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In einem fast märchenhaft schneereichen Winter wandelt die einzelgängerische Maskenbildnerin Kai durch die Straßen der Stadt und stalkt Fremde. Sie ist eine ferne Betrachterin des Lebens. Doch dann laufen ihr zwei Menschen über den Weg, die sie stärker faszinieren als alles andere und in deren Leben sie sich einmischt. Was zunächst als Spielerei beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zu einem psychedelischen Albtraum, der seine Tribute fordert … “Ein literarisch bitterböses und doch poetisches Werk, das seinesgleichen sucht. Wem Amelie Nothomb gefällt, wird „Die wunderbare Kälte“ lieben”.
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Seitenzahl: 459
Zum Buch:
In einem fast märchenhaft schneereichen Winter wandelt die einzelgängerische Maskenbildnerin Kai durch die Straßen der Stadt und stalkt Fremde. Sie ist eine ferne Betrachterin des Lebens. Doch dann laufen ihr zwei Menschen über den Weg, die sie stärker faszinieren als alles andere und in deren Leben sie sich einmischt.
Zur Autorin:
Elisabeth Rettelbach ist Diplom-Übersetzerin und Texterin. Sie spricht Englisch, Französisch, Schwedisch, und manchmal versucht sie sich auch in anderen Sprachen. Nach vielen Jahren in den USA verschlug es sie vor einiger Zeit mit ihrer deutsch-amerikanischen Familie an den Bodensee. Dort schreibt sie nun Tag (im Job) und Nacht (privat) mit schöner Aussicht und manchmal sogar mit den Füßen im Wasser.Die wunderbare Kälte
I was following a phantom in my mind, whose shadowy form had taken shape at last. Her features were blurred, her coloring indistinct, the setting of her eyes and the texture of her hair was still uncertain, still to be revealed.
VORHER
Ich war auf Verfolgungsjagd. Die Frau mit der leuchtend roten Mütze ging dreißig Schritte vor mir. Sie wusste nichts von mir.
An diesem eiskalten Novembertag stiegen Nebelkristalle aus dem Fluss auf und verfingen sich in den Strähnen meiner Perücke.
Bin ich eine Serienmörderin? Wer weiß. Ich glaube nicht. Auf eine bestimmte Weise vielleicht doch. Jetzt ist ja alles so vollkommen und ganz wunderbar zerstört, aber damals, an dem Tag, an dem es zum ersten Mal schneite, da ging das Leben noch seinen gewohnten Gang. Ich vergrub einfach meine Hände in den Jackentaschen und lief zum Rhythmus der Musik in meinem Ohr, die Beute vor mir immer im Blick.
Ein Paar überholte mich. Die beiden lachten, umtanzten sich, konnten die Blicke nicht voneinander lassen. Sie waren so schön mit ihren glühenden Nasen.
Ich machte die Musik aus, und einen Moment lang blickte ich ihnen nach und fragte mich, wohin sie wohl unterwegs waren. Es juckte mich in den Fingern, etwas Unerwartetes zu tun. Vielleicht konnte ich auf den Mann zulaufen, ihm eine Ohrfeige geben und ihn anschreien: »So, deshalb bist du nie zu Hause, du hast eine Andere!« Die Frau neben ihm würde erstarren und seine Hand loslassen. Oh, ich fühlte mich, als könnte ich mit einem einzigen Wimpernschlag die träge Erde bewegen.
Aber dann dachte ich wieder an meine Mission, und als ich den Kopf wandte, war die Frau mit der leuchtenden Kopfbedeckung verschwunden. Schnell sprang ich auf die kleine Steinmauer, die den Uferweg von einem Wiesenstreifen trennte, und spähte hinüber zur Straße, wo lautlos Fahrzeuge im Dunst vorüberzogen. Keine Spur von ihr.
Aber eigentlich musste ich sie gar nicht wiederfinden. Ihr hinterherzulaufen war nur ein zusätzlicher Thrill. Ich kannte ihr Ziel.
Mein Opfer. Wenn sie wüsste, was sie mir online alles erzählt hatte.
Als ich in den Hinterhof einbog, in dem sich das Museum verbarg, konnte ich den Schnee in der Luft bereits riechen. Hier war kein Nebel mehr. Der Wind prickelte auf meinem Gesicht und trieb alte Blätter wie Schwärme von Heuschrecken vor sich her.
Da war sie wieder. Die Frau, die nicht wusste, dass es mich gab. Ah, was sie mir alles gezeigt hatte.
Ihre Figur bewegte sich ein klein wenig zu aufrecht auf den Eingang zu. Ich liebe diese angespannten Körper, die in Gedanken mehr rückwärts als vorwärts gingen.
Die Frau strich sich den Rock glatt. Würde sie umkehren? Nein. Gut.
Sie gehorchte mir, ohne es zu wissen. Weil sie es selbst wollte. Natürlich. Ich lächelte. Ich hatte dafür gesorgt.
Heizungsluft schlug mir ins Gesicht, als ich die Eingangshalle betrat und eine Karte löste. Das kleine Museum war unbekannt. Wer interessierte sich schon für obskure Musikinstrumente? Aber ich mochte die Schläfrigkeit dieser Räume.
Aus den Augenwinkeln nahm ich die Frau wahr, die auf einem Plan die Räumlichkeiten studierte. Natürlich war sie noch nie hier gewesen und wusste nicht, wo sich die ›Saiteninstrumente, 16. bis 18. Jahrhundert‹ befanden. Außerdem kann man nicht einfach in die Höhle des Löwen laufen, das verstehe ich. Man muss erst einmal durchatmen und sichergehen, dass man seine Hände noch spürt.
Still bestätigte ich für mich, dass sie um die 30 war, dunkelblond, dezent geschminkt, aufmerksam. Jemand, auf den man neidisch sein konnte. Ich nicht, natürlich. Ich war nie neidisch.
Vor zwei Wochen hatte ich im Bus dieser Frau einen Zettel mit einer E-Mail-Adresse und einer charmanten Nachricht zugesteckt, und jetzt waren wir hier. Gut! Ich war nicht neidisch.
Ohne anzuhalten, rauschte ich an dem Museumsplan und der Frau vorüber. Ich würde vor ihr am Treffpunkt sein.
Meine Fingerspitzen kribbelten, als ich durch die Tür zu einem der kleinen Ausstellungsräume trat. Es war mein Blind Date.
Ein Mann wartete inmitten der alten Geigen und Bratschen. Es war so still, der Puls dröhnte in meinen Ohren. Der Mann sah sich zu mir um, schenkte mir ein unsicheres Lächeln.
Er denkt, dass ich es bin. Was, wenn er mich anspricht? Natürlich spricht er mich an. Gleich spricht er mich an. Er muss ja denken, dass ich es bin, er muss ja.
Nein, er sprach mich nicht an. Ich sah ja auch gar nicht so aus, wie die Frau sich beschrieben hatte. Vor allem nicht mit meiner schwarzen Perücke. Aber dennoch: Er sah zu mir, er sah mich an, er kam her, lass dir nichts anmerken, was soll ich …
Dann öffnete sich die große getönte Glastür hinter mir. Endlich! Gerade als ich drauf und dran gewesen war, diesmal wirklich und wahrhaftig angesprochen zu werden, verdammt noch mal, obwohl ich das ja gar nicht will, ich bin doch nur die Zuschauerin, da kommt sie rein und macht alles kaputt.
Die leuchtende Kopfbedeckung der blonden Frau war verschwunden, das Halbdunkel perfektionierte ihren Auftritt: Das Haar floss ihr schaumig über die Schultern, ihre Haut leuchtete, die Augen waren leicht umschattet, oh, sie war schön, sie leuchtete und schwebte, sie war ich und ich war sie, ich war in ihren Gedanken, ich konnte sie schmecken, die aufregenden Worte, die wir beim Schreiben ausgetauscht hatten, eigentlich an ihn gerichtet, aber doch an mich.
Ich hatte sie gelenkt, ich hatte sie provoziert und berührt und ihr virtuelle Geheimnisse zugeflüstert und dann mit ihm noch einmal, ich war er und sie, und wir waren ein- und dieselbe, einfach widerlich und wunderbar, und jetzt trat ich zurück und überließ den Schauspielern die Bühne.
