle des (vorwiegend) menschlichen, objektiven und subjektiven Lebensinhaltes, heiße er wie immer, analysiert und deskriptiv wie kausal ausschließlich nach seiner tatsächlichen, also nicht »normativen« oder ideal seinsollenden Determiniertheit durch die zeitlich sukzessiven und gleichzeitigen Verbindungs- und Beziehungsformen erforscht, die zwischen Menschen sowohl in Erleben, Wollen, Handeln, Verstehen, Aktion und Reaktion als auch in objektiv realer und kausaler Art bestehen, d.h. in einer solchen Art, die in keiner Weise in das »Bewußtsein von etwas« der beteiligten Menschen zu fallen braucht.1

Dieses »vorwiegend« – denn jeder wirkliche Akt eines Menschen ist geistig und triebhaft zugleich – und, schärfer gesagt, die je entweder auf Ideales oder auf Reales endgültig gerichtete Zielintention ist es, nach der wir zwischen einer Kultursoziologie und Realsoziologie unterscheiden. Gewiß verändert auch der experimentierende Physiker, der Maler, der Musiker die Wirklichkeit, wenn er experimentiert, malt, musiziert, komponiert usw.; aber doch nur, um ein ideales Ziel zu erreichen, z.B. wahres Wissen über Natur zu finden, einen künstlerisch wertvollen Sinngehalt sich und anderen zur Anschauung und zum Genusse zu bringen usw. Und gewiß hat es andererseits der Wirtschaftsführer wie der einfache Industriearbeiter niedrigster Qualifikation, der Mensch als produzierendes und konsumierendes Wesen überhaupt, hat es jeder Arbeiter, dessen Endziel Veränderung eines Wirklichen ist (der praktische Techniker im Unterschiede vom Gelehrten und Technologen z.B.), der führende Politiker wie derjenige, der seine Stimme zur Wahl abgibt, mit einer Fülle vorbereitender speziell geistiger, auf Ideales gerichteter Tätigkeiten zu tun; aber eben doch nur um eines realen Zieles willen, d.h. um eine Veränderung der Wirklichkeit zu bewirken. Einmal endet die Tätigkeit in der idealen, das andere Mal in der realen Welt. All jene Lehren, die etwa die Wirtschaft ohne Rückgang auf Nahrungstrieb, Staat und staatsähnliche Gebilde ohne Rückgang auf die Machttriebe, Ehe ohne Rückgang auf die Geschlechtstriebe umgrenzen wollen, weisen wir als törichten Spiritualismus zurück. Es ist unsinnig zu behaupten, die Wirtschaft habe an sich nichts mit dem Nahrungstrieb und der Ernährung der Menschen zu tun, da es ja auch Verlage und Kunstgeschäfte gebe, da man ebensowohl Bücher und Butterblumen kaufen und verkaufen könne, da ja auch die Tiere Nahrungstrieb hätten und sich ohne Wirtschaft ernährten: die Wirtschaft sei also in genau demselben Sinne geistig und rational bestimmt und zielbestimmt wie Kunst, Philosophie, Wissenschaft usw. So ist es nicht! Ohne den Nahrungstrieb und das objektive Ziel, dem er biologisch dient, die Ernährung, würde es keine Wirtschaft geben – und auch keine Verlage, und keinen Kunsthandel. Ohne Machttrieb würde es keinen Staat geben, auch keine staatliche Kulturpolitik und kein staatlich gesetztes Recht, welche Angelegenheit es immer sei, die es regle. Nur das ist an obiger These richtig, daß es ohne den Geist und seine normative Regelung keine Wirtschaft gäbe, keinen Staat usw. Und darum ist für die Kultursoziologie eine Geistlehre des Menschen, und für die Realsoziologie eine Trieblehre des Menschen eine notwendige Voraussetzung.3

Diese letzte Einteilung der Soziologie in Kultursoziologie und Realsoziologie, Soziologie des Über- und des Unterbaues des gesamten menschlichen Lebensinhalts, ist freilich eine Scheidung, die zwar zwei extreme Pole setzt, in deren Bereich es jedoch eine Fülle vermittelnder Übergänge gibt: z.B. die Technik, deren Gestaltung ebenso von ökonomischen wie staatlich-rechtlichen wie wissenschaftlichen Faktoren abhängig ist; oder, im Gegensatz zu »reiner«, zweckhaft utilitarische, resp. durch die Wertungen und Ideale der je Mächtigen, etwa einer religiösen Herrschaftskaste, bedingte Kunst. Aber eben nach diesen beiden Polen hin eine soziologisch bedingte Erscheinung typologisch zu kennzeichnen und nach Regeln zu bestimmen, was etwa an ihr durch die autonome Selbstentfaltung des Geistes, z.B. durch die logisch-rationale Entwicklung des Rechtes, durch die immanente Sinnlogik der Religionsgeschichte usw., bedingt sei, und was andererseits durch die Determination der stets durch eine »Triebstruktur« bedingten soziologischen Realfaktoren der jeweiligen »Institutionen« und ihre Eigenkausalität – das gerade ist eine Hauptaufgabe der Soziologie. Ohne die genannte Unterscheidung von Kultursoziologie und Realsoziologie aber kann sie diese Aufgabe nicht lösen.

Diese Scheidung ist ferner zwar eine ontologisch und nicht nur »methodisch« gegründete, aber eine für das Endziel der Soziologie insofern vorläufige Scheidung, als erst in der Erkundung der Arten und Ordnungsfolgen des Zusammenwirkens der idealen und der realen, der geistig und der triebhaft bedingten Bestimmungsfaktoren des stets sozial wesentlich mitbedingten Lebensinhaltes des Menschen ihre letzte und eigentliche Aufgabe besteht. Ja, in der Erkenntnis eines obersten Gesetzes der Folgeordnung – nicht der Zeitfolge im Sinne einer faktischen Sukzession der Erscheinungen der Menschheitsgeschichte, das das falsche, ja logisch widersinnige Ideal Comtes gewesen ist: widersinnig, da die Geschichte des Menschen nur einmal abläuft – der Wirksamkeit der idealen und realen »soziologisch« bedingten, d.h. durch Beziehungen zwischen Menschen, Beziehungsarten und Gruppierungen bedingten Faktoren der Determination jedes Gesamtlebensinhaltes der Menschengruppen sehe ich ein oberstes Ziel aller überdeskriptiven und -klassifizierenden, d.h. aller kausalen Soziologie. Es handelt sich also nicht nur um Phasenregeln, die auf Wirtschafts-Macht-Fortpflanzungsverhältnisse und -formen (um die oberste Einteilung der Realfaktoren zu nennen) verschiedener Gruppen und Kulturen in ihrem zeithaften Werden zutreffen, resp. auf Religion, Metaphysik, Wissenschaft, Kunst, Recht in ihrem Werden in der Zeit als »Idealfaktoren« zutreffen, sondern, so wichtig auch diese deskriptive Aufgabe als vorläufige sein mag, es handelt sich um etwas ganz anderes: Nämlich um ein Gesetz der Ordnung der Wirksamkeit der Idealfaktoren und Realfaktoren, aus dem zu jedem Zeitpunkt des historisch-zeitlich sukzessiven Ablaufs sozial-menschlicher Lebensprozesse das ungeteilte Ganze des Lebensinhalts der Gruppen sich aufbaut; nicht um ein Gesetz der fertigen Gewordenheiten in der Zeitfolge, sondern um ein Gesetz des möglichen dynamischen Werdens irgendwelcher Gewordenheiten in der Ordnung des zeithaften Wirkens.

Ein solches »Gesetz« – wie ich es seit Jahren anstrebe und auch prinzipiell gefunden zu haben glaube, ohne freilich hier den vollen Beweis4 dafür bieten zu können – hätte eine Reihe Eigenschaften, die man genau angeben kann.

