Die Wurzeln des Menschen - Patrick Roberts - E-Book

Die Wurzeln des Menschen E-Book

Patrick Roberts

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Beschreibung

Die grüne Wiege der Menschheit Das Schicksal der Menschheit ist schon immer mit dem der Tropenwälder verbunden. Der Anthropologe und Archäologe Patrick Roberts nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Jahrmillionen. Er schildert, wie die Wälder entstanden und das Aussehen unseres Planeten entscheidend prägten. Erst durch sie fanden Amphibien den Weg an Land, entwickelten sich neue Pflanzen- und Tierarten – und schließlich der Mensch. Roberts zeigt, welch bedeutende Rolle die Tropenwälder bei unserer Evolution spielten und dass die Wurzeln des »Anthropozäns« weiter zurückreichen als 6000 Jahre, da der Mensch schon damals die Wälder in größerem Stil veränderte. Und er warnt eindrücklich vor den Folgen der Zerstörung dieses für uns so wichtigen Ökosystems.

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Seitenzahl: 989

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Patrick Roberts

Die Wurzeln des Menschen

Wie der Dschungel die Erde formte, das menschliche Leben hervorbrachte und unsere Zukunft bestimmt

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Rhys, Ida und Livia – auf dass auch sie noch durch ihren eigenen »Dschungel« wandern mögen.

Vorwort

Als mein Student Caetano Andrade, Victor LeryVictor Caetano Andrade und ich uns im Juli 2019 durch das Herz der Brasilienbrasilianischen NeotropisNeotropis schlugen, mussten wir Giftschlangen abwehren, aber auch riesige Mücken, die sogar die zähe Haut von Krokodilen durchstechen können, und die Hitze ließ uns den Schweiß bächeweise in die Augen rinnen. In den letzten zehn Jahren hatte mich meine Freilandarbeit in den Tropen von den egelverseuchten feuchten Regenwäldern Sri LankaSri Lankas bis in die leicht brennbaren, trockenen Wälder AustralienAustraliens und die von VulkaneVulkanen gesäumten Nebelwälder MexikoMexikos geführt. Dennoch hatte mich nichts auf das wimmelnde Leben, das stickige Klima und das endlose Grün am AmazonasAmazonas vorbereitet, dem nach der Wassermenge größten Fluss der Welt. Allein um die Freilandstation im Dorf unserer Gastgeber zu erreichen, mussten wir 523 Kilometer auf einer »langsamen Fähre« (recreio) zurücklegen, eine Reise, die atemberaubende 36 Stunden dauerte. Anschließend folgte noch eine zweistündige Fahrt auf einem kleinen, offenen Boot. Mit uns reisten mehrere sperrige Kisten voller wissenschaftlicher Ausrüstung, einer Handvoll Gerätschaften für den Aufenthalt vor Ort und so viel Kleidung, wie der verbleibende Platz und die Willenskraft uns mitzunehmen erlaubten. Victor musste im Lauf der sommerlichen Forschungsarbeiten nicht nur eine Episode des Dengue-Fiebers erdulden, sondern auch eine eiternde, entzündete Blase von der Größe einer kleinen Pflaume an der Hand und den Ausfall eines Flugzeugmotors bei der Landung auf einer lokalen Piste. Das alles passt, insbesondere für die Bewohner Europas und Nordamerikas, zu den Vorstellungen von tropischen Wäldern oder »Dschungeln«, die viele von uns durch Spiel- oder Dokumentarfilme und Romane gewonnen haben – von den Prüfungen in Apocalypto bis zu Mogli, der mit Tieren um die Wette läuft. Für uns sind die tropischen Wälder eine Art terra incognita. Sie mögen künstlerische Metaphern und natürliche Ressourcen liefern, aber sie sind gewiss nicht das, was wir uns unter einem »Zuhause« vorstellen. Im Gegenteil: Die meisten europäisch-amerikanischen Bücher, Serien und Kinokassenschlager, die im »Dschungel« spielen, vermitteln den Eindruck, tropische Wälder seien grundsätzlich nicht in der Lage, große menschliche Gesellschaften nachhaltig und gefahrlos zu ernähren.

