Die Wölfin - Nate Blakeslee - E-Book

Die Wölfin E-Book

Nate Blakeslee

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Beschreibung

»Blakeslee erzählt nicht nur die faszinierende Geschichte der berühmtesten Wölfin von Yellowstone, sondern gibt auch einen Einblick in den kulturellen und politischen Konflikt zwischen Umweltschützern und Wolfsgegnern in Amerika. Ein Muss für jeden Wolfsfreund.« Elli H. Radinger, Autorin des Bestsellers »Die Weisheit der Wölfe«

Der Yellowstone-Nationalpark ist ein Paradies für Wölfe – und das Mekka all jener, die sie beobachten und verstehen wollen. Hier lassen sich die Raubtiere so gut studieren wie nirgends sonst auf der Welt. Nate Blakeslee porträtiert in seinem packenden Buch eine außergewöhnliche Fähe, die sich dank ihrer Schlauheit und Ausdauer, ihres Durchsetzungsvermögens und entbehrungsreichen Kämpfens für ihre Nachkommen zur Leitwölfin des Lamar-Valley-Rudels entwickelte – „O-Six“, benannt nach ihrem Geburtsjahr 2006. Tragischerweise schützte ihr legendärer Ruf O-Six nicht davor, von einem Jäger knapp außerhalb des Schutzgebiets erlegt zu werden.

Eine minutiös recherchierte Betrachtung nicht nur des sagenhaften Wesens Wolf, sondern auch unserer Zerrissenheit angesichts dieses Tiers, das wie kaum ein anderes unsere Obsession mit und Urängste vor der Wildheit der Natur hervorbringt.

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Seitenzahl: 454

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Zum Buch

Das Lamar Valley im Yellowstone-Nationalpark ist ein Paradies für Wölfe – und das Mekka all jener, die sie beobachten und verstehen wollen. Nate Blakeslee porträtiert eine außergewöhnliche Fähe aus diesem Tal, die sich dank ihrer Schlauheit und Ausdauer, ihres Durchsetzungsvermögens und entbehrungsreichen Kämpfens für ihre Nachkommen zur legendären Leitwölfin entwickelte – »O-Six«, benannt nach ihrem Geburtsjahr 2006.

Eine minutiös recherchierte Betrachtung nicht nur des sagenhaften Wesens Wolf, sondern auch unserer Zerrissenheit angesichts dieses Tiers, das wie kaum ein anderes unsere Obsession von und Urängste vor der Wildheit der Natur hervorbringt.

Zum Autor

Nate Blakeslee studierte Amerikanistik an der University of Texas, bevor er sich einen Namen als investigativer Journalist machte. Sein erstes Buch Tulia, über Rassismus und Korruption in einer texanischen Kleinstadt, und diverse Reportagen, etwa über einen Missbrauchsskandal in einem Jugendgefängnis, brachten ihm zahlreiche Preise ein, sorgten für landesweite Schlagzeilen, Gerichtsverfahren und Rücktritte. Die Wölfin ist sein zweites Buch. Blakeslee lebt mit seiner Familie in Austin, Texas.

NATEBLAKESLEE

DIE

WÖLFIN

Die wahre Geschichte des

berühmtesten Raubtiers von Yellowstone

Aus dem Englischen

von Antoinette Gittinger

BLESSING

Originaltitel: American Wolf – A True Storyof Survival and Obsession in the West Originalverlag: Crown, Penguin Random House LLC, New York

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Motto-Zitate aus Richard III. in: Shakespeares sämtliche dramatische Werke,übers. von Schlegel und Tieck, 6. Bd., Stuttgart 1889, S. 86

Margaret Atwood, Der blinde Mörder,München, 2000, S. 462

Copyright © 2017 by Nate Blakeslee

Copyright © 2020 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

Fotos Bildteil: © Jimmy Jones Photography

Umschlagabbildung: JimmyJonesPhotography.com

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16453-9V001

www.blessing-verlag.de

Für Manny und June

Es wäre wunderbar, wenn wir nicht den Fährten der Politiker, der Gesetze, des Viehs, der Menschen, der Jäger und der Straßen folgen müssten. Es wäre wunderbar, wenn wir einfach in den dunklen Wäldern bleiben und uns auf die unbelastete Biologie konzentrieren könnten: Fußgrößen und Körpergewicht, Ernährung, Vielfalt und Verbreitung. Auch das wäre Fiktion.

Rick Bass, The Ninemile Wolves

»Das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung.

Ich kenne keins, und bin daher kein Tier.«

Richard III.

Weil alle Geschichten von Wölfen handeln. Jedenfalls alle, die was taugen. Alles andere ist sentimentales Geschwafel … Denk mal darüber nach. Man kann vor den Wölfen fliehen, man kann gegen die Wölfe kämpfen, man kann die Wölfe einfangen, man kann sie zähmen. Man kann den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden oder umgekehrt die anderen den Wölfen vorwerfen, damit die Wölfe sie und nicht einen selbst fressen. Man kann mit den Wölfen heulen. Man kann zum Wolf werden. Oder, am besten, man kann zum Anführer des Wolfsrudels werden. Andere anständige Geschichten gibt es nicht.

Margaret Atwood, Der blinde Mörder

Inhalt

Anmerkung des Autors

O-Six-Abstammungslinie

Karte des Lamar Valley

Prolog – 6. Dezember 2012

1  Die Rückkehr des Wolfs

2  Im Tal der Druids

3  Ein Star wird geboren

4  Killer

5  Der König von Currumpaw

6  Rebellen im Salbei

Bildteil

7  Iron Man

8  Rückkehr ins Lamar Valley

9  Verrat

10  Das Blutbad der Mollies

11  »Das Schlimmste, was ich Ihnen berichten könnte«

12  Ein guter Tag im Park

13  Genug ist genug

Epilog

Danksagung

Quellenverweise

Anmerkung des Autors

Jede Szene dieses Buchs, in der Wölfe beschrieben werden, basiert auf zeitgenössischen Beobachtungen. All dies hätte ich nicht ohne die großzügige Unterstützung von Laurie Lyman bewerkstelligen können. Sie lieh mir ihre Notizen – etwa 2 500 Seiten – über die Wölfe im Yellowstone-Nationalpark. Lauries tägliche Beobachtungen, ergänzt durch Notizen ihrer Freunde, brachten mir die Wölfe des Lamar-Canyon-Rudels näher, und auf ihnen basiert meine Erzählung des Lebens von O-Six und ihrer Familie.

Rick McIntyre gab mir liebenswürdigerweise Kopien seiner eigenen Notizen von Schlüsselmomenten im Leben des Rudels, die es mir, zusammen mit meinen Interviews mit anderen Beobachtern, ermöglichten, diese Szenen plastischer zu schildern.

Rick und Lauries Mitarbeit sollte nicht als Bestätigung der Vorstellungen – über Wölfe oder Menschen –, die auf diesen Seiten zu finden sind, gedeutet werden. Es sind meine eigenen.

Schließlich wurden die Namen und Erkennungsmerkmale zweier Personen geändert. In dieser Darstellung werden sie Steven und Wayne Turnbull genannt, um ihre Privatsphäre zu schützen.

O-Six-Abstammungslinie

Karte des Lamar Valley

Prolog

6. Dezember 2012

Der Jäger ließ seinen Pick-up am Ende der Schotterstraße stehen und stapfte durch den frisch gefallenen Dezemberschnee. Er war ein breitschultriger, scharfsichtiger Mann mittleren Alters, der ein braunes Carhartt-Sweatshirt trug und schwere Winterstiefel anhatte. Das Schneefeld vor ihm, blau getönt vom weichen Morgenlicht, war von Wolfsspuren durchzogen. Er folgte ihnen bis an den Rand eines offenen Felds. Dahinter, ungefähr eine Viertelmeile entfernt, erhob sich ein steiler, stark bewaldeter Berghang, und rechts davon zeichnete sich ein weiterer Gipfel ab, der die Morgensonne verdeckte.

Um den kräftigen Hals des Jägers hing an einer Schnur eine braune Plastikpfeife, geformt wie eine Schachfigur. Er setzte sie an die Lippen und blies ein paar Mal kurz hinein, wobei er mit dem Finger die kleine gerillte Trichteröffnung am Ende der Pfeife mehrmals zudeckte, um damit das Wimmern eines sterbenden Waldkaninchens nachzuahmen. Es ähnelte stark dem Weinen eines unter Koliken leidenden Babys, einem Geräusch, das er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Er wartete eine halbe Minute, sandte dann einen weiteren Ruf durch die dünne Bergluft. Dieser war zuerst schrill und herausfordernd, verklang dann aber als leises Wimmern.

Der Ruf musste authentisch klingen, was die meisten Menschen nicht begriffen. Es war sinnlos, wie in ein Kazoo hineinzublasen. Der Trick bestand darin, sich vorzustellen, wie es wäre, bei lebendigem Leib von einem Kojoten gefressen zu werden und das Entsetzen und die Schmerzen dieser Todesart zu erleben.