Und sie spielten. Sanft warfen sie erste Worte hin und her. Kleine gefiederte Federbälle, mit denen sie testeten, wie gut der andere spielte, zwischen sich ein kühler Teich Abstand, ist alles wahr, was du geschrieben und behauptet hast? Die Frau hatte eine wunderbare Altstimme, die mir mit samtigen Fingerspitzen über den Rücken strich.
»So etwas Verrücktes ist mir noch nie passiert«, flüsterte sie. Flüsterte sie, und doch füllte sie den Raum wie eine Schauspielerin. So klangvoll stellte ich mir den Ton der bemalten Harfe vor, vor der ich stand.
Eingehend studierte ich das Instrument, und mein Rücken lauschte mit aller Macht. Gedankenverloren fuhr mein Zeigefinger über die Holzplakette unter der Vitrine. Das Relief des weichen Holzes war wie ein menschlicher Körper.
Jetzt sprach der Mann, mit kaum verstecktem Hunger in der Stimme: »Mir auch nicht, das kannst du mir glauben.« Er wusste, wie es weitergehen würde, oder hoffte es zu wissen.
Sie reagierte: »Mir hat noch nie jemand einfach so einen Zettel mit einer Nachricht in die Handtasche gesteckt. Wie bist du auf diese Idee gekommen?«
»Ich? Du hast doch mir eine Nachricht zukommen lassen!«
Ah, die Imperfektion des Drehbuchs. Meine Fingerspitzen kribbelten, ich hielt still, das Kribbeln wanderte in meinen Magen, ich rührte mich nicht. Es fühlte sich so schön an.
»Also, entschuldige bitte, so was würde ich nie tun!«
Ruhig setzte ich einen Fuß vor den anderen und blieb kurz bei einigen kleinen Violinen stehen. Vielleicht hatten Fürstenkinder auf ihnen gespielt? Irgendwann einmal, in einer Zeit, als man sich in großen Schlössern heimlich hinter Marmorsäulen küsste und die Zofe den Geliebten durch das Fenster hereinließ.
In der Vitrine sah ich mich selbst im Vordergrund, die Reflexion meiner Komödianten hinter mir. Sie sprachen folgsam ihren Text, drehten sich mit Worten im Kreis und diskutierten, wer wen kontaktiert hatte. Das war der Zeitpunkt zu gehen. In solchen Momenten, in denen beiden Opfern klar wurde, dass sie auf das Spiel eines Dritten hereingefallen waren, fingen sie an, nach diesem Dritten Ausschau zu halten. Nicht immer buchstäblich, aber wer konnte es schon wissen.
Also verließ ich das Museum und wartete draußen auf einer Bank, halb hinter dem Sockel einer Statue verborgen. Natürlich wollte ich sehen, ob sie gemeinsam das Gebäude verließen. Würden sie?
Ich spielte mit meinen Fingern, fühlte die angenehme Kälte an der Haut. Würden sie?
Und sollte ich mich ihnen in den Weg stellen wie ein Orakel, wenn sie kamen, und ihnen mit halb gesenktem Kopf eine Weissagung machen oder ihnen zitieren, was sie einander in den letzten Tagen geschrieben hatten?
Ich wusste alles. Ich würde geheimnisvolle Augen haben. Vielleicht würde ein Sturm aufziehen. Sie würden Angst bekommen. Vielleicht kam ich aus der Zukunft. Aus einem Raum-Zeit-Riss. Oder ich konnte Gedanken lesen. Ich würde mich ihnen in den Weg stellen und lächeln, ganz weise und freundlich und böse. Sie würden sich an den Händen nehmen, ah!
Bevor ich weiterträumen konnte, erschienen sie tatsächlich – stolperten aus der Tür, halb lachend, halb peinlich berührt.
Was nun? Auch wenn die Umstände ihres Kennenlernens bizarr waren – warum sollten sie ein völlig annehmbares Blind Date ungenutzt lassen?
Welche Erleichterung, dass ich das Orakel war, nicht einer von ihnen.
Meine Perücke hatte ich bereits abgenommen und sie in den Rucksack gestopft. Außerdem hatte ich meine Jacke auf innen und damit von Rot auf Blau gewechselt. Jetzt setzte ich mir noch eine falsche Brille auf. Mit guten Maskeraden kannte ich mich schon von Berufs wegen aus.
So folgte ich den beiden weiter. Sie sollten mich nicht wiedererkennen. Vielleicht würde ja nichts passieren, aber ich beobachtete sie trotzdem den ganzen restlichen Tag. Irgendetwas in der kalten Luft hatte Klick gemacht.
Etwa eine Stunde lang setzte ich mich zu dem Paar in ein Café und versuchte mit meiner Spy-App, so viel wie möglich von ihrem Gespräch aufzuschnappen.
Aber eigentlich wollte ich sie nur ansehen. Immer nur ansehen. Das Orakel wollte Menschen sehen. Sie waren so schön. Sie ließ ihre Finger über den Rand ihrer Tasse streichen, er spielte mit einer Serviette.
Bis sechs Uhr abends blieben sie vor ihren Tassen sitzen und redeten: Musik, Filme, Job, Wetter, du bist cool, nein, du bist cool, nein, du bist cool, heute gibt’s noch Schneesturm, du hast schöne Augen, was tun wir eigentlich hier?
Sie waren so schön. Wie sich wohl ihre Haut anfühlen würde? Und seine? Rau, bestimmt. Männerhaut fühlte sich an wie Sandpapier. Eklig.
Es war inzwischen stockdunkel. Meine beiden wunderbaren Turteltäubchen standen auf und verließen das Gebäude. Eine halbe Minute später kam ich hinterher, setzte zwischen Tür und Angel sicherheitshalber meine Perücke wieder auf, nahm meine Brille ab – und folgte ihnen. Ich war voller Erwartung, und die Luft roch schwer nach Winter.
Als ich um die Ecke in die Seitenstraße bog, da lehnten die beiden schon eng umschlungen an einer Hauswand und lutschten sich gegenseitig die Visage ab. Ugh.
Mich traf fast der Schlag: Sie taten es wirklich! Sie flüsterten und flatterten in den Armen des anderen wie Motten in der Falle.
Wir sind verrückt!
Ich bin verrückt nach dir!
So was ist mir noch nie passiert…
Komm mit zu mir…
Du bist verrückt…
Wenn sie wüssten, wie unappetitlich sie aussahen. Und doch wie wunderbar. Ein hyperrealistischer Film mit einem maßgeschneiderten Drehbuch.
Mein Blick fiel auf das Schaufenster eines Geschäfts, in dessen Nachtbeleuchtung sich eine ätherische Kreatur mit riesigen schwarzen Augenhöhlen spiegelte. Ihr transparentes Halbprofil war schön und schrecklich zugleich. Das falsche schwarze Haar fiel perfekt über ihre Wangenknochen.
Das war ich, und die beiden Insekten, die dort an der Mauer flirrten, hatten keine Ahnung, dass ich sie erfunden und ihnen den aufregendsten Tag ihres Lebens geschenkt hatte. Er ein kleiner Banker, falls das stimmte, und sie Grundschullehrerin. Wie passend. Beide schienen brav, beide waren beim Chatten komplett aus dem Häuschen geraten, dass ihnen, gerade ihnen, so etwas passierte. Ja. Und heute war der Tag, hatte ich für sie entschieden, an dem sich das Bravsein nicht mehr lohnte.
Etwas breitete sich in mir aus. Ein Gefühl, als wäre ich absolut alles oder als hätte mich der Wind in einem primitiven Tanz mit sich getrieben, dann aber zu spät wieder auf den Boden gesetzt.
Mit einem wilden Hochgefühl ging ich nach Hause und wusch mir die verpasste Gelegenheit aus den Augen. Eine ganze Weile lang konnte ich mich gar nicht beruhigen. Lief hin und her. Warum war ich ihnen nicht bis zu ihrer Wohnung nachgelaufen? Oder zu ihrem Hotel, oder wo immer sie sich nun auch verkriechen würden.