1. Dieses Gesetz bestimmt erstens die prinzipielle Art des Zusammenwirkens, in der Idealfaktoren und Realfaktoren, objektiver Geist und reale Lebensverhältnisse, wie ihr subjektives menschliches Korrelat, d.h. die jeweilige »Geistesstruktur« und die »Triebstruktur«, auf den möglichen Fortgang des sozialhistorischen Seins und Geschehens, auf Erhaltung und Veränderung einwirken. Hier ist unsere These folgende:

Der Geist im subjektiven und objektiven Sinne, ferner als individualer und kollektiver Geist, bestimmt für Kulturinhalte, die da werden können, nur und ausschließlich ihre Soseinsbeschaffenheit. Der Geist als solcher hat jedoch an sich ursprünglich und von Hause aus keine Spur von »Kraft« oder »Wirksamkeit«, diese seine Inhalte auch ins Dasein zu setzen. Er ist wohl ein »Determinationsfaktor«, aber kein »Realisationsfaktor« des möglichen Kulturwerdens. Negative Realisationsfaktoren oder reale Auslesefaktoren aus dem objektiven Spielraum des je durch die geistige verstehbare Motivation Möglichen sind vielmehr stets die realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse, d.h. die besondere Kombination der Realfaktoren: der Machtverhältnisse, der ökonomischen Produktionsfaktoren und der qualitativen und quantitativen Bevölkerungsverhältnisse, dazu die geographischen und geopolitischen Faktoren, die je vorliegen. Je »reiner« der Geist, desto machtloser im Sinne dynamischen Wirkens ist er in Gesellschaft und Geschichte.5 Das ist das große gemeinsame Wahrheitselement jeder skeptischen, pessimistischen, naturalistischen Geschichtsauffassung, der ökonomischen wie der rassemäßigen, der machtpolitischen wie der geopolitisch-geographischen: Erst da, wo sich »Ideen« irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben oder, wie wir letztere nennen, »Tendenzen« vereinen, gewinnen sie indirekt Macht und Wirksamkeitsmöglichkeit; z.B. religiöse, wissenschaftliche Ideen. Positiver Realisationsfaktor eines rein kulturellen Sinngehaltes aber ist stets die freie Tat und der freie Wille der »kleinen Zahl« von Personen, an erster Stelle der Führer, Vorbilder, Pioniere, die kraft der bekannten Gesetze der Ansteckung, der willkürlichen und unwillkürlichen Nachahmung (Kopierung) durch eine »große Zahl«, eine Mehrheit, nachgeahmt werden. Also »verbreitet« sich Kultur.6

Anders ist das Bestimmungsverhältnis von je bestehenden bestimmten Ideal- + Realfaktoren und ihren subjektiven Korrelaten in den Menschen (Geist- und Triebstruktur) gegenüber neu werdenden Realfaktoren, z.B. politischen Machtverhältnissen internationaler Art, ökonomischen Produktionsverhältnissen, Rassenmischungen und Rassenspannungen. Der Spielraum ihres objektiven und realen »Möglichwerdens« ist nach Dasein und Sosein überhaupt nicht durch die Idealfaktoren bestimmt, sondern nur durch die je vorher gegebenen Realfaktoren und ihre Beschaffenheit. Ihnen gegenüber kommt also (genau umgekehrt wie vorher) allem, was wir »Geist« nennen, nur eine negative, »lenkende«, d.h. hemmende oder enthemmende, kausale Bedeutung zu, und zwar eine prinzipiell nur negative Realisationsbedeutung – also überhaupt keinerlei soseinsbestimmende Determinationsbedeutung. Der menschliche Geist – der singulär persönliche wie kollektive – und Wille vermag hier nur eines: hemmen und enthemmen (loslassen) dasjenige, was auf Grund der streng autonomen, realen, (bewußtseinsmäßig) sinnblinden Entwicklungskausalität ins Dasein treten will. Setzt der Geist sich Ziele des Soseins und der Umgestaltung der Realfaktoren, die nicht mindestens im Spielraum des eigenkausalen Zusammenhangs der Realfaktoren gelegen sind, so beißt er auf Granit und seine »Utopie« zerflattert ins Nichts. Sog. Planwirtschaft, oder eine »weltpolitische Verfassung«, oder eine planvolle gesetzliche Eugenetik und Rassenauslese sind z.B. derartige Utopien.

Andererseits ist es stets ein grundirriges Unterfangen, den positiven Sinn- und Wertgehalt einer bestehenden Religion, einer Kunst, einer Philosophie und Wissenschaft, einer Rechtsbildung aus den realen Lebensverhältnissen, seien es blutsmäßige, ökonomische, machtpolitische oder geopolitische, eindeutig ableiten zu wollen. Nur dasjenige, was aus dem Spielraum der inneren und sinngesetzlichen7 Soseinsdetermination von Religions-Rechts-Geistesgeschichte nicht geworden ist – obzwar es rein geistesgeschichtlich ebenso potentiell werdensmöglich war wie das faktisch Gewordene –, »erklärt« der Stand der Realverhältnisse, die jeweilige Kombination der Realfaktoren. Raffael braucht einen Pinsel – seine Ideen und künstlerischen Visionen schaffen ihn nicht; er braucht politisch und sozial mächtige Auftraggeber, die ihre Ideale zu verherrlichen ihm auftragen – sonst vermag er sein Genie nicht auszuwirken. Luther brauchte die Interessen der Fürsten, Städte, der partikular gerichteten Territorialherren, brauchte das aufstrebende Bürgertum – ohne diese Faktoren wäre es nichts geworden mit der Verbreitung der Lehre vom bibellesenden »Spiritus sanctus internus« und der »sola-fides«-Lehre.

Wie wir also einerseits alle naturalistischen soziologischen Auffassungen für das Werden des Sinngehaltes der Geisteskultur a limine zurückweisen, so müssen wir andererseits auf dem Boden der reinen Kultursoziologie jede Lehre abweisen (wie sie etwa Hegel entspräche), daß der kulturhistorische Ablauf ein rein geistiger und sinnlogisch bestimmter Prozeß sei. Ohne die negativ-selegierende Kraft der Realverhältnisse und ohne die freie Willenskausalität der »führenden« Personen – freilich ist diese Freiheit nur auf »Ob« und »Ob nicht« des Tuns beziehbar, nie auf die sinnlogische Frage »Was« – folgt aus den rein geistigen Determinationsfaktoren auch auf dem Boden reiner und reinster Geisteskultur gar nichts. Erst recht nichts natürlich auf dem Boden der Wirklichkeiten, mit denen es die Realsoziologie zu tun hat. Diese Wirklichkeiten gehen nach Dasein, Sosein und Wert (also auch nach sog. »Fortschritt« und »Rückschritt«) ihren streng notwendigen und, vom Wert- und Sinngedanken des subjektiv menschlichen Geistes aus gesehen,8 »blinden« Gang – ihren Schicksalsgang. Und nur eines bleibt ein souveränes, unabänderliches Vorrecht des Menschen: Durch seinen Geist das Kommende zwar nicht berechnen, aber nach einer stets hypothetisch und wahrscheinlich bleibenden Erwartungsbildung »mit ihm rechnen« zu können; ferner durch seinen Willen das Daseinwerden eines sonst Kommenden vorläufig zu hemmen, zu verhüten, anderes aber in der Zeitfolge und Ihrem Metrum (nicht aber in der Zeitordnung, die vorbestimmt und unabänderlich ist) zu beschleunigen oder zu verzögern – so etwa, wie es der Katalysator für den Prozeß der chemischen Verbindung tut.

Im Geistig-Kulturellen also gibt es potentiell »Freiheit« und Autonomie des Geschehens nach Sosein, Sinn und Wert – aber stets in dem realen Ausdruck suspendierbar durch die Eigenkausalität des »Unterbaues«; »liberté modifiable« (»suspensible«) möchte man es nennen.

Im Felde der Realfaktoren gibt es umgekehrt nur jene »fatalité modifiable«, von der A. Comte treffend und richtig gesprochen hat.

Dort wirken die Realverhältnisse suspendierend auf das, was aus den geistigen Potenzen wirklich wird.

Hier wirkt der Geist suspendierend im Sinne der Zeitverschiebung für das, was dem Schicksalsgang der geschichtlichen Tendenzen entspricht.

