Die wundersame Geschichte von September, die sich ein Schiff baute und das Feenland umsegelte - Catherynne M. Valente - E-Book + Hörbuch

Die wundersame Geschichte von September, die sich ein Schiff baute und das Feenland umsegelte E-Book

Catherynne M. Valente

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Beschreibung

Die 12-jährige September führt ein schrecklich langweiliges Leben in Nebraska, wo sie den lieben langen Tag nur gelb-rosa Teetassen abspülen und mit ihrem Hündchen spielen kann. Bis eines Tages der Grüne Wind auf seiner Leopardin der leichten Lüfte an ihr Fenster fliegt und sie zu einem großen Abenteuer ins Feenland einlädt. Tatsächlich wird Septembers Hilfe dringend gebraucht, denn im Feenland herrscht eine schreckliche Marquess, die nicht älter ist als September selbst. Sie verlangt von September, einen ganz besonderen Gegenstand aus dem gefährlichen Gespinstwald zu holen. Sonst will die Marquess das Feenland in einen langweiligen, phantasielosen Ort verwandeln und den Einwohnern das Leben zur Hölle machen – darunter auch Septembers neue Freunde, der bücherliebende Lindwurm A-bis-L und der blaue Dschinn Samstag. Mit viel Mut und noch mehr Herz stellt sich September ihrer schwierigen Aufgabe. Für Leser jeden Alters, die den Charme von «Alice im Wunderland» und die Phantasie der «Unendlichen Geschichte» lieben. Dieses Buch ist unvergesslich.

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Seitenzahl: 344

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Catherynne M. Valente

Die wundersame Geschichte von September, die sich ein Schiff baute und das Feenland umsegelte

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Mit Illustrationen von Ana Juan

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die 12-jährige September führt ein schrecklich langweiliges Leben in Nebraska, wo sie den lieben langen Tag nur gelb-rosa Teetassen abspülen und mit ihrem Hündchen spielen kann. Bis eines Tages der Grüne Wind auf seiner Leopardin der leichten Lüfte an ihr Fenster fliegt und sie zu einem großen Abenteuer ins Feenland einlädt. Tatsächlich wird Septembers Hilfe dringend gebraucht, denn im Feenland herrscht eine schreckliche Marquess, die nicht älter ist als September selbst.

Sie verlangt von September, einen ganz besonderen Gegenstand aus dem gefährlichen Gespinstwald zu holen. Sonst will die Marquess das Feenland in einen langweiligen, phantasielosen Ort verwandeln und den Einwohnern das Leben zur Hölle machen – darunter auch Septembers neue Freunde, der bücherliebende Lindwurm A-bis-L und der blaue Dschinn Samstag. Mit viel Mut und noch mehr Herz stellt sich September ihrer schwierigen Aufgabe.

 

Über Catherynne M. Valente

Catherynne M. Valente hat bereits zahlreiche Romane und Gedichtbände geschrieben und wurde dafür vielfach ausgezeichnet. Dies ist ihr erstes Kinderbuch, welches bereits vor seiner Veröffentlichung den begehrten Andre Norton Award gewann. Catherynne M. Valente lebt mit ihrem Partner, zwei Hunden und einer riesigen Katze auf einer Insel vor der Küste von Maine.

 

Inhaltsübersicht

WidmungPersonenKapitel I Bühnenabgang auf einer LeopardinKapitel II Die ZwischenweltkammerKapitel III Hallo, Lebwohl und DankeschönKapitel IV Der BibliowurmKapitel V Das Haus ohne WarnungKapitel VI Schatten im WasserZwischenspiel Der Schlüssel und seine ReisenKapitel VII FeenkinoKapitel VIII Eine Audienz bei der MarquessKapitel IX Samstags GeschichteKapitel X Die große Wanderung der VelozipedenKapitel XI Der Statthalter des HerbstesKapitel XII Das Schwert deiner MutterKapitel XIII Der Herbst ist das Reich, in dem sich alles wandeltKapitel XIV Mit einem selbstgebauten SchiffZwischenspiel Der Schlüssel und seine Reisen, Teil IIKapitel XV Die Insel der NasnasKapitel XVI Bis zum EndeKapitel XVII Hundert Jahre altKapitel XVIII Der Einsame KerkerKapitel XIX UhrenKapitel XX Samstags WunschKapitel XXI Hast du sie gesehen?Kapitel XXII Entrissen sein heißt, dass man nicht bleiben kann

Für alle, die diesen seltsamen Weg

mit mir gegangen sind

und mir die Hände reichten,

wenn ich ins Wanken geriet.

Dieses Schiff haben wir gebaut.

Personen

SEPTEMBER, ein Mädchen

IHRE MUTTER

IHR VATER

DER GRÜNE WIND, eine steife Brise

DIE LEOPARDIN DER LEICHTEN LÜFTE, sein Ross

HALLO, eine Hexe

LEBWOHL, ihre Schwester, ebenfalls Hexe

DANKESCHÖN, der Mann der beiden, Hexe und außerdem Wärwolf

A-BIS-L, ein Lindwurm

LUG, ein Golem-Mädchen

DIE GUTE KÖNIGIN MALVE, frühere Herrscherin des Feenlandes

KLAAS KROSSKRABBE, ein Feenmann

MEHREREKELPIES

DIE MARQUESS, jetzige Herrscherin des Feenlandes

IAGO, der Panther der rauen Stürme

SAMSTAG, ein Marid

CALPURNIA VELO, eine Fee

ARIEL VELO, ihr Schützling

zahlreiche VELOZIPEDE

DOKTOR FAHL, ein Spriggan

RUBEDO, ein Doktorand, ebenfalls Spriggan

CITRINITAS, Genie in Alchemie, ebenfalls Spriggan

DER TOD

ZWEI LÖWEN, beide blau

HERR ATLAS, königlicher Kartograph

NOCH, ein Nasnas

EIN UNGLÜCKSELIGER FISCH

EIN HAI (in Wirklichkeit ein Púca)

HANNIBAL, ein Paar Sandalen

SCHIMMER, eine Laterne

Kapitel IBühnenabgang auf einer Leopardin

Worin ein Mädchen namens September mit Hilfe einer Leopardin verschwindet, die Regeln des Feenlandes kennenlernt und ein Rätsel löst

Es war einmal ein Mädchen namens September, das hatte das Leben zu Hause bei ihren Eltern gründlich satt. Tagein, tagaus musste sie die immergleichen gelb-rosa Teetassen und ebenso gelb-rosa Soßenschüsseln abwaschen, auf dem immergleichen bestickten Kissen schlafen und mit dem immergleichen süßen Hündchen spielen. Weil sie ein Maikind war, ein Muttermal auf der linken Wange trug und große, plumpe Füße hatte, bekam der Grüne Wind Mitleid mit ihr und flog eines Abends, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, zu ihr ans Fenster. Er trug einen grünen Hausrock, einen grünen Kutschermantel, grüne Reithosen und grüne Schneeschuhe. In den Siedlungen über den Wolken, wo die sechs Winde leben, ist es nämlich sehr kalt.