Solche Vorstellungen prägen nicht nur das laienhafte, sondern auch das wissenschaftliche Denken. Tropische Wälder wurden bei der Erörterung der Menschheitsgeschichte wie auch der Geschichte des Lebendigen auf der Erde häufig an den Rand gedrängt. So besagt beispielsweise das beherrschende Narrativ über die Evolution des Menschen, dass unsere HomininenHomininen-Vorfahren die Gefahren und die frugale Kost des Waldes hinter sich ließen, sobald sie dazu in der Lage waren, und hinaus auf die offene SavanneSavanne strebten, wo sie mit neuen WerkzeugeWerkzeugen die reichhaltigen Wildbestände einer solchen Umwelt ausbeuten konnten.[1] Ebenso konzentrierte man sich auf offene GraslandschaftenGraslandschaften und Küstenstreifen[2], wenn man nach den Ursprüngen unserer eigenen Spezies Homo sapiensHomo sapiens und deren schnellen »Verbreitungsrouten« rund um den Erdball suchte. Ähnliches gilt auch, wenn wir uns mit der Entstehung von Landwirtschaft oder Städten beschäftigen: Wieder werden die tropischen Wälder oft als »unproduktiv« außer Acht gelassen, weil man annimmt, es gebe dort grundsätzlich nur schlechten, unproduktiven Boden, Naturgefahren, schwer zu jagende Tiere und ein extremes Klima, in dem sich die Landwirtschaft und die Städte, wie wir sie aus unserer eigenen, angeblich »komplexen« Gesellschaft kennen, unmöglich aufrechterhalten lassen.[3] Angesichts der scheinbar unaufhaltsamen Zerstörung durch industrielle Landwirtschaft und Stadtbevölkerung fragen wir uns, wie solche Lebensräume jemals die Grundlage für weitläufige Felder mit MonokulturMonokulturen, riesige Weideflächen und geschäftige Metropolen hätten bilden können. Stattdessen sprechen Berichte über Lebensgemeinschaften in tropischen Wäldern häufig von kleinen, oftmals angeblich »isolierten« Gruppen, die zum Überleben auf das Jagen und Sammeln angewiesen sind.[4] Solche Annahmen prägen nicht nur unsere Kenntnisse über die Geschichte der tropischen Wälder, sondern auch unsere Bemühungen, sie zu schützen. Traditionelle Naturschutzanstrengungen gehen häufig davon aus, dass Menschen in tropischen Wäldern schlicht nicht nachhaltig leben können; deshalb, so heißt es, könne man sie am besten schützen, wenn man sie als ökologische »Wildnis« mit möglichst wenigen Eingriffen und Störungen durch Menschen behandelt.[5] Selbst das Wort »»Dschungel«, Etymologie vonDschungel«, das häufig für tropische Wälder verwendet wird – es geht auf das Hindi-Wort »jangal«[6] zurück – bezeichnete ursprünglich einen Bereich außerhalb menschlicher Siedlungen und häuslichen Komforts.