2. Eine zweite Eigenschaft des gesuchten Gesetzes der Kausalfaktoren ist, daß es drei dynamische und statische Arten und Beziehungen umfaßt und einheitlich verknüpft:

a) die Beziehungen der Idealfaktoren untereinander: α) statisch, β) dynamisch, γ) so, daß auch die jeweiligen »Zustände«, die »Statik«, sich als Folge, als relatives Momentbild der Dynamik ergeben, d.h. stets als Schichtenlagerung je älterer und je jüngerer Kraftwirkungen (jede konkrete Kultur ist Schichtung);

b) die Beziehungen der einzelnen Realfaktorenarten untereinander – wiederum in diesen drei Hinsichten;

c) die Beziehungen der drei Hauptgruppen von Realfaktoren zu den einzelnen Idealfaktorenarten – natürlich im Spielraum der eben bestimmten und bezeichneten allgemeinen Gesetzmäßigkeit von Ideal- und Realfaktoren überhaupt. Zu allen Zeiten und überall, wo wir es mit menschlicher Gesellschaft zu tun haben, treffen wir irgendwelchen »objektiven Geist«,9 d.h. einen in irgendwelcher Materie oder in reproduzierbaren psychophysischen Tätigkeiten verkörperten Sinngehalt an, z.B. Werkzeuge, Kunstwerke, Sprache, Schrift, Institutionen, Sitten, Bräuche, Riten, Zeremonien – und, ihm subjektiv genau entsprechend, eine wechselnde Struktur des »Geistes« der Gruppe, der für das Einzelwesen mehr oder weniger bindende oder als »verbindlich« erlebte Bedeutung und Gewalt besitzt. Gibt es nun eine Ordnung, in der sich diese objektiven Sinngehalte der Kultur und die geistigen Aktgefüge, in denen sie sich konstituieren, in denen sie sich ebensowohl »erhalten« als auch verändern, untereinander gesetzlich fundieren? Wie verhalten sich genetisch zueinander z.B. Mythos und Religion, Mythos und Metaphysik, Mythos und Wissenschaft, Sage resp. Legende und Historie? wie Religion und Kunst? wie Kunst und Philosophie? wie Mystik und Religion? wie Kunst und Wissenschaft? wie Philosophie und Wissenschaft? wie das Reich der geltenden Werte zu dem je theoretisch »angenommenen« Dasein und Sosein der Welt? Die gleichzeitigen Sinnbezüge und die Werdensbeziehungen (Motivationen) zwischen diesen objektiven Sinngefügen sind ungemein zahlreich, und jede dieser Beziehungen erfordert eine ausgedehnte, gesonderte Untersuchung. Die Meinung kann dahin gehen, dieses alles stehe freilich überall irgendwie in »gegenseitiger« Abhängigkeit und in sog. Wechselmotivation – aber eine gesetzliche Ordnung der Fundierung dieser Dinge gebe es nicht. Wir sind nun, ohne es hier in extenso beweisen zu können, ganz entgegengesetzter Meinung:

Es gibt zwischen den Idealfaktoren untereinander essentielle, nicht nur zufällig-existentielle Abhängigkeiten voneinander im Sein und Werden – so schwierig es immer sei, sie zu eruieren. Es gibt solche Abhängigkeiten z.B. zwischen Religion, Metaphysik, positiver Wissenschaft, zwischen Philosophie und positiver Wissenschaft, zwischen Technik und positiver Wissenschaft, zwischen Religion und Kunst usw. Sie entsprechen genau der Ursprungs- und Aufbau-Ordnung (»Fundierung«) der mit dem Wesen des Menschengeistes gegebenen Akte: Wert- und Seinerkennen, Wertschätzen resp. Wertvorziehen einerseits und Wollen und Handeln andererseits, Wahrnehmen resp. Vorstellen von Gegenständen und durch Triebimpulse einer bestimmten Triebrichtung (als Bedingung solcher Perzeptionen) Bewegtsein, praktischer Willens- und Bewegungsimpuls und zweckfreier Ausdrucksimpuls, Denken und Sprechen beispielsweise bauen sich nicht »bald so«, »bald anders« aufeinander auf, sondern nach strengen Gesetzen ihres Wesens.10 In einer allgemeinsten Wesenslehre vom menschlichenGeiste sind daher auch alle faktischen Abhängigkeiten der objektiven Kulturgehalte, die wir empirisch finden, in letzter Linie zu verankern. Wer da von beliebiger »Wechselwirkung« redet, irrt.

Aber in dem sehr allgemeinen und formalen Rahmen dieser Gesetze der geistigen Akte überhaupt gibt es nun wechselnde, entstehende und vergehende Sonderstrukturen und -funktionsorganisationen der Gruppengeister, die je zu eruieren das höchste Ziel bedeutet, das sich eine deskriptiv beginnende Erkenntnis einer je individuellen historischen Gruppenkultur nach allen Seiten und allen Wert- und Güterarten hin zu setzen hat. Von jenen allgemeinsten Wesensgesetzen des Geistes abgesehen – die eben überhaupt keine Gesetze »eines« wirklichen Geistes, einer wirklichen Gruppe oder eines Einzelwesens sind – existiert Geist von vornherein nur in einer konkreten Vielheit von unendlich mannigfachen Gruppen und Kulturen. Von irgendeiner faktischen »Einheit der Menschennatur« als Voraussetzung der Historie und Soziologie zu reden ist also unnütz, ja verderblich. Eine gemeinsame Struktur- und Stilgesetzlichkeit durchwaltet nur die je lebendigen Kulturelemente einer Gruppe, durchwaltet Religion und Kunst, Wissenschaft und Recht eines Kultur-Konkretums. Diese für jede Gruppe in den Hauptphasen ihrer Entfaltung herauszuarbeiten, ist eines der höchsten Ziele, das sich die Geistesgeschichte setzen kann.11 Jede faktische und allen Menschen von Anfang an mitgegebene, bestimmte »eingeborene« Funktionsapparatur der Vernunft – dieses Idol der Aufklärungszeit und auch noch Kants – leugnen wir also unbedingt als Voraussetzung der Soziologie, ebenso wie die meist damit eng verbundene Lehre von der monophyletischen Entstehung des Menschen. Geistige Einheit wie Blutsverwandtschaft aller Rassen mag ein Ziel aller Historie sein – alle Geschichte ist faktisch auch Geschichte von Blutsnivellierung –, ein Ausgangspunkt des Geschehens und eine Voraussetzung für die Soziologie ist sie sicher nicht.12 Der Pluralismus der Gruppen und Kulturformen vielmehr ist der Standort, von dem alle Soziologie auszugehen hat.

Das Werden der je als relativ »ursprünglich« angenommenen Geistesstrukturen können wir noch prinzipiell, nicht aber in concreto, »verstehen«; d.h. wir können verstehen, wie überhaupt Geistesstrukturen, die durch Tradition weitergetragen werden, aus einem amorphen Geiste heraus entspringen können und müssen, wenn sie entspringen: nämlich durch eine allmähliche »Funktionalisierung«13 von echten Ideen- und Ideenzusammenhangserfassungen (an dem »zufällig« Wirklichen) – eine »Funktionalisierung«, die zuerst durch Pioniere vollzogen, nachher von den Massen »mit- und nachvollzogen« wird, nicht von außen her »nachgeahmt« wie Bewegungen und Handlungen. Insofern können die Geistes- und Vernunftapparaturen jedes großen Kulturkreises und jeder großen Kulturperiode, ihrer Vielheit und Verschiedenheit ungeachtet, sehr wohl partiell und inadäquat wahr und seinsgültig sein (obzwar sie es natürlich nicht müssen). Denn sie entspringen ja alle aus der Erfassung des einen ontischen Ideen- und Wertrangordnungsreiches, das diese »zufällige« Weltwirklichkeit durchflicht. Einem philosophischen Relativismus, wie ihm Spengler z.B. verfällt, entgehen wir also trotz unserer Annahme einer Vielheit von Vernunftorganisationen. Aber nicht dadurch entgehen wir diesem Relativismus, daß wir wie billige absolute Wertphilosophien der Gegenwart die klar erkennbare Tatsache der Relativität auch der Vernunftorganisationen selbst leugnen oder beschränken und dann einem ebenso billigen »Europäismus« oder sonst einem Standpunkte verfallen, der, nur nach Maßgabe einer Kultur aufgerichtet, diesen »Standort« für allmenschlich und allhistorisch gültig hält; auch nicht dadurch, daß wir, wie z.B. E. Troeltsch es seltsam genug wünscht,14 diesen unseren europäischen Standort, trotz Erkenntnis seiner Relativität, mit einem bloßen »Postulat«, d.h. einem »sic volo, sic jubeo«, eben »bejahen«. Sondern wir entgehen ihm dadurch, daß wir – ähnlich wie es auf ihrem Boden die Einsteinsche Theorie getan hat – das der Wesensidee des Menschen entsprechende absolute Ideen- und Wertreich ganz gewaltig viel höher über alle faktischen bisherigen Wertsysteme der Geschichte gleichsam aufhängen – so beispielsweise alle Güterordnungen, Zweckordnungen, Normordnungen der menschlichen Gesellschaft in Ethik, Religion, Recht, Kunst als schlechthin relativ und historisch wie soziologisch je standpunktlich bedingt ansehen –, nichts bewahrend als die Idee des ewigen objektiven Logos, in dessen überschwengliche Geheimnisse in Form einer hierzu wesensnotwendigen Geschichte des Geistes einzudringen nicht einer Nation, einem Kulturkreise, einem oder allen bisherigen Kulturzeitaltern zukommt, sondern nur allen zusammen, mit Einschluß der zukünftigen, in je solidarischer zeitlicher wie räumlicher Kooperation unersetzlicher, weil individualer, einmaliger Kultursubjekte.

