Die wunderbare Kälte - Elisabeth Rettelbach - E-Book

Die wunderbare Kälte E-Book

Elisabeth Rettelbach

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Beschreibung

In einem fast märchenhaft schneereichen Winter wandelt die einzelgängerische Maskenbildnerin Kai durch die Straßen der Stadt und stalkt Fremde. Sie ist eine ferne Betrachterin des Lebens. Doch dann laufen ihr zwei Menschen über den Weg, die sie stärker faszinieren als alles andere und in deren Leben sie sich einmischt. Was zunächst als Spielerei beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zu einem psychedelischen Albtraum, der seine Tribute fordert … “Ein literarisch bitterböses und doch poetisches Werk, das seinesgleichen sucht. Wem Amelie Nothomb gefällt, wird „Die wunderbare Kälte“ lieben”.

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Seitenzahl: 459

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Zum Buch:

In ei­nem fast mär­chen­haft schnee­rei­chen Win­ter wan­delt die ein­zel­gän­ge­ri­sche Mas­ken­bild­ne­rin Kai durch die Stra­ßen der Stadt und stalkt Frem­de. Sie ist ei­ne fer­ne Be­trach­te­rin des Le­bens. Doch dann lau­fen ihr zwei Men­schen über den Weg, die sie stär­ker fas­zi­nie­ren als al­les an­de­re und in de­ren Le­ben sie sich ein­mischt.

 

Zur Au­to­rin:

Eli­sa­beth Ret­tel­bach ist Di­plom-Über­set­ze­rin und Tex­te­rin. Sie spricht Eng­lisch, Fran­zö­sisch, Schwe­disch, und manch­mal ver­sucht sie sich auch in an­de­ren Spra­chen. Nach vie­len Jah­ren in den USA ver­schlug es sie vor ei­ni­ger Zeit mit ih­rer deutsch-ame­ri­ka­ni­schen Fa­mi­lie an den Bo­den­see. Dort schreibt sie nun Tag (im Job) und Nacht (pri­vat) mit schö­ner Aus­sicht und manch­mal so­gar mit den Fü­ßen im Was­ser.Die wun­der­ba­re Käl­te

Elisabeth Rettelbach

 

 

 

Die wunderbare Kälte

 

Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHHam­burg, De­zem­ber 2020Co­py­right © 2020by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736132

 

I was following a phantom in my mind, whose shadowy form had taken shape at last. Her features were blurred, her coloring indistinct, the setting of her eyes and the texture of her hair was still uncertain, still to be revealed.

 

Rebecca

VOR­HER

 

 

 

 

Ich war auf Ver­fol­gungs­jagd. Die Frau mit der leuch­tend ro­ten Müt­ze ging drei­ßig Schrit­te vor mir. Sie wuss­te nichts von mir.

An die­sem eis­kal­ten No­vem­ber­tag stie­gen Ne­bel­kris­tal­le aus dem Fluss auf und ver­fin­gen sich in den Sträh­nen mei­ner Pe­rü­cke.

Bin ich ei­ne Seri­en­mör­de­rin? Wer weiß. Ich glau­be nicht. Auf ei­ne be­stimm­te Wei­se viel­leicht doch. Jetzt ist ja al­les so voll­kom­men und ganz wun­der­bar zer­stört, aber da­mals, an dem Tag, an dem es zum ers­ten Mal schnei­te, da ging das Le­ben noch sei­nen ge­wohn­ten Gang. Ich ver­grub ein­fach mei­ne Hän­de in den Ja­cken­ta­schen und lief zum Rhyth­mus der Mu­sik in mei­nem Ohr, die Beu­te vor mir im­mer im Blick.

Ein Paar über­hol­te mich. Die bei­den lach­ten, um­tanz­ten sich, konn­ten die Bli­cke nicht von­ein­an­der las­sen. Sie wa­ren so schön mit ihren glü­hen­den Na­sen.

Ich mach­te die Mu­sik aus, und ei­nen Mo­ment lang blick­te ich ih­nen nach und frag­te mich, wo­hin sie wohl un­ter­wegs wa­ren. Es juck­te mich in den Fin­gern, et­was Un­er­war­te­tes zu tun. Viel­leicht konn­te ich auf den Mann zu­lau­fen, ihm ei­ne Ohr­fei­ge ge­ben und ihn an­schrei­en: »So, des­halb bist du nie zu Hau­se, du hast ei­ne An­de­re!« Die Frau ne­ben ihm wür­de er­star­ren und sei­ne Hand los­las­sen. Oh, ich fühl­te mich, als könn­te ich mit ei­nem ein­zi­gen Wim­pern­schlag die trä­ge Er­de be­we­gen.

Aber dann dach­te ich wie­der an mei­ne Mis­si­on, und als ich den Kopf wand­te, war die Frau mit der leuch­ten­den Kopf­be­de­ckung ver­schwun­den. Schnell sprang ich auf die klei­ne Stein­mau­er, die den Ufer­weg von ei­nem Wie­sen­strei­fen trenn­te, und späh­te hin­über zur Stra­ße, wo laut­los Fahr­zeu­ge im Dunst vor­über­zo­gen. Kei­ne Spur von ihr.

Aber ei­gent­lich muss­te ich sie gar nicht wie­der­fin­den. Ihr hin­ter­her­zu­lau­fen war nur ein zu­sätz­li­cher Thrill. Ich kann­te ihr Ziel.

Mein Op­fer. Wenn sie wüss­te, was sie mir on­line al­les er­zählt hat­te.

Als ich in den Hin­ter­hof ein­bog, in dem sich das Mu­se­um ver­barg, konn­te ich den Schnee in der Luft be­reits rie­chen. Hier war kein Ne­bel mehr. Der Wind pri­ckel­te auf mei­nem Ge­sicht und trieb al­te Blät­ter wie Schwär­me von Heu­schre­cken vor sich her.

Da war sie wie­der. Die Frau, die nicht wuss­te, dass es mich gab. Ah, was sie mir al­les ge­zeigt hat­te.

Ih­re Fi­gur be­weg­te sich ein klein we­nig zu auf­recht auf den Ein­gang zu. Ich lie­be die­se an­ge­spann­ten Kör­per, die in Ge­dan­ken mehr rück­wärts als vor­wärts gin­gen.

Die Frau strich sich den Rock glatt. Wür­de sie um­keh­ren? Nein. Gut.

Sie ge­horch­te mir, oh­ne es zu wis­sen. Weil sie es selbst woll­te. Na­tür­lich. Ich lä­chel­te. Ich hat­te da­für ge­sorgt.

Hei­zungs­luft schlug mir ins Ge­sicht, als ich die Ein­gangs­hal­le be­trat und ei­ne Kar­te lös­te. Das klei­ne Mu­se­um war un­be­kannt. Wer in­ter­es­sier­te sich schon für ob­sku­re Mu­sik­in­stru­men­te? Aber ich moch­te die Schläf­rig­keit die­ser Räu­me.

Aus den Au­gen­win­keln nahm ich die Frau wahr, die auf ei­nem Plan die Räum­lich­kei­ten stu­dier­te. Na­tür­lich war sie noch nie hier ge­we­sen und wuss­te nicht, wo sich die ›Sai­ten­in­stru­men­te, 16. bis 18. Jahr­hun­dert‹ be­fan­den. Au­ßer­dem kann man nicht ein­fach in die Höh­le des Lö­wen lau­fen, das ver­ste­he ich. Man muss erst ein­mal durch­at­men und si­cher­ge­hen, dass man sei­ne Hän­de noch spürt.

Still be­stä­tig­te ich für mich, dass sie um die 30 war, dun­kel­blond, de­zent ge­schminkt, auf­merk­sam. Je­mand, auf den man nei­disch sein konn­te. Ich nicht, na­tür­lich. Ich war nie nei­disch.

Vor zwei Wo­chen hat­te ich im Bus die­ser Frau ei­nen Zet­tel mit ei­ner E-Mail-Adres­se und ei­ner char­man­ten Nach­richt zu­ge­steckt, und jetzt wa­ren wir hier. Gut! Ich war nicht nei­disch.

Oh­ne an­zu­hal­ten, rausch­te ich an dem Mu­se­ums­plan und der Frau vor­über. Ich wür­de vor ihr am Treff­punkt sein.

Mei­ne Fin­ger­spit­zen krib­bel­ten, als ich durch die Tür zu ei­nem der klei­nen Aus­stel­lungs­räu­me trat. Es war mein Blind Date.

 

Ein Mann war­te­te in­mit­ten der al­ten Gei­gen und Brat­schen. Es war so still, der Puls dröhn­te in mei­nen Oh­ren. Der Mann sah sich zu mir um, schenk­te mir ein un­si­che­res Lä­cheln.

Er denkt, dass ich es bin. Was, wenn er mich an­spricht? Na­tür­lich spricht er mich an. Gleich spricht er mich an. Er muss ja den­ken, dass ich es bin, er muss ja.

Nein, er sprach mich nicht an. Ich sah ja auch gar nicht so aus, wie die Frau sich be­schrie­ben hat­te. Vor al­lem nicht mit mei­ner schwar­zen Pe­rü­cke. Aber den­noch: Er sah zu mir, er sah mich an, er kam her, lass dir nichts an­mer­ken, was soll ich …

Dann öff­ne­te sich die gro­ße ge­tön­te Glas­tür hin­ter mir. End­lich! Ge­ra­de als ich drauf und dran ge­we­sen war, dies­mal wirk­lich und wahr­haf­tig an­ge­spro­chen zu wer­den, ver­dammt noch mal, ob­wohl ich das ja gar nicht will, ich bin doch nur die Zu­schau­e­rin, da kommt sie rein und macht al­les ka­putt.

Die leuch­ten­de Kopf­be­de­ckung der blon­den Frau war ver­schwun­den, das Halb­dun­kel per­fek­ti­o­nier­te ihren Auf­tritt: Das Haar floss ihr schau­mig über die Schul­tern, ih­re Haut leuch­te­te, die Au­gen wa­ren leicht um­schat­tet, oh, sie war schön, sie leuch­te­te und schweb­te, sie war ich und ich war sie, ich war in ihren Ge­dan­ken, ich konn­te sie schme­cken, die auf­re­gen­den Wor­te, die wir beim Schrei­ben aus­ge­tauscht hat­ten, ei­gent­lich an ihn ge­rich­tet, aber doch an mich.

Ich hat­te sie ge­lenkt, ich hat­te sie pro­vo­ziert und be­rührt und ihr vir­tu­el­le Ge­heim­nis­se zu­ge­flüs­tert und dann mit ihm noch ein­mal, ich war er und sie, und wir wa­ren ein- und die­sel­be, ein­fach wi­der­lich und wun­der­bar, und jetzt trat ich zu­rück und über­ließ den Schau­spie­lern die Büh­ne.