«Du scheinst ein reichlich übellauniges und aufbrausendes Kind zu sein», sagte der Grüne Wind. «Was hältst du davon, mit mir zu kommen und auf der Leopardin der leichten Lüfte bis zum weiten Meer an der Grenze des Feenlandes befördert zu werden? Hinein kann ich dich leider nicht begleiten – steife Brisen sind dort nicht zugelassen –, aber ich würde dich nur zu gern auf dem Lieblosen Meer der Leiden absetzen.»

«O ja!», stieß September hervor, die einen großen Widerwillen gegen gelb-rosa Teetassen und süße Hündchen hatte.

«Na, dann setz dich zu mir, zieh aber die Leopardin nicht zu fest am Fell, sonst beißt sie.»

September kletterte aus dem Küchenfenster und ließ ein Spülbecken voller Seifenlauge und gelb-rosa Teetassen zurück, in denen die Teeblätter noch in unheilvollen Mustern klebten. Eines erinnerte an ihren Vater, der in seinem langen kaffeebraunen Regenmantel, mit einem Gewehr und Glitzerdingern am Hut fortgegangen und übers Meer gefahren war. Und eines erinnerte an ihre Mutter, die in ihrem Overall mit angespannten Armmuskeln über einen widerspenstigen Flugzeugmotor gebeugt war. Und eines erinnerte an einen zermatschten Kohlkopf. Der Grüne Wind streckte seine grün behandschuhten Hände aus, September nahm sie und holte tief Luft. Als sie sich über das Fenstersims zog, löste sich ein Schuh, und das wird später noch wichtig; halten wir also einen Moment inne und nehmen Abschied von dem hübschen kleinen Lackschuh mit der Messingschnalle, der auf den Parkettboden plumpste. Leb wohl, Schuh! September wird dich bald vermissen.

 

«Also», sagte der Grüne Wind, als September in dem geschwungenen smaragdgrünen Sattel saß, die Hände in das gefleckte Fell der Leopardin gekrallt, «im Feenland gelten wichtige Regeln – Regeln, von denen ich eines Tages ausgenommen sein werde, wenn meine Papiere endlich bearbeitet sind und ich den goldenen Ring der diplomatischen Immunität trage. Solltest du gegen die Regeln verstoßen, kann ich dir leider nicht helfen. Dann musst du Strafe zahlen oder sterben, je nach Laune der Marquess.»

«Ist sie sehr schrecklich?»

Der Grüne Wind grummelte in seinen Strubbelbart. «Alle kleinen Mädchen sind schrecklich», gab er schließlich zu. «Aber die Marquess hat immerhin einen sehr schönen Hut.»

«Erklär mir die Regeln», sagte September entschlossen. Ihre Mutter hatte ihr Schach beigebracht, als sie noch ziemlich klein war, und sie dachte, wer sich merken kann, wie ein Springer ziehen darf, der kann sich ganz bestimmt auch die Regeln im Feenland merken.

«Erstens ist keinerlei Eisen erlaubt. In diesem Punkt ist der Zoll sehr streng. Jegliche Geschosse, Messer oder Haken, die du mit dir führst, werden konfisziert und eingeschmolzen. Zweitens ist das Praktizieren von Alchemie grundsätzlich allen verboten, mit Ausnahme junger Damen, die an einem Dienstag geboren sind …»

«Ich bin an einem Dienstag geboren!»

«Gut möglich, dass ich das wusste», sagte der Grüne Wind augenzwinkernd. «Drittens sind Luftreisen nur per Leopard oder mit zugelassenem Jakobskrautstängel erlaubt. Besitzt du keines von beidem, so beschränke dich bitte auf die Erde. Viertens wird immer gegen den Uhrzeigersinn gereist. Fünftens wird der Müll jeden zweiten Freitag abgeholt. Sechstens müssen alle Wechselbälger an ihrem Schuhwerk zu erkennen sein. Siebtens, und das ist das Wichtigste, darfst du keinesfalls die Grenzen des Gespinstwaldes überschreiten, sonst wirst du entweder elendiglich zugrunde gehen oder eine äußerst langwierige Teezeremonie mit mehreren alleinstehenden Hamadryaden über dich ergehen lassen müssen. Diese Gesetze sind unantastbar, außer für Würdenträger und Spriggans auf Besuch. Verstanden?»

September hörte wirklich sehr angestrengt zu, aber immer wieder bliesen ihr die brausenden Winde das dunkle Haar ins Gesicht und in den Mund. «Ich … ich glaub schon …», stammelte sie und strich die Locken zurück.

«Selbstverständlich geht man mit dem Verzehr von Feenspeisen und -getränken einen bindenden Vertrag ein, mindestens einmal jährlich gemäß den jahreszeitlichen Mythenzyklen wiederzukehren.»

September erschrak. «Was? Was heißt das?»

Der Grüne Wind strich sich über den gestutzten Bart. «Es heißt: Iss, was du magst, liebes Kirschenkind!» Sein Lachen klang wie die pfeifende Luft hoch oben in den Zweigen. «Kirschsüß und beerenblank, Licht meines Mondhimmels!»

Die Leopardin der leichten Lüfte erhob sich weit über die Dächer von Omaha in Nebraska, denen September nicht einmal zum Abschied winkte. Dafür sollte man sie nicht verurteilen. Alle Kinder sind herzlos. Das Herz ist ihnen noch nicht gewachsen, nur deshalb können sie auf hohe Bäume klettern, schlimme Sachen sagen und so gewagte Sprünge machen, dass ausgewachsene Herzen vor Schreck flattern. Ein Herz wiegt eine ganze Menge. Deshalb dauert es so lange, bis es ausgewachsen ist. Doch ebenso wie beim Lesen, Rechnen und Zeichnen, so hat auch hierin jedes Kind sein eigenes Tempo. (Wie man weiß, beschleunigt nichts das Wachstum des Herzens so sehr wie Lesen.) Manche Kinder sind fürchterliche Tollköpfe, ganz und gar herzlos. Andere sind lieb und süß und fast gar nicht herzlos. An dem Tag, als der Grüne Wind September mitnahm, befand sie sich ziemlich genau in der Mitte, ein bisschen herzlos und ein bisschen erwachsen.