Hin und her lief ich, hin und her, ich zählte meine Schritte, damit die Gedanken und die Bilder im Kopf weggingen. Dann setzte ich mich hin und knüpfte an meiner neuen roten Lockenperücke weiter. Dabei gingen die Gedanken auch weg. Ich sah die ersten Schneeflocken an der Scheibe vorbeischweben. Das war schön.
Ich öffnete das Fenster und beugte mich hinaus in die Nacht. Schwere, üppige, sanfte Flocken waren es, die sich in meinem Haar und auf der Fensterbank einnisteten. Ich schloss die Augen, eigentlich, um den Schnee zu genießen, aber da sah ich sie wieder vor mir. Wie sie sich in der Seitenstraße küssten, und wie sie sich jetzt immer noch küssten, irgendwo in einem Bett. Ich sah ihre verrenkten Körper vor mir, und ihre Finger strichen über meinen Arm. Ich fühlte seine raue Haut, die er nie eincremte. Warum cremten sich Männer nie ihre verdammte Haut ein? Dachten sie, Frauen reißen sich gern an Schleifpapier die Finger auf?
Jetzt, genau jetzt berührte sie seine harte, körnige Haut und dachte, scheiße, was tu ich hier eigentlich?
Ich öffnete die Augen und spähte hinaus in die Nacht, als könnte ich das erleuchtete Fenster, hinter dem sie zugange waren, von hier aus sehen.
UNDDANN
Muss ich das erklären? Ich mag Winter. Da kann mich niemand sehen, wenn ich auf Streifzug bin. Im Sommer ist es schwieriger: überall diese endlose Haut und Licht bis in die Nacht. Im Ernst, wer kann das aushalten?
Hingegen: Wenn ich an einem dunklen Wintertag rausgehe, raus auf die Pirsch, dann sind die Leute so einfach zu verfolgen, geradezu lächerlich einfach. Niemand beachtet mich, die Mäntel und Schals machen uns unsichtbar, mich und meine Beute. Alle starren zu Boden und zählen ihre Schritte bis zur eigenen Wohnung, bis zu ihrer Haustür, die sich wie ein scharfer Riss in der Realität öffnet und wieder zufällt.
Eine Sekunde lang gibt mir der Riss Zeit, der Person in die andere Dimension zu folgen, aber ich tue es nie.
Dann kehre ich um, und die Straßenlaternen laufen mit ihrem Licht neben mir her, und überall kreisen Menschen wie Planeten, so nah und fern und ewig, und doch sind sie nur ein Wimpernschlag im Universum.
In 100 Jahren sind wir herrliche Staubkörnchen über den Straßen, und mein Herz ist voll und kalt und heiß und eng und ich weiß nicht wie. Vielleicht so, als bräuchte ich alle und niemanden, als säßen in mir alle Schmerzen und Freuden der Welt, und am nächsten Tag habe ich mich wieder beruhigt, und mir fällt wieder ein grauer Jemand im Bus auf, und ich folge ihm wieder und sehe, wie seine Tür ins Schloss fällt.
Ich stehe da in den Schatten, ein Fuß neben dem anderen, mein heißer Atem nass am Schal, und er ist weg, es war alles umsonst.
Er war schön, hässlich, alt, jung, böse, gut, was weiß ich, aber nun existiert er nicht mehr.
Aber das nächste Mal gebe ich vielleicht nicht vor der Haustür auf.
Manchmal linse ich durch Fenster, klettere über Zäune und betrachte erleuchtete Wintergärten. Und am nächsten Abend bin ich vielleicht wieder da. Ah, ich kann oft nicht schlafen. Draußen wandern die Nachtgestalten, und das macht mich glücklich. Die darf ich nicht verpassen.
Ich laufe und laufe. Das Eis knirscht unter unseren Stiefeln, unter meinen und den ihren, während wir einem Geheimnis oder einem Supermarktbesuch entgegenlaufen.
Manchmal treibe ich mich auf diesen Onlinedating-Dingern herum. Nicht für mich natürlich, nur für meine Figuren. Männer machen alles, einfach alles, was ich ihnen befehle, weil sie hoffen, dass eine scharfe Frau sie am anderen Ende erwartet. Oder auch einfach irgendeine Frau. Hauptsache, ein Abenteuer. Frauen sind komplizierter, wählerischer, nicht leicht zu beeindrucken. Das mag ich.
Ja, das mag ich. Aber das heißt auch: Szenen wie im Museum erlebte ich nicht oft, und am Morgen nach dem Museumsbesuch wachte ich auf wie nach einer schmerzvollen Party. Einer Party, auf der man einen Fremden gemocht und nicht bekommen hat. Mein Kopf schmerzte, meine Haut fühlte sich klebrig an, als hätte ich mich in einem Haufen Körper gewälzt. Warum war ich nicht bei ihnen geblieben, verdammt? Bei meinen beiden Opfern. Wann hatte ich denn zuletzt eine echte Knutscherei angezettelt? Sehr lange nicht mehr. Und trotzdem war ich einfach weggegangen. Weil ich das so mache. Weil ich so bin.
Weil ich so was eigentlich nicht sehen will, diese peinlichen Emotionen, diese humanen Verstrickungen, dieses Verlangen. Man sieht es in den Augen. Und an den Händen, wenn die Adern blau hervortreten vor lauter Wollen. Einfach widerlich.
Im Bad drehte ich die Dusche an, das heiße Wasser feilte an meinen Schultern, an meinem Rücken, bis alles Klebrige im Abfluss verschwand. Dann zog ich mich an, kippte mir kalten Kaffee in den Hals, ugh, und verließ das Haus.
Nebenan bei meinem Nachbarn hörte ich Kindergeschrei. Ein ekliger Kerl, der. Auch der.
Mit den Händen in den Jackentaschen spazierte ich durch die morgendlichen Straßen zurück zum Ort des Geschehens. Am Café vorbei, in dem meine Marionetten gestern stundenlang versucht hatten, cool zu bleiben, und weiter bis zur nahe gelegenen kleinen Seitengasse, wo sie sich dann an der Hausmauer verknotet hatten.
Der Morgen prickelte über den Häusern wie pinke Limonade, es war jetzt fast Tag, und die Flocken staubten um mich herum. Mein Herz klopfte.
Ich liebe es, wenn ich mein Herz spüre. Oft spüre ich es nicht, meistens fühlt man ja gar nichts, läuft einfach so den Weg entlang, jeden Tag aufs Neue, aber man fühlt nichts, man fühlt nie etwas.
An diesem Morgen spürte ich etwas, wenn ich mit den Fingern über meinen Arm strich. Hier war meine Story passiert.
Aber alles wirkte so anders. Die Tagesbeleuchtung passte nicht mehr zur Szene. Hinter dem Schaufenster, in dem sich in der Dunkelheit gestern eine wilde Zauberin gespiegelt hatte, standen banale Leute und gestikulierten mit einer Verkäuferin.
Ich sah mich an und strich mir die schmutzigblonden Strähnen zurück: Ich war so transparent und farblos, dass ich fast nicht existierte.
Mit dem Fuß scharrte ich im Schnee, als hoffte ich, am Boden Indizien zu finden. Beweise, dass die Geschichte wirklich passiert war. Nichts. Aber das hier war ja schließlich auch keine Liebesgeschichte.
Ich fiel so schnell von der einen Story in die andere, dass ich kaum atmen konnte. Und wie soll ich davon erzählen? Wie es ist, wenn man sonst nie etwas fühlt, und dann rauscht einem das Leben plötzlich bis in die Fingerspitzen und hält nicht mehr an.
Vielleicht begann es schon mit meiner Stimmung an diesem Morgen. Ich fühlte mich seltsam orientierungslos, als wäre ich einer Karte gefolgt, bei der plötzlich ein Stück fehlte. Hic sunt dracones.
Vom Tatort ließ ich mich in die Stadtmitte treiben, wo der Tag mehr und mehr erwachte. Leute warteten auf den Bus, gingen zur Arbeit. Ich musste erst am Nachmittag ins Theater.
Der Buchladen, in dem meine ältere Schwester Su arbeitete, war bereits offen, und ich trat ein.