 

Und sie spiel­ten. Sanft war­fen sie ers­te Wor­te hin und her. Klei­ne ge­fie­der­te Fe­der­bäl­le, mit de­nen sie tes­te­ten, wie gut der an­de­re spiel­te, zwi­schen sich ein küh­ler Teich Ab­stand, ist al­les wahr, was du ge­schrie­ben und be­haup­tet hast? Die Frau hat­te ei­ne wun­der­ba­re Alt­stim­me, die mir mit sam­ti­gen Fin­ger­spit­zen über den Rü­cken strich.

»So et­was Ver­rück­tes ist mir noch nie pas­siert«, flüs­ter­te sie. Flüs­ter­te sie, und doch füll­te sie den Raum wie ei­ne Schau­spie­le­rin. So klang­voll stell­te ich mir den Ton der be­mal­ten Har­fe vor, vor der ich stand.

Ein­ge­hend stu­dier­te ich das In­stru­ment, und mein Rü­cken lausch­te mit al­ler Macht. Ge­dan­ken­ver­lo­ren fuhr mein Zei­ge­fin­ger über die Holz­pla­ket­te un­ter der Vi­tri­ne. Das Re­li­ef des wei­chen Hol­zes war wie ein mensch­li­cher Kör­per.

Jetzt sprach der Mann, mit kaum ver­steck­tem Hun­ger in der Stim­me: »Mir auch nicht, das kannst du mir glau­ben.« Er wuss­te, wie es wei­ter­ge­hen wür­de, oder hoff­te es zu wis­sen.

Sie re­agier­te: »Mir hat noch nie je­mand ein­fach so ei­nen Zet­tel mit ei­ner Nach­richt in die Hand­ta­sche ge­steckt. Wie bist du auf die­se Idee ge­kom­men?«

»Ich? Du hast doch mir ei­ne Nach­richt zu­kom­men las­sen!«

Ah, die Im­per­fek­ti­on des Dreh­buchs. Mei­ne Fin­ger­spit­zen krib­bel­ten, ich hielt still, das Krib­beln wan­der­te in mei­nen Ma­gen, ich rühr­te mich nicht. Es fühl­te sich so schön an.

»Al­so, ent­schul­di­ge bit­te, so was wür­de ich nie tun!«

Ru­hig setz­te ich ei­nen Fuß vor den an­de­ren und blieb kurz bei ei­ni­gen klei­nen Vi­o­li­nen ste­hen. Viel­leicht hat­ten Fürs­ten­kin­der auf ih­nen ge­spielt? Ir­gend­wann ein­mal, in ei­ner Zeit, als man sich in gro­ßen Schlös­sern heim­lich hin­ter Mar­mor­säu­len küss­te und die Zo­fe den Ge­lieb­ten durch das Fens­ter her­ein­ließ.

In der Vi­tri­ne sah ich mich selbst im Vor­der­grund, die Re­fle­xi­on mei­ner Ko­mö­di­an­ten hin­ter mir. Sie spra­chen folg­sam ihren Text, dreh­ten sich mit Wor­ten im Kreis und dis­ku­tier­ten, wer wen kon­tak­tiert hat­te. Das war der Zeit­punkt zu ge­hen. In sol­chen Mo­men­ten, in de­nen bei­den Op­fern klar wur­de, dass sie auf das Spiel ei­nes Drit­ten her­ein­ge­fal­len wa­ren, fin­gen sie an, nach die­sem Drit­ten Aus­schau zu hal­ten. Nicht im­mer buch­stäb­lich, aber wer konn­te es schon wis­sen.

Al­so ver­ließ ich das Mu­se­um und war­te­te drau­ßen auf ei­ner Bank, halb hin­ter dem So­ckel ei­ner Sta­tue ver­bor­gen. Na­tür­lich woll­te ich se­hen, ob sie ge­mein­sam das Ge­bäu­de ver­lie­ßen. Wür­den sie?

Ich spiel­te mit mei­nen Fin­gern, fühl­te die an­ge­neh­me Käl­te an der Haut. Wür­den sie?

Und soll­te ich mich ih­nen in den Weg stel­len wie ein Ora­kel, wenn sie ka­men, und ih­nen mit halb ge­senk­tem Kopf ei­ne Weis­sa­gung ma­chen oder ih­nen zi­tie­ren, was sie ein­an­der in den letz­ten Ta­gen ge­schrie­ben hat­ten?

Ich wuss­te al­les. Ich wür­de ge­heim­nis­vol­le Au­gen ha­ben. Viel­leicht wür­de ein Sturm auf­zie­hen. Sie wür­den Angst be­kom­men. Viel­leicht kam ich aus der Zu­kunft. Aus ei­nem Raum-Zeit-Riss. Oder ich konn­te Ge­dan­ken le­sen. Ich wür­de mich ih­nen in den Weg stel­len und lä­cheln, ganz wei­se und freund­lich und bö­se. Sie wür­den sich an den Hän­den neh­men, ah!

Be­vor ich wei­ter­träu­men konn­te, er­schie­nen sie tat­säch­lich – stol­per­ten aus der Tür, halb la­chend, halb pein­lich be­rührt.

Was nun? Auch wenn die Um­stän­de ihres Ken­nen­ler­nens bi­zarr wa­ren – war­um soll­ten sie ein völ­lig an­nehm­ba­res Blind Date un­ge­nutzt las­sen?

Wel­che Er­leich­te­rung, dass ich das Ora­kel war, nicht ei­ner von ih­nen.

Mei­ne Pe­rü­cke hat­te ich be­reits ab­ge­nom­men und sie in den Ruck­sack ge­stopft. Au­ßer­dem hat­te ich mei­ne Ja­cke auf in­nen und da­mit von Rot auf Blau ge­wech­selt. Jetzt setz­te ich mir noch ei­ne fal­sche Bril­le auf. Mit gu­ten Mas­ke­ra­den kann­te ich mich schon von Be­rufs we­gen aus.

So folg­te ich den bei­den wei­ter. Sie soll­ten mich nicht wie­der­er­ken­nen. Viel­leicht wür­de ja nichts pas­sie­ren, aber ich beo­b­ach­te­te sie trotz­dem den gan­zen rest­li­chen Tag. Ir­gend­et­was in der kal­ten Luft hat­te Klick ge­macht.

Et­wa ei­ne Stun­de lang setz­te ich mich zu dem Paar in ein Ca­fé und ver­such­te mit mei­ner Spy-App, so viel wie mög­lich von ihrem Ge­spräch auf­zu­schnap­pen.

Aber ei­gent­lich woll­te ich sie nur an­se­hen. Im­mer nur an­se­hen. Das Ora­kel woll­te Men­schen se­hen. Sie wa­ren so schön. Sie ließ ih­re Fin­ger über den Rand ih­rer Tas­se strei­chen, er spiel­te mit ei­ner Ser­vi­et­te.

Bis sechs Uhr abends blie­ben sie vor ihren Tas­sen sit­zen und re­de­ten: Mu­sik, Fil­me, Job, Wet­ter, du bist cool, nein, du bist cool, nein, du bist cool, heu­te gibt’s noch Schnee­sturm, du hast schö­ne Au­gen, was tun wir ei­gent­lich hier?

Sie wa­ren so schön. Wie sich wohl ih­re Haut an­füh­len wür­de? Und sei­ne? Rau, be­stimmt. Män­ner­haut fühl­te sich an wie Sand­pa­pier. Ek­lig.

Es war in­zwi­schen stock­dun­kel. Mei­ne bei­den wun­der­ba­ren Tur­tel­täub­chen stan­den auf und ver­lie­ßen das Ge­bäu­de. Ei­ne hal­be Mi­nu­te spä­ter kam ich hin­ter­her, setz­te zwi­schen Tür und An­gel si­cher­heits­hal­ber mei­ne Pe­rü­cke wie­der auf, nahm mei­ne Bril­le ab – und folg­te ih­nen. Ich war vol­ler Er­war­tung, und die Luft roch schwer nach Win­ter.

Als ich um die Ecke in die Sei­ten­stra­ße bog, da lehn­ten die bei­den schon eng um­schlun­gen an ei­ner Haus­wand und lutsch­ten sich ge­gen­sei­tig die Vi­sa­ge ab. Ugh.

Mich traf fast der Schlag: Sie ta­ten es wirk­lich! Sie flüs­ter­ten und flat­ter­ten in den Ar­men des an­de­ren wie Mot­ten in der Fal­le.

 

Wir sind ver­rückt!

Ich bin ver­rückt nach dir!

So was ist mir noch nie pas­siert…

Komm mit zu mir…

Du bist ver­rückt…

 

Wenn sie wüss­ten, wie un­ap­pe­tit­lich sie aus­sa­hen. Und doch wie wun­der­bar. Ein hyper­re­a­lis­ti­scher Film mit ei­nem maß­ge­schnei­der­ten Dreh­buch.

Mein Blick fiel auf das Schau­fens­ter ei­nes Ge­schäfts, in des­sen Nacht­be­leuch­tung sich ei­ne äthe­ri­sche Kre­a­tur mit rie­si­gen schwar­zen Au­gen­höh­len spie­gel­te. Ihr trans­pa­ren­tes Halb­pro­fil war schön und schreck­lich zu­gleich. Das fal­sche schwar­ze Haar fiel per­fekt über ih­re Wan­gen­kno­chen.

Das war ich, und die bei­den In­sek­ten, die dort an der Mau­er flirr­ten, hat­ten kei­ne Ah­nung, dass ich sie er­fun­den und ih­nen den auf­re­gends­ten Tag ihres Le­bens ge­schenkt hat­te. Er ein klei­ner Ban­ker, falls das stimm­te, und sie Grund­schul­leh­re­rin. Wie pas­send. Bei­de schie­nen brav, bei­de wa­ren beim Chat­ten kom­plett aus dem Häus­chen ge­ra­ten, dass ih­nen, ge­ra­de ih­nen, so et­was pas­sier­te. Ja. Und heu­te war der Tag, hat­te ich für sie ent­schie­den, an dem sich das Brav­sein nicht mehr lohn­te.

Et­was brei­te­te sich in mir aus. Ein Ge­fühl, als wä­re ich ab­so­lut al­les oder als hät­te mich der Wind in ei­nem pri­mi­ti­ven Tanz mit sich ge­trie­ben, dann aber zu spät wie­der auf den Bo­den ge­setzt.

Mit ei­nem wil­den Hoch­ge­fühl ging ich nach Hau­se und wusch mir die ver­pass­te Ge­le­gen­heit aus den Au­gen. Ei­ne gan­ze Wei­le lang konn­te ich mich gar nicht be­ru­hi­gen. Lief hin und her. War­um war ich ih­nen nicht bis zu ih­rer Woh­nung nach­ge­lau­fen? Oder zu ihrem Ho­tel, oder wo im­mer sie sich nun auch ver­krie­chen wür­den.

Hin und her lief ich, hin und her, ich zähl­te mei­ne Schrit­te, da­mit die Ge­dan­ken und die Bil­der im Kopf weg­gin­gen. Dann setz­te ich mich hin und knüpf­te an mei­ner neu­en ro­ten Lo­cken­pe­rü­cke wei­ter. Da­bei gin­gen die Ge­dan­ken auch weg. Ich sah die ers­ten Schnee­flo­cken an der Schei­be vor­bei­schwe­ben. Das war schön.