Und man musste Geduld aufbringen. Seit Wochen pirschte er sich an das Rudel heran, machte hier und da einen oder zwei Wölfe aus, gelangte aber nie in Schussweite. Er hatte in der Nacht zuvor allein mit seinen hohlen Händen und seiner Stimme ihr Heulen nachgeahmt und schließlich eine Antwort von ihnen erhalten. Sie waren ganz nah gewesen, so wie jetzt auch. Er wartete ab.

Sein Name war Steven Turnbull, und er kam aus dem Crandall-Tal mitten in den Absaroka Mountains, nordwestlich von Cody, Wyoming. Der Clarks Fork, ein Nebenfluss des Yellowstone River, floss im Westen durch einen engen Canyon, der sich am Ende in einen weiten, von Murray-Kiefern gesäumten Talkessel öffnete, in den der Crandall Creek von den Berghängen, die an den Yellowstone-Nationalpark grenzten, in Kaskaden herabstürzte. Der Crandall Creek war nach einem Goldgräber benannt, der im Frühjahr 1870 auf dem Weg zu einer vielversprechenden Goldmine in der Nähe des Quellgebiets des Clarks Fork von Indianern getötet wurde. Da die nächstgelegene Siedlung mindestens zwanzig Meilen entfernt war, wurden die Leichen von Marvin J. Crandall und seinem Partner erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden, als ein Suchtrupp am Ufer des Bachs auf ihre abgeschlagenen Köpfe stieß, angeblich aufgespießt auf die eigenen Spitzhacken der Männer.

Das Crandall-Tal war nach wie vor schwer zu erreichen, insbesondere im Winter. Es gab nur eine Straße, den zweispurigen Chief Joseph Highway. Im Sommer führte die kurvenreiche Straße durch eine malerische Landschaft von Cody durch den Shoshone National Forest bis Yellowstone – Luftlinie ungefähr dreißig Kilometer westlich des Flussbeckens – über eines der zerklüftetsten Gebiete der Northern Rockies. Im Winter kamen die Schneepflüge nicht weiter als bis zum Westrand von Crandall; für die Tour zum Yellowstone brauchte man ein Schneemobil.

Das Jahr über lebten nur rund fünfzig Menschen in dem Tal, züchteten Vieh oder betrieben eine der wenigen Touristen-Ranches oder einen Outfitter Store für Jagdbedarf. Ein einziger als Painter Outpost bekannter kleiner Laden bot Frühstück und Bier an, verpflegte im Winter hauptsächlich Schneemobilfahrer und Jäger mit Lebensmitteln und im Sommer die wenigen Yellowstone-Touristen, die wild entschlossen waren, die kaum befahrene Straße zum Park zu nehmen.

Kurz nach der Ankunft von Marvin Crandall und anderen Goldsuchern wurde Yellowstone zum Nationalpark ausgerufen – dem ersten der USA –, um seine Ressourcen vor dem Ansturm aus dem Westen zu schützen, der Ende des 19. Jahrhunderts über die Rocky Mountains hereinbrach. Tatsächlich aber ignorierten die Pelzhändler, die massenweise in den Park vordrangen, diese Schutzmaßnahme wie fast alles andere auch, was die Hauptstadt Washington vorgab. Heute wird Yellowstone, zumindest im Sommer, von Touristen überflutet. Turnbull hielt sich nur selten dort auf. Der Park war für Touristen gedacht – Crandall hingegen war, besonders im Winter, wenn ein Meter Schnee lag, das echte Wyoming.

Etwas für sich hatte der Yellowstone-Nationalpark allerdings, und das waren die Wapitis. Jeden Winter verließen gewaltige Herden den Park und zogen vom Hochland in das tiefer gelegene, weniger schneereiche Weideland. Einige folgten dem Lauf des Clarks Fork nach Osten und hinab ins Crandall-Tal, das monatelang als eine Art Highway für Hochwild fungierte. Turnbull hatte den Überblick darüber verloren, wie viele Wapitis er im Lauf der Jahre in diesem Tal erlegt hatte.

Nach der Wiederansiedelung der Wölfe wurde alles anders. Einst waren die Hirsche jeden Winter in den Talkessel hinuntergewandert, in manchen Jahren an die tausend. Man konnte das Tier, das man schießen wollte, fast wie in einem Katalog auswählen. Jetzt konnte man von Glück sagen, wenn man über den Winter zweihundert entdeckte, und der Staat Wyoming hatte damit begonnen, die Zuteilung der Lizenzen für die Hirschjagd durch ein Losverfahren zu vergeben. Was übrig blieb, nahmen sich die Wölfe.

Im Lauf der letzten fünfzehn Jahre hatten sich die Wölfe ausgebreitet – weit über die Grenzen des Parks hinaus, in den Wildhüter der Regierung Mitte der 1990er-Jahre die ersten Rudel wiedereingeführt hatten. Wie die meisten Menschen, die er kannte, war Turnbull von Anfang an gegen den Plan gewesen und vertrat die Meinung, dass es nun viel zu viele Wölfe in Wyoming gab. Aber natürlich hatte ihn niemand nach seiner Meinung gefragt.

Genauso verhielt es sich mit den Grizzlys. Als Kind hatte er überall im Crandall seinen Schlafsack ausrollen und auf dem Boden schlafen können. Heute würde er das nicht mehr tun. Über die Jahrzehnte hatten die Schutzmaßnahmen aus Washington für Wälder voller Bären gesorgt – so viele, dass man sie nicht im Hinterland suchen musste, man sah sie von der Straße aus. Die Menschen sahen sie direkt vor ihren Blockhütten, wenn sie morgens auf die Terrasse traten. Zur Sicherheit trug Turnbull immer eine 44er Magnum bei sich, wenn er durch die Wälder streifte (sogar in der Jagdsaison, wenn man das eigentlich nicht sollte).

Die Grizzlys beanspruchten ebenfalls ihren Anteil am Wild, vor allem neu geborene Hirsche – doch weitaus weniger als die Wölfe. Die Wildhüter im Yellowstone-Nationalpark behaupteten, der Rückgang des Wildes sei in erster Linie auf die Trockenheit zurückzuführen, aber Turnbull glaubte ihnen nicht. Er hielt die Wölfe dafür verantwortlich. Er hatte die abgenagten Kadaver in den Wäldern mit eigenen Augen gesehen.

Turnbull war vor allem an der Hochwildjagd in Wyoming interessiert. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Rindfleisch im Laden gekauft hatte. Von Zeit zu Zeit besorgte er sich vielleicht etwas Rindertalg, um das magere Hirschfleisch zu saftigen Burgern zu verarbeiten. Aber Fleisch war für ihn gleichbedeutend mit Hirsch. Obwohl es in der Gegend schwierig war, an Laubholz zu kommen, fand er doch immer genug, um jeden Winter sein eigenes Dörrfleisch räuchern zu können. Mit einer guten Prise grob gemahlenem schwarzen Pfeffer und etwas Knoblauch gab es nichts Besseres. Er verpackte es in Beutel und schenkte es seinen Freunden, zumindest denen, die nicht selber schon Säcke davon besaßen.

Er war nicht nur wegen des Fleisches jeden Herbst in den Wäldern. Er liebte die Hirsche, und er liebte die Berge, in denen die Hirsche zu Hause waren. Er besaß ein Haus in einer kleinen Stadt, ungefähr eine Fahrstunde in östlicher Richtung. Doch die meiste Zeit verbrachte er in seiner Blockhütte im Crandall. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit allen möglichen Jobs in der Umgebung: Im Sommer strich er Hütten an, die er im Winter als Hauswart verwaltete, er hackte Feuerholz und verrichtete alle möglichen Handwerkerarbeiten.

Als er fünf war, hatte sein Großvater ihn zum ersten Mal in das Hinterland von Cody zur Hasen- und Entenjagd mitgenommen. Als Teenager ging er mit dem alten .30-40 Krag-Gewehr seiner Mutter, das die Army vor dem Ersten Weltkrieg verwendet hatte, auf die Jagd. Er wusste nicht genau, wie alt das Gewehr wirklich war; sein Großvater mütterlicherseits hatte es als Hochzeitsgeschenk bekommen und es dann seiner Tochter geschenkt, als diese heiratete. Es war nur bis zu einer Weite von etwa neunzig Metern zuverlässig, und die Mündungsgeschwindigkeit war so gering, dass man praktisch zuschauen konnte, wie die Kugel aus dem Gewehrlauf kam. Turnbulls Schwester hatte ihn nach dem Tod der Eltern um das Gewehr gebeten, und er hatte nichts dagegen gehabt, denn er besaß inzwischen ein sehr viel besseres, das er jedoch selten benutzte. Er war jetzt hauptsächlich mit Pfeil und Bogen unterwegs, mit denen er Elche, Schwarzbären, achthundert Pfund schwere Wapitibullen – jede Art von Großwild, das sich in diesen Bergen herumtrieb – erlegte.