Gegenüber den Geschichten, die wir so oft über tropische Wälder hören, sollten wir also skeptisch sein. Meine Expedition ins AmazonasbeckenAmazonasbecken veränderte mein Leben. Insbesondere zwei ganz unterschiedliche Erlebnisse mit tropischen Wäldern sind mir im Gedächtnis geblieben – und die waren viel eindringlicher als alle Kämpfe, die Caetano Andrade, Victor LeryVictor und ich unter den Baumkronen ausfechten mussten. Beide Begegnungen machen nicht nur deutlich, wie langlebig und eng die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und dieser majestätischen Umgebung sind, sondern auch welche Bedeutung die tropischen Wälder nach wie vor für uns alle haben, ganz gleich, ob wir in den Tropen leben oder nicht. Die erste Erfahrung machte ich eines Morgens, als wir zum sanften Schaukeln des betagten recreio und dem Lärm der Papageien aufwachten. Victor, ein altgedienter Reisender im Amazonasgebiet und brasilianischer Staatsbürger, deutete auf die Baumwipfel und sagte: »Wir werden bald ein Dorf sehen.« Ich folgte seinem Finger mit den Blicken, konnte aber kein Anzeichen von Menschen oder Häusern entdecken, ja noch nicht einmal eine Lichtung, die auf irgendeine Form der Gegenwart von Menschen hingedeutet hätte – alles schien einfach wild und grün zu sein. Dann machte mich Victor darauf aufmerksam, welche Pflanzen plötzlich an den Flussufern vorherrschten. Bei näherem Hinsehen zeigte sich im Gegensatz zu dem früheren Bewuchs eine dichte Konzentration von zwei bestimmten Pflanzen: Açai-»Beeren« tragende Palmen und ParanussAmazonasnussParanussParanussbäume (die man richtiger »Amazonasnüsse« nennen sollte). Mit seinen langjährigen Erfahrungen als Ökologe und häufiger Besucher der Siedlungen entlang der Ufer im AmazonasbeckenAmazonasbecken wusste Caetano Andrade, Victor LeryVictor, dass diese Pflanzen eine Art lebender Wegweiser zu einer menschlichen Siedlung sind. Und tatsächlich tauchte langsam ein Dorf aus dem Gewirr der dichten Vegetation am Flussufer auf, das den passenden Namen »Ponta da CastanhaPonta da Castanha« (»Ort der Amazonasnussbäume«) trug. Wie Victor und die Einheimischen, einschließlich unseres großzügigen Gastgebers Jucelino, ganz genau wussten, liegen die heutigen Siedlungen am Flussufer fast immer über prähistorischen Siedlungsstätten. Hier haben frühere Gesellschaften über Jahrtausende die Fruchtbarkeit des Bodens und die Zusammensetzung der Pflanzenwelt verändert, und das so stark, dass die gleichen Stellen auch heute noch die einheimischen Lebensmittelproduzenten anziehen. Wäre das Amazonasgebiet wirklich eine »unberührte« Landschaft und im Wesentlichen frei von menschlicher Geschichte, wie könnte ich dann an einer Stelle stehen, die seit Jahrtausenden immer wieder Siedlungen beherbergt hat?

Und das zweite Erlebnis: Am Ende unseres Besuchs stießen wir in einem kleinen Motorboot vom Ufer ab. Während wir knapp oberhalb der Wasserlinie saßen und unsere Habseligkeiten und Ausrüstung krampfhaft auf dem Schoß festhielten, blickte ich hinauf zum Himmel. Dort sah ich eine schnell wandernde Wolkendecke, die so dicht über dem Amazonas-Regenwald und seinen menschlichen Siedlungen dahinsegelte, dass es schien, als könne man sie mit den Händen greifen. In diesem Augenblick konnte ich vielleicht zum ersten Mal die Bedeutung der tropischen Wälder für die Region, den Kontinent und die ganze Welt wirklich einschätzen. Würden diese Wälder verschwinden, der Verlust des von Milliarden und Abermilliarden Blättern verdunsteten Wassers würde die dichte Wolkendecke zu einem fadenscheinigen Lumpen machen. Nur den wenigsten Menschen ist klar, dass die tropischen Wälder für einen beträchtlichen Anteil des Niederschlags über den Landflächen der ganzen Welt verantwortlich sind.[7] Würden die tropischen Wälder des AmazonasbeckenAmazonasbeckens verschwinden, der Niederschlag würde nicht nur lokal abnehmen, sondern über weiten Teilen des SüdamerikaNiederschlag insüdamerikanischen Kontinents. Dank des Netzwerks von Kreisläufen, die sich in Ozeanen und Atmosphäre um die ganze Erde ziehen, wird das Klima noch in weit entfernten Regionen wie Europa beeinflusst. Dieselben Wälder sind oft auch wichtige KohlenstoffKohlenstoffabflüsse: Sie erbringen mehr als ein Drittel der gesamten weltweiten PhotosynthesePhotosyntheseleistung und fangen auf den Landflächen ungefähr ein Viertel des Kohlenstoffs ein, um ihn zu speichern. Würden sie verschwinden, dieser Kohlenstoff würde in die Atmosphäre gelangen. Gleichzeitig würde ohne sie auch weniger CO2KohlendioxidCO2CO2 wieder von der Biosphäre eingefangen.[8] Vor dem Hintergrund einer immer größeren Notwendigkeit, sich mit der Bedeutung der Emissionen in dem von Menschen gemachten Klimawandel zu beschäftigen, kann sich sicher jeder vorstellen, was das für die Temperaturen auf unserem Planeten bedeuten würde.