In concreto und im einzelnen können wir die als »ursprünglich« angenommenen Geistesstrukturen der Gruppen jedoch ebensowenig noch erklären, wie wir den »Geist« überhaupt als Urvoraussetzung einer Menschengeschichte, ja des Menschen selbst (seiner »Idee«), aus den psychischen Funktionen seiner tierischen Vorfahren erklären können.15 Wir können im höchsten Falle nur zeigen, wie sich Struktur aus Struktur sinngesetzlich und verstehbar entwickelt, z.B. die Folge der abendländischen Kunststile, Religionsformen auseinander.

In scharfen Gegensatz zu dieser Entwicklung der Geistesstrukturen auseinander nach Entwicklungsschrittgesetzen stellen wir die Erscheinung der Kumulation der Werke, die immer nur je einer Geistesstruktur und je einer zeitlich und örtlich abgegrenzten Kultureinheit entsprechen. Da wir eine wahre und echte Genese aller subjektiv funktionellen Aprioristruktur des menschlichen Geistes – und nicht wie Kant deren Konstanz – annehmen, so müssen wir die Lehren, und zwar alle Lehren, die in der Geschichte des Menschen nur eine Kumulation der Leistungen und Werke sehen – nicht aber Entwicklung und Umbildung der geistigen Fähigkeiten des Menschen, und an erster Stelle des apriorischsubjektiven Apparates des Denkens, Wertens jeder Art – aufs bestimmteste ablehnen. Gewiß hat sich auch nach unserer Ansicht, da wir zum mindesten jede kulturell bedeutsame Erblichkeit erworbener psychischer sog. Eigenschaften (mit Weismann, der jungen exakten Erblichkeitslehre, jetzt auch Bumke),16 unbedingt ablehnen, der psychophysische menschliche Organismus in historischer Zeit nicht wesentlich verändert, es sei denn aus dem schon vorausgesetzten Einfluß der Kultur selbst. Die Spencers ganze Soziologie durchwirkende Lehre, es könnten die Geistesstrukturen von der sog. »Gattung« erworben und dann auf das Individuum erblich übertragen sein, weisen wir daher ab. Aber der Schluß, den Weismann zieht, alle Geschichte der Kultur sei darum nur Kumulation, gilt für uns keineswegs. Weismann wie Spencer setzen ja voraus, es sei nicht nur – was auch wir bejahen – jenes Vitalpsychische, das wir essentiell mit den höheren Menschenaffen teilen, sondern auch der »Geist«, die »Vernunft« des Menschen eindeutig durch sein psychophysisches System bedingt. Das aber verneinen wir,17 behaupten vielmehr, daß der Geist des Menschen für Soziologie, Psychologie, Biologie, Geschichte einfach eine hinzunehmende Voraussetzung sei – und ein Problem höchstens noch metaphysischer und religiöser Ordnung, nicht aber der Ordnung der positiven empirischen Wissenschaft.

Ist das aber der Fall, so ist der Geist selbst und sind auch seine Kräfte – und ist nicht nur die Summe der Leistungen, die aus ihm bei einem bestimmten Stande seiner Entfaltung kraft wechselnder Bluts- und Milieubedingungen hervorgehen – einer wahren und wirklichen Selbstentfaltung unterworfen, die je Fortschritt und Wachstum, aber auch Rückschritt und Abnahme bedeuten kann; auf alle Fälle einer Veränderung seiner Konstitution selbst. Veränderungen der Denk- und Anschauungsformen, wie beim Übergang der »mentalite primitive«, wie sie L. Lévy-Bruhl jüngst beschrieb, zum zivilisierten Zustand des nunmehr dem Widerspruchssatz und Identitätsprinzip folgenden Menschendenkens, Veränderungen der Ethosformen als Formen des Wertvorziehens selbst, nicht bloß der Güterschätzungen, die auf Grund eines und desselben Wertvorzugsgesetzes oder Ethos entstehen, Veränderungen des Stilfühlens und des Kunstwollens selbst (wie man sie seit Riegl in der Kunstgeschichte annimmt), Veränderungen wie die von der frühabendländischen organologischen Weltansicht, die bis ins dreizehnte Jahrhundert reicht, zur mechanischen Weltansicht, Veränderungen wie jene von vorwiegender Gruppierung der Menschen nach Geschlechterverbänden ohne staatliche Autorität zum Weltalter der »politischen Gesellschaft« und des Staates, oder von vorwiegend »lebensgemeinschaftlicher« zu vorwiegend »gesellschaftlicher« Gruppierungsform, oder von vorwiegend magischer Technik zu vorwiegend positiver Technik – sind Veränderungen einer völlig anderen Größenordnung (nicht Größe) als solche etwa durch kumulierte Anwendung eines bereits ausgebildeten Verstandes, wie er etwa der abendländischen Denkart entspricht, oder als solche der »praktischen Moralität« und der bloßen Anpassung einer Ethosform an wechselnde historische Umstände18 (z.B. des christlichen Ethos an spätantike, mittelalterliche, moderne Wirtschafts- und Gesellschaftszustande), oder Veränderungen nur innerhalb der Spannweite vorwiegend organologischer und vorwiegend mechanischer Weltansicht. Für die Soziologie der Wissensdynamik ist nichts wichtiger als dieser Unterschied, ob die Denk-, Wertschätzungs- und Anschauungsformen der Welt selber einer Veränderung unterliegen, oder nur ihre Anwendung auf die quantitativ und induktiv erweiterten Erfahrungsmaterialien. Eine bestimmte genaue Kriterienlehre dieses Unterschiedes und seiner Stufen ist noch auszubilden.