Ich öff­ne­te das Fens­ter und beug­te mich hin­aus in die Nacht. Schwe­re, üp­pi­ge, sanf­te Flo­cken wa­ren es, die sich in mei­nem Haar und auf der Fens­ter­bank ein­nis­te­ten. Ich schloss die Au­gen, ei­gent­lich, um den Schnee zu ge­nie­ßen, aber da sah ich sie wie­der vor mir. Wie sie sich in der Sei­ten­stra­ße küss­ten, und wie sie sich jetzt im­mer noch küss­ten, ir­gend­wo in ei­nem Bett. Ich sah ih­re ver­renk­ten Kör­per vor mir, und ih­re Fin­ger stri­chen über mei­nen Arm. Ich fühl­te sei­ne raue Haut, die er nie eincrem­te. War­um crem­ten sich Män­ner nie ih­re ver­damm­te Haut ein? Dach­ten sie, Frau­en rei­ßen sich gern an Schleif­pa­pier die Fin­ger auf?

Jetzt, ge­nau jetzt be­rühr­te sie sei­ne har­te, kör­ni­ge Haut und dach­te, schei­ße, was tu ich hier ei­gent­lich?

Ich öff­ne­te die Au­gen und späh­te hin­aus in die Nacht, als könn­te ich das er­leuch­te­te Fens­ter, hin­ter dem sie zu­gan­ge wa­ren, von hier aus se­hen.

UNDDANN

 

 

 

 

Muss ich das er­klä­ren? Ich mag Win­ter. Da kann mich nie­mand se­hen, wenn ich auf Streif­zug bin. Im Som­mer ist es schwie­ri­ger: über­all die­se end­lo­se Haut und Licht bis in die Nacht. Im Ernst, wer kann das aus­hal­ten?

Hin­ge­gen: Wenn ich an ei­nem dunk­len Win­ter­tag raus­ge­he, raus auf die Pirsch, dann sind die Leu­te so ein­fach zu ver­fol­gen, ge­ra­de­zu lä­cher­lich ein­fach. Nie­mand beach­tet mich, die Män­tel und Schals ma­chen uns un­sicht­bar, mich und mei­ne Beu­te. Al­le star­ren zu Bo­den und zäh­len ih­re Schrit­te bis zur ei­ge­nen Woh­nung, bis zu ih­rer Haus­tür, die sich wie ein schar­fer Riss in der Re­a­li­tät öff­net und wie­der zu­fällt.

Ei­ne Se­kun­de lang gibt mir der Riss Zeit, der Per­son in die an­de­re Di­men­si­on zu fol­gen, aber ich tue es nie.

Dann keh­re ich um, und die Stra­ßen­la­ter­nen lau­fen mit ihrem Licht ne­ben mir her, und über­all krei­sen Men­schen wie Pla­ne­ten, so nah und fern und ewig, und doch sind sie nur ein Wim­pern­schlag im Uni­ver­sum.

In 100 Jah­ren sind wir herr­li­che Staub­körn­chen über den Stra­ßen, und mein Herz ist voll und kalt und heiß und eng und ich weiß nicht wie. Viel­leicht so, als bräuch­te ich al­le und nie­man­den, als sä­ßen in mir al­le Schmer­zen und Freu­den der Welt, und am nächs­ten Tag ha­be ich mich wie­der be­ru­higt, und mir fällt wie­der ein grau­er Je­mand im Bus auf, und ich fol­ge ihm wie­der und se­he, wie sei­ne Tür ins Schloss fällt.

Ich ste­he da in den Schat­ten, ein Fuß ne­ben dem an­de­ren, mein hei­ßer Atem nass am Schal, und er ist weg, es war al­les um­sonst.

Er war schön, häss­lich, alt, jung, bö­se, gut, was weiß ich, aber nun exis­tiert er nicht mehr.

Aber das nächs­te Mal ge­be ich viel­leicht nicht vor der Haus­tür auf.

Manch­mal lin­se ich durch Fens­ter, klet­te­re über Zäu­ne und be­trach­te er­leuch­te­te Win­ter­gär­ten. Und am nächs­ten Abend bin ich viel­leicht wie­der da. Ah, ich kann oft nicht schla­fen. Drau­ßen wan­dern die Nacht­ge­stal­ten, und das macht mich glü­ck­lich. Die darf ich nicht ver­pas­sen.

Ich lau­fe und lau­fe. Das Eis knirscht un­ter un­se­ren Stie­feln, un­ter mei­nen und den ihren, wäh­rend wir ei­nem Ge­heim­nis oder ei­nem Su­per­markt­be­such ent­ge­gen­lau­fen.

Manch­mal trei­be ich mich auf die­sen Online­da­ting-Din­gern her­um. Nicht für mich na­tür­lich, nur für mei­ne Fi­gu­ren. Män­ner ma­chen al­les, ein­fach al­les, was ich ih­nen be­feh­le, weil sie hof­fen, dass ei­ne schar­fe Frau sie am an­de­ren En­de er­war­tet. Oder auch ein­fach ir­gend­ei­ne Frau. Haupt­sa­che, ein Aben­teu­er. Frau­en sind kom­pli­zier­ter, wäh­le­ri­scher, nicht leicht zu be­ein­dru­cken. Das mag ich.

 

Ja, das mag ich. Aber das heißt auch: Sze­nen wie im Mu­se­um er­leb­te ich nicht oft, und am Mor­gen nach dem Mu­se­ums­be­such wach­te ich auf wie nach ei­ner schmerz­vol­len Par­ty. Ei­ner Par­ty, auf der man ei­nen Frem­den ge­mocht und nicht be­kom­men hat. Mein Kopf schmer­z­te, mei­ne Haut fühl­te sich kleb­rig an, als hät­te ich mich in ei­nem Hau­fen Kör­per ge­wälzt. War­um war ich nicht bei ih­nen ge­blie­ben, ver­dammt? Bei mei­nen bei­den Op­fern. Wann hat­te ich denn zu­letzt ei­ne ech­te Knut­sche­rei an­ge­zet­telt? Sehr lan­ge nicht mehr. Und trotz­dem war ich ein­fach weg­ge­gan­gen. Weil ich das so ma­che. Weil ich so bin.

Weil ich so was ei­gent­lich nicht se­hen will, die­se pein­li­chen Emo­ti­o­nen, die­se hu­ma­nen Ver­stri­ckun­gen, die­ses Ver­lan­gen. Man sieht es in den Au­gen. Und an den Hän­den, wenn die Adern blau her­vor­tre­ten vor lau­ter Wol­len. Ein­fach wi­der­lich.

Im Bad dreh­te ich die Du­sche an, das hei­ße Was­ser feil­te an mei­nen Schul­tern, an mei­nem Rü­cken, bis al­les Kleb­ri­ge im Ab­fluss ver­schwand. Dann zog ich mich an, kipp­te mir kal­ten Kaf­fee in den Hals, ugh, und ver­ließ das Haus.

Ne­ben­an bei mei­nem Nach­barn hör­te ich Kin­der­ge­schrei. Ein ek­li­ger Kerl, der. Auch der.

Mit den Hän­den in den Ja­cken­ta­schen spa­zier­te ich durch die mor­gend­li­chen Stra­ßen zu­rück zum Ort des Ge­sche­hens. Am Ca­fé vor­bei, in dem mei­ne Ma­ri­o­net­ten ges­tern stun­den­lang ver­sucht hat­ten, cool zu blei­ben, und wei­ter bis zur na­he ge­le­ge­nen klei­nen Sei­ten­gas­se, wo sie sich dann an der Haus­mau­er ver­kno­tet hat­ten.

Der Mor­gen pri­ckel­te über den Häu­sern wie pin­ke Li­mo­na­de, es war jetzt fast Tag, und die Flo­cken staub­ten um mich her­um. Mein Herz klopf­te.

Ich lie­be es, wenn ich mein Herz spü­re. Oft spü­re ich es nicht, meis­tens fühlt man ja gar nichts, läuft ein­fach so den Weg ent­lang, je­den Tag aufs Neue, aber man fühlt nichts, man fühlt nie et­was.

An die­sem Mor­gen spür­te ich et­was, wenn ich mit den Fin­gern über mei­nen Arm strich. Hier war mei­ne Sto­ry pas­siert.

Aber al­les wirk­te so an­ders. Die Ta­ges­be­leuch­tung pass­te nicht mehr zur Sze­ne. Hin­ter dem Schau­fens­ter, in dem sich in der Dun­kel­heit ges­tern ei­ne wil­de Zau­be­rin ge­spie­gelt hat­te, stan­den ba­na­le Leu­te und ges­ti­ku­lier­ten mit ei­ner Ver­käu­fe­rin.

Ich sah mich an und strich mir die schmut­zig­blon­den Sträh­nen zu­rück: Ich war so trans­pa­rent und farb­los, dass ich fast nicht exis­tier­te.

Mit dem Fuß scharr­te ich im Schnee, als hoff­te ich, am Bo­den In­di­zi­en zu fin­den. Be­wei­se, dass die Ge­schich­te wirk­lich pas­siert war. Nichts. Aber das hier war ja schließ­lich auch kei­ne Lie­bes­ge­schich­te.

 

Ich fiel so schnell von der ei­nen Sto­ry in die an­de­re, dass ich kaum at­men konn­te. Und wie soll ich davon er­zäh­len? Wie es ist, wenn man sonst nie et­was fühlt, und dann rauscht ei­nem das Le­ben plötz­lich bis in die Fin­ger­spit­zen und hält nicht mehr an.

Viel­leicht be­gann es schon mit mei­ner Stim­mung an die­sem Mor­gen. Ich fühl­te mich selt­sam ori­en­tie­rungs­los, als wä­re ich ei­ner Kar­te ge­folgt, bei der plötz­lich ein Stück fehl­te. Hic sunt dra­co­nes.

Vom Tat­ort ließ ich mich in die Stadt­mit­te trei­ben, wo der Tag mehr und mehr er­wach­te. Leu­te war­te­ten auf den Bus, gin­gen zur Ar­beit. Ich muss­te erst am Nach­mit­tag ins The­a­ter.

Der Buch­la­den, in dem mei­ne äl­te­re Schwes­ter Su ar­bei­te­te, war be­reits of­fen, und ich trat ein.

Viel mit Su ge­mein­sam ha­be ich nicht, aber ich mag sie, was ich nicht von vie­len Leu­ten sa­gen kann. Sie moch­te mich auch mal. In­zwi­schen weiß ich nicht mehr, aber da­mals, an die­sem ers­ten Win­ter­tag, moch­te sie mich noch.