Er liebte die Eleganz des Bogens, der Waffe, die die Indianer jahrhundertelang zur Wapitijagd in diesen Wäldern benutzt hatten (auch wenn sie heute erheblich weiterentwickelt ist). Man hatte ihm beigebracht, an ein Tier immer so nah wie möglich heranzukommen, bevor man schoss. Und wer das Gewehr zu Hause ließ, musste das Heranpirschen üben. Er sah sich alle Jagdsendungen an, las alle Jagdzeitschriften und stellte fest, dass heutzutage anscheinend besonderer Wert auf das Schießen aus großer Distanz gelegt wurde. Ein Fabrikant in Cody stellte ein Gewehr her, das angeblich einen Hirsch aus einer Entfernung von rund neunhundert Metern töten konnte. Turnbull hielt das für unethisch. Für ihn war die faire Jagd, also die Haltung, nach der ein Jäger jegliche Technik vermeiden sollte, die ihm einen ungeziemenden Vorteil gegenüber dem Wild verschaffte, mehr als nur ein hohle Phrase.

Ein weiterer positiver Aspekt dieser Jagdmethode bestand darin, dass die Saison für die Hirschjagd mit Pfeil und Bogen schon im September begann, einen Monat vor der allgemeinen Gewehrjagd. Das hieß, dass man nur wenige Jäger in den Wäldern antraf. In den letzten Jahren war Crandall bei auswärtigen Jägern immer beliebter geworden. Die wohlhabende Klientel konnte geführte Jagdtouren buchen – wenn auch nicht mehr ganz so viele wie früher, als es noch mehr Wapitis gab. Private Farmen entlang des Clarks Fork waren wegen der leicht zu jagenden Herden und der gewaltigen Bullen weltbekannt. Er konnte es sich nicht leisten, dort auf die Jagd zu gehen, und das machte ihm nichts aus. Der Großteil des Crandall-Gebiets galt als National Forest, also Staatsforst, wo jeder einen Hirsch mit einer 50 Dollar teuren Abschussgenehmigung, einem sogenannten tag, jagen konnte – sofern man einen ergattern konnte.

Wenn die Jagdsaison mit Pfeil und Bogen begann, war er am liebsten in den Wäldern. Das Wetter im September war immer noch schön. Die Tage waren warm und die Nächte kühl genug, um die Herbstfarben in den Espen, Pappeln und Weiden zur Geltung zu bringen. Die Bullen waren brünstig, stießen in ihren Harems Brunftschreie aus und kämpften mit ihren Rivalen.

Bei den warmen Temperaturen musste das Fleisch so schnell wie möglich weggeschafft werden – wegen der Bären konnte die Jagdbeute ohnehin nicht über Nacht im Wald zurückgelassen werden. Am nächsten Morgen, wenn man zurückkam, wäre nichts mehr von dem Wapiti übrig, oder noch schlimmer, man würde einen siebenhundert Pfund schweren Grizzly auf der Beute liegend antreffen.

Im Oktober fand die Gewehrjagd auf die Wapitibullen statt, gefolgt von der auf geweihlose Hirsche, die gewöhnlich Mitte November begann. Ende Dezember war die Jagdsaison vorbei, aber Turnbull fand immer noch einen Grund, durch die Wälder zu streifen. Er pirschte sich mit seiner Videokamera an die Tiere heran, filmte die großen Bullen an ihren Lieblingsplätzen, erkannte sie an ihren Geweihen. Im Spätwinter sammelte er Geweihstangen und versuchte gelegentlich, sie den Bullen in seinen Aufzeichnungen zuzuordnen. Die Wälder waren voller abgeworfener Geweihstangen. Er lud sie auf seinen Pick-up und verkaufte sie pfundweise in der Stadt. Die meisten wurden zu Tierfutter verarbeitet. Im Frühjahr kam die Schwarzbärensaison, und im Sommer trainierte er das Schießen mit Pfeil und Bogen und befiederte seine Pfeile. Es war die einzige Zeit des Jahres, in der man auf Ziele schießen konnte, ohne Pfeile im Schnee zu verlieren.

Grizzlys durfte man nicht schießen – zumindest nicht legal. Aber jetzt konnte man endlich Wölfe jagen. Er wusste nicht, warum die Bürokraten in Cheyenne und Washington so lange gebraucht hatten, um zu erkennen, was ihm schon lange klar war. Er hatte nichts gegen Wölfe im Crandall-Tal. Im Gegensatz zu einigen seiner Cowboy-Freunde – die jeden einzelnen Wolf getötet hätten, um ihr Vieh zu schützen, hätte man ihnen die Gelegenheit dazu gegeben – fand er, dass sie in die Landschaft gehörten. Aber der Bestand musste kontrolliert werden. Als im Herbst nach mehr als fünfzig Jahren die erste legale Wolfsjagdsaison in Wyoming angekündigt wurde, hatten die Wildhüter in diesem Teil des Shoshone National Forest die Abschussquote auf acht festgelegt, und im Crandall war Turnbull einer der Ersten gewesen, der die 12 Dollar für einen tag hingelegt hatte. Nach zwölf Wochen Wolfsjagd waren bereits sieben erlegt worden, und er hatte immer noch seine Abschussgenehmigung in der Tasche. Jetzt wollte er unbedingt den letzten Wolf erwischen.

Es war fast sieben Uhr, als die beiden Wölfe an den Weiden entlang des Feldes auftauchten. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt und bewegten sich hintereinander über den unberührten Schnee. Einer war völlig schwarz und so groß, dass er ein voll ausgewachsener Rüde sein musste. Das andere Tier, wohl seine Partnerin, wie Turnbull vermutete, war eine graue Fähe. Sie war kleiner, aber immer noch von beachtlicher Größe. Ihr dickes Winterfell war unten weiß und ging an den Flanken in Grau über. Die langen Deckhaare auf ihrem Rücken und ihren Schultern waren schwarz getüpfelt, wie ein Cape. Aus dieser Entfernung hätte man die graue Wölfin für einen ausgerissenen Schlittenhund aus Alaska halten können, hätte sie nicht direkt neben ihrem dunklen Gefährten gestanden, der eindeutig ein Wolf war und mit nichts anderem auf diesem Erdboden hätte verwechselt werden können.

Die Wölfe sahen den Jäger sofort, rannten jedoch nicht weg. Langsam hob er das Gewehr an die Schulter und blickte durch das Zielfernrohr.

Er hatte genug Zeit, seine Wahl zwischen ihnen zu treffen.

1     Die Rückkehr des Wolfs

Die Wölfe trieben einen Wapiti den Hang einer steilen, schneebedeckten Bergkuppe hinunter. Der Himmel war bedeckt und grau. Es waren drei Wölfe. Die Fähe an der Spitze schimmerte fast weiß. Dicht hinter ihr kam ihre Schwester, eine ziemlich große graue Wölfin. Ein ausgewachsener schwarzer Rüde folgte in einigen Metern Entfernung. Er hatte Mühe, mit den anderen mitzuhalten, seine Schnauze und sein Widerrist waren ergraut.

Die Wapitikuh war eine von vielen auf der Bergkuppe gewesen. Jetzt war sie allein, lief panisch in das weite Tal hinab, wobei sie den mit Flechten bedeckten vereisten Findlingen, die den Hang übersäten, auswich – einige hatten die Größe von kleinen Hütten. Manche übersprang sie und rannte dann weiter durch den Salbei und den Kriechwacholder. Der Winter hatte erst begonnen, der Schnee war noch nicht tief und bot einen festen Untergrund, der den Hirsch begünstigte. Für ein derart riesiges Tier – sie war mindestens fünf Mal schwerer als jeder ihrer Verfolger – war sie erstaunlich flink und wendig. Ihre schokoladebraunen Ohren lagen eng am Kopf an, und ihr wogendes, eierförmiges Hinterteil war genauso braungelb wie das Riedgras, das durch den Schnee hervorlugte. Sie schien eine unerreichbare Beute zu sein.

Die Wapitikuh steuerte auf den Fluss zu, was Hirsche oft taten, wenn Wölfe sie verfolgten. Das tiefe Wasser bot langbeinigen Tieren einen Vorteil: Ein schwimmender Wolf ist nicht in der Lage, sich in seine Beute zu verbeißen und sie in die Knie zu zwingen. Deswegen endet eine Jagd häufig in einer Pattsituation: Ein Wapiti steht bis zu den Hüften im Wasser und beobachtet argwöhnisch ein Rudel Wölfe, das am Ufer lungert und geduldig abwartet, ob das kalte Wasser den Wapiti zwingt, an Land zurückzukehren. Die Zuflucht, die die Wapitikuh suchte, war der Lamar River, nicht weit entfernt von der Stelle, wo er mit dem Yellowstone zusammenfloss. An diesem Wintermorgen war er völlig zugefroren. Vielleicht wusste sie das nicht oder vielleicht hat sie in ihrer Panik keine andere Stelle gesehen, zu der sie laufen konnte.

Es waren nur ungefähr fünfhundert Meter vom Fuß der Bergkuppe bis zum Fluss. Aber sobald sich die Verfolgungsjagd in der Ebene abspielte, schlossen die Wölfe allmählich die Lücke.