Eine allgemeine Erscheinung aller geistigen Entwicklung ist ferner der schon von Herbert Spencer klar gesehene Vorgang der Differenzierung und Integrierung der Kulturgebiete und der geistigen Akte und Werterlebnisse, die ihnen zugrunde liegen. Er spiegelt sich am gröbsten und schärfsten im allmählichen Auseinandertreten der Führer- und Pioniertypen der Gruppen und der geistigen Berufe z.B. Magier, Arzt, Priester, Techniker, Philosoph (Weiser), Gelehrter, Forscher usw. Aber bei der Anwendung dieses Satzes von Differenzierung und Integrierung ist es von fundamentaler Wichtigkeit, daß die Stufenordnung dieser Differenzierung genau festgestellt werde. Große Irrtümer schreiben sich gerade daher, daß diese Stufen falsch angesetzt werden. So muß man z.B. anerkennen, daß religiöses, metaphysisches und positives Wissen, oder wie wir auch sagen können Heils- resp. Erlösungswissen, Bildungswissen, und Leistungs- resp. Naturbeherrschungswissen, sich gleich ursprünglich aus der Vorstufe des natur- und geschichtsmythischen Denkens und Schauens – dem »Völkerwachtraum« – abdifferenzieren und dann erst eine weitgehend eigengesetzliche Entwicklung nehmen. Dadurch, daß z.B. Comte schon das Mythische für das Religiöse halt, ferner verkennt, daß in der Neuzeit des Abendlandes keineswegs die Religion gegenüber der Metaphysik an Bedeutung abnimmt, sondern sich nur viel schärfer als im Mittelalter von ihr differenziert, nicht minder auch die positive Wissenschaft und die Metaphysik sich viel schärfer voneinander scheiden – schon dadurch, daß jene jetzt erst als unendlicher Prozeß, diese als personal gebundenes und geschlossenes »System« auftritt –, kam es zu der grundfalschen Lehre des sog. »Dreistadiengesetzes«, d.h. zu der Lehre, daß sich das metaphysische Essenzdenken aus dem religiösen, das positive Denken aus dem metaphysischen »entwickle« Comte nahm also für zeitliche Entwicklungsstufen, was de facto nur ein Differenzierungsprozeß des Geistes ist.19 Oder: Aus der magischen Technik der Naturkräfte differenziert sich gleich ursprünglich die positive Beherrschungstechnik einerseits, die religiöse kultische Ausdruckstechnik und die rituelle Darstellungstechnik heiliger Vorgänge andererseits ab. Wird das verkannt, so ergeben sich schwere Irrtümer. Ähnlich haben Kunst und Gewerbetechnik (Werkzeugtechnik) zweifellos einen gemeinsamen Ausgangspunkt in Gebilden, die Seelenvorgange ausdrucken und dabei zugleich so erfolgen, daß sie nützlichen Zwecken dauernd dienen können.20 Wird aber der Zusammenhang etwa so verkannt, daß man, sei es die Kunst aus der Arbeit und Technik ableitet (wie es etwa G. Semper in seinem Werk über Stilentwicklung, und z.T. C. Bücher in »Arbeit und Rhythmus« zuletzt getan hat), oder umgekehrt diese aus jener (wie es die Romantiker taten, jetzt viel zu vorschnell auch Leo Frobenius), so ergeben sich tiefe Irrtümer. Lehren wie jene Albert Langes, daß die Metaphysik eine »Dichtung in Begriffen« sei, oder Wilhelm Ostwalds These, die Kunst sei »ahnende Vorform der Wissenschaft«; oder der »gnostische« Irrtum, Religion sei wesensmäßig eine herabgesunkene Massen- und Volksmetaphysik in »Bildern« (Spinoza, Hegel, E. von Hartmann, Schopenhauer usw.); oder der umgekehrte Irrtum de Bonaids und de Maistres, daß die Metaphysik stets eine nur nachträglich rationalisierte, auf Offenbarung durch Personen oder Uroffenbarung rückgängige Volksreligion, resp. die Metaphysik eine widerrechtlich rationalisierte, nachträglich in ein System gepreßte Prophetie religiöser oder dichterischer Art sei (Max Webers und Karl Jaspers »prophetische Philosophie«); überhaupt alle Lehren, die eine oder zwei der vorgenannten drei Wissensarten auf Grund ganz partikulärer Entwicklungsschichtungen einer eng begrenzten Kultur, z.B. der spätwesteuropäischen, ohne weiteres für »aussterbend« halten, wie Comte die Arten des Heilswissens und des metaphysischen Wissens, W. Dilthey nur die Art des »metaphysischen« Wissens,21 – alle diese Lehren sind schwere Irrtümer ein und desselben Typus. Es sind Irrtümer, die sich aus falschen Ansätzen der Differenzierungs- und Integrierungsprozesse und besonders des Grades der Ursprünglichkeit der betreffenden Geistesgebilde ergeben, ferner daraus, daß man gewisse sekundäre Verwebungs- und Vermischungserscheinungen der obersten geistigen Kulturgebilde für logisch-idealtypische nimmt. So kann sich z.B. Mystik – eine generelle, streng definierbare Kategorie geistigen Verhaltens, nämlich: ekstatisches unmittelbares Identifikationswissen in Anschauung und Gefühl – sowohl mit einer bestimmten Religion und deren Dogma (indische, christliche, sufistische, jüdische, taoistische Mystik) als auch mit philosophischer Metaphysik (z.B. Plotin, Spinoza, Schopenhauer, Schelling, Bergson), sowohl mit spiritualistischem als auch naturalistischem Inhalt der Weltanschauung verbinden (kühle Intellektuellenmystik, z.B. die Plotins, vitale Rauschmystik, z.B. Kulte des Dionysos), sowohl mit vorwiegend theoretischem Verhalten (Kontemplationsmystik) als auch mit praktischem Verhalten (praktisch asketische Mystik und Glaube, daß die Unio im Vollzug des Willensakts einer bestimmten obersten Normierung erfolge, z.B. Thomas a Kempis). Immer bleibt jedoch »die« Mystik eine selbständige Kategorie der Arten des Wissens oder der Teilnahme an einem vorausgesetzten, nie aus ihren Wissensquellen selbst hervorgegangenen absolut Seienden und Werthaften – eine Teilnahme, die stets und immer (genetisch) eine völlig unschöpferische Sekundär- und Späterscheinung – ein Zurück! – ist. Verkennt man das, so wird man etwa wie viele kirchliche Schriftsteller die christlich orthodoxe Mystik zu »der« Mystik machen wollen und ihre ganz überkonfessionelle, ja überreligiöse Natur verkennen; oder wird sie zu einer selbständigen Quelle »religiöser« Erkenntnis machen wollen,22 oder zu einer Quelle »metaphysischer« Erkenntnis, wie zum Beispiel Schopenhauers und Bergsons »Intuitivismus«. Die Mischformen setzen eben durchaus den Bestand der reinen Typen voraus. –

Zu diesem eben skizzierten Teil der Kultursoziologie gehört nun eng ein zweiter Teil, der die sozialen Formen der geistigen Kooperation, der mehr oder weniger organisierten und unorganisierten, betrifft. Die drei obersten Hauptarten des Wissens erscheinen zunächst zu allen Zeiten in sozialen Formen, die ihrem obersten intentionalen Wissensziel wesensmäßig angemessen und je nach dem Sosein des Gegenstandes, der vorausgesetzt ist, in sich notwendig verschieden sind. Dasselbe gilt aber auch für alle Grundarten spezifisch geistiger, kultureller Betätigung. Es gibt für die vorwiegend religiöse Form des Heilswissens Gemeinden, Kirchen, Sekten, kaum organisierte »schwebende« mystische Verbände, oder nur theologisch geeinte Denkrichtungen. Es gibt andrerseits »Weisheitsschulen« und Bildungsgemeinschaften im antiken Sinne, die Lehre, Forschung, Lebenspraxis ihrer Glieder zu einer überlebensgemeinschaftlichen, oft auch übervölkischen Einheit verbinden und ein das Weltganze betreffendes »System« von Ideen und Werten gemeinsam anerkennen. Es gibt endlich die auf Gegenstandsscheidung und auf Arbeitsteilung beruhenden Lehr- und Forschungsorganisationen der positiven Wissenschaft, enger oder loser verbunden mit den Organisationen der Technik und Industrie, resp. mit bestimmten Berufsverbänden, wie der Juristen, Ärzte, Beamten: die »wissenschaftlichen Körperschaften«, wie wir sie generell nennen können. Ähnlich entwickeln die Künste ihre »Meisterschulen«. Alle diese Formen entwickeln je nach ihrer Artung Dogmen, Prinzipien, Theorien in Formulierungen, die sich über die natürliche Sprache in die Sphäre der »Bildungssprache« erheben, resp. in »künstlichen« Zeichensystemen ausgedrückt werden, nach Konventionen der Messung und einer »Axiomatik«, die sie je gemeinsam anerkennen.

Die Wissensorganisationen sind natürlich sämtlich zu scheiden von denjenigen Unterweisungsformen und »Schulen«, in denen Kinder verschiedener Altersstufen das Durchschnittswissen des jeweiligen Kulturstandes der umfassenden Lebensgemeinschaften (der Stämme, Völker, Staaten, Nationen, Kulturkreise) erst erwerben, in denen der durchschnittliche, je sozial allgemein notwendige Wissensstand von Generation zu Generation nur übertragen wird – jeweils selbst wieder verschieden nach Kasten, Ständen und Klassen. Im Verhältnis zu diesen Lehr- und Erziehungsorganisationen stellen jene erstgenannten Verbände einen Überbau dar, von dem aus das hier je neu erworbene Wissen sehr langsam hineinfließt in die Lehrerschaften dieser »Schuleinrichtungen« der Gemeinden, Städte, Staaten, Kirchen usw.