Schon beim Her­ein­kom­men sah ich sie mit ei­ner zier­li­chen Frau in ei­nem ro­ten Man­tel und leuch­tend blau­en Stie­feln spre­chen. Das Rot al­lein war schon auf­fäl­lig, aber das Blau hat­te ei­ne so un­ge­wöhn­li­che Far­be, dass ich al­lein aus die­sem Grund die Sze­ne ei­nen Mo­ment lang aus der Fer­ne be­trach­te­te, be­vor ich mich be­merk­bar mach­te.

Die Stie­fel en­de­ten knapp un­ter dem Knie und wa­ren in ei­ner Art neo-vik­to­ri­a­ni­schem Stil ge­schnit­ten – mit fein ge­schwun­ge­nem Ab­satz und ver­steck­tem Reiß­ver­schluss an der In­nen­sei­te. Auf den ers­ten Blick sah es so aus, als müs­se man die Front auf­wen­dig zu­knöp­fen, und die Far­be des Le­ders war ein herr­li­ches tie­fes Blau, ein Blau, in dem ark­ti­sche Meer­jung­frau­en leb­ten. Nie­mand hat­te sol­che Stie­fel, nur sie. Sie wa­ren ge­nau für die­se Frau er­fun­den wor­den. Bei­na­he glau­be ich, dass es die ver­fluch­ten Stie­fel wa­ren, die mich da­zu brach­ten, mich an ih­re Fer­sen zu hef­ten. Denn die an­de­ren Ma­ri­o­net­ten da drau­ßen lie­fen al­le in Schwarz, Braun oder Grau her­um.

Als Su mich ent­deck­te und mir zu­wink­te, wand­te sich auch die ge­heim­nis­vol­le Frau um, wohl oh­ne mich wirk­lich wahr­zu­neh­men. Ihr Halb­pro­fil schim­mer­te wie ei­ne blas­se Sta­tue: gro­ße und un­ge­heu­er aus­drucks­vol­le Au­gen, ge­ra­de Na­se, pech­schwar­ze sei­denglat­te lan­ge Haa­re, kirsch­ro­ter Mund, hoch­ge­schla­ge­n­er Man­tel­kra­gen. Ein dä­mo­ni­sches Schnee­witt­chen.

Viel­leicht war es ih­re stren­ge äthe­ri­sche Schön­heit, die mich an ei­ne Mär­chen­fi­gur den­ken ließ. Oder viel­leicht war es das mil­chi­ge Licht im Buch­la­den, in dem sie düs­ter wirk­te.

Die Frau war kei­ne Kun­din hier, das sah ich so­fort. Sie be­weg­te sich ge­schäfts­mä­ßig. Aber als ich mich ne­ben mei­ne Schwes­ter stell­te, lä­chel­te das Ob­jekt mei­ner Be­gier­de: Nein, da war kein Dä­mon in ihr. Är­ger­lich.

Ge­ra­de wand­te die Frau das Wort an Su: »Das hört sich al­les gut an. Dan­ke für die gro­ße Mü­he, wirk­lich. Bis mor­gen Nach­mit­tag dann.«

Wir sa­hen ihr nach, wie sie hin­aus in die wei­chen Schat­ten des Win­ter­mor­gens ver­schwand.

»Ta­ma Vill­mon«, er­klär­te mir mei­ne Schwes­ter auf mei­nen Blick hin. »Die Au­to­rin, die mor­gen hier liest.«

»Wann?«, frag­te ich nur.

»15 Uhr, hier im Ne­ben­raum. Kommst du, Kai? Oder hast du mor­gen Abend­schicht?«

»Ja, aber ei­ne Stun­de oder so kann ich schon. Was hat sie ge­schrie­ben, wor­aus liest sie?«

Su hielt mir ein dün­nes Hardco­ver­buch ent­ge­gen, das ne­ben ihr auf ei­nem Sta­pel ge­le­gen hat­te, und ich sah nur ja­pa­ni­sche Schrift­zei­chen und dar­un­ter ir­gend­et­was mit zwei­spra­chi­gen Ge­dich­ten.

»Ist sie denn Ja­pa­ne­rin?«

»Ein biss­chen. Aber sie ist ir­gend­wie ein­fach al­les.«

»Aha?«

»Ja.« Su war vol­ler Lei­den­schaft. »Sie ist Wahn­sinn. Ich wünsch­te, ich könn­te so schrei­ben wie sie.«

Ich wuss­te nicht, wor­über mei­ne Schwes­ter sich ei­gent­lich be­schwer­te. Sie selbst trüb­te sehr viel mehr Wäs­ser­chen, als es auf den ers­ten Blick den An­schein hat­te. Sie muss­te al­so gar nicht so schreck­lich ei­fer­süch­tig sein.

»Ta­ma Vill­mon ist Pro­fes­so­rin für Lin­gu­is­tik an der Uni hier. Sie ist un­glaub­lich in­ter­es­sant und klug.«

Pro­fes­so­rin?, dach­te ich. Lin­gu­is­tik? »Heißt das, sie spricht je­de Spra­che der Welt in­klu­si­ve ir­gend­wel­cher aus­ster­ben­der si­bi­ri­scher Stam­mes­dia­lek­te?«

»Nun, das wohl nicht«, sag­te Su streng. »Ich glau­be nicht, dass es bei Lin­gu­is­ten dar­um geht, dass sie selbst tau­send Spra­chen spre­chen.«

Ich zuck­te mit den Ach­seln. »Dann er­forscht sie sie eben. Aber wahr­schein­lich ha­ben mehr­spra­chi­ge Leu­te eher Lust auf so ei­ne Wis­sen­schaft.«

»Kei­ne Ah­nung«, mein­te Su. »Aber es stimmt, sie ist zur Hälf­te Ja­pa­ne­rin und zur an­de­ren Hälf­te Deutsch-Spa­ni­e­rin. Und sie schreibt Ge­dich­te. Tja, man­che Men­schen ha­ben ein­fach al­les.«

»Ja, so­gar die schöns­ten Stie­fel«, sag­te ich nach­denk­lich.

»Dann seh ich dich al­so mor­gen. Und jetzt gehst du ins The­a­ter?«

 

Das tat ich. Al­ler­dings erst am Nach­mit­tag. Es fing an zu schnei­en, als ich mit den Hän­den in den Ta­schen los­zog. Die Pro­fes­so­rin lief in Ge­dan­ken ne­ben mir. Ih­re Au­gen. Ih­re Stie­fel. Mein Herz poch­te. Schon den gan­zen Tag.

Mei­nen Job mach­te ich oh­ne gro­ße Wor­te. Die Ner­vö­sen, die nicht re­den woll­ten, ka­men gut mit mir aus, die Quas­sel­strip­pen setz­ten sich ei­nen Stuhl wei­ter.

Nein, ich bin kei­ne Schau­spie­le­rin. Das könn­te ich nie­mals. Aber ich se­he ih­nen gern zu, und sie ge­hö­ren mir ein biss­chen. Und die Zu­schau­er auch. Manch­mal ste­he ich auch an dem klei­nen Guck­loch, von dem aus man den Pu­bli­kums­raum un­be­merkt beo­b­ach­ten kann: Der Saal wölbt sich dann vor mir wie ein Raum­schiff, die Zu­schau­er sind Droh­nen, die in ei­nem selt­sa­men me­tal­li­schen Grund­rau­schen auf ihren An­griffs­be­fehl war­ten.

An die­sem Abend aber hielt ich mich seit­lich in der Ku­lis­se und ver­folg­te das Ge­sche­hen auf der Büh­ne. In Ge­dan­ken di­ri­gier­te ich. Ja, wenn ich ganz still ste­he, kann ich mir vor­stel­len, dass ich die­je­ni­ge bin, die al­les di­ri­giert: Die Schau­spie­ler pro­sti­tu­ie­ren sich im Schein­wer­fer­licht, je­den Atem­zug tun sie nur für das Pu­bli­kum – und ich war­te da im Schat­ten.

Ne­ben mir stand die Frau vom Kos­tüm mit Kla­mot­ten über dem Arm, und ich war eben­falls mit mei­nen Uten­si­li­en aus­ge­stat­tet. Wir hat­ten drei Mi­nu­ten bis zum Kos­tüm­wech­sel, re­de­ten aber nicht mit­ein­an­der.

Der Le­se­tisch vorn war noch leer. Su stell­te ge­ra­de ein Was­ser­glas ne­ben das Buch. Wo war Pro­fes­sor Vill­mon? Hat­te sie vor, wie ei­ne Di­va in letz­ter Mi­nu­te her­ein­zu­schnei­en? Plan­te sie den gro­ßen Auf­tritt?

Nein. Dort drü­ben stand sie, mit ei­ner Kol­le­gin mei­ner Schwes­ter und ei­nem äl­te­ren Mann. Sie sah gut aus. Far­ben­froh, mys­te­ri­ös, er­wach­sen. Und mit Si­cher­heit hat­te sie schon bei weit wich­ti­ge­ren Ge­le­gen­hei­ten am Po­di­um ge­stan­den, hat­te ei­ne Men­ge gro­ßer Auf­trit­te hin­ter sich, die die­sen hier weit über­tra­fen. Den­noch wirk­te sie nicht ar­ro­gant, son­dern eher wie ein frühr­ei­fer, erns­ter Teen­ager.

Ich hat­te mich über sie in­for­miert, hat­te stun­den­lang das Netz nach ihr ab­ge­sucht, da­her wuss­te ich: Vor mir stand ei­ne Per­son, die al­les konn­te, die al­les er­reicht hat­te. Sie hat­te zu The­men ge­forscht und pu­bli­ziert, de­ren Ti­tel je­mand wie ich nicht ein­mal aus­spre­chen konn­te, ver­öf­fent­lich­te Ge­dicht­bän­de und Kurz­ge­schich­ten in drei Spra­chen. Zu al­lem Über­fluss war sie, wenn ich den Zet­tel, den ich in die Hand ge­drückt be­kom­men hat­te, rich­tig ver­stand, mit ei­nem Ge­hirn­chir­ur­gen ver­hei­ra­tet, der ihr in Bril­lanz mit Si­cher­heit in nichts nach­stand. Was für ei­ne Kom­bi.

Ich sah vor mir, wie die bei­den abends auf dem Roche-Bo­bois-So­fa bei ei­nem per­li­gen Moët ih­re un­end­lich in­tel­lek­tu­el­len Ge­sprä­che führ­ten – über die Links­krüm­mung der Groß­hirn­rin­de beim Er­ler­nen ei­ner fünf­ten Fremd­spra­che bei gleich­zei­ti­gem Schlag­an­fall.

Na gut, so­weit ich das wuss­te, wa­ren Uni­profs nicht wohl­ha­bend, vor al­lem nicht, wenn sie ob­sku­re Li­te­ra­tur ver­öf­fent­lich­ten. Und sno­bis­tisch wirk­te sie nicht. Ihr Ding war dann viel­leicht doch eher ein ver­rück­ter Uni­kat­ses­sel vom Floh­markt oder An­ti­kla­den und ein tro­pi­scher Cock­tail da­zu, in dem die Eis­wür­fel zisch­ten.