Viel mit Su gemeinsam habe ich nicht, aber ich mag sie, was ich nicht von vielen Leuten sagen kann. Sie mochte mich auch mal. Inzwischen weiß ich nicht mehr, aber damals, an diesem ersten Wintertag, mochte sie mich noch.
Schon beim Hereinkommen sah ich sie mit einer zierlichen Frau in einem roten Mantel und leuchtend blauen Stiefeln sprechen. Das Rot allein war schon auffällig, aber das Blau hatte eine so ungewöhnliche Farbe, dass ich allein aus diesem Grund die Szene einen Moment lang aus der Ferne betrachtete, bevor ich mich bemerkbar machte.
Die Stiefel endeten knapp unter dem Knie und waren in einer Art neo-viktorianischem Stil geschnitten – mit fein geschwungenem Absatz und verstecktem Reißverschluss an der Innenseite. Auf den ersten Blick sah es so aus, als müsse man die Front aufwendig zuknöpfen, und die Farbe des Leders war ein herrliches tiefes Blau, ein Blau, in dem arktische Meerjungfrauen lebten. Niemand hatte solche Stiefel, nur sie. Sie waren genau für diese Frau erfunden worden. Beinahe glaube ich, dass es die verfluchten Stiefel waren, die mich dazu brachten, mich an ihre Fersen zu heften. Denn die anderen Marionetten da draußen liefen alle in Schwarz, Braun oder Grau herum.
Als Su mich entdeckte und mir zuwinkte, wandte sich auch die geheimnisvolle Frau um, wohl ohne mich wirklich wahrzunehmen. Ihr Halbprofil schimmerte wie eine blasse Statue: große und ungeheuer ausdrucksvolle Augen, gerade Nase, pechschwarze seidenglatte lange Haare, kirschroter Mund, hochgeschlagener Mantelkragen. Ein dämonisches Schneewittchen.
Vielleicht war es ihre strenge ätherische Schönheit, die mich an eine Märchenfigur denken ließ. Oder vielleicht war es das milchige Licht im Buchladen, in dem sie düster wirkte.
Die Frau war keine Kundin hier, das sah ich sofort. Sie bewegte sich geschäftsmäßig. Aber als ich mich neben meine Schwester stellte, lächelte das Objekt meiner Begierde: Nein, da war kein Dämon in ihr. Ärgerlich.
Gerade wandte die Frau das Wort an Su: »Das hört sich alles gut an. Danke für die große Mühe, wirklich. Bis morgen Nachmittag dann.«
Wir sahen ihr nach, wie sie hinaus in die weichen Schatten des Wintermorgens verschwand.
»Tama Villmon«, erklärte mir meine Schwester auf meinen Blick hin. »Die Autorin, die morgen hier liest.«
»Wann?«, fragte ich nur.
»15 Uhr, hier im Nebenraum. Kommst du, Kai? Oder hast du morgen Abendschicht?«
»Ja, aber eine Stunde oder so kann ich schon. Was hat sie geschrieben, woraus liest sie?«
Su hielt mir ein dünnes Hardcoverbuch entgegen, das neben ihr auf einem Stapel gelegen hatte, und ich sah nur japanische Schriftzeichen und darunter irgendetwas mit zweisprachigen Gedichten.
»Ist sie denn Japanerin?«
»Ein bisschen. Aber sie ist irgendwie einfach alles.«
»Aha?«
»Ja.« Su war voller Leidenschaft. »Sie ist Wahnsinn. Ich wünschte, ich könnte so schreiben wie sie.«
Ich wusste nicht, worüber meine Schwester sich eigentlich beschwerte. Sie selbst trübte sehr viel mehr Wässerchen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sie musste also gar nicht so schrecklich eifersüchtig sein.
»Tama Villmon ist Professorin für Linguistik an der Uni hier. Sie ist unglaublich interessant und klug.«
Professorin?, dachte ich. Linguistik? »Heißt das, sie spricht jede Sprache der Welt inklusive irgendwelcher aussterbender sibirischer Stammesdialekte?«
»Nun, das wohl nicht«, sagte Su streng. »Ich glaube nicht, dass es bei Linguisten darum geht, dass sie selbst tausend Sprachen sprechen.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Dann erforscht sie sie eben. Aber wahrscheinlich haben mehrsprachige Leute eher Lust auf so eine Wissenschaft.«
»Keine Ahnung«, meinte Su. »Aber es stimmt, sie ist zur Hälfte Japanerin und zur anderen Hälfte Deutsch-Spanierin. Und sie schreibt Gedichte. Tja, manche Menschen haben einfach alles.«
»Ja, sogar die schönsten Stiefel«, sagte ich nachdenklich.
»Dann seh ich dich also morgen. Und jetzt gehst du ins Theater?«
Das tat ich. Allerdings erst am Nachmittag. Es fing an zu schneien, als ich mit den Händen in den Taschen loszog. Die Professorin lief in Gedanken neben mir. Ihre Augen. Ihre Stiefel. Mein Herz pochte. Schon den ganzen Tag.
Meinen Job machte ich ohne große Worte. Die Nervösen, die nicht reden wollten, kamen gut mit mir aus, die Quasselstrippen setzten sich einen Stuhl weiter.
Nein, ich bin keine Schauspielerin. Das könnte ich niemals. Aber ich sehe ihnen gern zu, und sie gehören mir ein bisschen. Und die Zuschauer auch. Manchmal stehe ich auch an dem kleinen Guckloch, von dem aus man den Publikumsraum unbemerkt beobachten kann: Der Saal wölbt sich dann vor mir wie ein Raumschiff, die Zuschauer sind Drohnen, die in einem seltsamen metallischen Grundrauschen auf ihren Angriffsbefehl warten.
An diesem Abend aber hielt ich mich seitlich in der Kulisse und verfolgte das Geschehen auf der Bühne. In Gedanken dirigierte ich. Ja, wenn ich ganz still stehe, kann ich mir vorstellen, dass ich diejenige bin, die alles dirigiert: Die Schauspieler prostituieren sich im Scheinwerferlicht, jeden Atemzug tun sie nur für das Publikum – und ich warte da im Schatten.
Neben mir stand die Frau vom Kostüm mit Klamotten über dem Arm, und ich war ebenfalls mit meinen Utensilien ausgestattet. Wir hatten drei Minuten bis zum Kostümwechsel, redeten aber nicht miteinander.
Der Lesetisch vorn war noch leer. Su stellte gerade ein Wasserglas neben das Buch. Wo war Professor Villmon? Hatte sie vor, wie eine Diva in letzter Minute hereinzuschneien? Plante sie den großen Auftritt?
Nein. Dort drüben stand sie, mit einer Kollegin meiner Schwester und einem älteren Mann. Sie sah gut aus. Farbenfroh, mysteriös, erwachsen. Und mit Sicherheit hatte sie schon bei weit wichtigeren Gelegenheiten am Podium gestanden, hatte eine Menge großer Auftritte hinter sich, die diesen hier weit übertrafen. Dennoch wirkte sie nicht arrogant, sondern eher wie ein frühreifer, ernster Teenager.
Ich hatte mich über sie informiert, hatte stundenlang das Netz nach ihr abgesucht, daher wusste ich: Vor mir stand eine Person, die alles konnte, die alles erreicht hatte. Sie hatte zu Themen geforscht und publiziert, deren Titel jemand wie ich nicht einmal aussprechen konnte, veröffentlichte Gedichtbände und Kurzgeschichten in drei Sprachen. Zu allem Überfluss war sie, wenn ich den Zettel, den ich in die Hand gedrückt bekommen hatte, richtig verstand, mit einem Gehirnchirurgen verheiratet, der ihr in Brillanz mit Sicherheit in nichts nachstand. Was für eine Kombi.
Ich sah vor mir, wie die beiden abends auf dem Roche-Bobois-Sofa bei einem perligen Moët ihre unendlich intellektuellen Gespräche führten – über die Linkskrümmung der Großhirnrinde beim Erlernen einer fünften Fremdsprache bei gleichzeitigem Schlaganfall.