Ferner sind die vorgenannten Wissensinhalte zu scheiden von den kraft Standes-, Berufs-, Klassen-, Parteizugehörigkeit den Menschen gemeinsamen Mischgebilden von kollektiven Interessen und (vermeintlichen) Wissensinhalten, die wir unter den Gesamttitel der »Vorurteile«, der Standes-, Berufs-, Klassen-, Parteivorurteile bringen wollen. Die Eigenart dieses Scheinwissens ist es, daß die kollektive Interessenwurzel dieses »Wissens« stets denen unbewußt bleibt, die es je gemeinsam haben, und daß ihnen auch der Umstand unbewußt bleibt, daß nur sie als Gruppe, und nur vermöge dieser Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, dieses Wissen gemeinsam haben. Suchen sich diese Systeme von automatisch und unbewußt gewordenen »Vorurteilen« in bewußter Reflexion hinter einer Richtung des religiösen, metaphysischen oder positivwissenschaftlichen Denkens zu rechtfertigen, oder auch durch Heranziehung von Dogmen, Prinzipien, Theorien, die jenen höheren Wissensorganisationen entstammen, so entstehen die neuen Mischgebilde von »Ideologien«, deren gewaltigstes Beispiel innerhalb der neueren Geschichte der Marxismus als eine Art der »Unterdrücktenideologien« ist. Den Gesetzen des Werdens der Ideologien das Werden alles Wissens unterzuordnen ist eine spezifische These der ökonomischen Geschichtsauffassung. Ein gewisses Klärbecken für die Vorurteile und Ideologien bildet bereits die »öffentliche Meinung«23 – eine den »Gebildeten« einer Gruppe gemeinsame Urteilshaltung.24

Die Kultursoziologie hat die Formen der geistigen Kooperation idealtypologisch zu unterscheiden und zu definieren, und sie hat dann zu versuchen, Phasenordnungen im Ablauf dieser Formen innerhalb je eines Kulturganzen zu suchen, – Phasenordnungen auch in der Verschiebung der Machtverhältnisse dieser Organisationsformen des Wissens zueinander, z.B. der Kirche zur Philosophie, beider zur Wissenschaft usw. Immer ist hier auf das Verhältnis des Inhalts des Wissens – z.B. der Glaubensinhalte, der dogmatisch oder nichtdogmatisch definierten – zu den Organisationsformen selbst Bedacht zu nehmen. So fordert beispielsweise schon der Inhalt der jüdischen Jahwereligion, daß sie nichtmissionierende auserwählte Volksreligion sei, ein »Volk« ihr Träger sei; so schließt der Inhalt aller poly- und henotheistischen Formen der Religion die Universalreligion (schon als Anspruch) aus. So fordert der Inhalt der Ideenlehre Platons weitgehend die Form und Organisation der platonischen Akademie. So ist die Organisation der protestantischen Kirchen und Sekten primär vom Glaubensinhalt selbst bestimmt, der eben nur in dieser und keiner anderen sozialen Form existieren kann.25 Und so fordert der Gegenstand und die Methodik der positiven Wissenschaft notwendig die internationale Form der vertretbaren Kooperation und der Organisationen; der Inhalt und schon die Aufgabe einer Metaphysik dagegen die kosmopolitische Form der Kooperation des Zusammenwirkens von individual verschiedenen, unersetzlichen und unvertretbaren Volksgeistern, resp. ihrer Repräsentanten. Die allgemeinsten und der Größenordnung nach primären Unterschiede der möglichen Organisationsformen des Wissens aber sind jene, die sich an die Arten knüpfen, in denen Kulturen die Wesensformen menschlicher Gruppierung überhaupt durchlaufen, nämlich die Formen der fluktuierenden Horde, der (im Sinne von F. Toennies) dauernden Lebensgemeinschaft, der Gesellschaft, und der Form des personalistischen Solidaritätssystems selbständiger, selbst- und mitverantwortlicher Individuen.26 Denn diese Unterschiede gehen – wie sich im folgenden zeigt – stets und notwendig mit Unterschieden der Denk- und Anschauungsformen gemeinsam einher. Das Denken z.B. in vorwiegender Lebensgemeinschaft einer historischen Gruppe muß notwendig vorwiegend sein: 1) ein traditional gegebenes Wissens- und Wahrheitskapital erhaltend und beweisend – nicht also forschend und findend; ihre lebendige Logik und »Denkart« wird eine »ars demonstrandi«, nicht eine »ars inveniendi« und construendi sein; 2) ihre Methode muß vorwiegend ontologisch und dogmatisch sein – nicht erkenntnistheoretisch und -kritisch; 3) ihre »Denkart« muß begriffsrealistisch sein – nicht nominalistisch wie in der Gesellschaft; aber sie wird gleichwohl nicht mehr die Worte selbst als die Eigenschaften und Kräfte von Dingen fassen wie die Menschen der primitiven Horde, wo nach Lévy-Bruhls treffendem Worte aller Wissenserwerb auf einem »Gespräch« des Menschen mit Geistern und Dämonen beruht, die sich in den Erscheinungen der Natur ausdrücken und verlautbaren; 4) ihr Kategoriensystem muß vorwiegend organologisch (d.h. am Organismus ideiert, und dann auf alles generalisiert) sein, also auch die Welt für sie eine Art »Lebewesen« sein – nicht ein Mechanismus wie in der Gesellschaft.

Trotz dem in concreto grundverschiedenen Gange, den die Geschichte einer geistigen Kultur und ihrer Gebilde nehmen kann, sind ihr dennoch bestimmte Phasen sehr formaler Art also soziologisch vorgezeichnet, aus deren Spielräumen auch das eigentliche »Historische«, d.h. Individuelle, Niewiederkehrende, nicht herauszufallen vermag. So ist etwa die mittelalterliche Universität (Paris, Prag, Heidelberg usw.) in ihrer historischen Faktizität und die neuzeitliche Universität des absoluten Staates in ihrer tiefgehenden Umgestaltung – zuerst durch die Reformation und den Humanismus, dann im Zeitalter des Absolutismus, endlich nach der Französischen Revolution durch die liberale Ära – sicher ein Gegenstand, der sich in seiner innerhalb der verschiedenen werdenden Nationen sehr verschiedenen Entwicklung nur historisch schildern läßt. Daß aber diese Universität in ihrem Lehraufbau und -plan, der das Herrschaftsverhältnis zwischen Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der mittelalterlichen Gesellschaft und in den Ständen scharf widerspiegelt, nicht wesentlich Forschungsinstitut in lebender Sprache ist, sondern an erster Stelle ein Institut »gelehrter« Tradition und Überlieferung in einer toten Sprache – das ist keine historische, sondern eine soziologische Tatsache. Wir können sie daher ebenso in bestimmten Phasen der arabischen, jüdischen und chinesischen Kulturgeschichte studieren, z.B. in den Bildungseinrichtungen des alten China im Verhältnis zu dem China seit dem Sturz der Dynastie. Ebenso ist der Ablauf des sog. »Universalienstreites« in der mittelalterlichen Philosophie27 eine nur historisch zu erkennende Tatsache. Daß aber die begriffsrealistische Denkart als lebendige Art zu »denken« selbst – nicht als logische »Theorie« – im Mittelalter vorwog, in der Neuzeit aber die nominalistische Denkart – das ist wieder eine soziologische Tatsache. Daß die organologische kategoriale Struktur des mittelalterlichen Weltanschauungsgegenstandes sich in der Herrschaft des Platonismus und Aristotelismus darstellt, daß das mechanisch-technische Denken mit Gilbert, Galilei, Ubaldis, Leonardo, Descartes, Hobbes, Huygens, Dalton, Kepler, Newton einsetzt und sich emporbildet, das sind historische Tatsachen – nicht aber die Ablösung eines Denkens, das alle Wirklichkeit, die tote und die geistige Welt, Denk- und Seinsformen unterordnet, die primär am lebendigen Organismus erschaut wurden (»Form« und »Stoff«), durch ein Denken, das in der »Bewegung toter Massen« und ihren Gesetzen Formen erschaut, denen, sowie sie funktionalisiert sind, nun auch die lebendige, soziale, ökonomische, geistige, politische Welt sukzessive untergeordnet wird oder doch werden »soll«. Das ist eine soziologische Tatsache, untrennbar von dem neuen Individualismus, untrennbar vom beginnenden Vorwiegen der Kraftmaschine vor dem manuellen Werkzeug, von der beginnenden Auflösung von Gemeinschaft in Gesellschaft, der Produktion für den freien Markt (Warenwirtschaft), vom Verschwinden des vitalgebundenen Solidaritätsprinzips zugunsten ausschließlicher Selbstverantwortung, und Aufkommen des Konkurrenzprinzips im Ethos und Wollen der abendländischen Gesellschaft. Daß in einem wesensmäßig unendlichen Prozeß – eine Idee, die Aristoteles und dem Mittelalter ganz fremd war – durch methodische, von den Personen und bestimmten technischen Aufgaben abgelöste »Forschung« Wissen über die Natur auf Vorrat zu beliebiger Verwendung aufgestapelt wird, und diese neue »positive« Wissenschaft sich von Theologie und Philosophie, die erst zu Beginn der Neuzeit in personalgebundenen geschlossenen Systemen erscheint, schärfer und schärfer scheidet – dies alles ist nicht möglich ohne die gleichzeitige Zerbrechung der mittelalterlichen Bedarfswirtschaft und ohne das Aufkommen des neuen Geistes prinzipiell unendlichen Erwerbens (eingeschränkt nur durch die gegenseitige Konkurrenz) in der Wirtschaft; nicht möglich ohne die neue Pleonexie der absolutistischen, merkantilistischen Staaten, die, im scharfen Gegensatz zum »christlichen Abendland« unter Papst und Kaiser, das durch das Prinzip des »balance of power« zusammengehaltene »europäische Konzert« bilden. –