September winkte also weder ihrem Haus noch der Fabrik ihrer Mutter nach, die tief unten weiße Rauchwolken ausstieß. Nicht einmal ihrem Vater winkte sie, als sie über Europa hinwegflogen. Du und ich, wir finden das vielleicht grausam, aber September hatte schon viele Bücher gelesen und wusste, wenn die Eltern erfahren, dass ihr kleiner Ausreißer im Feenland war und nicht vielleicht in der Kneipe an der Ecke, sind sie nicht mehr böse, und alles ist wieder in Butter. September schaute geradewegs in die Wolken, bis ihr vom Wind die Augen tränten. Sie schmiegte sich an das raue, glänzende Fell der Leopardin der leichten Lüfte und lauschte dem Klopfen ihres gewaltig hämmernden Herzens.

 

«Wenn ich Sie mal etwas fragen dürfte, verehrter Herr Wind», sagte September nach einer beträchtlichen Zeit. «Wie gelangt man eigentlich ins Feenland? Nach einer Weile fliegen wir doch bestimmt über Indien und Japan und Kalifornien hinweg und dann kommen wir wieder bei mir zu Hause an.»

Der Grüne Wind schmunzelte. «Das wäre wohl richtig, wenn die Erde rund wäre.»

«Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das ist …»

«Dieses altmodische, rückständige Denken musst du dir mal abgewöhnen. Konservatismus ist keine sympathische Eigenschaft. Im Feenland geht es höchst wissenschaftlich zu. Wir abonnieren nur die besten Fachzeitschriften.»

Die Leopardin der leichten Lüfte brüllte leise. Mehrere Wölkchen hüpften verärgert aus dem Weg.

«Die Erde, mein Liebes, ist ungefähr trapezförmig, leicht rautenförmig, tesseraktähnlich und äußerst verdrießlich, wenn man ihr Fell gegen den Strich streichelt! Kurz gesagt, sie ist ein Rätsel, mein kleiner Herbsterwerb, wie die ineinander verhakten Silberringe, die deine Tante Margaret dir aus der Türkei mitgebracht hat, als du neun warst.»

«Woher weißt du das von meiner Tante Margaret?», rief September und hielt die Haare mit einer Hand zurück.

«Zufällig habe ich an jenem Tag gerade meinen üblichen Mittagswirbel veranstaltet. Sie hatte einen schwarzen Rock an, und du trugst das gelbe Kleid mit den Affen drauf. Steife Brisen haben ein hervorragendes Gedächtnis für alles, was sie zerzausen.»

September strich ihr zerknittertes oranges Kleid glatt. Sie mochte alles, was orange war: Blätter, manche Monde, Ringelblumen, Chrysanthemen, Käse, Kürbis als Kuchen und auch so, Orangensaft, Orangenmarmelade. Orange ist fröhlich hell und leuchtend, man kann es nicht übersehen. Einmal hatte sie in der Zoohandlung einen orangen Papagei gesehen und ihn sich mehr gewünscht als alles andere auf der Welt. Sie hätte ihn Halloween genannt und mit Karamellbonbons gefüttert. Ihre Mutter sagte, von Karamellbonbons würde der Papagei krank werden, und außerdem würde der Hund ihn bestimmt fressen. September sprach nie wieder ein Wort mit dem Hund, schon aus Prinzip.

«Das Rätsel ist den verhakten Ringen nicht unähnlich», sagte der Grüne Wind und schaute sie über den Rand seiner grünen Brille hinweg an. «Wir werden die Erde aufschließen und wieder zuschließen, dann sind wir in einem weiteren Ring und damit im Feenland. Es dauert nicht mehr lange.»

Tatsächlich ragten jetzt viele Dächer aus den eisblauen Wolken über der Welt heraus. Sie waren alle sehr hoch und wacklig: Kirchtürme aus zusammengezimmerten Brettern; Giebel aus rostigem Metall; Obelisken aus zerrissenem Laub; riesige Kuppeln, wie September sie aus Büchern über Italien kannte, doch mit löchrigen, bröckeligen Ziegeln. Man sah den Gebäuden an, dass der Wind dort am stärksten wehte, am lautesten pfiff, am schrillsten heulte. Alle Gipfel und Spitzen waren gefroren, und verfroren sahen auch die Leute aus, die durch die Stadt flatterten, dick eingemummelt wie der Grüne Wind selbst. Sie trugen schwarze, rosarote oder gelbe Reithosen und Jacken und hatten pralle Wangen wie die Putten, die aus den Ecken alter Landkarten blasen.

«Willkommen in der Stadt Westlich, September, wo alle sechs Winde ganz und gar nicht einträchtig zusammenleben.»

«Es ist … sehr schön. Und sehr kalt. Und ich glaube, ich hab einen Schuh verloren.»

Der Grüne Wind schaute auf Septembers Zehen, die sich allmählich blau verfärbten. Er war immerhin Gentleman genug, seinen Hausrock abzustreifen und ihn ihr überzuziehen. Die Ärmel waren ihr viel zu lang, aber auf seinen vielen Reisen hatte der Hausrock die eine oder andere Benimmregel gelernt, und so legte er sich ganz von selbst um Septembers kleinen Körper, bauschte sich und schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut.

«Ich glaub, ich sehe ein bisschen so aus wie ein Kürbis», flüsterte September und freute sich insgeheim. «Ganz in Grün und Orange.»

Sie schaute an sich herab. An dem breiten smaragdgrünen Seidenrevers hatte der Hausrock eine kleine orange Brosche für sie wachsen lassen, einen juwelenbesetzten Schlüssel. Er glitzerte, als wäre er aus der Sonne selbst gemacht. Der Hausrock wurde warm, weil er verlegen war und weil er hoffte, dass September sich freute.

«Ich kann nicht verhehlen, dass der Schuh ein großer Verlust ist», sagte der Grüne Wind. «Aber wer ins Feenland reisen will, muss Opfer bringen.» Er senkte vertraulich die Stimme. «Westlich ist ein Grenzort, und der rote Wind ist furchtbar habgierig. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit wäre dein Schuh ohnehin irgendwann gestohlen worden.»

Sanft landete September mit dem Grünen Wind in Westlich, die Leopardin der leichten Lüfte gab sich besondere Mühe, nicht zu ruckeln. Sie kamen in den Tornado-Boulevard, wo pausbäckige blaue und goldene Winde ihre Einkäufe erledigten, die Arme voll beladen mit Steppenläufern für üppige stachlige Salate. Wolken wirbelten herum und fegten durch die Straße, wie Papierfetzen in den Städten, die du und ich kennen. September und der Grüne Wind liefen auf zwei staksige Säulen am Ende des Boulevards zu. September erkannte sie erst gar nicht als Menschen, so hoch waren sie, unglaublich groß und dünn mit riesigen, langen Gesichtern. Ob es sich um Männer oder Frauen handelte, konnte sie nicht sehen, aber sie waren kaum dicker als Bleistifte und überragten alle Kirchtürme und Plattformen in Westlich. Ihre Füße verschwanden in einem Bausch von Kumuluswolken. Beide trugen eine Nickelbrille mit getönten Gläsern gegen das grelle Sonnenlicht in Westlich.