Na gut, soweit ich das wusste, waren Uniprofs nicht wohlhabend, vor allem nicht, wenn sie obskure Literatur veröffentlichten. Und snobistisch wirkte sie nicht. Ihr Ding war dann vielleicht doch eher ein verrückter Unikatsessel vom Flohmarkt oder Antikladen und ein tropischer Cocktail dazu, in dem die Eiswürfel zischten.
Aber dennoch: Auf alle anderen Leute konnte ich irgendwie herabsehen, weil sie Normalsterbliche waren wie ich, die nicht schnallten, was für ein Spiel ich spielte. Diese Frau jedoch würde sich nicht für dumm verkaufen lassen. Umso köstlicher die Vorstellung, sie an meine Marionettenfäden zu hängen.
Vor dem Lesepult waren mehrere Sitzreihen Stühle aufgebaut, die zu ungefähr zwei Dritteln besetzt waren, vor allem mit Frauen. Etwas weiter entfernt an der Seite wartete ein farbloses kaltes Büffet. Für hinterher.
Was genau gelesen werden sollte, war mir nicht klar. Jan und ich hatten auf dem Weg hierher schon alle Witze gerissen, die man nur zum Thema Dichterlesung reißen konnte – eigentlich machten wir uns nur über uns selbst lustig, weil wir keine Ahnung hatten. Oh, aber wir flogen in einer absolut wilden Stimmung herein, aufgekratzt und schon fast leergelacht.
Wie gut, dass ich Jan mitgenommen hatte, man ist unauffälliger zu zweit.
Ich winkte Su zu, sie grinste zurück und freute sich bestimmt, mich mit einem Kerl zu sehen, obwohl es nur mein einziger Kumpel am Theater war. Wenn meine Schwester um meinetwillen etwas fühlte, wurde mir immer mulmig. Weil es immer vergebens war, und das tat mir leid. Sie mochte mich, aber sie verstand nicht. Ich tat ihr den Gefallen und zuckte schwesternhaft amüsiert mit den Schultern, als sie in Jans Richtung nickte, ihr Blick ein Fragezeichen. Ja, Su, ich habe einen Mann dabei. Man musste das Spiel eben manchmal mitspielen. Für Su konnte ich das tun.
Wir setzten uns in die letzte Reihe. Gerade, als die Autorin sich an ihrem Platz niederließ und Sus Chefin begann, uns freundlich zu begrüßen, öffnete sich die Tür noch einmal, und aus dem Schneegestöber materialisierte sich auf die absolut dramatischste Weise ein Mann. Ein junger Mann. Vielleicht Ende zwanzig, blaue Augen und blonde kurze Haare, auf denen die Flocken schmolzen. Das sah ich, als er sich zwei Stühle von Jan und mir entfernt in dieselbe Reihe setzte.
Und Tama Villmon erstarrte. Ja, die souveräne Frau, die bestimmt alles konnte und alles wusste und die jeder sein oder haben wollte, sie erstarrte. Der Moment ging sofort vorüber, aber mein Herz klopfte, weil sich irgendetwas gerade verselbstständigte. Es lag in der Luft.
Jan merkte nichts, der Film lief weiter. Als die Chefin ihre kleine Begrüßungsrede gehalten hatte, sprach Tama Villmon selbst ein paar Worte, erklärte irgendetwas über »isolierte Sprachen« – offenbar stand zur Debatte, ob das Japanische zu diesen gehörte – und schlug dann die offensichtliche Brücke zur zwischenmenschlichen Isolation, unter den Sprachen und auch überhaupt. Ich tauschte ein Augenrollen mit Jan.
Aber dann begann diese Frau zu lesen, mit einer tiefen, wunderbar modulierten Stimme, und, ehrlich, ich bekam eine Gänsehaut. Ihre eigentlich überstrapazierte Metapher wurde zur Offenbarung, ihre Stimme machte mir Lust auf alles, was da im Universum herumschwebte. Wenn ich ihr zuhörte, wollte ich plötzlich Bücher lesen, Musikinstrumente lernen, Künstlerin und Atomphysikerin werden, wollte einfach alles wissen, was sie wusste.
Und der Mann in der letzten Reihe? Was war die Verbindung?
Die Villmon gab eine gute Schauspielerin ab, sie ließ sich nichts anmerken. Aber wer wusste es schon – vielleicht zitterten ihre Finger am Buch, vielleicht las sie mechanisch, während ihre Gedanken um den Kerl kreisten.
Eine Affäre? Ein Privatdetektiv? Ich sah wundersame Szenarien vor mir, und ihre dunkle Stimme floss im Hintergrund, während ich ihn beobachtete.
Ein schöner Mann. Und etwas war da in seinem Gesicht, ich kam nicht gleich darauf, das ihn ungeheuer empfindsam aussehen ließ, obwohl er wie ein lässiger Alpha Male in seinem Stuhl fläzte.
Also einer von diesen Kerlen, die stark und sensibel gleichzeitig sind. Die sind unausstehlich. Besser als die Machos und besser als die Softies, und sie wissen es.
Wie passte der Typ mit der Autorin zusammen? Um den Gehirnchirurgen handelte es sich mit Sicherheit nicht.
Ab und zu erwischte er meine Blicke und erwiderte sie verblüfft, während ich wie eine Anfängerin den Kopf wegdrehte. Was musste er von mir denken?
Jans sporadische witzige Kommentare hörte ich nur halb oder gar nicht, seine Stimme war ausgeblendet, aber vermutlich grinste ich pflichtschuldig.
Als wir am Schluss dazu eingeladen wurden, unsere Bücher signieren zu lassen, vergewisserte ich mich, was der blonde Mann machte: Nichts, er blieb sitzen. Lässig, beobachtend. Er hatte kein Buch. Die Arme hielt er hinter dem Kopf verschränkt, als könnte ihm die Veranstaltung nicht gleichgültiger sein. Und dabei sagten seine Augen die ganze Zeit über, dass ihm nichts lieber wäre, als zusammen mit der schönen Autorin von einem Bus überfahren zu werden, wie in diesem alten Song von The Smiths.
Ich stand auf, ebenfalls ohne Buch. Ohne zu überlegen, schrieb ich meine Handynummer auf einen Zettel. Stellte mich in der Reihe der Fans an. Drehte mich immer wieder nach ihm um.
Jan stand da wie im falschen Film: Wir sind doch nur zum Spaß hergekommen? Ich zwinkerte ihm zu.
Als ich dran war, reichte ich der verblüfften Autorin den Zettel statt eines Buchs.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Der blonde Mann aus der letzten Reihe, der zu spät gekommen ist, hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben.«
Ich folgte ihrem Blick über meine Schulter, sie hatte den Impuls aufzustehen, unterließ es dann aber. Und er selbst war wie vom Erdboden verschluckt. Was ging in ihr vor? Ihr glattes Gesicht verriet nichts.
»Keine Ahnung, wer das ist«, fügte ich lauernd hinzu und sah sie an. »Wahrscheinlich nur ein Idiot.«
»Ja«, antwortete sie zerstreut und zerknüllte die Telefonnummer in ihrer Hand. Aber dann sah ich, dass sie das Papier unwillkürlich in ihre Handtasche steckte.
Plötzlich wollte ich den blonden Mann nicht gehen lassen, warf mir den Mantel über und rannte nach draußen in das schneestäubende Zwielicht. Sah mich um, erwartete, dass er da irgendwo unter einem Vordach stand und wartete. Aber nichts. Gebeugte Rücken eilten an der Ladentür vorbei.
Jan kam mir nach. »Was ist mit dir los?«, wollte er wissen.
»Nichts«, sagte ich. »Los, Zeit für die Arbeit.«
Spät am Abend auf dem Heimweg nach der Vorstellung bekam ich endlich die erste Textnachricht. Das Handy surrte.
Neue Nummer?
Ich warf den Kopf zurück vor Größenwahn, und meine Finger tippten in Windeseile:
Wie du siehst.
Hör auf mit dem Blödsinn! Was willst du damit erreichen?
Dich sehen. Sonst nichts.
Du kannst mich ganz normal an der Uni sehen, wie alle anderen auch.
Können wir reden?
Milo!
Nur reden.