Diese beiden Erlebnisse verschaffen uns einen ersten Eindruck davon, welchen lebenswichtigen, aber oftmals bemerkenswert wenig beachteten Platz die tropischen Wälder in der Menschheitsgeschichte und für das Funktionieren der Erde einnehmen. Das möchte ich Ihnen mit diesem Buch vor Augen führen. Tropische Wälder sind keine »grünen Höllen«[9], die der Besiedlung durch Menschen feindlich gegenüberstehen und nur für erbarmungslose Ausbeutung und Rodung aus der Ferne nützlich sind. Vielmehr kann man mit und in ihnen produktiv leben (und diese Tatsache wirft nach meiner Überzeugung starke Zweifel daran auf, ob wir mit unseren Annahmen recht haben, man könne Gesellschaft, Wirtschaft und Siedlungen nur so und nicht anders organisieren). Außerdem zeigen sie, dass wir angesichts ihrer Bedeutung für die ganze Erde letztlich alle einen Weg finden müssen, um dies eher früher als später zu tun. Als multidisziplinärer, in den Tropen arbeitender Archäologe sehe ich, wie die Entdeckungen meiner Vorgänger und Kollegen nach und nach Licht auf die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Gesellschaften geworfen haben, die in solchen Umgebungen leben; das gilt im weltweiten Maßstab von unseren ältesten Vorfahren bis zu den Bewohnern einiger der größten Ballungsräume, die es vor der Industrielle RevolutionIndustriellen Revolution gegeben hat. Seit Langem erlebe ich mit, wie Biologen und Ökologen darauf aufmerksam machen, welche Bedeutung diese ältesten Ökosysteme auf den Landflächen unseres Planeten haben und wie wichtig sie für die Evolution und Aufrechterhaltung der weltweit größten Vielfalt von Pflanzen und Tieren sind.[10] Und ich erlebe ebenfalls seit vielen Jahren, wie indigene[11]Bevölkerungsgruppen betonen, welch entscheidende Rolle die tropischen Wälder für ihr wirtschaftliches und kulturelles Überleben spielen und wie wichtig der verantwortliche Umgang der Menschen für das Wohlergehen dieser Ökosysteme ist.[12] Aber bemerkenswerterweise glauben viele Menschen immer noch, die tropischen Wälder seien von unserem Dasein abgetrennt. Wir freuen uns, wenn wir etwas über Tarzan hören, der unter wilden Tieren lebt, wenn wir zusehen können, wie Entdecker auf der Suche nach »verlorenen« Städten irgendwo herumirren, und wenn uns die wohlklingenden Worte eines David Attenborough einlullen, während er beschreibt, wie ein wunderhübscher exotischer VögelVogel eine desinteressierte Partnerin zu betören versucht. Aber die Entlegenheit, die biologische Vielfalt und zunehmend das dramatische Verschwinden der tropischen Wälder, so faszinierend und erschreckend sie auch sein mögen, haben im Gefühl vieler Menschen nichts mit dem Alltagsleben zu tun. Selbst wenn wir ihren Schutz fordern, fordern wir in der Regel, dass Menschen aus ihnen entfernt werden, statt nach Wegen zu suchen, wie Menschen mit ihnen leben können. Eine solche Umwelt steckt heute zweifellos in einer schmerzlichen Krise, aber ihre scheinbare Ferne, ihre Abgeschiedenheit und ihre Exotik versetzen uns nur allzu oft in die Lage, sie letztlich zu ignorieren.