Aber den­noch: Auf al­le an­de­ren Leu­te konn­te ich ir­gend­wie her­ab­se­hen, weil sie Nor­mal­sterb­li­che wa­ren wie ich, die nicht schnall­ten, was für ein Spiel ich spiel­te. Die­se Frau je­doch wür­de sich nicht für dumm ver­kau­fen las­sen. Um­so köst­li­cher die Vor­stel­lung, sie an mei­ne Ma­ri­o­net­ten­fä­den zu hän­gen.

Vor dem Le­se­pult wa­ren meh­re­re Sitz­rei­hen Stüh­le auf­ge­baut, die zu un­ge­fähr zwei Drit­teln be­setzt wa­ren, vor al­lem mit Frau­en. Et­was wei­ter ent­fernt an der Sei­te war­te­te ein farb­lo­ses kal­tes Büf­fet. Für hin­ter­her.

Was ge­nau ge­le­sen wer­den soll­te, war mir nicht klar. Jan und ich hat­ten auf dem Weg hier­her schon al­le Wit­ze ge­ris­sen, die man nur zum The­ma Dich­ter­le­sung rei­ßen konn­te – ei­gent­lich mach­ten wir uns nur über uns selbst lus­tig, weil wir kei­ne Ah­nung hat­ten. Oh, aber wir flo­gen in ei­ner ab­so­lut wil­den Stim­mung her­ein, auf­ge­kratzt und schon fast leer­ge­lacht.

Wie gut, dass ich Jan mit­ge­nom­men hat­te, man ist un­auf­fäl­li­ger zu zweit.

Ich wink­te Su zu, sie grins­te zu­rück und freu­te sich be­stimmt, mich mit ei­nem Kerl zu se­hen, ob­wohl es nur mein ein­zi­ger Kum­pel am The­a­ter war. Wenn mei­ne Schwes­ter um mei­net­wil­len et­was fühl­te, wur­de mir im­mer mul­mig. Weil es im­mer ver­ge­bens war, und das tat mir leid. Sie moch­te mich, aber sie ver­stand nicht. Ich tat ihr den Ge­fal­len und zuck­te schwes­tern­haft amü­siert mit den Schul­tern, als sie in Jans Rich­tung nick­te, ihr Blick ein Fra­ge­zei­chen. Ja, Su, ich ha­be ei­nen Mann da­bei. Man muss­te das Spiel eben manch­mal mit­spie­len. Für Su konn­te ich das tun.

Wir setz­ten uns in die letz­te Rei­he. Ge­ra­de, als die Au­to­rin sich an ihrem Platz nie­der­ließ und Sus Che­fin be­gann, uns freund­lich zu be­grü­ßen, öff­ne­te sich die Tür noch ein­mal, und aus dem Schnee­ge­stö­ber ma­te­ri­a­li­sier­te sich auf die ab­so­lut dra­ma­tischs­te Wei­se ein Mann. Ein jun­ger Mann. Viel­leicht En­de zwan­zig, blaue Au­gen und blon­de kur­ze Haa­re, auf de­nen die Flo­cken schmol­zen. Das sah ich, als er sich zwei Stüh­le von Jan und mir ent­fernt in die­sel­be Rei­he setz­te.

Und Ta­ma Vill­mon er­starr­te. Ja, die sou­ve­rä­ne Frau, die be­stimmt al­les konn­te und al­les wuss­te und die je­der sein oder ha­ben woll­te, sie er­starr­te. Der Mo­ment ging so­fort vor­über, aber mein Herz klopf­te, weil sich ir­gend­et­was ge­ra­de ver­selbst­stän­dig­te. Es lag in der Luft.

Jan merk­te nichts, der Film lief wei­ter. Als die Che­fin ih­re klei­ne Be­grü­ßungs­re­de ge­hal­ten hat­te, sprach Ta­ma Vill­mon selbst ein paar Wor­te, er­klär­te ir­gend­et­was über »iso­lier­te Spra­chen« – of­fen­bar stand zur De­bat­te, ob das Ja­pa­ni­sche zu die­sen ge­hör­te – und schlug dann die of­fen­sicht­li­che Brü­cke zur zwi­schen­mensch­li­chen Iso­la­ti­on, un­ter den Spra­chen und auch über­haupt. Ich tausch­te ein Au­gen­rol­len mit Jan.

Aber dann be­gann die­se Frau zu le­sen, mit ei­ner tie­fen, wun­der­bar mo­du­lier­ten Stim­me, und, ehr­lich, ich be­kam ei­ne Gän­se­haut. Ih­re ei­gent­lich über­stra­pa­zier­te Me­ta­pher wur­de zur Of­fen­ba­rung, ih­re Stim­me mach­te mir Lust auf al­les, was da im Uni­ver­sum her­um­schweb­te. Wenn ich ihr zu­hör­te, woll­te ich plötz­lich Bü­cher le­sen, Mu­sik­in­stru­men­te ler­nen, Künst­le­rin und Atom­phy­si­ke­rin wer­den, woll­te ein­fach al­les wis­sen, was sie wuss­te.

Und der Mann in der letz­ten Rei­he? Was war die Ver­bin­dung?

Die Vill­mon gab ei­ne gu­te Schau­spie­le­rin ab, sie ließ sich nichts an­mer­ken. Aber wer wuss­te es schon – viel­leicht zit­ter­ten ih­re Fin­ger am Buch, viel­leicht las sie me­cha­nisch, wäh­rend ih­re Ge­dan­ken um den Kerl kreis­ten.

Ei­ne Af­fä­re? Ein Pri­vat­de­tek­tiv? Ich sah wun­der­sa­me Sze­na­ri­en vor mir, und ih­re dunk­le Stim­me floss im Hin­ter­grund, wäh­rend ich ihn beo­b­ach­te­te.

Ein schö­ner Mann. Und et­was war da in sei­nem Ge­sicht, ich kam nicht gleich dar­auf, das ihn un­ge­heu­er emp­find­sam aus­se­hen ließ, ob­wohl er wie ein läs­si­ger Al­pha Ma­le in sei­nem Stuhl fläz­te.

Al­so ei­ner von die­sen Ker­len, die stark und sen­si­bel gleich­zei­tig sind. Die sind un­aussteh­lich. Bes­ser als die Ma­chos und bes­ser als die Sof­ties, und sie wis­sen es.

Wie pass­te der Typ mit der Au­to­rin zu­sam­men? Um den Ge­hirn­chir­ur­gen han­del­te es sich mit Si­cher­heit nicht.

Ab und zu er­wisch­te er mei­ne Bli­cke und er­wi­der­te sie ver­blüfft, wäh­rend ich wie ei­ne An­fän­ge­rin den Kopf wegdreh­te. Was muss­te er von mir den­ken?

Jans spo­ra­di­sche wit­zi­ge Kom­men­ta­re hör­te ich nur halb oder gar nicht, sei­ne Stim­me war aus­ge­blen­det, aber ver­mut­lich grins­te ich pflicht­schul­dig.

Als wir am Schluss da­zu ein­ge­la­den wur­den, un­se­re Bü­cher si­gnie­ren zu las­sen, ver­ge­wis­ser­te ich mich, was der blon­de Mann mach­te: Nichts, er blieb sit­zen. Läs­sig, beo­b­ach­tend. Er hat­te kein Buch. Die Ar­me hielt er hin­ter dem Kopf ver­schränkt, als könn­te ihm die Ver­an­stal­tung nicht gleich­gül­ti­ger sein. Und da­bei sag­ten sei­ne Au­gen die gan­ze Zeit über, dass ihm nichts lie­ber wä­re, als zu­sam­men mit der schö­nen Au­to­rin von ei­nem Bus über­fah­ren zu wer­den, wie in die­sem al­ten Song von The Smiths.

Ich stand auf, eben­falls oh­ne Buch. Oh­ne zu über­le­gen, schrieb ich mei­ne Han­dy­num­mer auf ei­nen Zet­tel. Stell­te mich in der Rei­he der Fans an. Dreh­te mich im­mer wie­der nach ihm um.

Jan stand da wie im fal­schen Film: Wir sind doch nur zum Spaß her­ge­kom­men? Ich zwin­ker­te ihm zu.

Als ich dran war, reich­te ich der ver­blüff­ten Au­to­rin den Zet­tel statt ei­nes Buchs.

»Was ist das?«, frag­te sie.

»Der blon­de Mann aus der letz­ten Rei­he, der zu spät ge­kom­men ist, hat mich ge­be­ten, Ih­nen das hier zu ge­ben.«

Ich folg­te ihrem Blick über mei­ne Schul­ter, sie hat­te den Im­puls auf­zu­ste­hen, un­ter­ließ es dann aber. Und er selbst war wie vom Erd­bo­den ver­schluckt. Was ging in ihr vor? Ihr glat­tes Ge­sicht ver­ri­et nichts.

»Kei­ne Ah­nung, wer das ist«, füg­te ich lau­ernd hin­zu und sah sie an. »Wahr­schein­lich nur ein Idi­ot.«

»Ja«, ant­wor­te­te sie zer­streut und zer­knüll­te die Te­le­fon­num­mer in ih­rer Hand. Aber dann sah ich, dass sie das Pa­pier un­will­kür­lich in ih­re Hand­ta­sche steck­te.

Plötz­lich woll­te ich den blon­den Mann nicht ge­hen las­sen, warf mir den Man­tel über und rann­te nach drau­ßen in das schnee­stäu­ben­de Zwie­licht. Sah mich um, er­war­te­te, dass er da ir­gend­wo un­ter ei­nem Vor­dach stand und war­te­te. Aber nichts. Ge­beug­te Rü­cken eil­ten an der La­den­tür vor­bei.

Jan kam mir nach. »Was ist mit dir los?«, woll­te er wis­sen.

»Nichts«, sag­te ich. »Los, Zeit für die Ar­beit.«

 

Spät am Abend auf dem Heim­weg nach der Vor­stel­lung be­kam ich end­lich die ers­te Text­nach­richt. Das Han­dy surr­te.

 

Neue Num­mer?

 

Ich warf den Kopf zu­rück vor Grö­ßen­wahn, und mei­ne Fin­ger tipp­ten in Win­des­ei­le:

 

Wie du siehst.

Hör auf mit dem Blöd­sinn! Was willst du da­mit er­rei­chen?

Dich se­hen. Sonst nichts.

Du kannst mich ganz nor­mal an der Uni se­hen, wie al­le an­de­ren auch.

Kön­nen wir re­den?

Mi­lo!

Nur re­den.

Nein, au­ßer, du hast ei­ne fach­li­che Fra­ge. Lass mich in Ru­he.

 

Ich ant­wor­te­te nicht mehr. Aber ich sah sie vor mir: ei­nen Nacht­fal­ter, der mit sei­nem Flü­gel­schlag ei­nen elek­tri­schen Sturm aus­lös­te, und ich tanz­te nach Hau­se wie in Tran­ce. Es war dun­kel, und die Schnee­flo­cken flo­gen wie Staub zwi­schen den Lich­tern der Stadt. Die Men­schen surr­ten an mir vor­bei, Mil­li­o­nen Feu­er­fünk­chen auf dem Weg durch ein schwar­zes Loch. Ah, manch­mal bin ich ir­gend­wie Gott.