Nein, außer, du hast eine fachliche Frage. Lass mich in Ruhe.
Ich antwortete nicht mehr. Aber ich sah sie vor mir: einen Nachtfalter, der mit seinem Flügelschlag einen elektrischen Sturm auslöste, und ich tanzte nach Hause wie in Trance. Es war dunkel, und die Schneeflocken flogen wie Staub zwischen den Lichtern der Stadt. Die Menschen surrten an mir vorbei, Millionen Feuerfünkchen auf dem Weg durch ein schwarzes Loch. Ah, manchmal bin ich irgendwie Gott.
Milo! Tama und Milo. Zwei Namen, die geradezu auf der Zunge zergingen. Tama und Milo. Eine Affäre. Mit einem Studenten, einem Kollegen? Oder vielleicht hatte dieser Milo es nur bei ihr versucht, war abgeblitzt und stalkte sie jetzt? In meinem Kopf spann ich das Drehbuch weiter.
Ich betrachtete meine Füße, die durch das Weiß liefen, und wollte auch solche blauen Stiefel. Blau wie die arktische See. Hoffentlich eine Affäre. Die beiden waren die schönsten Menschen, die ich mir je zusammen vorgestellt hatte.
Ja, verdammt noch mal, warum auch nicht? Es ist ein amüsanter Zeitvertreib, nichts weiter. Ganz harmlos. Leute anschauen und überlegen, was sie wohl so denken, machen, sagen. Ein wenig wie fernsehen. Das macht doch jeder! Wer vor der Glotze sitzt, der spioniert auch Leuten hinterher, sogar noch mehr als ich. Der folgt ihnen sogar bis unter die Dusche oder die Bettdecke, was mir niemals einfallen würde.
Die Story hatte sich ganz einfach in Gang gesetzt: Zuerst war die Frau mit den blauen Stiefeln aufgetreten, die niemanden außer mich so zu erstaunen schienen. In der zweiten Szene war ich ihr in die Lesung gefolgt, und dort hatte sich dann der zweite Protagonist gezeigt, die Zahnräder hatten ineinandergegriffen. Und jetzt musste ich ihn natürlich finden. Milo. Den Lover. Falls er das war.
An der Uni fand man jeden und vor allem jemanden mit so einem ungewöhnlichen Namen: Milo Schmittt. Ich lachte laut auf, als ich den vollen Namen zum ersten Mal las. Schmittt. Mit drei T. Er konnte wohl seinen langweiligen Nachnamen nicht ertragen und hatte das dritte T einfach wild hinzugefügt.
Herr Schmittt mit drei T war Doktorand der Biologie. Aufgelistet sah ich seine Forschungsinteressen, die mir aber nicht wirklich viel sagten, zum Beispiel Adaptive Dynamics und Phylogenetics. Alles klar. Aber ich war ja auch nicht vom Fach. Ich hatte nicht mal studiert. Dann standen da noch ein bis zwei Publikationen (mit unverständlichen dreizeiligen englischen Titeln) sowie zwei Veranstaltungen, die er wohl für Erst- und Drittsemester abhielt. Mit dem Zeigefinger strich ich über das ziemlich schlechte kleine Foto, das neben seinen noch mageren Errungenschaften prangte. Er war nichts Besonderes – nur einer von zehn Doktoranden auf einer ganz und gar undekorierten Seite, die aussah, als sei sie nie ganz fertig geworden. Irgendwie rührend.
Eine ganze Weile lang sah ich das Foto an und fragte mich, wie es sein würde, ihn zu kennen.
Als ich mich dann später zu Professor Überflieger Dr. Tama Villmon durchklickte, eröffnete sich mir eine schillernde wissenschaftliche und literarische Karriere. Die Seite war professionell gestaltet, eher wie die eines Unternehmens als die eines Uni-Stars, mit edlen Farben und Fonts. Das große, professionell geschossene Foto zeigte eine starke Frau, die ohne jede Arroganz in die Kamera strahlte: Weil sie ohnehin wusste, dass sie alles erreicht hatte und großzügig sein konnte. Oh, sie war so schön.
Dann klickte ich wieder zurück zu Milo Schmittt. Er war ebenfalls schön, aber ein Niemand im Gegensatz zu ihr. Mein Hirn spann Geschichten – köstliche verbotene Geschichten, die hinter der Unschuld all dieser Informationen verborgen lagen. Geschichten, von denen niemand wusste. Irgendetwas war da, und meine Fingerspitzen kribbelten vor Lampenfieber und Erfindenwollen. Aus dem goldenen Spiegel, der einen großen Teil der Wand neben meinem Bett einnahm, sah mir meine Reflexion still über die Schulter.
Er war ein uraltes Ding, dieser Spiegel, den ich in einem Antikladen gefunden und der mich so viel gekostet hatte, dass ich meine Schwester dafür richtig heftig hatte anpumpen müssen. Aber er war mein liebstes Stück, und er spiegelte einen signifikanten Teil meiner kleinen Bude. Manchmal war es dann, als ob ich mich im Film sehen konnte.
Aber meistens erblickte ich nur eine schmutzige, vergilbte zweite Dimension der Realität: Das Silber hinter dem Glas war oxidiert und zeigte lange Schlieren und rostartige Flecken an der Oberfläche. Ich mochte es, dass diese dunkle Kai im Spiegel so verschimmelt aussah. Brachte was von Dorian Gray ins Spiel.
Wie hatten Tama und Milo sich wohl kennengelernt? Natürlich an der Uni. Aber ich brannte für die genauen Umstände, stellte sie mir vor, träumte davon, kritzelte Notizen.
In den nächsten Tagen fand ich zuerst durch eine langwierige Internetsuche Milos Adresse heraus, konnte jedoch nicht hinfahren, da ich ins Theater musste. Aber immerhin: Es gab ihn. Er wohnte in meiner Stadt. Er existierte.
Als ich wieder normale Schicht hatte, fuhr ich ganz früh morgens zu ihm – es war die gleiche Buslinie, die ich von der Arbeit zu mir nach Hause nahm, nur ein paar Stationen weiter. Eine halbe Stunde lang lungerte ich vor seinem Gebäude herum, ohne genau zu wissen, was ich wollte. Wahrscheinlich wartete ich auf ihn. Wollte ihn so gern sehen. Immerhin würde er ja wohl früh an die Uni gehen? Oder nicht? Wer wusste schon, was Doktoranden so trieben und wann sie im Job antreten mussten. Vielleicht hatte er bis drei Uhr morgens nokturne Schneewürmer in ihrem natürlichen Habitat beobachtet (oder nokturne Linguistinnen).
Auf jeden Fall rührte sich nichts. Andere Leute verließen sein Gebäude, er nicht. Wie es wohl wäre, ihn als Nachbarn zu haben? Ihn statt meines eigenen ekligen Nachbarn?
Danach hastete ich zu meiner Vormittagsbesprechung ins Theater. Update zu den Proben für ›Rebecca‹, unserer neuen Produktion. Neben all dem üblichen Kram hieß es, wir suchten noch ein paar Statisten für den großen Ball, eine Schlüsselszene. Die Bühne müsse voll von Menschen sein, und unsere üblichen zehn Verdächtigen seien nicht genug.
Jan, der für die Bühnentechnik beim Meeting dabei war, lachte und meinte, er würde zu gern einen stummen Kellner geben. Der große Meister am Tischende war in guter Stimmung und sagte grinsend, das solle er doch gern tun. Erstaunlich. Ich verstand es als Scherz, normalerweise war die Regie für Kindereien dieser Art nicht zu haben. Aber Jan nahm ihn beim Wort.
Beim Rausgehen drängte er mich, auch mitzumachen: »Komm, ist doch lustig, mal was anderes.«
Aber ich wollte nicht, das ist nicht mein Ding.
Gut: Manchmal dreht sich die Welt plötzlich so schnell und schrill, dass mein Kopf nicht mehr weiß, wohin. Dann will ich raus, angeben, die Beste sein, und dann geh ich ab und zu in eine bestimmte kleine Karaokebar. Da haben sie natürlich auch eine Bühne. Aber es ist anders, man steht beim Singen so schön im Schatten, und niemand kennt mich, weil ich verkleidet hingehe und natürlich auch mit niemandem spreche.