«Wer ist das?», flüsterte September.

«Der mit dem gelben Gürtel ist Breitengrad und der mit der Paisleykrawatte ist Längengrad. Ohne die beiden kommen wir nicht weit, also sei höflich zu ihnen.»

«Ich dachte, Längengrade und Breitengrade wären bloß Linien auf der Landkarte.»

«Sie lassen sich nicht gern fotografieren. So ist das mit Berühmtheiten. Andauernd wollen alle sie knipsen, das ist sehr lästig. Schon vor mehreren hundert Jahren haben sie mit der Zunft der Kartographen vereinbart, dass sie nur symbolisch dargestellt werden dürfen, aus Respekt, verstehst du?»

Als September Längengrad und Breitengrad gegenüberstand, wurde sie ganz still. Sie war es gewohnt, dass die meisten Menschen größer waren als sie, schließlich war sie ein Kind. Aber das hier war noch mal etwas ganz anderes, außerdem hatte sie seit dem Frühstück nichts gegessen, und eine Reise per Leopard ist sehr anstrengend. Einen Knicks fand sie altmodisch, deshalb machte sie eine tiefe Verbeugung. Der Grüne Wind schaute belustigt und verbeugte sich ebenfalls.

Breitengrad gähnte. Sein Mund war innen hellblau, wie der Ozean auf den Landkarten in der Schule. Längengrad seufzte gelangweilt.

«Nun ja, man kann nicht erwarten, dass sie etwas sagen, oder?» Der Grüne Wind wirkte etwas verlegen. «Sie sind Stars! Sie geben sich nicht mit jedem ab.»

«Hattest du nicht was von einem Rätsel gesagt?», fragte September, als sie Längengrad gähnen sah. Der Grüne Wind zupfte an seinem Ärmel, als ärgerte er sich darüber, dass sie so gar nicht beeindruckt war.

«Das Rätsel ist ein Puzzle. Wenn du ein Puzzle legst, womit fängst du da an, kleiner Kürbis?»

September scharrte mit dem kalten Fuß auf den glatten blauen Steinen des Boulevards. «Also … man fängt mit den Ecken an, dann puzzelt man erst mal den Rand, bis man einen Rahmen hat, und dann arbeitet man sich nach innen vor, bis alle Teile zusammenpassen.»

«Und wie viele Winde gibt es, historisch gesehen?»

September dachte an ihr Buch mit Sagen, das knallorange war und deshalb zu ihren liebsten Schätzen gehörte.

«Vier, glaube ich.»

Der Grüne Wind grinste und verzog dabei die grünen Lippen unter dem grünen Schnurrbart. «Ganz recht: Grün, Rot, Schwarz und Gold. Das sind natürlich nur grobe Familienbezeichnungen wie Schmidt oder Gupta. Und eigentlich gibt es auch noch Silber und Blau, aber die haben vor der Küste Tunesiens ihr Unwesen getrieben und mussten ohne Abendessen ins Bett. Heute bleibt es also dabei: Wir sind die vier Ecken.» Er zeigte auf Längengrad und Breitengrad, die immer noch stumm dastanden. «Sie sind der Rand. Und du, September» – sanft zog er eine Haarsträhne aus ihrer Spange – «bist das, was in der Mitte ist, all die seltsam geformten, eigensinnigen Teile.»

«Verzeihen Sie, das verstehe ich nicht.»

«Nun, es liegt alles in den Worten. Eins der Puzzleteile ist ein Mädchen, das auf einem Fuß neunmal gegen den Uhrzeigersinn im Kreis hüpft. Ein anderes ist Zieh dich kunterbunt an. Eins ist Halt dir ein Auge zu. Eins ist Verzichte auf etwas. Und eins ist Sei in Begleitung einer Katze.»

«Das ist ja leicht!»

«Weitgehend. Doch das Feenland ist alt, und alte Sachen haben seltsame Gelüste. Eines der letzten Teile ist Es muss Blut fließen. Und dann noch Erzähl eine Lüge.»

September biss sich auf die Lippe. Sie hatte Puzzles nie gern gemacht, obwohl ihre Großmutter sie liebte und ihr Haus mit tausend Teilen tapeziert hatte. September versuchte sich alles zu merken und hielt sich langsam ein Auge zu. Sie stellte sich auf ein Bein und hüpfte gegen den Uhrzeigersinn – das hoffte sie jedenfalls – um die Leopardin der leisen Lüfte herum. Ihr oranges Kleid flatterte gegen den grünen Hausrock, der in der Sonne glänzte. Als sie stehen blieb, machte sie den juwelenbesetzten orangen Schlüssel vom Revers los und stach sich mit der Nadel fest in den Finger. Blut quoll heraus und tropfte auf die blauen Steine. Vorsichtig legte sie den Schlüssel Längengrad und Breitengrad, die teilnahmslos dastanden, vor die Füße und holte tief Luft.

«Ich will nach Hause», log sie leise.

Als würden sie auf einem Sockel stehen, wandten sich Längengrad und Breitengrad mit einer fließenden Bewegung einander zu. Sie falteten sich zusammen wie eine Treppe, fassten sich bei den Händen und verschränkten sich miteinander, eine Hand mit der anderen, ein Fuß mit einem Knie, die Arme in die Seiten gestemmt. Mit schlenkernden Gliedern vollführten sie einen seltsamen, ruckartigen Tanz, wie Puppen in einem Zirkus. Der Boden bebte leicht und beruhigte sich wieder. Längengrad und Breitengrad gaben sich einen ganz schnellen Kuss, und als sie sich voneinander lösten, war zwischen ihren Mündern gerade genug Platz für eine Leopardin mit einer steifen Brise und einem Mädchen auf dem Rücken. Auf der anderen Seite sah September nichts als Wolken.

Feierlich reichte der Grüne Wind dem Mädchen in Orange eine behandschuhte Hand.

«Sehr gut, September», sagte er und hob sie auf den smaragdgrünen Sattel der Leopardin.

 

Man kann nie sehen, was nach dem Bühnenabgang auf einer Leopardin geschieht. Das verstößt gegen die Regeln des Theaters. Aber auf dem Gebiet des Schummelns waren die Feen immer schon groß, und da wir ihr Reich betreten wollen, sollten wir uns an die dortigen Sitten anpassen.