Dieses Buch ist eine Geschichte der Welt aus Sicht der Tropen und ihrer »Dschungel«. Es beginnt mit einer Reise durch die bunte Vielfalt der tropischen Wälder, die unseren Planeten seit rund 400 Millionen Jahren bewohnen (Kapitel 1 und 2), von den ersten baumähnlichen Organismen, die auf dem warmen, feuchten Planeten heranwuchsen, bis zu den Wäldern, die auch für die Bewohner (oder Besucher) der heutigen tropischen Regionen unserer Welt als solche erkennbar wären. Wir werden erfahren, wie die tropischen Wälder seit ihrem ersten Auftreten auf der Erdoberfläche das Trommelfeuer des Klimawandels von oben und die zermalmenden Kräfte der tektonischen Platten von unten geprägt haben und von ihnen geprägt wurden. Tropische Wälder formen die Atmosphäre, die WasserkreislaufWasserkreisläufe und die Böden unseres Planeten, und sie haben für die Evolution des Lebens eine wichtige Rolle gespielt. Wir werden der Frage nachgehen, wie diese bemerkenswerten Umgebungen zur Heimat der ersten Blütenpflanzen und der ersten vierbeinige Tierevierbeinigen Landtiere wurden (Kapitel 2), welche Auswirkungen sie auf die Evolution der DinosaurierDinosaurier hatten (Kapitel 3) und wie sie zum Überleben und der Evolution vieler wichtiger Abstammungslinien der Säugetiere beigetragen haben, deretwegen wir heute in die Zoos strömen (Kapitel 4). Auch für die Evolution unserer eigenen Spezies spielten tropische Wälder eine entscheidende Rolle. Sie waren die belaubten Wiegen für die ersten HomininenHomininen in AfrikaHominien inAfrika, die sich von dem letzten Vorfahren, den wir mit den anderen Menschenaffen gemeinsam hatten, abspalteten (Kapitel 5). Außerdem waren sie eine der vielfältigen Umgebungen, in denen sich unsere eigene Spezies, der AfrikaHomo sapiens inHomo sapiens, in Afrika entwickelte, bevor wir im weiteren Verlauf vor 300000 bis 12000 Jahren nahezu alle Kontinente unseres Planeten besiedelten (Kapitel 6).

Obwohl die tropischen Wälder für viele dieser wichtigen Evolutionsprozesse von so großer Bedeutung waren, haben viele Menschen heute den Eindruck, sie seien ein wenig von unserer Geschichte entkoppelt. Es herrscht die Vorstellung, Landwirtschaft sei ohne Abholzung unmöglich, und die tropischen Wälder seien unwirtliche, abgelegene Inseln oder unattraktiv und zu empfindlich für die Entwicklung von Städten. Ich möchte zeigen, dass solche vorgefassten Meinungen häufig das Produkt europäisch-amerikanischer Vorstellungen von »Landwirtschaft« oder »Städten« sind. Viele Nutzpflanzen und Tiere, auf die wir heute angewiesen sind, wurden zuerst in den Tropen gehalten und domestiziert (Kapitel 7). Viele menschliche Gesellschaften kamen mit einer nachhaltigen Lebensweise auf tropischen Inseln zurecht und bewirtschafteten die lokalen Ressourcen parallel zu neuen Nutzpflanzen und Tieren, die von anderswo hinzukamen (Kapitel 8). Und tropische Wälder waren auch die Heimat einiger der größten und vergleichsweise erfolgreichsten vorindustriellen Stadtbevölkerungen, die es jemals gegeben hat (Kapitel 9). Angesichts so vieler Belege für frühere, innovative Besiedelung durch Menschen und die Bewirtschaftung der tropischen Wälder rund um die Welt sind wir gezwungen, die Frage zu stellen: Warum halten wir sie heute häufig für »leer« und durch die Gegenwart von Menschen »verletzbar«? Die Antwort findet sich in den historischen Abläufen der letzten 500 Jahre, als Europa und die tropische Welt auf Kollisionskurs gingen. Krankheiten, Kriege und Mord verwüsteten Städte und Dörfer der indigenen Bevölkerung (Kapitel 10). Durch einen neuen, profitorientierten Umgang mit tropischen Landschaften wurden die Wälder von BergbauBergbau und MonokulturMonokulturplantagen verdrängt, ihre Böden erodierten, und sie wurden zum Schauplatz von Zwangsumsiedelung und Zwangsarbeit im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels (Kapitel 11). Die Verbreitung imperialistischer und kapitalistischer Kräfte in den gesamten Tropen führte zu zerstörten Landschaften, einem Wohlstandsgefälle zwischen der Westhälfte Europas und NordamerikaNordamerika auf der einen Seite und der tropischen Welt auf der anderen, zu Rassendiskriminierung und Gewalt, zur Abwertung des Wissens der Indigenen und zu einem deutlichen, von Menschen gemachten Klimawandel, der vielleicht die wichtigste ökologische, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist (Kapitel 11 und 12). Außerdem verleitete sie uns zu der falschen Schlussfolgerung, solche Lebensräume könnten keine große Zahl von Menschen ernähren.