Mi­lo! Ta­ma und Mi­lo. Zwei Na­men, die ge­ra­de­zu auf der Zun­ge zer­gin­gen. Ta­ma und Mi­lo. Ei­ne Af­fä­re. Mit ei­nem Stu­den­ten, ei­nem Kol­le­gen? Oder viel­leicht hat­te die­ser Mi­lo es nur bei ihr ver­sucht, war ab­ge­blitzt und stalk­te sie jetzt? In mei­nem Kopf spann ich das Dreh­buch wei­ter.

Ich be­trach­te­te mei­ne Fü­ße, die durch das Weiß lie­fen, und woll­te auch sol­che blau­en Stie­fel. Blau wie die ark­ti­sche See. Hof­fent­lich ei­ne Af­fä­re. Die bei­den wa­ren die schöns­ten Men­schen, die ich mir je zu­sam­men vor­ge­stellt hat­te.

 

Ja, ver­dammt noch mal, war­um auch nicht? Es ist ein amüsan­ter Zeit­ver­treib, nichts wei­ter. Ganz harm­los. Leu­te an­schau­en und über­le­gen, was sie wohl so den­ken, ma­chen, sa­gen. Ein we­nig wie fern­se­hen. Das macht doch je­der! Wer vor der Glot­ze sitzt, der spi­o­niert auch Leu­ten hin­ter­her, so­gar noch mehr als ich. Der folgt ih­nen so­gar bis un­ter die Du­sche oder die Bett­de­cke, was mir nie­mals ein­fal­len wür­de.

Die Sto­ry hat­te sich ganz ein­fach in Gang ge­setzt: Zu­erst war die Frau mit den blau­en Stie­feln auf­ge­tre­ten, die nie­man­den au­ßer mich so zu er­stau­nen schie­nen. In der zwei­ten Sze­ne war ich ihr in die Le­sung ge­folgt, und dort hat­te sich dann der zwei­te Prot­ago­nist ge­zeigt, die Zahn­rä­der hat­ten in­ein­an­der­ge­grif­fen. Und jetzt muss­te ich ihn na­tür­lich fin­den. Mi­lo. Den Lover. Falls er das war.

An der Uni fand man je­den und vor al­lem je­man­den mit so ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Na­men: Mi­lo Schmittt. Ich lach­te laut auf, als ich den vol­len Na­men zum ers­ten Mal las. Schmittt. Mit drei T. Er konn­te wohl sei­nen lang­wei­li­gen Nach­na­men nicht er­tra­gen und hat­te das drit­te T ein­fach wild hin­zu­ge­fügt.

Herr Schmittt mit drei T war Dok­to­rand der Bio­lo­gie. Auf­ge­lis­tet sah ich sei­ne For­schungs­in­ter­es­sen, die mir aber nicht wirk­lich viel sag­ten, zum Bei­spiel Ad­ap­ti­ve Dy­na­mics und Phy­lo­ge­ne­tics. Al­les klar. Aber ich war ja auch nicht vom Fach. Ich hat­te nicht mal stu­diert. Dann stan­den da noch ein bis zwei Pu­bli­ka­ti­o­nen (mit un­ver­ständ­li­chen drei­zei­li­gen eng­li­schen Ti­teln) so­wie zwei Ver­an­stal­tun­gen, die er wohl für Erst- und Dritt­se­mes­ter ab­hielt. Mit dem Zei­ge­fin­ger strich ich über das ziem­lich schlech­te klei­ne Fo­to, das ne­ben sei­nen noch ma­ge­ren Er­run­gen­schaf­ten prang­te. Er war nichts Be­son­de­res – nur ei­ner von zehn Dok­to­ran­den auf ei­ner ganz und gar un­de­ko­rier­ten Sei­te, die aus­sah, als sei sie nie ganz fer­tig ge­wor­den. Ir­gend­wie rüh­rend.

Ei­ne gan­ze Wei­le lang sah ich das Fo­to an und frag­te mich, wie es sein wür­de, ihn zu ken­nen.

Als ich mich dann spä­ter zu Pro­fes­sor Über­flie­ger Dr. Ta­ma Vill­mon durch­klick­te, er­öff­ne­te sich mir ei­ne schil­lern­de wis­sen­schaft­li­che und li­te­ra­ri­sche Kar­ri­e­re. Die Sei­te war pro­fes­si­o­nell ge­stal­tet, eher wie die ei­nes Un­ter­neh­mens als die ei­nes Uni-Stars, mit ed­len Far­ben und Fonts. Das gro­ße, pro­fes­si­o­nell ge­schos­se­ne Fo­to zeig­te ei­ne star­ke Frau, die oh­ne je­de Ar­ro­ganz in die Ka­me­ra strahl­te: Weil sie oh­ne­hin wuss­te, dass sie al­les er­reicht hat­te und groß­zü­gig sein konn­te. Oh, sie war so schön.

Dann klick­te ich wie­der zu­rück zu Mi­lo Schmittt. Er war eben­falls schön, aber ein Nie­mand im Ge­gen­satz zu ihr. Mein Hirn spann Ge­schich­ten – köst­li­che ver­bo­te­ne Ge­schich­ten, die hin­ter der Un­schuld all die­ser In­for­ma­ti­o­nen ver­bor­gen la­gen. Ge­schich­ten, von de­nen nie­mand wuss­te. Ir­gend­et­was war da, und mei­ne Fin­ger­spit­zen krib­bel­ten vor Lam­pen­fie­ber und Er­fin­den­wol­len. Aus dem gol­de­nen Spie­gel, der ei­nen gro­ßen Teil der Wand ne­ben mei­nem Bett ein­nahm, sah mir mei­ne Re­fle­xi­on still über die Schul­ter.

Er war ein ur­al­tes Ding, die­ser Spie­gel, den ich in ei­nem An­ti­kla­den ge­fun­den und der mich so viel ge­kos­tet hat­te, dass ich mei­ne Schwes­ter da­für rich­tig hef­tig hat­te an­pum­pen müs­sen. Aber er war mein liebs­tes Stück, und er spie­gel­te ei­nen si­gni­fi­kan­ten Teil mei­ner klei­nen Bu­de. Manch­mal war es dann, als ob ich mich im Film se­hen konn­te.

Aber meis­tens er­blick­te ich nur ei­ne schmut­zi­ge, ver­gilb­te zwei­te Di­men­si­on der Re­a­li­tät: Das Sil­ber hin­ter dem Glas war oxi­diert und zeig­te lan­ge Schlie­ren und ro­st­ar­ti­ge Fle­cken an der Ober­flä­che. Ich moch­te es, dass die­se dunk­le Kai im Spie­gel so ver­schim­melt aus­sah. Brach­te was von Do­ri­an Gray ins Spiel.

Wie hat­ten Ta­ma und Mi­lo sich wohl ken­nen­ge­lernt? Na­tür­lich an der Uni. Aber ich brann­te für die ge­nau­en Um­stän­de, stell­te sie mir vor, träum­te davon, krit­zel­te No­ti­zen.

 

In den nächs­ten Ta­gen fand ich zu­erst durch ei­ne lang­wie­ri­ge In­ter­net­su­che Mi­los Adres­se her­aus, konn­te je­doch nicht hin­fah­ren, da ich ins The­a­ter muss­te. Aber im­mer­hin: Es gab ihn. Er wohn­te in mei­ner Stadt. Er exis­tier­te.

Als ich wie­der nor­ma­le Schicht hat­te, fuhr ich ganz früh mor­gens zu ihm – es war die glei­che Bus­li­nie, die ich von der Ar­beit zu mir nach Hau­se nahm, nur ein paar Sta­ti­o­nen wei­ter. Ei­ne hal­be Stun­de lang lun­ger­te ich vor sei­nem Ge­bäu­de her­um, oh­ne ge­nau zu wis­sen, was ich woll­te. Wahr­schein­lich war­te­te ich auf ihn. Woll­te ihn so gern se­hen. Im­mer­hin wür­de er ja wohl früh an die Uni ge­hen? Oder nicht? Wer wuss­te schon, was Dok­to­ran­den so trie­ben und wann sie im Job antre­ten muss­ten. Viel­leicht hat­te er bis drei Uhr mor­gens nok­tur­ne Schnee­wür­mer in ihrem na­tür­li­chen Ha­bi­tat beo­b­ach­tet (oder nok­tur­ne Lin­gu­is­tin­nen).

Auf je­den Fall rühr­te sich nichts. An­de­re Leu­te ver­lie­ßen sein Ge­bäu­de, er nicht. Wie es wohl wä­re, ihn als Nach­barn zu ha­ben? Ihn statt mei­nes ei­ge­nen ek­li­gen Nach­barn?

Da­nach has­te­te ich zu mei­ner Vor­mit­tags­be­spre­chung ins The­a­ter. Up­date zu den Pro­ben für ›Re­bec­ca‹, un­se­rer neu­en Pro­duk­ti­on. Ne­ben all dem üb­li­chen Kram hieß es, wir such­ten noch ein paar Sta­tis­ten für den gro­ßen Ball, ei­ne Schlüs­sel­sze­ne. Die Büh­ne müs­se voll von Men­schen sein, und un­se­re üb­li­chen zehn Ver­däch­ti­gen sei­en nicht ge­nug.

Jan, der für die Büh­nen­tech­nik beim Mee­ting da­bei war, lach­te und mein­te, er wür­de zu gern ei­nen stum­men Kell­ner ge­ben. Der gro­ße Meis­ter am Ti­schen­de war in gu­ter Stim­mung und sag­te grin­send, das sol­le er doch gern tun. Er­staun­lich. Ich ver­stand es als Scherz, nor­ma­le­r­wei­se war die Re­gie für Kin­der­ei­en die­ser Art nicht zu ha­ben. Aber Jan nahm ihn beim Wort.

Beim Raus­ge­hen dräng­te er mich, auch mit­zu­ma­chen: »Komm, ist doch lus­tig, mal was an­de­res.«

Aber ich woll­te nicht, das ist nicht mein Ding.

Gut: Manch­mal dreht sich die Welt plötz­lich so schnell und schrill, dass mein Kopf nicht mehr weiß, wo­hin. Dann will ich raus, an­ge­ben, die Bes­te sein, und dann geh ich ab und zu in ei­ne be­stimm­te klei­ne Ka­rao­ke­bar. Da ha­ben sie na­tür­lich auch ei­ne Büh­ne. Aber es ist an­ders, man steht beim Sin­gen so schön im Schat­ten, und nie­mand kennt mich, weil ich ver­klei­det hin­ge­he und na­tür­lich auch mit nie­man­dem spre­che.