Denn als September und der Grüne Wind auf ihrer Raubkatze das Rätsel der Welt hinter sich ließen, erhob sich der juwelenbesetzte Schlüssel und sauste so leise, wie du es dir nur vorstellen kannst, hinter ihnen her.

Kapitel IIDie Zwischenweltkammer

Worin September zwischen den Welten wandelt, vier Fragen stellt, zwölf Antworten bekommt und von einer Zollbeamtin kontrolliert wird

Bei einer Dame sammelt sich bis zu ihrem goldenen Lebensabend eine Vielzahl von Sachen an. Bestimmt erinnerst du dich daran, wie du dich damals in jenem Sommer bei deiner Großmutter am See über die vielen Bilder von fremden Leuten an den Wänden gewundert hast, die unzähligen Porzellanenten, Kupferpfannen, Bücher und Sammellöffel, die alten Spiegel, Holzreste und halbvollendeten Strickwaren, die Brettspiele und Schürhaken, die sie in den Winkeln ihres Hauses aufbewahrte. Du konntest dir nicht vorstellen, wozu ein einzelner Mensch all diese Sachen braucht und wieso er sie so lange aufhebt, während sie langsam in der Sonne verbleichen und alle dieselbe pergamentbraune Farbe annehmen. Du dachtest, deine Großmutter sei ein bisschen verrückt, so eine Sammlung von Glaseulen und Zuckerschälchen zu haben.

So musst du dir den Raum zwischen dem Feenland und unserer Welt vorstellen. Er ist genauso wie Großmutters Kammer, ihr Schuppen, ihr Keller, vollgestopft mit dem Krimskrams von Jahrtausenden. Die Welt wusste nämlich nicht so recht, wohin damit. Die Erde ist sparsam, sie wirft gut erhaltene Bronzehelme, Spinnräder oder Wasseruhren nicht einfach weg. Man könnte sie ja eines Tages noch gebrauchen. Und was die vielen Porträts angeht: Wenn du erst mal so lange lebst wie sie, brauchst du auch ein bisschen Hilfe, wenn du dich an all deine Enkelkinder erinnern willst.

September staunte über die Berge von Kuriositäten in der Zwischenweltkammer. Die Decke war sehr niedrig, Wurzeln wuchsen hindurch, und alles war von verblichener Eleganz: die alte Spitze und die ersten Fernschreiber, die Anker und schweren Bilderrahmen, die Dinosaurierknochen und Modelle des Sonnensystems. Die Leopardin lief durch den schummrigen Gang, und September schaute in die gemalten Augen von Pharaonen und blinden Dichtern, Chemikern und abgeklärten Philosophen. Dass sie Philosophen waren, erkannte September an ihren vorhangartigen Gewändern. Aber auf den meisten Porträts waren nur Leute, die anhatten, was ihnen gefiel, als sie lebten, Heu rechten, Tagebuch schrieben oder Brot backten.

«Herr Wind», sagte September, als sie sich gefangen hatte und ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. «Ich würde Sie gern etwas fragen, und ich möchte, dass Sie ernsthaft antworten und mir nicht mit schönen Namen schmeicheln oder mich aufziehen.»

«Natürlich, meine … September. Und nenn mich ruhig Grün. Ich finde, dass wir allmählich vertraut miteinander werden.»

«Warum hast du mich aus Omaha rausgeholt? Nimmst du sehr viele Mädchen mit? Kommen sie alle aus Nebraska? Warum bist du so nett zu mir?»

September war sich nicht sicher, aber sie glaubte, die Leopardin der leisen Lüfte lachen zu hören. Vielleicht war es auch ein Schnauben.

«Das war aber mehr als eine Frage. Deshalb ist es nur recht und billig, wenn ich dir mehr als eine Antwort gebe.» Er räusperte sich theatralisch. «Erstens: An einem Ort wie Omaha sollte eigentlich niemand wohnen. Zweitens: Nein, ich habe auch so genug zu tun. Drittens: Siehe oben. Viertens: Damit du mich magst und keine Angst hast.»

In der Ferne bewegten sich Menschen langsam in einer Reihe. Sie trugen lange bunte Mäntel, schauten auf die Uhr, strichen die Haare unter den Hüten glatt. Die Leopardin ging langsamer.

«Du sollst mich doch nicht aufziehen», sagte September.

«Erstens: Ich war einsam. Zweitens: Es ist bekannt, dass ich ein, zwei Kinder habe verschwinden lassen, das will ich nicht leugnen. Es liegt in der Natur der Winde, Sachen zu packen, zu schnappen und wegzupusten. Drittens: Nebraska bringt nicht viele Mädchen von der Sorte hervor, die ins Feenland reisen sollten. Viertens: Wäre ich nicht nett und würde ich den Weg zum Feenland nicht kennen und nicht diese eindrucksvolle Katze besitzen, würdest du mich nicht anlächeln und amüsante Sachen sagen. Du würdest mir höflich zu verstehen geben, dass du Teetassen und kleine Hündchen magst und dass ich mich bitte verziehen solle.»

Sie blieben stehen und stellten sich am Ende der Schlange an. Alle überragten September – sie konnte nicht sagen, ob es eine lange oder kurze Schlange war. September sprang von der Leopardin ab und landete auf dem trockenen, festen Boden der Zwischenweltkammer. Leichtfüßig landete der Grüne Wind neben ihr.

«Du hast gesagt, ich war übellaunig! War das der eigentliche Grund?»

«Erstens: Im Feenland gibt es eine Abteilung, in der man sich einzig darum kümmert, kleine Jungen und Mädchen verschwinden zu lassen (vor allem Waisenkinder, doch in letzter Zeit sehen wir das nicht mehr so eng), damit wir immer gewisse Geschichten auf Lager haben, wenn der Winter kommt und man nichts weiter tun kann als Fenchelbier trinken und ins Kaminfeuer schauen. Zweitens: Siehe oben. Drittens: Trockene, braune Gegenden sind Toplagen für Kinder, die ihnen entkommen wollen. In New York City ist es viel schwieriger, kleine Herumtreiber zu finden, die man auf einer Leopardin mitnehmen könnte. Dort können sie sich ihre Zeit nämlich im Metropolitan Museum vertreiben. Viertens: So besonders nett bin ich gar nicht. Siehst du, wie ich dich anlüge und beschwatze? Das tue ich, um dich aufs Feenland vorzubereiten, wo so etwas als Gipfel guten Benehmens gilt.»

September ballte die Fäuste. Sie wollte auf keinen Fall weinen.