Eine weitere Aufgabe der allgemeinen Kultursoziologie ist das Problem, welchen essentiellen Bewegungsformen die Kulturgebiete resp. bestimmte Bestandteile der Kulturgebiete, z.B. Stil der Kunst und Kunsttechnik, unterworfen sind: welchen Bewegungen des Aufblühens, Reifens, Vergehens. Die Bewegungsformen der Wissensarten sind nur ein spezieller Fall dieser großen, umfassenden Frage der soziologischen Dynamik der Kultur.

Es scheinen mir mehrere große Fragenkomplexe zu sein, in die dieses Gebiet zerfällt: Nimmt und wie weit nimmt die Geisteskultur an der prinzipiellen Sterblichkeit der noch vorwiegend biologischen Kollektiv- und Abstammungseinheiten teil, die ihre Träger und Produzenten waren und sind, resp. in welchen Größenordnungen (nicht metrischen Größen) der Dauerhaftigkeit stehen die Gebiete der geistigen Kultur zueinander, z.B. Religion zu Philosophie, Philosophie zu Wissenschaft usw.? Nennen wir dieses Problem das Problem von dem Grade der »Überlebensfähigkeit der Kultur« über die Existenz der sie produzierenden Gruppen. In welchen Gebieten ist ferner Kultur nur einmaliger, nie-wiederholbarer Lebens- und Seelenausdruck (Spengler sagt »Physiognomik«; er dehnt diese Form der Bewegung irrtümlich auf alle Kultur aus) der Kollektivseele der biologischen Kollektiva, die Kultur tragen, so daß sie mit deren kollektiv biologischer Totalexistenz, z.B. den Erbrassen, den Völkern und Stämmen, den zugehörigen soziologischen Realfaktoren und deren Zuständlichkeiten notwendig verschwindet?

In welchen Wert- und Sachgebieten ist zweitens jene besondere Art des »Wachsens« der Kultur vorwiegend, die – beruhend auf einem nur geistigen Übernehmen von Volk zu Volk in der Zeit (Tradition und Rezeption) – zugleich ein Bewahren des einmal gewonnenen Kulturinhalts und ein Überwinden und Überhöhen des Gewonnenen in einer neuen, lebendigen Kultursynthese ist – ein »Aufheben« im Doppelsinne Hegels – so aber, daß a) kein lebendiger Kultursinn einer abgelaufenen Periode hierdurch entwertet wird, b) zwar nicht Gültigkeit und Sinngehalt der Kulturinhalte, wohl aber ihr Ursprung in prinzipiell unersetzlicher und unvertretbarer Weise bestimmten individuellen Kultursubjekten in der Abfolge der Zeiten und im Nebeneinander zugeordnet bleibt? In dieser Bewegungsform könnte man nicht nur, man müßte vielmehr von einer überbiologischen, also mithin von der blutsmäßigen, politischen und ökonomischen Existenz der Völker unabhängigen Kooperation der Kultursinngehalte sprechen, z.B. des »Geistes« der antiken Kultur, des »Geistes« der konfuzianischen Ethik oder der buddhistischen Kunst im Werden einer »Welt«- und Universalkultur – einer Kooperation, die auf einem einmaligen Bestimmtsein eines individuellen Kultursubjektes (Zeitalter oder Kulturkreis) für einen nur durch dieses Subjekt erwirkbaren individuell-spezifischen »Kulturberuf« beruht. Es ist leicht ersichtlich, daß sich in der speziellen Sphäre des »Wissens« nur solches Wissen in dieser Bewegungsform befinden kann, das erstens vom Quantum induktiver Erfahrung unabhängig ist, also Wesenswissen ist; das zweitens sich in Kategorialstrukturen funktionalisiert hat; drittens nur einer bestimmten Phase und einem bestimmten konkreten Subjekte der universalen Geschichtsentwicklung »zugänglich« ist. Ich nenne diese Bewegungsform »Kulturwachstum durch Verflechtung und Aufnahme der vorhandenen Geistesstrukturen in eine neue Struktur«, und vermeide den von E. Troeltsch, K. Mannheim und anderen gebrauchten hegelschen Ausdruck »dialektisches Wachstum« – obgleich ich zugebe, daß Hegel diese Form des Wachstums als Form geschaut hat, so völlig unzureichend auch seine geschichtsphilosophische Anwendung dieser Kategorie schon vermöge seines bis zur äußersten Naivität europäistisch eingeengten Horizontes war. Daß Hegel sie schaute, das bezeugt sowohl seine Lehre von einer Entwicklung der Kategorien – im Gegensatz zur kantischen Stabilitätslehre der Vernunft, im scharfen Unterschied auch zum bloßen Fortschritt ihrer Anwendung auf quantitativ wachsende Erfahrungsmaterialien –, als auch seine Lehre, daß erst der überzeitliche, aber in der historischen Zeit sich sukzessiv enthüllende Sinnzusammenhang aller historischen Kulturen den Totalsinn der Weltgeschichte ausmache – und nicht irgendein zeitliches Fernziel, ein sog. »Endzustand« kontinuierlichen »Fortschrittes« wie innerhalb der positivistischen Systeme z.B. Comtes und Spencers. Die tiefe Wahrheit Leopold v. Rankes, es sei jede Phase der Kultur »gleich unmittelbar zu Gott«, es habe jedes Zeitalter und Volk sein »eigenes Selbst«, an dessen idealem Wesen es zu messen sei, es gebe keine »Mediatisierung der Epochen durch die Folgeepochen«, ist ein Teilelement dieser Idee vom »Wachstum« – wenn auch nur ein Teilelement. Freilich ist bisher der Gedanke möglicher Monopole und sozusagen Vorrechte der Früh- und Jugendperioden einzelner Kulturen ebenso für gewisse Leistungen und Hervorbringungen wie auch für gewisse unersetzliche Wissensarten, sowie der jüngeren Menschheit überhaupt gegenüber der je reiferen (z.B. besonders für Erlösungswissen und Bildungswissen) noch viel zuwenig erwogen worden.28