Ja, das pas­siert mir ab und zu. Aber nein – mich hier im The­a­ter un­ter die­sen grel­len Schein­wer­fern zu zei­gen, der Ge­dan­ke ge­fiel mir nicht. Au­ßer­dem war ich ehr­lich ge­sagt nicht mit mei­ner Ar­beit ver­hei­ra­tet. Ich mach­te mei­nen Job, ge­noss es hin und wie­der, den Ex­hi­bi­ti­o­nis­ten zu­zu­schau­en, de­ren Schrit­te auf dem blan­ken Par­kett hall­ten, aber dann war es auch wie­der gut.

Lie­ber hing ich nun vor­mit­tags im­mer wie­der an der Uni her­um, wenn ich erst abends Schicht hat­te, oder spät nach­mit­tags, wenn ich tags­über ar­bei­te­te. Der Ort zog mich magisch an. Und es war selt­sam: Nie­mand be­merk­te mich, wie ich da durch die Gän­ge mit den vie­len Tü­ren wan­del­te, gleich ei­nem ver­wais­ten Phan­tom, das ver­sucht zu spu­ken, aber nicht be­merkt wird. Ich stand vor Aus­hän­gen, Pla­ka­ten, schwar­zen Bret­tern und führ­te sie mir wie ei­ne exo­ti­sche Lek­tü­re zu Ge­mü­te. Ich trö­del­te vor Bü­rotü­ren und Hör­sä­len her­um. Nie­mand beach­te­te mich, ob­wohl ich an die­sen Or­ten nichts ver­lo­ren hat­te. Ich wuss­te nichts über Uni­ver­si­tä­ten, war er­staunt, dass es dort so an­onym zu­ging.

Im In­sti­tut für Sprach­wis­sen­schaft husch­te ich von Gang zu Gang und schlich mich end­lich, end­lich an Pro­fes­sor Vill­mons Bü­ro­tür her­an. Als ich davor­stand, kam prompt ei­ne Stu­den­tin vor­bei und frag­te mich, ob ich we­gen der Sprech­stun­de da sei. Wort­los schüt­tel­te ich den Kopf.

»Hast du ein Glück«, seufz­te sie. »Die Vill­mon reißt mir be­stimmt gleich den Kopf ab. Was hast du bei ihr?«

»Ich bin aus … Bio«, sag­te ich, weil ich an Mi­lo dach­te.

»Ach so, bist du beim Pro­jekt mit der ge­ne­ti­schen Lin­gu­is­tik da­bei?«

»Ja­ja, ge­nau.« Sie muss­te mich für be­scheu­ert hal­ten.

»Ich glau­be, da gibt’s ei­nen Aus­hang für euch vorn am schwar­zen Brett, falls du den suchst.«

»Dan­ke. Ich hof­fe, sie lässt noch was üb­rig von dir.«

»Na ja, sie ist ei­gent­lich cool, bin selbst schuld …«

Na­tür­lich!

Zu gern hät­te ich noch ei­nen Blick auf Ta­ma selbst ge­wor­fen, hin­ter ihrem Schreib­tisch thro­nend, aber das Mäd­chen sah mich ver­wun­dert an, weil ich nicht wei­ter­ging. Erst als ich mich in Be­we­gung setz­te, klopf­te sie an die Bü­ro­tür und trat ein. Ich hör­te Pro­fes­sor Vill­mons Stim­me, die gar nicht ge­fähr­lich klang, son­dern sehr warm und tief, ge­nau so wie auf der Le­sung. Viel­leicht mach­te sie das ge­ra­de ge­fähr­lich?

Je­den­falls wuss­te ich nun, dass es wohl ir­gend­ei­ne Ko­ope­ra­ti­on zwi­schen der Bio­lo­gie und der Lin­gu­is­tik gab. Der Aus­hang sprach von ei­nem ge­mein­sa­men Pro­jekt, von Kur­sen zur »Mo­del­lie­rung«, aber den Be­griff »ge­ne­ti­sche Lin­gu­is­tik«, den die Stu­den­tin ge­braucht hat­te, such­te ich ver­geb­lich. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, was das sein soll­te. Klar, Spra­chen konn­ten mit­ein­an­der ver­wandt sein, aber Ge­ne­tik – wie bei Men­schen?

Aus der Schu­le er­in­ner­te ich mich nur noch va­ge an die Men­del’schen Er­bre­geln: gel­be ecki­ge ver­sus grü­ne run­de Erb­sen. Nicht wahr? Dach­te ich wohl ge­ra­de in ei­ner gel­ben ecki­gen Spra­che? Sie fühl­te sich ir­gend­wie so an, sehr gelb und sehr eckig.

Wäh­rend ich mir die­se Ge­dan­ken durch den Kopf ge­hen ließ, folg­te ich den Weg­wei­sern zu ei­nem Übungs­saal in ei­nem ganz an­de­ren Ge­bäu­de. Um 11 Uhr gab Mi­lo dort Un­ter­richt für Dritt­se­mes­ter. Das Zim­mer ge­gen­über war leer, und ich ver­steck­te mich dar­in. Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten (mehr -in­nen) ström­ten nach und nach in den Übungs­saal, laut re­dend, la­chend, be­merk­ten nicht den klei­nen Geist, der sie beo­b­ach­te­te. Schließ­lich kam Mi­lo Schmittt. Er war es. Ich er­kann­te ihn an den vie­len Ts.

We­ni­ger ernst als im Buch­la­den, ein grin­sen­der Blond­schopf, der aus­sah wie je­mand, der viel Un­sinn im Kopf hat­te. Ein we­nig zu spät kam er, als wä­re er selbst ei­ner der Stu­den­ten. Mit sei­ner brau­nen Re­tro­le­der­ta­sche un­ter dem Arm gab er den ul­ti­ma­ti­ven Erst­se­mes­ter­schwarm. Freund­schaft­lich scheuch­te er zwei Ker­le ins Zim­mer und hau­te la­chend die Tür ins Schloss.

Ich stand da mit hän­gen­den Ar­men und konn­te ir­gend­wie nicht glau­ben, dass es ihn wirk­lich gab, auch wenn ich ihn ja schon ge­se­hen hat­te. Ta­ma Vill­mons mys­te­ri­ö­ser Lieb­ha­ber exis­tier­te wirk­lich. Je­mand, der in mei­nem Kopf sei­ne ei­ge­nen Aben­teu­er er­leb­te, der ei­ne schö­ne, stren­ge Lin­gu­is­tin in ihrem Bü­ro ver­führ­te, der mehr woll­te, als sie ihm ge­ben konn­te, und sie des­halb bis zu ihren Dich­ter­le­sun­gen ver­fol­gen muss­te. Und jetzt stand er da hin­ter die­ser ver­schlos­se­nen Tür und teil­te Ge­heim­nis­se mit sei­nen Stu­den­ten, in die ich nie ein­ge­weiht wer­den wür­de.

Aber er wür­de bald ei­ne hüb­sche Nach­richt er­hal­ten. Die hat­te ich zu Hau­se ge­tippt, denn si­cher­lich kann­te er ja Ta­mas Schrift.

Im drit­ten Stock fand ich sein Bü­ro, schlich zwei­mal dran vor­bei, die Tür stand halb of­fen, drin­nen sa­ßen ein jun­ger Mann und ei­ne Frau an ihren Com­pu­tern. Am Schild ne­ben der Tür stan­den vier Na­men, al­les Dok­to­ran­den, sei­ner mit drei T, un­mög­lich. Ich klopf­te kurz, der Mann stand auf und kam zur Tür. »Kann ich hel­fen?« Er nahm den Um­schlag, den ich ihm hin­streck­te.

»Ich kom­me aus der Lin­gu­is­tik. Ei­ne Nach­richt für Mi­lo Schmittt.« Als sein Na­me zum al­le­r­ers­ten Mal mei­ne Lip­pen ver­ließ, stock­te mir fast der Atem. Es war, als hät­te ich et­was Ver­bo­te­nes ge­sagt.

»Okay, ich leg’s ihm hin. Er ist im Un­ter­richt.«

»Er weiß, um was es geht.«

»Al­les klar. Er ist in ei­ner Stun­de zu­rück. Sonst noch was?« Er be­trach­te­te mich in mei­ner Graue-Maus-Auf­ma­chung, auf die ich an die­sem Tag be­son­ders sorg­fäl­tig Wert ge­legt hat­te.

Mei­ne Mas­ken wäh­le ich wei­se. Ich ha­be mal ein Buch ge­le­sen, in dem ei­ne CIA-Ver­klei­dungs­ex­per­tin ge­nau er­klärt, wie man ef­fek­tiv Leu­te durch sein Äu­ße­res täuscht. Und in mei­nem Be­ruf hab ich na­tür­lich auch ei­ni­ges ge­lernt. Es ist das Ein­zi­ge, in dem ich gut bin.

Ich lä­chel­te schüch­tern. Ir­gend­wann wür­de mich der Ge­heim­dienst als Ver­klei­de­rin an­heu­ern.

»Nein, er weiß dann schon Be­scheid.«

Da­mit dreh­te sich die Er­schei­nung um und ver­schwand im Gang. Es konn­te nicht oft vor­kom­men, dass man sich an der Uni Nach­rich­ten per Hand zu­kom­men ließ. Auf mei­ner stand, er sol­le am Frei­tag­abend ins Ka­li Ma kom­men, ei­ne Dis­co. War es wirk­lich glaub­wür­dig, dass die No­tiz von Ta­ma kam? Sie war mit Si­cher­heit kei­ne Dis­co­gän­ge­rin. Ich hat­te nicht mit ihrem Na­men un­ter­schrie­ben, es aber so for­mu­liert, dass er an­neh­men konn­te, der Zet­tel kä­me von ihr. So oder so: Er war ein Mann wie al­le an­de­ren und neu­gie­rig.

Als ich wie­der drau­ßen vor dem Uni­ge­bäu­de stand, blieb ich ei­nen Mo­ment lang ste­hen und sah an dem Haus em­por. Es war ein rie­si­ges Ding, ein Be­ton­bun­ker aus den 60er-Jah­ren, sie­ben­stö­ckig, wenn ich die Fens­ter­rei­hen rich­tig ge­zählt hat­te, und nicht zu un­ter­schei­den von Tau­sen­den sei­ner grau­en Brü­der über­all auf der Welt. Das Dach war flach. Ich woll­te hin­auf. Es muss­te ein schö­nes Ge­fühl sein, von oben auf die Stadt zu schau­en wie von ei­ner In­sel her­ab. Und es war da, wo er war.

Ich ging zu­rück, schau­te nach ei­nem Auf­zug. Der fuhr na­tür­lich nicht bis hin­aus über die Dä­cher, aber von ganz oben wür­de ich si­cher ei­nen Weg fin­den.

In die­sem Au­gen­blick kam ein hef­ti­ger Schwung Stu­den­ten aus al­len Hör­sä­len und schwemm­te mich in ih­rer Mit­te hin­aus, als woll­ten sie mich an mei­nem Vor­ha­ben hin­dern. Ich ließ mich amü­siert trei­ben. Dann ein an­der­mal. Ich fuhr heim. Am Frei­tag wür­de ich ihn wie­der­se­hen!