Ja, das passiert mir ab und zu. Aber nein – mich hier im Theater unter diesen grellen Scheinwerfern zu zeigen, der Gedanke gefiel mir nicht. Außerdem war ich ehrlich gesagt nicht mit meiner Arbeit verheiratet. Ich machte meinen Job, genoss es hin und wieder, den Exhibitionisten zuzuschauen, deren Schritte auf dem blanken Parkett hallten, aber dann war es auch wieder gut.
Lieber hing ich nun vormittags immer wieder an der Uni herum, wenn ich erst abends Schicht hatte, oder spät nachmittags, wenn ich tagsüber arbeitete. Der Ort zog mich magisch an. Und es war seltsam: Niemand bemerkte mich, wie ich da durch die Gänge mit den vielen Türen wandelte, gleich einem verwaisten Phantom, das versucht zu spuken, aber nicht bemerkt wird. Ich stand vor Aushängen, Plakaten, schwarzen Brettern und führte sie mir wie eine exotische Lektüre zu Gemüte. Ich trödelte vor Bürotüren und Hörsälen herum. Niemand beachtete mich, obwohl ich an diesen Orten nichts verloren hatte. Ich wusste nichts über Universitäten, war erstaunt, dass es dort so anonym zuging.
Im Institut für Sprachwissenschaft huschte ich von Gang zu Gang und schlich mich endlich, endlich an Professor Villmons Bürotür heran. Als ich davorstand, kam prompt eine Studentin vorbei und fragte mich, ob ich wegen der Sprechstunde da sei. Wortlos schüttelte ich den Kopf.
»Hast du ein Glück«, seufzte sie. »Die Villmon reißt mir bestimmt gleich den Kopf ab. Was hast du bei ihr?«
»Ich bin aus … Bio«, sagte ich, weil ich an Milo dachte.
»Ach so, bist du beim Projekt mit der genetischen Linguistik dabei?«
»Jaja, genau.« Sie musste mich für bescheuert halten.
»Ich glaube, da gibt’s einen Aushang für euch vorn am schwarzen Brett, falls du den suchst.«
»Danke. Ich hoffe, sie lässt noch was übrig von dir.«
»Na ja, sie ist eigentlich cool, bin selbst schuld …«
Natürlich!
Zu gern hätte ich noch einen Blick auf Tama selbst geworfen, hinter ihrem Schreibtisch thronend, aber das Mädchen sah mich verwundert an, weil ich nicht weiterging. Erst als ich mich in Bewegung setzte, klopfte sie an die Bürotür und trat ein. Ich hörte Professor Villmons Stimme, die gar nicht gefährlich klang, sondern sehr warm und tief, genau so wie auf der Lesung. Vielleicht machte sie das gerade gefährlich?
Jedenfalls wusste ich nun, dass es wohl irgendeine Kooperation zwischen der Biologie und der Linguistik gab. Der Aushang sprach von einem gemeinsamen Projekt, von Kursen zur »Modellierung«, aber den Begriff »genetische Linguistik«, den die Studentin gebraucht hatte, suchte ich vergeblich. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Klar, Sprachen konnten miteinander verwandt sein, aber Genetik – wie bei Menschen?
Aus der Schule erinnerte ich mich nur noch vage an die Mendel’schen Erbregeln: gelbe eckige versus grüne runde Erbsen. Nicht wahr? Dachte ich wohl gerade in einer gelben eckigen Sprache? Sie fühlte sich irgendwie so an, sehr gelb und sehr eckig.
Während ich mir diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ, folgte ich den Wegweisern zu einem Übungssaal in einem ganz anderen Gebäude. Um 11 Uhr gab Milo dort Unterricht für Drittsemester. Das Zimmer gegenüber war leer, und ich versteckte mich darin. Studentinnen und Studenten (mehr -innen) strömten nach und nach in den Übungssaal, laut redend, lachend, bemerkten nicht den kleinen Geist, der sie beobachtete. Schließlich kam Milo Schmittt. Er war es. Ich erkannte ihn an den vielen Ts.
Weniger ernst als im Buchladen, ein grinsender Blondschopf, der aussah wie jemand, der viel Unsinn im Kopf hatte. Ein wenig zu spät kam er, als wäre er selbst einer der Studenten. Mit seiner braunen Retroledertasche unter dem Arm gab er den ultimativen Erstsemesterschwarm. Freundschaftlich scheuchte er zwei Kerle ins Zimmer und haute lachend die Tür ins Schloss.
Ich stand da mit hängenden Armen und konnte irgendwie nicht glauben, dass es ihn wirklich gab, auch wenn ich ihn ja schon gesehen hatte. Tama Villmons mysteriöser Liebhaber existierte wirklich. Jemand, der in meinem Kopf seine eigenen Abenteuer erlebte, der eine schöne, strenge Linguistin in ihrem Büro verführte, der mehr wollte, als sie ihm geben konnte, und sie deshalb bis zu ihren Dichterlesungen verfolgen musste. Und jetzt stand er da hinter dieser verschlossenen Tür und teilte Geheimnisse mit seinen Studenten, in die ich nie eingeweiht werden würde.
Aber er würde bald eine hübsche Nachricht erhalten. Die hatte ich zu Hause getippt, denn sicherlich kannte er ja Tamas Schrift.
Im dritten Stock fand ich sein Büro, schlich zweimal dran vorbei, die Tür stand halb offen, drinnen saßen ein junger Mann und eine Frau an ihren Computern. Am Schild neben der Tür standen vier Namen, alles Doktoranden, seiner mit drei T, unmöglich. Ich klopfte kurz, der Mann stand auf und kam zur Tür. »Kann ich helfen?« Er nahm den Umschlag, den ich ihm hinstreckte.
»Ich komme aus der Linguistik. Eine Nachricht für Milo Schmittt.« Als sein Name zum allerersten Mal meine Lippen verließ, stockte mir fast der Atem. Es war, als hätte ich etwas Verbotenes gesagt.
»Okay, ich leg’s ihm hin. Er ist im Unterricht.«
»Er weiß, um was es geht.«
»Alles klar. Er ist in einer Stunde zurück. Sonst noch was?« Er betrachtete mich in meiner Graue-Maus-Aufmachung, auf die ich an diesem Tag besonders sorgfältig Wert gelegt hatte.
Meine Masken wähle ich weise. Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem eine CIA-Verkleidungsexpertin genau erklärt, wie man effektiv Leute durch sein Äußeres täuscht. Und in meinem Beruf hab ich natürlich auch einiges gelernt. Es ist das Einzige, in dem ich gut bin.
Ich lächelte schüchtern. Irgendwann würde mich der Geheimdienst als Verkleiderin anheuern.
»Nein, er weiß dann schon Bescheid.«
Damit drehte sich die Erscheinung um und verschwand im Gang. Es konnte nicht oft vorkommen, dass man sich an der Uni Nachrichten per Hand zukommen ließ. Auf meiner stand, er solle am Freitagabend ins Kali Ma kommen, eine Disco. War es wirklich glaubwürdig, dass die Notiz von Tama kam? Sie war mit Sicherheit keine Discogängerin. Ich hatte nicht mit ihrem Namen unterschrieben, es aber so formuliert, dass er annehmen konnte, der Zettel käme von ihr. So oder so: Er war ein Mann wie alle anderen und neugierig.
Als ich wieder draußen vor dem Unigebäude stand, blieb ich einen Moment lang stehen und sah an dem Haus empor. Es war ein riesiges Ding, ein Betonbunker aus den 60er-Jahren, siebenstöckig, wenn ich die Fensterreihen richtig gezählt hatte, und nicht zu unterscheiden von Tausenden seiner grauen Brüder überall auf der Welt. Das Dach war flach. Ich wollte hinauf. Es musste ein schönes Gefühl sein, von oben auf die Stadt zu schauen wie von einer Insel herab. Und es war da, wo er war.
Ich ging zurück, schaute nach einem Aufzug. Der fuhr natürlich nicht bis hinaus über die Dächer, aber von ganz oben würde ich sicher einen Weg finden.