«Grün! Hör auf damit! Ich will doch nur wissen …»

«Erstens! Weil du das Licht der Welt in …»

«… ob ich etwas Besonderes bin», vollendete September den Satz halb flüsternd, halb piepsend. «Wenn in einer Geschichte jemand plötzlich in einer grünen Wolke auftaucht und ein Mädchen zu einem Abenteuer einlädt, dann deshalb, weil sie etwas Besonderes ist, weil sie klug und stark ist und Rätsel lösen und mit dem Schwert kämpfen und richtig gut reden kann und … ich wüsste nicht, dass irgendwas davon auf mich zutrifft. Ich wüsste noch nicht mal, dass ich so besonders übellaunig wäre. Ich bin nicht dumm oder so. Ich kenne mich in Erdkunde aus, ich kann Schach spielen, und wenn meine Mutter arbeiten ist, kann ich den Boiler reparieren. Was ich sagen will: Vielleicht wolltest du eigentlich zum Haus eines anderen Mädchens und sie auf die Leopardin einladen. Vielleicht warst du gar nicht auf mich aus, weil ich nämlich kein Bilderbuchmädchen bin. Ich bin klein, und mein Vater ist zur Armee gegangen und ich könnte nicht mal einen Hund davon abhalten, einen Vogel zu fressen.»

Die Leopardin wandte den gewaltigen gefleckten Kopf und schaute September mit großen, ernsten Augen an.

«Wir wollten zu dir», knurrte sie. «Nur zu dir.» Sie leckte September mit der rauen Zunge über die Wange. September lächelte, ganz leicht nur. Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel des grünen Hausrocks über die Augen.

«DER NÄCHSTE!», dröhnte eine tiefe Stimme durch die Kammer. Von der Wucht der Stimme fielen sie rückwärts in die Leute, die hinter ihnen in der Schlange standen. Die Gruppe vor ihnen, alle mit rosa Lidschatten und stacheligen Glitzerhaaren, hasteten mit Gepäck und flatternden Papieren zu einem hohen Podest.

Auf dem Podest erhob sich ein riesiger Wasserspeier mit einem Gesicht aus Bronze und schwarzem Stein, wackelnden steinernen Augenbrauen und einem harten Metallkiefer. In seinen heraushängenden Augen loderten rote Flammen. Seine schweren Arme – ölverschmierte, pumpende Kolben – klickten und surrten. Die Brust des Wesens war mit knorrigem, delligem Silber besetzt und klaffte an einer dicken Naht halb auf. Darunter war ein pochendes, weißlich-violettes Herz zu sehen.

«Papiere!», rief der Wasserspeier streng. Porträts wackelten an den Lehmwänden. Der Atem des Wesens war heiß und rauchig, eine Zunge aus Stahl klapperte in seinem mechanischen Maul. September drückte sich an die Leopardin, der Atem des Wasserspeiers blies ihr heftig ins Gesicht.

«Betsy Basilikum, komm augenblicklich heraus!», brüllte der Grüne Wind zurück, wenn auch nicht ganz so laut, er hatte ja keinen Blasebalg als Lunge.

Der eiserne Wasserspeier hielt inne. «Nein!», brüllte er.

«Glaub nicht, dass du hier irgendwen beeindrucken kannst», sagte der Grüne Wind und seufzte.

«Sie ist aber beeindruckt. Schau nur, wie sie am ganzen Körper zittert», gab der Wasserspeier zurück.

«Betsy, ich werde dir ordentlich eine verpassen, du weißt, dass ich das kann. Denk dran, wer den Lord von Laubschlucht geschlagen und herumgescheucht hat wie einen Hund. Ich bin kein Tourist und ich lasse mich auch nicht behandeln wie einer», sagte der Grüne Wind.

«Nein, ein Tourist bist du nicht», knurrte jemand mit belegter, heiserer und viel leiserer Stimme. Eine zierliche Frau, vielleicht etwas kleiner als September, kam aus dem Wasserspeier und auf das Podest gesprungen. Die Flammen in den Augen des Wasserspeiers erloschen und er ließ die breiten Schultern hängen. Die kleine Frau hatte eine muskulöse Brust, wie ein Bär, und dicke Knubbelbeine. Ihre schmutzigen kurzen Haare standen in messerspitzen Stacheln vom Kopf ab. Sie kaute auf einer selbstgedrehten Zigarette herum; der Rauch roch süßlich, nach Vanille, Rum, Ahornsirup und anderem nicht allzu gesundem Zeug. «Du bist kein Tourist» wiederholte sie mit grummeliger Stimme. «Du stehst auf der grünen Liste, das heißt, du bist ein nichtsnutziger Halunke, und das heißt Zutritt verboten, Befehl der Marquess.»

«Betsy, ich habe meinen Einwanderungsantrag schon vor Wochen mit den Stempeln der Vier Heimlichen eingereicht. Sogar ein Empfehlungsschreiben des Seligen Parlaments habe ich beigefügt. Nun ja, des Sekretärs. Aber mit offiziellem Briefkopf und allem Drum und Dran, und wir wissen ja, dass es auch auf das Briefpapier ankommt», sagte der Grüne Wind trotzig.

Betsy zuckte mit einer haarigen Augenbraue und hüpfte blitzschnell zurück in den Wasserspeier. Brüllend erwachte er zum Leben, mit flammenden Augen und scheppernden Armen.

«HAU AB. SONST KANNST DU MAL SEHEN, WER HIER EINE VERPASST KRIEGT.»

«Grün», flüsterte September. «Ist sie … ein Zwerg?»

«Ganz recht», knurrte Betsy und quetschte sich wieder aus dem Wasserspeier. Sofort sackte er in sich zusammen. «Sehr gut beobachtet. Woran hast du es gemerkt?»

Septembers Herz hämmerte immer noch wie wild von dem Gebrüll des Wasserspeiers. Sie hielt eine zitternde Hand knapp über den Kopf.

«Spitz», piepste sie und räusperte sich. «Zwerge tragen doch … spitze Hüte, nicht? Ich dachte mir … spitze Haare gehen vielleicht auch?»

«Sie ist eine richtige Logikerin, Grüni. Meine Großmutter trägt einen spitzen Hut, Mädchen. Und meine Urgroßmutter. So ein Ding würde ich im Leben nicht aufsetzen, genauso wenig wie du eine Rüschenhaube aufsetzen würdest. Die Zwerge von heute sind modern. Wir sind sogar besser als modern. Guck mal her.» Betsy spannte einen wirklich beeindruckenden Bizeps an, bestimmt ölkannengroß war er. «Durch die Gärten huschen und Eingänge segnen, das ist nichts für mich. Ich bin auf die Handelsschule gegangen, jawohl! Jetzt bin ich Zollbeamtin mit meinem eigenen dicken fetten Brocken hier. Was hast du dabei?»