Ich such­te ihn on­line und fand ihn auf ver­schie­de­nen Ka­nä­len. Selbst hat­te ich nicht vie­le Freun­de oder Fol­lower oder wie man das nann­te. Mei­ne Schwes­ter und ein paar ob­sku­re Cou­sins und Cou­si­nen, dann noch Jan und ein paar al­te Schul­fein­de. Auch gab es ein paar »Freun­de«, die ich selbst kre­iert hat­te. Ab und zu logg­te ich mich als ei­ne die­ser Per­so­nen ein und lik­te oder kom­men­tier­te Kais Fo­tos. Au­ßer­dem klick­te ich mich gern ein­fach so lan­ge durch ei­ne Ket­te von Kom­men­ta­ren und Freun­den von Freun­den, bis ich je­man­den ent­deck­te, der mir in­ter­es­sant er­schien. Dann schick­te ich gern Pri­vat­nach­rich­ten, in de­nen ich be­haup­te­te, wir sei­en al­te Be­kann­te von vor lan­ger Zeit, die sich aus den Au­gen ver­lo­ren hat­ten. Vie­le trau­ten sich nicht, mir zu wi­der­spre­chen. Lus­tig, an was die Men­schen sich al­les nicht er­in­ner­ten und mein­ten, sie müss­ten es.

Und dann war Frei­tag. Ich hat­te frei, und das war gut so, denn ich hät­te mich so­wie­so nicht auf den Job kon­zen­trie­ren kön­nen. Die ein­zi­ge Ar­beit mach­te ich mir selbst zu Hau­se: Ich zog ei­nen grü­nen, knie­lan­gen Cor­d­rock, li­la Strumpf­ho­sen und hell­brau­ne Stie­fel an. Da­zu mal­te ich mir dunk­len Lip­pen­stift ins Ge­sicht und setz­te mei­ne wun­der­ba­re neue ro­te Lo­cken­pe­rü­cke auf, die ich vor ein paar Ta­gen fer­tig­ge­stellt hat­te. Da­zu grü­ner Lid­schat­ten und ein fal­sches Lä­cheln.

Ei­nen Mo­ment lang über­leg­te ich, ob ich noch wei­ter ge­hen soll­te: fal­sches Lis­peln durch Gau­men­pro­the­sen, ich hat­te wel­che, oder ho­he Wan­gen­kno­chen durch ein Kie­fer­pols­ter, das hat­te ich auch in mei­ner Zau­ber­kis­te. Ich hat­te al­les. Und Nir­va­na. In vol­ler Laut­stär­ke. Li­thi­um. Ich fühl­te mich wie ei­ne wun­der­ba­re Seri­en­kil­le­rin, I’m not gon­na crack.

Manch­mal strich ich mit den Fin­ger­spit­zen über all mei­ne Mas­ken­schät­ze und stell­te mir vor, wie ich so­gar mei­ne Schwes­ter zum Nar­ren hal­ten wür­de, sie und den Schwa­ger und den Nef­fen. Ich wür­de als Zeu­ge Je­ho­vas oder so­was bei ih­nen klin­geln und ih­nen die Ek­sta­se der bal­di­gen Apo­ka­lyp­se aus­ein­an­der­set­zen, oh­ne dass sie mich er­ken­nen wür­den. Mei­ne Schwes­ter war so neu­gie­rig, viel­leicht wür­de sie mich so­gar her­ein­bit­ten auf ei­ne Tas­se Tee. Nur um Ma­te­ri­al zu sam­meln für ei­ne tragi­sche Lie­bes­ge­schich­te über ei­ne Zeu­gen-Je­ho­vas-Frau, an der sie rein zu­fäl­lig ge­ra­de schrieb.

Ich grins­te und be­trach­te­te mich im Spie­gel. Nein, es ge­nüg­te. Ich woll­te ja mit nie­man­dem re­den, und nie­mand wür­de mich in die­ser scheuß­li­chen, far­ben­fro­hen Kre­a­tur wie­der­er­ken­nen.

Da­nach mach­te ich die schrei­en­de Mu­sik aus und setz­te mich ei­nen Mo­ment aufs So­fa ne­ben mei­ne al­te Schau­fens­ter­pup­pe, die dort nackt saß, tag­aus, tag­ein. Ir­gend­wann hat­te ich sie in ei­nem Müll­con­tai­ner ne­ben ei­nem Kauf­haus ge­fun­den, die Bei­ne steif in der Luft wie die ei­ner ge­fro­re­nen Lei­che. Ein Fuß hat­te ge­fehlt. Es hat­te in Strö­men ge­reg­net, aber trotz­dem hat­te ich un­ter gro­ßen Mü­hen Kis­ten auf­ein­an­der­ge­sta­pelt, war hin­auf­ge­stie­gen und hat­te das Ding her­aus­ge­zo­gen. Die Pup­pe war nass und schmut­zig ge­we­sen (ich nicht we­ni­ger) und ihr Ohr ein­ge­drückt. Sie war ei­ne die­ser ur­al­ten Pup­pen, bei de­nen die Haa­re nur auf­ge­malt wa­ren. Un­ter den Arm gek­lemmt hat­te ich sie im Re­gen heim­ge­tra­gen. Es fühl­te sich gut an, un­ter Stra­pa­zen et­was zu ho­len, das man ha­ben woll­te.

Mitt­ler­wei­le war sie sau­ber und tro­cken, wenn auch noch im­mer ka­putt. Aber ich moch­te sie. Kei­ne Ah­nung, war­um.

Und denkt nicht, ich re­de­te et­wa mit ihr. Gar nicht. Ich moch­te es ein­fach, wie freaky sie da auf mei­nem So­fa saß. Ja, da saß sie und muss­te nir­gend­wo hin – oder durf­te nicht.

Als ich mich ge­sam­melt hat­te, hol­te ich Mi­lo zu Hau­se ab, auch wenn er davon nichts wuss­te.

Na­tür­lich hat­te ich kei­ne Ah­nung, wie er zum Ka­li Ma kom­men wür­de, aber ich hoff­te und nahm an, mit dem Stadt­bus. Im Nie­sels­chnee hock­te ich an der Bus­hal­te­stel­le, die sich ge­nau auf Hö­he sei­ner Ein­gangs­tür be­fand. Ich lehn­te mich im Häus­chen zu­rück und tat so, als tipp­te ich auf mei­nem Han­dy her­um. Schlug die Bei­ne über­ein­an­der. Der Wind fuhr mit kal­ten Fin­gern un­ter mei­nen Man­tel, und ich hör­te Mu­sik. Wie­der Nir­va­na, im­mer den glei­chen Song. Der rie­seln­de Schnee war so laut, dass ich ihn über­tö­nen muss­te. Ah, No­vem­ber ist doch die bes­te Zeit zu spie­len.

Al­len Sta­tis­ten an der Bus­hal­te­stel­le er­teil­te ich un­sicht­ba­re An­wei­sun­gen, und im Dis­play mei­nes Te­le­fons spie­gel­te sich mei­ne Mas­ke: Lip­pen­stift und Pu­der im gel­ben Ne­on­licht.

Un­ge­fähr ei­ne hal­be Stun­de lang war­te­te ich, zähl­te die Bus­se, wie sie her­an- und wie­der ab­fuh­ren. Es hät­te noch ewig dau­ern kön­nen, bis er auf­tauch­te – aber als der nächs­te Bus vor­fuhr, stand er plötz­lich da, in ei­ner hell­grau­en Ja­cke, die Hän­de in den Sei­ten­ta­schen, wun­der­schön im stil­len Schnee. War er wirk­lich Ta­mas Lieb­ha­ber?

Es war ein herr­li­ches Ge­fühl, da hin­ter ihm zu sit­zen und heim­lich über ihn Be­scheid zu wis­sen. Ich wuss­te, was er tat, was er ar­bei­te­te, dass er ei­ne zier­li­che klu­ge Frau moch­te. Und er hielt sich an mein Dreh­buch.

Im Bus blieb ich hin­ter ihm, be­trach­te­te sei­ne Hän­de, die sich an der Stan­ge fest­hiel­ten. Was, wenn die­se Hän­de mich statt Ta­ma be­rüh­ren wür­den? Bei der Vor­stel­lung wur­de mir ei­nen Au­gen­blick lang ganz heiß. Aber ich wuss­te auch ge­nau, dass ich das nicht wirk­lich woll­te. Nur mei­ne fal­schen dun­kel­ro­ten Lip­pen woll­ten es ein biss­chen.

Wir fuh­ren da­hin, aber dann, an der Hal­te­stel­le, die dem Ka­li Ma am nächs­ten war, stieg er nicht aus. Das über­rasch­te mich, ich war selbst schon halb drau­ßen. Mein ver­blüff­ter Blick traf den sei­nen. Ganz deut­lich muss­te er be­mer­ken, dass ich ihn an­sah, auch wenn er mich nicht wie­der­er­kann­te in mei­ner Ver­klei­dung. Aber ich stell­te mir vor, dass er ur­plötz­lich für zwei Se­kun­den in die Zu­kunft se­hen konn­te. Es wür­de ein Blick sein, der un­se­re gan­ze ver­damm­te Be­zie­hung vor­weg­nahm. Wie im Film. Wir ha­ben uns nicht um­sonst ge­trof­fen. Kai, Ba­by, ver­lass mich nicht, ich kenn dich schon seit 20 Jah­ren.

Es war kein Film. Sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich zu ei­nem an­ge­deu­te­ten spöt­ti­schen Lä­cheln: Ich weiß noch viel mehr als du.

 

 

Der Raum er­trank in Men­schen. Ein un­ge­wöhn­lich hei­ßer Mai­tag, ei­ne Kon­fe­renz – ir­gend­ei­ne, ir­gend­wo. Die Welt war voll von Kon­fe­ren­zen mit schlau­en Leu­ten, über­all auf der Welt. Welch ein Zu­fall, sei­ne See­len­ver­wand­te dort zu tref­fen.

Die Fens­ter zum Hof stan­den weit ge­öff­net und dar­un­ter war­te­te ei­ne Rei­he schlan­ker blü­ten­wei­ßer Ti­sche mit ei­nem Bü­fett für hin­ter­her. Er sah sei­ne bei­den Be­glei­te­rin­nen an, die rechts von ihm sa­ßen, Lai­la aus Mal­mö und Gi­na aus Rom. Er wuss­te gar nicht, wen er in­ter­es­san­ter fand, die dun­kel­haa­ri­ge Schwe­din oder die blon­de Ita­li­e­ne­rin.

Sie setz­ten sich in die ers­te Rei­he, weil Gi­na ih­re Bril­le ver­ges­sen hat­te und weil au­ßer­dem die hin­te­ren Rei­hen auch schon fast al­le be­setzt wa­ren. Mi­lo nick­te hin und wie­der flüch­ti­gen Be­kann­ten zu.