In diesem Augenblick kam ein heftiger Schwung Studenten aus allen Hörsälen und schwemmte mich in ihrer Mitte hinaus, als wollten sie mich an meinem Vorhaben hindern. Ich ließ mich amüsiert treiben. Dann ein andermal. Ich fuhr heim. Am Freitag würde ich ihn wiedersehen!
Ich suchte ihn online und fand ihn auf verschiedenen Kanälen. Selbst hatte ich nicht viele Freunde oder Follower oder wie man das nannte. Meine Schwester und ein paar obskure Cousins und Cousinen, dann noch Jan und ein paar alte Schulfeinde. Auch gab es ein paar »Freunde«, die ich selbst kreiert hatte. Ab und zu loggte ich mich als eine dieser Personen ein und likte oder kommentierte Kais Fotos. Außerdem klickte ich mich gern einfach so lange durch eine Kette von Kommentaren und Freunden von Freunden, bis ich jemanden entdeckte, der mir interessant erschien. Dann schickte ich gern Privatnachrichten, in denen ich behauptete, wir seien alte Bekannte von vor langer Zeit, die sich aus den Augen verloren hatten. Viele trauten sich nicht, mir zu widersprechen. Lustig, an was die Menschen sich alles nicht erinnerten und meinten, sie müssten es.
Und dann war Freitag. Ich hatte frei, und das war gut so, denn ich hätte mich sowieso nicht auf den Job konzentrieren können. Die einzige Arbeit machte ich mir selbst zu Hause: Ich zog einen grünen, knielangen Cordrock, lila Strumpfhosen und hellbraune Stiefel an. Dazu malte ich mir dunklen Lippenstift ins Gesicht und setzte meine wunderbare neue rote Lockenperücke auf, die ich vor ein paar Tagen fertiggestellt hatte. Dazu grüner Lidschatten und ein falsches Lächeln.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich noch weiter gehen sollte: falsches Lispeln durch Gaumenprothesen, ich hatte welche, oder hohe Wangenknochen durch ein Kieferpolster, das hatte ich auch in meiner Zauberkiste. Ich hatte alles. Und Nirvana. In voller Lautstärke. Lithium. Ich fühlte mich wie eine wunderbare Serienkillerin, I’m not gonna crack.
Manchmal strich ich mit den Fingerspitzen über all meine Maskenschätze und stellte mir vor, wie ich sogar meine Schwester zum Narren halten würde, sie und den Schwager und den Neffen. Ich würde als Zeuge Jehovas oder sowas bei ihnen klingeln und ihnen die Ekstase der baldigen Apokalypse auseinandersetzen, ohne dass sie mich erkennen würden. Meine Schwester war so neugierig, vielleicht würde sie mich sogar hereinbitten auf eine Tasse Tee. Nur um Material zu sammeln für eine tragische Liebesgeschichte über eine Zeugen-Jehovas-Frau, an der sie rein zufällig gerade schrieb.
Ich grinste und betrachtete mich im Spiegel. Nein, es genügte. Ich wollte ja mit niemandem reden, und niemand würde mich in dieser scheußlichen, farbenfrohen Kreatur wiedererkennen.
Danach machte ich die schreiende Musik aus und setzte mich einen Moment aufs Sofa neben meine alte Schaufensterpuppe, die dort nackt saß, tagaus, tagein. Irgendwann hatte ich sie in einem Müllcontainer neben einem Kaufhaus gefunden, die Beine steif in der Luft wie die einer gefrorenen Leiche. Ein Fuß hatte gefehlt. Es hatte in Strömen geregnet, aber trotzdem hatte ich unter großen Mühen Kisten aufeinandergestapelt, war hinaufgestiegen und hatte das Ding herausgezogen. Die Puppe war nass und schmutzig gewesen (ich nicht weniger) und ihr Ohr eingedrückt. Sie war eine dieser uralten Puppen, bei denen die Haare nur aufgemalt waren. Unter den Arm geklemmt hatte ich sie im Regen heimgetragen. Es fühlte sich gut an, unter Strapazen etwas zu holen, das man haben wollte.
Mittlerweile war sie sauber und trocken, wenn auch noch immer kaputt. Aber ich mochte sie. Keine Ahnung, warum.
Und denkt nicht, ich redete etwa mit ihr. Gar nicht. Ich mochte es einfach, wie freaky sie da auf meinem Sofa saß. Ja, da saß sie und musste nirgendwo hin – oder durfte nicht.
Als ich mich gesammelt hatte, holte ich Milo zu Hause ab, auch wenn er davon nichts wusste.
Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie er zum Kali Ma kommen würde, aber ich hoffte und nahm an, mit dem Stadtbus. Im Nieselschnee hockte ich an der Bushaltestelle, die sich genau auf Höhe seiner Eingangstür befand. Ich lehnte mich im Häuschen zurück und tat so, als tippte ich auf meinem Handy herum. Schlug die Beine übereinander. Der Wind fuhr mit kalten Fingern unter meinen Mantel, und ich hörte Musik. Wieder Nirvana, immer den gleichen Song. Der rieselnde Schnee war so laut, dass ich ihn übertönen musste. Ah, November ist doch die beste Zeit zu spielen.
Allen Statisten an der Bushaltestelle erteilte ich unsichtbare Anweisungen, und im Display meines Telefons spiegelte sich meine Maske: Lippenstift und Puder im gelben Neonlicht.
Ungefähr eine halbe Stunde lang wartete ich, zählte die Busse, wie sie heran- und wieder abfuhren. Es hätte noch ewig dauern können, bis er auftauchte – aber als der nächste Bus vorfuhr, stand er plötzlich da, in einer hellgrauen Jacke, die Hände in den Seitentaschen, wunderschön im stillen Schnee. War er wirklich Tamas Liebhaber?
Es war ein herrliches Gefühl, da hinter ihm zu sitzen und heimlich über ihn Bescheid zu wissen. Ich wusste, was er tat, was er arbeitete, dass er eine zierliche kluge Frau mochte. Und er hielt sich an mein Drehbuch.
Im Bus blieb ich hinter ihm, betrachtete seine Hände, die sich an der Stange festhielten. Was, wenn diese Hände mich statt Tama berühren würden? Bei der Vorstellung wurde mir einen Augenblick lang ganz heiß. Aber ich wusste auch genau, dass ich das nicht wirklich wollte. Nur meine falschen dunkelroten Lippen wollten es ein bisschen.
Wir fuhren dahin, aber dann, an der Haltestelle, die dem Kali Ma am nächsten war, stieg er nicht aus. Das überraschte mich, ich war selbst schon halb draußen. Mein verblüffter Blick traf den seinen. Ganz deutlich musste er bemerken, dass ich ihn ansah, auch wenn er mich nicht wiedererkannte in meiner Verkleidung. Aber ich stellte mir vor, dass er urplötzlich für zwei Sekunden in die Zukunft sehen konnte. Es würde ein Blick sein, der unsere ganze verdammte Beziehung vorwegnahm. Wie im Film. Wir haben uns nicht umsonst getroffen. Kai, Baby, verlass mich nicht, ich kenn dich schon seit 20 Jahren.
Es war kein Film. Seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten spöttischen Lächeln: Ich weiß noch viel mehr als du.
Der Raum ertrank in Menschen. Ein ungewöhnlich heißer Maitag, eine Konferenz – irgendeine, irgendwo. Die Welt war voll von Konferenzen mit schlauen Leuten, überall auf der Welt. Welch ein Zufall, seine Seelenverwandte dort zu treffen.
Die Fenster zum Hof standen weit geöffnet und darunter wartete eine Reihe schlanker blütenweißer Tische mit einem Büfett für hinterher. Er sah seine beiden Begleiterinnen an, die rechts von ihm saßen, Laila aus Malmö und Gina aus Rom. Er wusste gar nicht, wen er interessanter fand, die dunkelhaarige Schwedin oder die blonde Italienerin.
Sie setzten sich in die erste Reihe, weil Gina ihre Brille vergessen hatte und weil außerdem die hinteren Reihen auch schon fast alle besetzt waren. Milo nickte hin und wieder flüchtigen Bekannten zu.