«Eine Leopardin», sagte September schnell.

«Richtig», sagte Betsy. «Aber du verfügst weder über Papiere noch über beide Schuhe, und das ist ein Problem.»

«Wozu brauchst du das da?», fragte September und meinte den Wasserspeier. «An den Flughäfen bei uns gibt es solche Dinger nicht.»

«O doch. Man sieht sie nur nicht richtig», sagte Betsy Basilikum grinsend. «Alle Zollbeamten haben so was, warum sollten die Leute sonst freiwillig anstehen und sich anstarren und abtasten lassen? Wir sind alle gefangen im schrecklichen Motor der Autorität, der knirscht und quietscht und brennt. Wo du lebst, ist der schreckliche Apparat kleiner und schwieriger zu erkennen. Er ist nicht so ehrlich, das ist alles. Während unser Rupert hier so was von ehrlich ist. Da weiß man, was man hat.»

Sie kratzte das Monster hinter dem Ohr, so sah es jedenfalls aus. Keine Reaktion.

«Wieso erzählst du mir dann, dass das alles nur Marionetten und Motoren sind? Willst du nicht, dass ich mich von dir anstarren lasse?», fragte September.

Betsy winkte sie näher heran, bis sie Nase an Nase standen und September nur noch die Mischung aus Vanille, Rum und Ahornsirup von Betsys Zigarette roch, von der auch ihre Haut durchdrungen war.

«Weil wir den Auftrag haben, Menschen, die ins Feenland kommen, auszutricksen, zu beklauen und ihnen eins hinter die Löffel zu geben – aber wir sollen sie auch verhexen, damit sie richtig sehen können. Nicht alles sollen sie sehen, gerade so, dass der Pilzzauber sie blendet, aber nicht so sehr, dass wir sie nicht zweimal mit Feengold reinlegen können. Es ist eine richtige Wissenschaft. Wurde früher mit Salbe gemacht. So steht es im Regelbuch.»

«Willst du mir irgendwas Ekliges in die Augen tun?»

«Ich hab’s dir doch gesagt, Kleine. Die Zwerge von heute sind modern. Ich höchstpersönlich habe als Streikposten vor der Allerbreiligen-Apotheke gestanden. Es gibt andere Möglichkeiten, deinen dummen Kopf zu öffnen. Rupert zum Beispiel. Er hat eine großartige Wirkung auf Dummköpfe. Wenn ich den Leuten Rupert vorführe, sehen sie meist genau das, was ich ihnen erzähle. Und jetzt die Papiere, bitte.»

Der Grüne Wind warf September einen Blick von der Seite zu, dann schaute er auf seine Füße. September hätte schwören können, dass er sich schämte, seine Haut unter dem Bart wurde dunkelgrün. «Du weißt sehr gut, Betsy», flüsterte er, dass die Entrissenen keine Papiere brauchen. «So steht es im Handbuch, Seite 764, Paragraph sechs.» Der Grüne Wind hüstelte höflich. «Die Persephone-Klausel.»

Betsy bedachte ihn mit einem Blick, der deutlich sagte: Also daher weht der Wind, du alter Luftsack! Sie blies ihm ihren dicken süßlichen Rauch ins Gesicht und grunzte.

September hatte ja gewusst, dass sie nicht die Einzige sein konnte.

«Für dich gilt das aber nicht, Großer. Also gut, sie kann gehen, du bleibst hier.» Betsy kaute auf ihrer Zigarette. «Und die Katze auch. Für einen wie dich verstoße ich nicht gegen die grüne Liste.»

Der Grüne Wind strich September mit seinen langen Fingern übers Haar.

«Zeit zum Abschiednehmen, mein Eichelschatz. Gewiss wird auch mein Visum bald kommen … wenn du bei der Botschaft vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen könntest? Bis dahin denk an die Regeln, nach dem Essen eine Stunde lang nicht schwimmen gehen und niemals deinen wahren Namen verraten.»

«Meinen wahren Namen?»

«Ich bin deinetwegen gekommen, September. Nur deinetwegen. Ich wünsche dir das Beste, was zu hoffen ist, und nichts Schlechteres, als zu erwarten ist.» Er beugte sich zu ihr und küsste sie vornehm und sanft auf die Wange, trocken wie ein Wüstenwind. Die Leopardin leckte ihr hingebungsvoll die Hand.

«Mach die Augen zu», flüsterte der Grüne Wind.

September gehorchte. Sie spürte einen warmen, sonnigen Lufthauch auf dem Gesicht, erfüllt vom Duft grüner Dinge: Minze, Gras, Rosmarin und frisches Wasser, Frösche, Blätter und Heu. Er blies ihr die Haare aus dem Gesicht, und als sie die Augen wieder aufschlug, waren der Grüne Wind und die Leopardin der leichten Lüfte verschwunden. Sie hatte noch sein letztes lässiges Seufzen im Ohr: Schau in deine Taschen, mein Schornstein-Schatz.

Betsy wedelte mit den Händen, als wollte sie ein unangenehmes Parfüm verscheuchen.

«Was für eine Plage er ist! Ohne ihn bist du besser dran – Theaterleute sind nichts als ein Haufen Monologe und Lampenfieber.» Sie holte ein kleines, in grünes Leder gebundenes Buch und einen glänzenden Stempel mit rubinrotem Griff hinter dem Podest hervor. Sie schlug das Buch auf und begann mit boshaftem Vergnügen zu stempeln.

«Art des befristeten Visums: Granatapfel. Zugewiesene Unterkunft: keine. Kategorie des Fremdlings: menschenartig, entrissen, kein Wechselbalg. Größe: mittelgroß. Alter: zwölf. Privilegien: keine oder so viele, wie du kriegen kannst. Irgendetwas zu verzollen?»

September schüttelte den Kopf. Betsy verdrehte die rotgeränderten Augen.

«Zollerklärung: ein Schuh, schwarz. Ein Kleid, orange. Ein Hausrock, nicht deiner.» Die Zwergin spähte von ihrem Podest herab. «Ein Kuss, extrem grün», schloss sie mit Nachdruck, knallte einen letzten Stempel in das Buch und reichte es September. «Und jetzt Abmarsch, halt den Betrieb nicht auf!»

Betsy Basilikum packte September am Kragen und schleifte sie am Podest vorbei zu einem wurzeligen, modrigen, wurmigen Loch in der hinteren Wand der Zwischenweltkammer. Im letzten Augenblick hielt sie inne, spuckte einen Feenfluch aus wie ein Klümpchen Tabak und holte eine kleine schwarze Dose aus der Tasche. Als sie ein rotes Stäbchen herauszog, schnappte der Deckel auf. Ein leicht goldener Gelee befand sich in der Dose.