Die vier Tiere stürmten jetzt mit voller Geschwindigkeit hintereinander geradeaus, wirbelten den Schnee zu einem pulverigen Nebel auf wie den Staub unter den Hufen eines Rennpferds. Der Kampf war zu einem reinen Geschwindigkeitswettbewerb geworden, und die Kaniden – die ursprünglichen Vorfahren des Windhunds, unbefleckt von der Inzucht, die sie ihrer tigerartigen muskulösen Schultern, des riesigen Kopfes und der kräftigen Kiefer beraubte – rannten mit einer solch kraftvollen Energie, dass es das Huftier nicht mit ihnen aufnehmen konnte.

Als das Rennen sich seinem Höhepunkt näherte, stach die graue Wölfin hervor. Ihr Körper schien sich zu strecken und auszudehnen, während der Boden unter ihr vorbeiflog. Ihre Beine waren lang – viel länger als die eines Hundes – und ihre Hüften schmal wie die eines Geparden. Sie hatte die Rute steil aufgestellt, und ihr Kopf sah aus wie ein abgeflachtes Dreieck. Sie schoss dahin wie ein Pfeil, und im Vergleich zu ihr wirkte die Hirschkuh plötzlich nicht nur schwerfällig, sondern auch übermäßig aufrecht – leider. Jedes Mal, wenn die Hirschkuh aus dem Tritt kam, nachdem sie ein wenig im tiefen Schnee gestrauchelt war, hatte sie weniger Zeit, sich wieder zu fangen, bis schließlich überhaupt keine Zeit mehr blieb.

Die Wölfe rissen die Hirschkuh in einem Sumpf zwischen zwei zugefrorenen Tümpeln nieder.

Ungefähr eine Viertelmeile entfernt stand ein Mann am Straßenrand und beobachtete die Wölfe beim Fressen. Er hieß Rick McIntyre und arbeitete für den National Park Service. Eingehüllt in einen schweren schwarzen langen Mantel, kennzeichnete ihn lediglich das vertraute Waldgrün seiner Hose als Parkangestellten. Er arbeitete in einem Gebiet des Yellowstone-Nationalparks, der als Little America bekannt war. Hier schlängelte sich der Lamar River durch eine Reihe niedriger Hügel und felsiger Anhöhen in der gebirgigen Northern Range des Parks. Rick war sechzig, doch dank seiner aufrechten Haltung und der hoch gewachsenen, schlanken Gestalt ließ sich sein Alter schwer schätzen, zumal er eine Pudelmütze über das schütter werdende rote Haar gestülpt hatte.

Er überblickte die Szene durch ein Spektiv, eine Art dreibeiniges Teleskop, das für die Beobachtung von Wildtieren benutzt wurde. Von Zeit zu Zeit griff er in seinen Mantel, zog einen Mikrokassettenrekorder aus der Brusttasche seiner Uniform und sprach seine Beobachtungen darauf – kurz und präzise. Dann verstaute er den Rekorder wieder in seinem Mantel. Er stand meist regungslos hinter seinem Spektiv und beobachtete stillschweigend die Szene. Es war der 12. Dezember 2009, neun Uhr morgens, und der 3467. Tag in Folge, den er im Park verbrachte, um Wölfe zu beobachten. Für Rick, dessen Wecker gegen vier Uhr morgens geklingelt hatte, war bald Zeit für die Mittagspause. Die Wölfe waren häufig bei Tagesanbruch aktiv, und er wollte zur Stelle sein, wenn die Landschaft im Morgendunst erkennbar wurde, etwa eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Sonnenaufgang.

Der Rüde und die Fähe mit dem weißen Fell, die er durch sein Teleskop sah, ein festes Paar, trugen dicke Lederhalsbänder, an denen Funksender befestigt waren. Anhand ihrer Signale hatte er sie aufgespürt. In jedem Rudel im Yellowstone-Nationalpark lebte mindestens ein Wolf, der von einem Hubschrauber aus mit einem Narkosepfeil beschossen worden war und dem dann das kleine Team der Wolfsbiologen des Parks ein Senderhalsband mit einer Nummer angelegt hatte. Jeden Morgen fuhr Rick so lange herum, bis die Dachantenne seines gelben Nissan-SUV das unverwechselbare Signal eines Wolfes auffing. Dann stieg er in der Dunkelheit aus, um mit seinem tragbaren Funkempfänger die Umgebung abzusuchen.

Während Rick beobachtete, wie die drei Wölfe an dem Hirschkadaver zerrten, wanderte sein Blick wieder zu der grauen Wölfin. Sie trug kein Halsband, was bedeutete, dass ihr noch keine Nummer zugewiesen worden war, aber sie hatte einen Spitznamen: O-Six – das war ihr Geburtsjahr, 2006. Aus dieser Entfernung erfasste sein Teleskop jedes Detail – sie hätte genauso gut zu seinen Füßen sitzen können. Sie war ein Prachtexemplar mit dichtem Fell und schwerer gebaut als die meisten Fähen, die im Durchschnitt etwa neunzig Pfund wogen.

Ein schwarzer Wolf unterschied sich meistens nicht groß vom anderen, bei grauen sah das anders aus. O-Six besaß ungewöhnlich attraktive Kennzeichen – ein hellschwarzes Oval um jedes Auge und entlang des Nasenrückens zwei weiße Streifen. Auch ihre Wangen waren weiß, ein durchgehender grauer Streifen verlief vom Kopf bis zur Nasenspitze und ging dann zu beiden Seiten der Schnauze in Gelbbraun über. Das Ganze wirkte wie eine eulenartige Maske, was ihr ein Aussehen von ruhiger Konzentration verlieh.

Sie war als Mitglied des Agate-Creek-Rudels geboren worden, in einem Bau ungefähr fünf Meilen südlich, nicht weit von der Stelle, wo der Agate Creek in den steinigen, schwefelhaltigen Canyon einmündete, durch den der Yellowstone River floss. Nachdem sie ihr Rudel als Jährling verlassen hatte, war sie in den letzten zwei Jahren mehr oder weniger ständig auf Wanderschaft gewesen, hielt Ausschau nach einem Gefährten und einem eigenen Revier.

Bisher hatte sie keinen Erfolg gehabt. Rick hatte im vergangenen Winter beobachtet, wie sie sich mit fünf unterschiedlichen Wölfen gepaart hatte, ohne sich mit einem von ihnen niederzulassen, was für eine einzelne Wölfin ungewöhnlich war. Es war auch riskant. Junge Wölfe mussten ihr Geburtsrudel verlassen, um einen Gefährten zu finden. Befanden sie sich aber allein außerhalb ihres heimatlichen Lebensraums, schwebten sie in ständiger Gefahr. Fast jeder Teil des Yellowstone-Nationalparks gehörte dem einen oder anderen Rudel, und die verschiedenen Gruppen machten unaufhörlich die Runde in ihrem Reich. Einzelne Wölfe, die beim unerlaubten Eindringen in ein Revier erwischt wurden, mussten damit rechnen, verfolgt zu werden. Gelegentlich prallten ganze Rudel aufeinander, insbesondere entlang der Reviergrenzen. Territorialkonflikte waren die häufigste Todesursache für die Wölfe im Nationalpark. Die meisten von ihnen lebten nicht länger als vier bis fünf Jahre. Das Leben war für die Wölfe ein Abenteuer, doch gewöhnlich kein langes.

Mit dreieinhalb hatte O-Six bereits ein mittleres Alter erreicht. Sofern sie nicht bald einen Gefährten fand, waren ihre Aussichten nicht gerade rosig. Wäre sie ein Rüde gewesen, hätte die Situation vielleicht anders ausgesehen. Junge Wölfe, die keine Gefährtin fanden, wurden manchmal in fremden Rudeln akzeptiert. Diese nachrangigen männlichen Wölfe durften sich gewöhnlich nicht fortpflanzen – lediglich der Leitwolf besaß dieses Privileg –, hatten aber zumindest die Chance, eines Tages von einem Alttier die Führung zu übernehmen. Gewöhnlich gab es in den Rudeln nur eine einzige Fähe, die Leitwölfin, die für die Fortpflanzung sorgte, und sie neigte dazu, jede neue Wölfin abzulehnen, die eigene Junge austragen könnte. Nur wenige einzelne Wölfe beider Geschlechter fanden je, was sie suchten: Entweder kehrten sie zu ihrem Geburtsrudel zurück oder sie starben einsam, weit entfernt von ihrem Zuhause.

Doch O-Six hatte die Gabe, sich nicht erwischen zu lassen, und war aufgrund ihres Mutes zu einer von Ricks Favoritinnen geworden. In den vergangenen Monaten hatte sie sich den beiden Wölfen mit Senderhalsbändern, die er durch sein Teleskop sah, angeschlossen – ihrer älteren Schwester und einem Wolf, mit dem sie nicht verwandt war. Sie jagten in den Randbereichen des Agate-Reviers und drangen auf ihrer Suche nach nicht besetzten Gebieten immer weiter nach Norden vor.