Erst die dritte Bewegungsform ist diejenige, die wir als kumulativen Fortschritt (resp. Rückschritt) in der Zeitfolge bezeichnen, als »internationale« Kooperation in der Gleichzeitigkeit. Während Religion, Kunst, Philosophie in ihrem übertechnischen Kerne vor allem der zweiten Bewegungsform angehören, sind die exakten Wissenschaften, sofern sie auf Zählung und Messung beruhen, sind ferner die positiven Techniken der Naturbeherrschung und der sozialen Organisation (im Unterschied zu den Formen der Staatskunst), in der Medizin alles, was im Unterschiede von der »ärztlichen Kunst« auf dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik beruht (z.B. an erster Stelle die Chirurgie), Hauptsubstrate möglichen kumulativen Fortschritts. Der Unterschied dieser Bewegungsform von der zweiten ist offensichtlich. Handelt es sich doch hier nur um Güter, die sich kumulativ und ohne notwendige Veränderung der Denkart, des Ethos, der Geistesstrukturen selbst aufeinanderschichten, so daß jede Generation einfach auf den Schultern der Resultate der vorangegangenen steht; ferner um Wertgüter, die kontinuierlich von Zeitalter zu Zeitalter, von Volk zu Volk übertragbar und rezipierbar sind, und in deren Erwerb oder Förderung, sind einmal die »Methoden« gefunden und entdeckt – welche Auffindung und Entdeckung selbst freilich nur die Folge einer besonderen historisch-individualistischen Geistesstruktur sein kann, z.B. für unsere positive Wissenschaft und Technik die einmalige Struktur des spätabendländischen Kulturzusammenhangs –, sich die Mitglieder aller Kulturtotalitäten prinzipiell ersetzen und beliebig vertreten können. Diese Bewegungsform ist kontinuierlich weiterschreitend, auch über alle möglichen Völkeruntergänge hinweg, wenn ich so sagen darf, und auch natürlich über ihr seelisches Ausdrucksgefüge hinweg. Und nicht minder schreitet sie durch die Bewegungsphasen und Synthesen der zweiten Art sozusagen reibungslos hindurch. Die Reihenform der Zeit, in der dieser »Zivilisationskosmos« (wie Alfred Weber ihn genannt hat) fortschreitet, ist zwar hier ebenso vorhanden wie im Falle des Kulturwachstums. Aber das, was im »Fortschritt« die Stelle der Zeitreihe erfüllt, ist hier ausschließlich an das Quantum der wachsenden zufälligen Erfahrung der Menschheit, an die Größe der je vorgefundenen Leistung gebunden – nicht aber an einen positivindividuellen »Kulturberuf«, nicht an eine inhaltlich-qualitative geistige Kulturbestimmung der konkreten Kultursubjekte. Darum, und nur darum ist hier, im scharfen Unterschiede zur zweiten Bewegungsform, je Entwertung des älteren Stadiums mit dem »Fortschritt« des folgenden notwendig verbunden; und darum gibt es hier nichts Ähnliches wie über zeithaften Sinnzusammenhang der Kulturinhalte, »kosmopolitische« Kooperation in immer neuen Kultursynthesen – sondern einheitlichen, stetigen, potentiell unbegrenzten Fortschritt auf ein Endziel hin: a) auf ein Weltbild, dessen Elemente, ausgesondert nach dem Herrschaftswert und Herrschaftswillen eines geistigen Vitalsubjektes über die Natur (die seelische, gesellschaftliche, tote), den Inbegriff aller Gesetze der raumzeitlichen Koinzidenzen der Erscheinungen enthalten, das also unabhängig ist ebensowohl von der psychovitalen Natur wie von der geistpersonhaften Individualität der Kulturträger, das aber gestattet, Natur zu beliebigen Zwecken zu lenken; b) auf den Inbegriff der zu dieser Lenkung notwendigen Vorrichtungen (Technik) hin. So sehr diese dritte Bewegungsform allen anderen überlegen ist an Einheit, Kontinuität, Voraussagbarkeit der Stadien der Bewegung, Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit, ferner auch an positiver Werterhöhung, d.h. Fortschrittscharakter (gegenüber Rückschritt), ferner an Sicherheit und Gradlinigkeit, an prinzipieller Unbegrenztheit, so ist ihre Sinngebung und Bewertung selbst jedoch wieder ganz bedingt durch den Gehalt des metaphysischen Wissens, unter dessen Typen die Bewegung des ganzen Sachgebietes nur einem ganz bestimmten Typus entspricht. – Die bisher angedeuteten Probleme betreffen nur gesetzmäßige Werdensbedingungen, die zwischen den Produkten des Geistes selbst obwalten. Aber die tiefsten und fruchtbarsten Fragen der Kultursoziologie liegen in einem Problemkreis anderer Art beschlossen: Er ist begrenzt durch die Frage, in welcher gesetzmäßigen Ordnung die den Triebstrukturen der führenden Eliten je objektiv entsprechenden realen Institutionen auf die Produktion, Erhaltung, Förderung oder Hemmung jener idealen Sinnwelt einwirken, die zu jedem Zeitpunkt der realen Begebenheits- und Zustandsgeschichte diese Geschichte der Wirklichkeiten überschwebt, ferner aber auch immer der möglichen Geschichte der Zukunft als Projekt, Erwartung, Glaube, Programm vorschwebt. Es ist ja eine nur der Menschengeschichte eigene, jeglicher Naturerkenntnis und sog. Naturgeschichte völlig fehlende Erkenntnismöglichkeit, daß wir in der Menschengeschichte nicht nur Werdensprozesse aus festen Gewordenheiten erschließen und gleichsam interpolieren können, sondern vielmehr das Werden des Gewordenen selbst kraft unseres Nacherlebens der Interessen, der Bestrebungen, der Planungen, der Programme und Projekte, der mißglückten »Versuche« mitzuverfolgen vermögen, aus denen diese und jene geschichtliche Wirklichkeit allererst herausquillt: stets herausquillt als ein nur minimaler Teil aus diesen, den je gegebenen Wirklichkeiten vorausschreitenden Ideen und Wollungen, Projekten und Plänen – stets auch prinzipiell anders beschaffen, als irgendeine Gruppe oder irgend jemand überhaupt, der eine geschichtliche Rolle spielte, gewollt, gewußt und erwartet hat. Diese immer ungeheure quantitative und qualitative Verschiedenheit der geistig möglichen, d.h. der zu jedem Zeitpunkt potentiellen und werdenden Geschichte von der Geschichte, die Begebenheit, Werk und wirklicher Zustand geworden ist, können wir kraft der doppelten Erkenntnisquelle des Nacherlebens der Pläne, Projekte, Ideen einerseits und all dessen, was dann als wirklich geschehen erkannt wird, selbst noch klar erkennen.

Diese stets und konstant vorhandene Differenz zwischen dem Werdenden und Gewordenen bezeichnet nun aber die Stelle, wo die Wirksamkeit der Realfaktoren in die Geschichte des Geistes und seiner idealen Werke eingreift und das sinnlogisch zu Erwartende bald von aller Verwirklichung ausschließt, bald seine »Sinnkontinuität« zerreißt und sprengt, bald fördert und »verbreitet«. Es ist der grundsätzliche Fehler aller naturalistischen Geschichtserklärungen, daß sie den Realfaktoren, die sie als die sog. ausschlaggebenden ansetzen – sei es Rasse, geopolitische Struktur, politische Machtverhältnisse oder Verhältnisse der ökonomischen Produktion –, die Rolle zuschreiben, diese ideale Sinnwelt, wie wir sie in den Werken des Geistes verkörpert finden und an ihnen uns zum Verständnis bringen, eindeutig zu determinieren; mit einem Wort: daß sie diese ideale Welt aus der realen Geschichtswelt sogar »erklären« zu können meinen. Es ist aber der mindestens gleich große Irrtum aller ideologischen spiritualistischen und personalistischen Geschichtsauffassungen, daß sie umgekehrt vermeinen, die Geschichte der realen Begebenheiten, der Institutionen und der Zustände der Massen direkt oder auf einem Umweg als eine geradlinige Fortsetzung der Geschichte des Geistes begreifen zu können.

Wir hingegen sagen: Nur Leitung und Lenkung29 einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom »Willen« der Menschen unabhängiger und geist-wertblinder Geschehnisse und Zustände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang der Realgeschichte zu leisten. Er vermag kein bißchen mehr! Wo Ideen keinerlei Kräfte, Interessen, Leidenschaften, Triebe und deren in Institutionen verobjektivierte »Betriebe« finden, da sind sie – was immer ihr geistiger Eigenwert sei – realgeschichtlich völlig bedeutungslos. Es gibt auch nichts, was »List der Idee« (Hegel) heißen könnte, durch die eine Idee gleichsam von hinten herum sich der Interessen und Affekte »bedienen« und sie also meistern könnte. Die Zustände und Ereignisse kümmern sich keinen Deut um solche vermeintliche »Listen«! Was Hegel die »List der Idee« nannte, ist nur die Übertragung des liberalen und statischen Harmoniesystems des 18. Jahrhunderts auf die Dynamik der Abfolge historischer Stadien. Die Abfolge der Realgeschichte ist insofern vollendet gleichgültig