«Panverdammich», fluchte Betsy. «Die Macht der Gewohnheit.» Sie tauchte einen Schmutzfinger in das Zeug und schleuderte es September in die Augen. Wie Eidotter lief es ihr übers Gesicht.

Der Zwergin war es sichtlich unangenehm. «Na ja», sagte sie und schaute auf ihre Zehen. «Kann ja sein, dass Rupert seine Sache diesmal nicht gut gemacht hat, dann kommst du da an und siehst nichts als Stöcke und Grashüpfer und gähnend leere Wüste. Wenn du Wüste willst, ist das ein weiter Weg. Was soll’s, ich brauche mich nicht zu rechtfertigen. Ab mit dir!»

Betsy Basilikum stieß September rückwärts in die weiche Blätterwand der Kammer. Zappelnd quetschte sich September hindurch und kam – plopp! – auf der anderen Seite heraus.

Kapitel IIIHallo, Lebwohl und Dankeschön

Worin September fast ertrinkt, den drei Hexen begegnet (eine davon ein Wärwolf) und mit der Suche nach einem gewissen Löffel betraut wird

Schäumendes Salzwasser schlug September entgegen wie eine Wand. Es brauste in ihren Augen, riss an ihren Haaren, zog mit kalten, violettgrünen Händen an ihren Füßen. Sie schnappte nach Luft und bekam eiskalte Meeresbrühe in die Lunge.

September war eine ordentliche Schwimmerin. Bei einem Wettkampf in Lincoln hatte sie sogar die Silbermedaille gewonnen. Sie besaß einen Pokal mit einem geflügelten Mädchen – wobei sie sich immer gefragt hatte, wozu ein fliegendes Mädchen schwimmen sollte. Das Mädchen müsste Schwimmhäute zwischen den Zehen haben. Leider hatte September im Schwimmkurs nicht gelernt, wie man im Schmetterlingsstil schwimmt, nachdem man geradewegs aus großer Höhe in den Ozean geworfen wurde. Noch dazu mit Zwergensalbe in den Augen. Also wirklich, dachte September, wie konnten die so etwas Wichtiges auslassen?

Sie strampelte, wurde von riesigen Wellen überspült, kam prustend wieder hoch und schnappte nach Luft. Sie schlug mit den Beinen und versuchte sich in die richtige Stellung zu bringen, damit die Wellen sie zur Küste hintrieben – falls es eine Küste gab – und nicht noch weiter aufs Meer hinaus. Als eine entsetzlich hohe Welle sie emportrug, drehte sie sich so weit wie möglich um und sah im Westen durch die letzten hartnäckigen Salbenschleier verschwommen eine orange schimmernde Küste. Gegen den Willen des Wassers drehte sie sich zur Küste herum, schwamm, so schnell sie konnte, zur nächsten anschwellenden Welle, ließ sich von ihr schieben und ziehen, ließ alles mit sich geschehen, solange sie nur näher ans Land kam. Septembers Arme und Beine brannten, ihre Lunge dachte ernsthaft ans Aufgeben, aber es ging weiter, immer weiter, bis sie mit den Knien ganz unverhofft auf Sand stieß und mit dem Gesicht auf einem rosafarbenen Strand landete, während die letzten Wellen über sie hinwegschwappten.

September hustete und schüttelte sich. Auf Händen und Knien spuckte sie ein paar ordentliche Portionen vom Lieblosen Meer der Leiden aus. Sie machte die Augen ganz fest zu und zitterte, bis ihr Herz nicht mehr ganz so raste. Als sie die Augen wieder aufmachte, fühlte sie sich nicht mehr so wacklig, aber jetzt steckte sie bis zu den Ellbogen im Strand und sank immer tiefer ein. So weit sie blicken konnte, war der Strand übersät mit einer dicken Schicht aus roten Rosenblättern, Zweigen, stachligem Laub, gelblichen Kastanienschalen, Tannenzapfen und rostigen Blechglocken. Stolpernd watete September durch den seltsamen, süßlich riechenden Abfall und versuchte zwischen Brombeergestrüpp, Schalen von Rotkehlcheneiern und verschrumpelten Pilzen festen Boden zu finden. Der Strand bot nicht viel mehr Halt als das Meer, aber wenigstens konnte sie atmen – scharf und ruckartig, denn die Brombeeren piksten sie und die Zweige ziepten an ihren Haaren.

Nach so kurzer Zeit im Feenland darf ich noch nicht weinen, dachte September und biss sich fest auf die Zunge. So war es besser; sie konnte denken, und während sie sich durch das Strandgut kämpfte, schien es flacher zu werden. Schließlich versank sie nur noch bis zu den Knien und konnte hindurchstapfen wie durch tiefen Schnee. In der Ferne sah sie hohe silbrige Klippen, gesprenkelt mit tapferen kleinen Bäumen, die an den Felsen Halt gefunden hatten und seitlich aus den Klippen herauswuchsen. Über ihren Wipfeln kreisten kreischend Vögel, deren lange Hälse im Mittagslicht blau leuchteten. Schwer atmend stand September allein auf dem Strand. Sie rieb sich die Augen, um den letzten Rest Zwergensalbe herauszuwischen, die trocken geworden war wie Schlafsand. Als ihre Augen sauber waren, schaute sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Strand hinter ihr sah auf einmal gar nicht mehr nach Rosenblättern, Stöcken und Eierschalen aus. Bis hin zu dem violettgrünen Wasser glänzte er golden, echt golden. Von Dublonen, Ketten und Kronen, spanischen Münzen, Tellern, Goldbarren und langen, glitzernden Zeptern. Die Zepter leuchteten so grell, dass September die Augen mit der Hand beschatten musste. Ganz gleich, wohin sie ging, nach links oder rechts, der Strand blieb golden.

September zitterte. Sie hatte entsetzlichen Hunger, und triefnass war sie außerdem. Sie wrang ihre Haare und den Rock ihres orangefarbenen Kleides über einer riesigen Goldkrone mit Kreuzen aus. Der Hausrock, der sich schämte, weil er wegen so eines bisschen Wassers seine Pflichten vernachlässigt hatte, bauschte sich eilends auf und ließ sich vom Seewind trocken pusten. Hm, dachte September, das ist ja alles sehr seltsam, aber der Grüne Wind kann es mir jetzt nicht mehr erklären, und ich kann nicht wie eine Sonnenbadende den ganzen Tag am Strand bleiben. Ein leopardenloses Mädchen hat immer noch Füße.