Dieses Arrangement schien nicht auf Dauer angelegt zu sein. O-Six war eine hervorragende Jägerin, was sich für ihre Begleiter als Vorteil erwies, aber für sie selbst sprang nicht viel dabei heraus. Sobald ihre Schwester im Frühjahr Junge mit ihrem neuen Gefährten hatte, würde sie die Leitwölfin des neuen Rudels sein. O-Six würde sich ihr in jeder Beziehung fügen müssen, solange sie gesund war und Junge zur Welt bringen konnte. Rick konnte sich das nicht vorstellen. O-Six passte einfach nicht in das Schema der Beta-Wölfin, die sich damit begnügte, auf ihre Chance zu warten, die Führungsposition zu übernehmen und eigene Jungen zu haben. Sie besaß nicht das Naturell dafür.

O-Six’ Urgroßmutter war eine der ersten Wölfinnen gewesen, die wieder im Nationalpark angesiedelt wurden. Sie war in der Prärie im Westen Kanadas eingefangen worden, achthundert Meilen nördlich, und dann im Winter 1995 mit dem Flugzeug und per Lkw nach Süden transportiert worden. Zu dieser Zeit hatte es seit etwa sieben Jahrzehnten fast keine Wölfe mehr im Yellowstone-Nationalpark gegeben. Die Grauwölfe, die einst in nahezu jedem Habitat zwischen dem nördlichen Polarkreis und dem heutigen Mexico City anzutreffen waren, wurden jahrhundertelang gejagt und vergiftet – ein Krieg, der wegen ihrer wertvollen Pelze und zum Schutze des Viehs geführt wurde. In den meisten Kernstaaten der USA waren sie in den 1920ern ausgerottet.

Die letzten Wölfe, die im Yellowstone-Nationalpark zur Welt kamen – zwei Wolfsjunge, die man in der Nähe des Soda Butte Creek entdeckte, etwa fünfzehn Meilen von der Stelle, an der Rick im Augenblick stand –, wurden 1926 erschossen. Sie wurden nicht von Wilderern, sondern von Park Rangern getötet. Nahezu mit Eröffnung des Parks im Jahr 1872 hatte die Parkleitung eine rigorose Bestandskontrolle für Raubtiere eingeführt, deren Hauptzweck der Schutz des Großwilds war – Wapitis, Antilopen, Elche und Dickhornschafe –, die als Hauptattraktionen des Parks galten. Ranger hoch zu Ross übernahmen jetzt den Job der Trapper: Sie stöberten Wolfsbauten auf, töteten die Jungen und fingen dann die heimkehrenden Eltern ein oder verfolgten sie, um sie ebenfalls zu töten.

Das Wildtiermanagement als Wissenschaftszweig steckte noch in den Kinderschuhen, und die Parkleitung glaubte allen Ernstes, dass Raubtiere letztendlich die Beutepopulation des Parks dezimieren würden, wenn man sie sich selbst überließe. Ihr war nicht bewusst, dass Wölfe und Wapitis jahrtausendelang eine friedliche Koexistenz im Yellowstone-Nationalpark geführt und beide Gattungen sich gemeinsam entwickelt hatten – was erklärte, weshalb der Wapiti genauso schnell rennen konnte wie der Wolf, aber nicht schneller. Nach der letzten Eiszeit prägten die Wölfe die Entwicklung einer breiten Vielfalt von Beutetierarten in Nordamerika und formten buchstäblich die Natur um sie herum. Die gewaltige Größe des Elchs, die Wendigkeit des Weißwedelhirschs, der verblüffende Gleichgewichtssinn des Dickhornschafs – der Architekt dieser und zahlreicher weiterer Wunder war der Wolf.

Die ersten Manager des Parks hatten auch keine Vorstellung davon, was aus einem Ökosystem ohne Raubtiere werden würde. Nachdem man die Wölfe eliminiert hatte, explodierte der Huftierbestand im Park, und die Qualität des Weidelands nahm rasant ab. Überweidete Abhänge erodierten, und Bachufer ohne Büsche bröckelten ab und beeinträchtigten so die Lebensbedingungen der Forelle. Wapitis, die unbehelligt von Raubtieren in aller Ruhe ästen, dezimierten junge Espen- und Weidenbestände. Zu viele Tiere in der Landschaft führten zu Nahrungsmangel und Krankheiten, und die Hirschpopulation folgte einem Boom-Bust-Zyklus.

In den 1930ern hatte die Parkleitung keine andere Wahl, als genauso zu verfahren, wie sie es mit den Wölfen getan hatte. Park Ranger schlachteten die riesigen Wapitiherden des Parks ab, erlegten in einem Durchschnittsjahr Tausende von Tieren (gewöhnlich im Winter, wenn nur wenige Touristen anwesend waren und das Blutbad beobachten konnten). Das ging so bis in die 1960er-Jahre, als dann Jäger in den Gebieten, die an den Park grenzten, die Parkbeamten drängten einzugreifen. Sie wussten: Weniger Wapitis im Yellowstone-Park hieß, dass im Winter auch weniger Wapitis aus dem Park in die angrenzenden Gebiete wandern würden. Das wiederum hieß weniger Jagdglück. Daher beschloss die Parkleitung, dass die Hirschpopulation wieder ungehindert wachsen durfte.

In den frühen 1940er-Jahren kam die Vorstellung auf, dass Wölfe vielleicht die Lösung der Probleme von Yellowstone sein könnten. Aber erst in den 1970ern erwog die Regierung ernsthaft deren Wiederansiedlung. Bestimmte Beamte in Idaho, Wyoming und Montana (den Staaten, die den Park umgeben) lehnten die Idee entschieden ab, und zwar aus Rücksicht auf zwei Wählergruppen, die einen sehr großen Einfluss auf die Lokalpolitik ausübten: Rancher und Jäger. Die Rancher, deren Vorfahren mitgeholfen hatten, die Berge von Raubtieren zu säubern, fürchteten, sie könnten Vieh einbüßen, wenn die wiederangesiedelten Wölfe sich jenseits der Grenzen des Parks ausbreiteten. Die Hirschjäger wiederum wussten, dass die Wölfe von dem gleichen Wild lebten, das sie schätzten – und sie hatten es doch gerade erst geschafft, die Ranger von den Wapitis fernzuhalten. Aus der Perspektive der Jäger war jeder Wapiti, der von einem Wolf gerissen wurde, eine verpasste Gelegenheit, und die Wölfe verzehrten viel Hirschfleisch.

In den Northern Rockies war die Jagd ein großes Geschäft – nicht nur für die professionellen Outfitter – die Jagdführer –, die auf den kontinuierlichen Strom von Kunden angewiesen waren, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, sondern auch für die Restaurants und Motels, die den Zustrom von auswärtigen Jägern, die jeden Herbst eintrafen, bewirteten und beherbergten. Als eine bedrohte Spezies standen die Wölfe nicht nur im Yellowstone unter Schutz, sondern auch außerhalb des Parks. Um die angrenzenden Staaten für die Sache zu gewinnen, hatte die zuständige Naturschutzbehörde, der U.S. Fish and Wildlife Service, eine Zusage gemacht: Sobald die wiederangesiedelte Wolfspopulation zahlreich und stabil genug wäre, würde der Wolf von der Liste bedrohter Tierarten genommen werden, und die Staaten könnten ihre jeweiligen Populationen nach Belieben handhaben. Es wurde auch gemunkelt, dass man so letztlich eine jährliche Wolfsjagdsaison etablieren würde. Doch die Gegner der Wiederansiedlung kämpften buchstäblich bis zum letzten Augenblick und verzögerten das Öffnen der Wolfskäfige bis zur Entscheidung über ihre finalen Schriftsätze durch einen Bundesrichter.

Schließlich gewannen die Befürworter der Wiederansiedlung, und die Wölfe wurden mit großem Trara im Park in die Freiheit entlassen. Der Innenminister Bruce Babbitt und Mollie Beattie, die Leiterin der Naturschutzbehörde, halfen höchstpersönlich, die Käfige die letzte Strecke durch den tiefen Januarschnee zum Ort der Freilassung zu tragen. Die Yellowstone-Wölfe waren mit Senderhalsbändern ausgestattet und wurden zunächst in drei Anpassungsgehegen ausgesetzt, von denen jedes etwa einen halben Hektar groß war. Die Mitarbeiter des Wolf Project hofften, dass sich durch die Eingewöhnungszeit in den Gehegen das Risiko verringern würde, dass die Wölfe nach ihrer Freilassung wieder zurück nach Kanada wanderten. Die Wahrheit war, dass niemand genau wusste, was geschehen würde, denn noch nie zuvor war so etwas versucht worden.

Einen Monat nach Öffnung der Gehege im März 1995 verlor das Wolf Project sein erstes Exemplar. Der Wolf war bekannt unter der Nummer 10 und bei Weitem das fantastischste Tier, das von Kanada in den Yellowstone gebracht worden war, der Inbegriff eines Leitwolfs. Allein seine Betäubung, um ihm ein Senderhalsband anzulegen, war eine Herausforderung gewesen. Er schnappte nach dem Pfeil mit der Spritzennadel und biss ihn mit seinen kräftigen Kiefern durch, und zwar nicht ein-, sondern zweimal. Die meisten gefangenen Wölfe gerieten in Panik, wenn sich Menschen näherten, aber Nummer 10 besaß die beunruhigende Angewohnheit, seinen Fängern in die Augen zu starren. Die Biologen des Project brachten ihn zusammen mit Nummer 9, einer ausgewachsenen Fähe, sowie Nummer 7, ihrer Tochter, in einem Gehege unter, obwohl es keineswegs sicher war, dass das Trio unter solch unnatürlichen Gegebenheiten eine Bindung eingehen würde. Zur Überraschung der Wissenschaftler paarten sich Nummer 9 und Nummer 10 noch vor Verlassen des Geheges. Auf dem Trio, aus dem bald ein Rudel werden würde, ruhten große Hoffnungen. Man rechnete damit, dass es kurz nach ihrer Ansiedelung im Park einen neuen Wurf geben würde – nach Jahrzehnten den ersten im Yellowstone-Nationalpark.

Aber Nummer 10 und seine trächtige Gefährtin schlugen den Weg nach Norden über den Druid Peak ein, verließenYellowstone und begaben sich mitten in die Absaroka-Beartooth-Wildnis – mit Nummer 7 im Schlepptau. Zwei Tage später empfing Doug Smith, der leitende Biologe des Projekts, von einem kleinen Flugzeug aus ihr Signal. Sie befanden sich weit über der Baumgrenze in den schroffen Absaroka Mountains und peilten das noch höhere Beartooth Plateau an. Nur ein Wolf konnte im Winter so hoch steigen – in eine circa dreitausend Meter hohe zerklüftete Einöde –, doch es war unwahrscheinlich, dass just diese Wölfe, die aus den Ebenen Westkanadas kamen, so etwas schon erlebt hatten.

Das langfristige Ziel des Wiederansiedlungsprojekts war es, dass die verstreuten Wölfe die Wildgebiete, die sich außerhalb des Parks erstreckten, allmählich neu besiedelten, eine Fläche von knapp achtzigtausend Quadratkilometern, bekannt als Greater Yellowstone Ecosystem.

Aber nicht schon in der ersten Woche, und nicht bevor der Park selbst – unberührt von Wilderern, Vieh und viel befahrenen Highways – wieder neu besiedelt worden war. Schließlich kehrte das Trio in den Park zurück. Aber danach wurde Smith elf qualvolle Tage lang durch Schlechtwetterverhältnisse am Fliegen gehindert. Der Aufenthaltsort des Rudels war unbekannt.

Endlich wurden die Wölfe wieder geortet, und Nummer 7 war offenbar nicht weit gekommen, doch die Leitwölfe hatten den Park wohl erneut verlassen und waren vierzig Meilen weiter nordöstlich gezogen, dort wo der Absaroka-Gebirgszug ausläuft und die Great Plains von Montana beginnen, in der Nähe einer Stadt namens Red Lodge. Das Signal vom Halsband von Nummer 9 ließ vermuten, dass die Wölfe sich an einer relativ zugänglichen Stelle unterhalb eines Gipfels namens Mount Maurice befanden. Aber der Sender von Nummer 10 piepte doppelt so schnell wie normal und signalisierte so den Tod des Tiers.

Als Smith und sein Team sich zur letzten Ortung von Nummer 9 begaben, entdeckten sie, dass die Wölfin in aller Eile eine Mulde in die Erde gegraben und offensichtlich ihre Jungen zur Welt gebracht hatte, aber weit und breit waren weder sie noch die Jungen zu sehen. Diese Wendung der Dinge war verheerend, doch so leicht ließ Smith sich nicht abschrecken. Der hochgewachsene, schlanke, attraktive Smith mit dem dichten braunen Haar und dem Zwirbelbart war nicht nur Wildbiologe, sondern auch ein Mann der Berge – jemand, der eine Studie konzipieren und einen brillant geschriebenen Beitrag liefern konnte, doch gleichermaßen in seinem Element war, wenn er Wapitis jagte oder mit einem Betäubungsgewehr aus einem Hubschrauber hing, der über die Baumspitzen knatterte.

Smith zog Carter Niemeyer, den besten Fährtenleser, den er kannte, hinzu, der die Suche nach den Welpen leiten sollte. Niemeyer kannte Nummer 9 und 10 sehr gut, denn er hatte sie von Kanada hierhergebracht. Bevor er sich in das Yellowstone Wolf Project, wie die Wiederansiedlungsbemühungen bezeichnet wurden, hatte einbinden lassen, war er als Regierungstrapper tätig gewesen, der »schädliche« Tiere für Farmer und Rancher tötete, sowie als professioneller Tierpräparator. Dass man ausgerechnet ihn für ein Programm anheuerte, das Raubtiere wieder in der Landschaft ansiedeln sollte, war schon seltsam. Aber die Behörde brauchte jemanden, der das Vertrauen der einheimischen Trapper im entlegenen Hinterland westlich von Alberta gewinnen konnte. Niemeyer, der im Lauf seines Lebens Tausenden von Kojoten – und gelegentlich auch Wölfen – das Fell abgezogen hatte, war der richtige Mann für den Job.

Nicht, dass das ein leichter Job gewesen wäre. Die Trapper, die jeden schief ansahen, der einen Wolf lebendig haben wollte, forderten Niemeyer, 48 Jahre alt und 1,85 m groß, dazu auf, sein Handwerkszeug fürs Hinterland unter Beweis zu stellen. Er fand sich am Waldrand auf dem Boden einer Trapperhütte mit einem Messer in der Hand wieder, während er und einer der Ortsansässigen, beide betrunken dank selbst gemachtem Traubenkirschwein, darum wetteiferten, wer einen frisch getöteten Wolf schneller enthäuten konnte. Niemeyer ging als Sieger hervor und kehrte mit den Wölfen zurück, die für das Project gebraucht wurden.

Niemeyer, der sich jetzt über den Hang des Mount Maurice vorwärtskämpfte, knurrte wie eine Wölfin, die nach ihren Jungen sucht. Endlich hörte er Wimmern und Fiepen tief unter einem Felsgeröll. Der Suchtrupp beförderte acht junge Wölfe unter den Felsen hervor und brachte sie, zusammen mit ihrer Mutter, in den Park zurück, wo sie als Rose-Creek-Rudel bekannt wurden.

Wie sein Halsband angezeigt hatte, war Nummer 10 tatsächlich tot. Er war von einem Ortsansässigen namens Chad McKittrick erschossen worden. Nachdem dieser festgenommen und angeklagt worden war, ein Exemplar einer bedrohten Tierart erschossen zu haben, behauptete er, er habe gedacht, es mit einem tollwütigen Hund zu tun zu haben. Nicht gerade das perfekte Verbrechen, denn ein Freund von McKittrick hatte Nummer 10 das Halsband abgenommen und es in einen Abflusskanal geworfen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das Halsband natürlich völlig wasserdicht war und immer noch Signale sendete. Der Angeklagte war alles andere als reumütig. Während er auf Kaution frei war, ritt er bei der jährlichen Parade zum vierten Juli mitten durch Red Lodge. Auf seinem T-Shirt war zu lesen: NORTHERNROCKIESWOLFREDUCTIONPROJECT.

McKittricks Trotzhaltung brachte ihm bei manchen Einheimischen einen gewissen Ruhm ein. Als ein Bundesrichter ihn zu sechs Monaten Gefängnis verdonnerte, war das Wasser auf die Mühlen derer, die gegen die Wiederansiedlung der Wölfe und die Regierung im Allgemeinen waren: Übereifrige Bürokraten in Washington hatten ihnen die Wölfe aufgezwungen, aber sie würden nicht einfach nur die Hände in den Schoß legen und nichts tun.

In den Jahren nach der Wiederansiedlung wurden im Rahmen des Projekts viele Beiträge in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht. Rick selbst hatte jedoch nie einen geschrieben. Im ländlichen Massachusetts zur Welt gekommen und aufgewachsen, ging er kurz nach seinem Collegeabschluss in Forstwirtschaft zum Park Service – aber er war zum »Interpretive Ranger« ausgebildet worden und kein Biologe. Dies bedeutete, dass er dreißig Jahre damit verbracht hatte, mit Besuchern zu reden und ihnen zu erklären, was sie da beobachteten. 1976 hatte er damit begonnen, als Saisonranger zu arbeiten. Den Winter hatte er damals meistens im Westen von Texas, im Big Bend National Park, verbracht, und den Sommer im Denali National Park in Alaska.

Das Leben als Saisonranger erforderte Genügsamkeit. Da man keinen festen Wohnsitz hatte, konnte man nur wenige Besitztümer haben; und man konnte auch keine Verpflichtungen oder festen Beziehungen eingehen. Nicht dass man von vielen Menschen umgeben gewesen wäre, mit denen man näheren Kontakt hätte pflegen können – beide Parks verfügten nur über ein Minimum an Personal. Im Denali, einer Fläche von knapp achttausend Quadratkilometern, in der es nur eine Straße gab, war es sogar schwierig, Nachrichten aus den südlichen Nachbarstaaten zu erhalten. Rick lebte allein im Untergeschoss des Besucherzentrums, 66 Meilen vom nächsten Highway entfernt. Es wäre nicht jedermanns Sache gewesen, aber es entsprach völlig seinem Wesen; er war schon immer am liebsten allein gewesen.

Als der Yellowstone-Wiederansiedlungsplan Anfang der 1990er-Jahre allmählich Formen annahm, hatte Rick bereits endlose Stunden damit verbracht, Wölfe im Denali zu beobachten. Tief im straßenlosen Hinterland des Parks hatte er sein erstes Exemplar erspäht. Seitdem war er fasziniert von Wölfen und hatte seine gesamte Freizeit damit verbracht, sie zu beobachten und zu fotografieren. 1993 gab er ein Buch mit seinen Wolfsfotos sowie Essays über die Wiederansiedlungen in verschiedenen Nationalparks heraus. Aus der Ferne verfolgte er die Fortschritte des Yellowstone-Projekts, während dieses ein bürokratisches Hindernis nach dem anderen überwand. Nachdem der Park fast siebzig Jahre lang keine Wölfe mehr beherbergt hatte, besaß Yellowstones Naturkundeabteilung, wie Rick wusste, keinen Ranger mit einschlägiger Erfahrung, der die Besucher betreuen konnte. Er überzeugte die Yellowstone-Oberen davon, ihn zum allerersten »Wolf Interpreter« zu machen. Nachdem er fünfzehn Saisons in Denali verbracht hatte, wurde Yellowstone seine neue Sommerheimat.

Rick traf im Mai 1995 ein, nur wenige Monate nachdem die ersten Wölfe freigelassen worden waren, und stieß auf eine Bevölkerung, die hinsichtlich der Sinnhaftigkeit einer Wiederansiedlung noch immer tief gespalten war. Schnell fand er heraus, welche Tankstellen, Restaurants, Motels und Kuriositätenläden von Pro-Wolf- und welche von Anti-Wolf-Inhabern geführt wurden. Der Souvenirladen im Untergeschoss des Flughafens von Bozeman, Montana, bot wirklich alles an, was Wölfe betraf – Plüschtiere, Nippsachen, Kalender und Poster –, wohingegen der Laden im Obergeschoss in der Nähe der Gates nichts dergleichen führte. Ein wolfsbegeisterter Freund von Rick hatte die Frau am Ladentisch oben einmal gefragt, weshalb das so sei. Nach einigem Zögern legte die Verkäuferin schließlich die Karten auf den Tisch. »Weil wir Wölfe nicht mögen, darum!«, sagte sie.

In manchen Fällen standen gesamte Gemeinden auf der einen oder der anderen Seite. Rick fuhr zum Beispiel nur selten in die Berge östlich des Parks, obwohl er wusste, dass die Yellowstone-Wölfe bis Crandall herumstreiften. Er wusste, dass Crandall eine Gegend war, in der Hirschjagd und Viehhaltung betrieben wurden und Wölfe dort nicht beliebt waren. Ricks gelber SUV mit seiner verräterischen Antenne war leicht auszumachen, und er befürchtete, Ortsansässige könnten ihm in der Hoffnung folgen, einen Wolf zu erwischen. Das Project hatte in den ersten Jahren mindestens drei Wölfe durch Wilderer im Crandall verloren. Das Tal war dafür bekannt geworden, dass Wölfe, die sich vom Yellowstone-Nationalpark dorthin wagten, nicht zurückkehrten.

Rick selbst lebte in einer Blockhütte etwa zwanzig Meilen nordwestlich davon, in der kleinen Gebirgsstadt Silver Gate. Die Stadt befand sich unmittelbar außerhalb des nordöstlichen Parkeingangs, der von Touristen nur selten benutzt wurde. Im Sommer lebten hier vielleicht fünfundzwanzig Menschen dauerhaft. Vor Einbruch des Winters zogen die meisten von ihnen in tiefer gelegene Gegenden um. Der Winter setzte Mitte Oktober ein und dauerte mindestens fünf Monate.

Rick hatte in New England Schnee erlebt, aber der Winter in Silver Gate war etwas völlig anderes. Der Ort, der in einem engen Tal in 2 300 Meter Höhe lag, verzeichnete jährlich im Durchschnitt fünf Meter Schnee, und Rick wachte so manchen Morgen bei Temperaturen von minus 30 Grad auf. Er gewöhnte sich nie richtig daran, hatte aber gelernt, sich anzupassen. Jeder seiner Handschuhe hatte in der Nähe des Handgelenks ein kleines Loch, in dem sich eine Neun-Volt-Batterie befand, die winzige elektrische Impulse erzeugte, um seine Finger aufzuwärmen und Frostbeulen zu verhindern. Täglich fuhr er mit seinem SUV den Schnee vor seiner Blockhütte platt, es sei denn, der Schnee hatte sich so aufgetürmt, dass er sie nicht verlassen konnte. Schneepflüge sorgten dafür, dass die Straße westlich von Silver Gate zum Park hin zugänglich blieb, aber die Straße nach Osten war hinter dem angrenzenden Weiler Cooke City gesperrt. Im Winter war niemand ohne guten Grund in Silver Gate.

Aber wenn man Wölfe liebte, war der Ort unschlagbar. Als man die Wölfe wieder im Park ansiedelte, bestimmten die Verantwortlichen des Wolf Project ein breites Flusstal im nordöstlichen Abschnitt des Parks, das Lamar Valley, als einen der Orte, wo die Wölfe freigelassen wurden. Das Tal war Heimat vieler Wapitihirsche, also auch idealer Lebensraum für Wölfe. Da es hier relativ wenige Bäume gab, bot es den Wissenschaftlern eine gute Gelegenheit, Wölfe im offenen Gelände bei der Jagd zu beobachten, was in der Wildnis noch nicht oft gelungen war.

Mitten durch das Lamar Valley verlief eine Straße, die bei Parkbesuchern sehr beliebt war. Deshalb vermuteten die Wissenschaftler, dass die Wölfe sich schleunigst ins Innere des weitläufigen Parks zurückziehen würden, wo regelmäßige Beobachtung einen längeren Ritt zu Pferde oder noch wahrscheinlicher den Einsatz eines Flugzeugs erforderlich machen würde. Manche Wölfe verließen tatsächlich das Tal, aber zur Freude aller blieben auch ein paar an Ort und Stelle. Weder die Straße noch die Menschen schienen sie zu stören. Und die Wölfe im Yellowstone-Nationalpark vermehrten sich genauso schnell, wie Smith und sein Team es sich erhofft hatten. Im Winter 2003 waren die fünfzehn Wölfe, die man 1995 angesiedelt hatte, sowie weitere siebzehn, die ein Jahr später dazugekommen waren, zu einer Population von 174 angewachsen. Diese bestand aus vierzehn Rudeln, die sich auf den gesamten Park verteilten.

Wie erwartet, hatten viele den Park verlassen und besiedelten die umliegenden Berge, einschließlich des Grand Teton National Park im Süden sowie der unter Schutz stehenden Wildnis im Staatsforst im Osten von Idaho und im Südwesten von Montana, Gegenden, in denen jahrzehntelang keine Wölfe zu finden gewesen waren. Als Teil desselben Projekts waren Wölfe auch wieder in ein Wildnisgebiet mitten in Idaho zurückgeführt worden, und diese Population vermehrte und verbreitete sich ebenfalls. Wölfe, die sich vom Süden Kanadas aus verbreitet hatten, siedelten sich in einem breiten Streifen im Nordwesten Montanas um den Glacier National Park herum an. Nur vierzehn Jahre nach Eröffnung der ersten Gehege im Lamar Valley war die Wolfspopulation in den Northern Rockies nun auf über siebzehnhundert Tiere angewachsen.

Einen Blick auf einen Wolf in freier Wildbahn zu erhaschen war – selbst für einen Biologen, der sich in Vollzeit der Feldforschung widmete – eine Seltenheit. Aber in Yellowstone waren die Möglichkeiten für bahnbrechende Forschungen unbegrenzt. Rick hatte einmal einen Wissenschaftler aus Wisconsin zu Besuch, der in den dichten Wäldern des Upper Midwest Wölfe studierte, dem einzigen Gebiet in den achtundvierzig Kernstaaten der USA, den sogenannten Lower 48, in dem Wölfe nie ganz ausgerottet worden waren. Seine Methode war im Grunde genommen dieselbe wie die von Rick: Er folgte den mit Halsbändern ausgestatteten Tieren den ganzen Tag, nützte dabei die Telemetrie und beobachtete die Wölfe durch ein Spektiv. Nach einer Woche fantastischer Beobachtungen im Lamar Valley fragte Rick seinen begeisterten Besucher, wie oft er bei sich zu Hause Wölfe sehe. Der Wissenschaftler dachte einen Moment nach. »Letztes Jahr habe ich vielleicht an fünf oder sechs Tagen Wölfe gesehen«, sagte er. Seine restliche Zeit verbrachte er damit, den Spuren zu folgen und Exkremente aufzusammeln. Im Yellowstone-Nationalpark lagen die Dinge anders. Seit fast neun Jahren war kein Tag mehr vergangen, an dem nicht irgendwo im Park ein Wolf gesichtet worden wäre. Yellowstone war ein Mekka für Wolf-Watching.

Während Rick durch das Teleskop die Wölfin O-Six und ihre Gefährten dabei beobachtete, wie sie mit ihren feuerroten Schnauzen beim Fressen waren, entdeckte er ein paar schreckhafte Kojoten, die argwöhnisch auf den Tierkadaver schielten. Die Kojoten waren nur halb so groß wie die Wölfe und nicht annähernd so schnell. Aber sie waren hungrig, und schließlich näherte sich einer von ihnen den fressenden Wölfen. Einer sprang auf und stürzte sich auf den Kojoten, der mit eingezogenem Schwanz und voller Panik durch den Schnee das Weite suchte. Als der Wolf sich vergewissert hatte, dass er nicht umkehren würde, widmete er sich wieder seinem Mahl.

Rick vermerkte das auf seinem Rekorder und setzte dann seine Beobachtung fort. Seine Notizen, die er jeden Abend in seiner Blockhütte in den Computer eingab, waren äußerst sorgfältig. Jeder Tagesbericht begann mit einer kurzen Zusammenfassung des Wetters. Es folgte eine knappe Beschreibung der Ereignisse während des Tages mit Zeitangaben und genauer Zeitdauer. Seine Forschungsarbeiten folgten der Tradition des großen Naturforschers Adolph Murie, des ersten Biologen, der das Verhalten der Wölfe in der Wildnis über einen längeren Zeitraum beobachtet hatte. Murie dokumentierte die Aktivitäten eines Denali-Rudels über zwei aufeinanderfolgende Würfe hinweg und veröffentlichte seine Ergebnisse 1944 in einem Buch, das als Klassiker gilt. Während der fünfzehn Sommer, die Rick in Denali als Saison-Ranger arbeitete, lernte er die Nachkommen desselben Rudels kennen, das vor Jahrzehnten schon von Murie beobachtet worden war.

Rick hatte es einmal geschafft, an 891 Tagen in Folge mindestens einmal täglich einen Wolf zu sehen – sein ganzes Leben bestand im Wesentlichen aus Feldforschung. Er besaß über achttausend einzeilig beschriebene Seiten mit Notizen – sein Lebenswerk –, die auf dem Computer gespeichert waren. Er hatte das Ganze nie ausgedruckt; sein alter Drucker würde diesen Berg vermutlich nicht bewältigen. Aber er hatte jahrelang Notizen in roten Ordnern zusammengetragen, die er manchmal hervorholte, um sie Besuchern zu zeigen. Wenn er genug gesammelt hatte, würde er sein eigenes Buch über die Wölfe im Yellowstone-Nationalpark schreiben.

Plötzlich ließen alle drei Wölfe von dem Hirschkadaver ab. O-Six rannte über den Schnee, als wäre sie selbst ein kopfscheuer Kojote. Rick ließ sein Teleskop über die Landschaft gleiten und machte fünf schwarze Wölfe aus, die sich von Norden näherten.

Die Druids kamen.

Der Kadaver lag am westlichen Rand von Little America, das mehr oder weniger Agate-Revier war. Doch das Druid-Peak-Rudel unternahm von seiner Basis aus, dem Lamar Valley fünf Meilen östlich, regelmäßig Streifzüge in dieses Gebiet. Jetzt waren die Druids ziemlich zahlreich auf der Bildfläche erschienen, und O-Six musste ihre Beute abgeben – die den drei Wölfen ein paar Tage lang ausgereicht hätte –, nachdem sie lediglich eine Stunde davon hatten fressen können. Rick erkannte die weiße Schnauze des Druid-Leitwolfs, bekannt als Nummer 480, und White Line, die Leitwölfin ohne Senderhalsband. Schließlich stürzte sich das gesamte Rudel auf die Beute: Black Bar, Dull Bar, Thin Female, Triangle Blaze, Nummer 691 und Nummer 690.

Rick freute sich, sie zu sehen. Er hatte mehr Zeit auf die Beobachtung der Druids verwandt – eines der ursprünglichen Rudel, die von Kanada hergebracht worden waren – als auf die Beobachtung irgendwelcher anderer Rudel. So wie andere auch. Die Druids, die sich seit dem Beginn der Wiederansiedlung im kaum bewaldeten Lamar Valley niedergelassen hatten, waren das Rudel, das von Wissenschaftlern wie auch Parkbesuchern am leichtesten auszumachen war. Über ein Jahrzehnt lang galten sie als die Musterexemplare des Wiederansiedlungsprogramms. Und es gab viele von ihnen. In ihrer Glanzzeit gehörten zu den Druids siebenunddreißig Wölfe, sie waren eines der größten Rudel, die man weltweit entdeckt hatte.

Die Druids, die Stars der Show, enttäuschten ihr Publikum nicht: Sie verteidigten das Tal gegen einfallende Rudel, brachten unzählige Wapitis zur Strecke und zogen in ihrer Höhle auf dem Druid Peak einen Wurf nach dem anderen auf, immer beobachtet von einer Schar von Besuchern, die jedes Jahr größer wurde. Von Beginn an, als sie in den Park umgesiedelt worden waren, hatte Rick Aufzeichnungen von dem Rudel gemacht, und er tat es noch immer.

Rick beugte sich über sein Teleskop und stemmte die Schultern gegen den beißenden Wind. O-Six war jetzt schon lange verschwunden. Rick nahm den Hirschkadaver ins Visier und entdeckte bald eine Reihe bekannter Gesichter. Jeder Wolf im Rudel war wie ein alter Freund, genauso wie einst seine Eltern und deren Eltern. Von seinem Beobachtungsposten am Straßenrand im Lamar Valley aus hatte er erlebt, wie Generationen von Druid-Jungen den Bau verlassen hatten, den Erwachsenen bei der Jagd gefolgt waren, ihren Platz im Rudel gefunden und gelernt hatten, wie man sich als Wolf verhält. Wie immer war er gefesselt von den Szenen, die sich ihm auf der anderen Seite des Okulars boten, und er beobachtete gebannt eine Welt, in der nichts anderes zählte als das Wohlergehen des Rudels. Er war hungrig, seine Füße waren eiskalt, und er machte sich große Sorgen, dass O-Six den Winter nicht überleben würde. Aber zumindest waren da Wölfe in seinem Sucher.

2     Im Tal der Druids

Rick verfolgte O-Six’ Geschichte erst seit Kurzem, aber er kannte ihre Abstammungslinie gut. Ihre Großmutter, die Druid-Leitwölfin, bekannt als Nummer 42, war eine der berühmtesten Fähen des Parks gewesen.

Im Lauf der Jahre waren mindestens ein halbes Dutzend der weiblichen Nachkommen von Nummer 42 ebenfalls Leitwölfinnen in Rudeln geworden, die sich im Park ausbreiteten. Rick hatte sie alle heranwachsen sehen und ihren jeweiligen Aufstieg an die Spitze beobachtet. Dasselbe Potenzial sah er bei O-Six, trotz der gefährlichen Umstände, in denen sie sich im Augenblick befand.

Die Geschichte von O-Six begann dort, wo alle guten Wolfsgeschichten des Yellowstone-Nationalparks begannen: im Lamar Valley. Das Druid-Peak-Rudel hatte dieses Territorium so lange Zeit beherrscht, dass es schwerfiel, sich das eine ohne das andere vorzustellen. Aber für Langzeitbeobachter wie Rick, die sich noch an die Anfänge des Rudels erinnern konnten, hätte seine Entwicklung sehr wohl auch ganz anders verlaufen können.

Die Druids zählten zu der zweiten Gruppe von Wölfen, die 1996 von Kanada in den Park umgesiedelt worden waren. Das ursprüngliche Rudel bestand aus einem großen grauen Wolf, bekannt als Nummer 38, seiner Gefährtin und drei weiblichen Jungen. Als sie im Lamar Valley freigelassen wurden, war hier bereits das Crystal-Creek-Rudel zu Hause, das im Jahr zuvor im Tal angesiedelt worden war und dann dort heimisch wurde. Der Park umfasste Tausende von Quadratkilometern unbesetzten Lebensraum, und man hoffte, dass die Neuankömmlinge umherstreifen würden, bis sie schließlich ihren Platz zwischen einer Handvoll anderer Rudel gefunden hätten, die sich in der Northern Range niedergelassen hatten. Die Northern Range ist ein siebenundfünfzig Meilen langer Gebirgszug zwischen Gardiner in der Nähe des nordwestlichen Parkeingangs und Silver Gate.