Viele Leser machen sich zwar sicher bereits große Sorgen um die Umwelt und den Niedergang der tropischen Wälder, manch einer hat aber höchstwahrscheinlich immer noch bis zu einem gewissen Grad das Gefühl, sich in sicherer Entfernung von einigen der ältesten Landlebensräumen zu befinden. Tatsächlich waren unangenehme Arbeitsbedingungen, dichte Vegetation und schwierige Orientierung – also genau das, was Caetano Andrade, Victor LeryVictor und ich auf unserer AmazonasAmazonas-Epedition erlebten – oftmals ein Hindernis für die Erkundung der tropischen Wälder und ihrer Geschichte. Dieses Buch wird sich aber damit beschäftigen, wie die neuesten wissenschaftlichen Fortschritte – von Laser-Luftaufnahmen (Airborne Laserscanning) bis zur Pflanzengenetik – uns den Weg durch die Baumkronen ebnen, und es wird uns zeigen, wie diese Lebensräume in Wirklichkeit jeden Zentimeter unseres Lebens beeinflussen, ganz gleich, wo wir uns befinden. Unsere Küchenschränke sind voller Lebensmittel, die ihre Entstehung den tropischen Wäldern verdanken. Unser Weg zur Arbeit hängt von dem Latex ab, der aus tropischen Bäumen gewonnen wird. Und unsere Entscheidungen als Verbraucher, von Möbeln bis zu Schönheitsprodukten, beeinflussen auch heute noch Natur und Ausdehnung der tropischen Lebensräume. Aussterben, Entwaldung und Feuer in solchen Umgebungen scheinen vielleicht weit entfernt zu sein, wenn wir davon in den Nachrichten hören. Aber der Verlust der tropischen Wälder und das Erbe der KolonialismusErbe desKolonialzeit, die heute ihre kritische Lage prägen, wirken sich nicht nur am anderen Ende der Welt auf das Klima und das Leben der Menschen aus, sondern auch auf unser eigenes Wetter, unsere Politik, unsere Wirtschaft und unsere Luft – von Manila bis München, von Colombo bis Cardiff und von Nairobi bis New York. Dieses Buch möchte Sie davon überzeugen, dass die Geschichte der tropischen Wälder auch unsere Geschichte ist. Aber bevor wir uns auf den Weg machen, ist es an der Zeit, 500 Millionen Jahre in die Vergangenheit zu blicken – in eine Zeit, in der Pflanzen noch nicht die Landflächen der Erde zierten und alles ganz anders aussah als heute.

Kapitel 1Und es ward Licht: die Anfänge der Welt, wie wir sie kennen

Auf der ganzen Welt hasten Schülergruppen, die naturhistorische Museen besuchen, an den fossilen Überresten der ersten Pflanzen meist schnell vorüber. Ihr Ziel sind die rekonstruierten DinosaurierDinosaurierskelette oder ausgestopfte Blauwale, die häufig als schwergewichtige »Stars« der Evolution den größten Applaus einheimsen. Romane und Filme wie Jurassic Park haben die Arbeit der Paläontologen, die an den Knochen längst ausgestorbener Tiere herumkratzen und etwas über die Evolution dieser faszinierenden Lebewesen erfahren wollen, ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Für diejenigen, die sich mit vorzeitlichen Pflanzen beschäftigen, sind vergleichbare Dramatisierungen bisher ausgeblieben. Das zeugt von einer allgemein verbreiteten Gleichgültigkeit. In unserem Alltagsleben verschwenden wir kaum einmal einen Gedanken auf die MooseMoose, die auf unseren Bürgersteigen wachsen, auf die Gräser, die unsere Felder bedecken, auf die Blumen, die in unseren Gärten gedeihen und auf die Bäume, die, wenn wir Glück haben, unsere Straßen säumen. Oft nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass Pflanzen immer auf unserem Planeten gewesen sind und wohl immer sein werden. Auch bekannte Dokumentarfilme beschäftigen sich nur selten mit der Entstehung, der Evolution und dem Schutzstatus von Pflanzen. Pflanzen gelten im Vergleich zu anderen Lebensformen traditionell als weniger »spannend«. Sie erregen nicht so leicht Mitgefühl wie Tiere mit ihren seelenvollen Blicken und einem Aussehen, in dem wir eine gewisse Familienähnlichkeit erkennen können. Pflanzen machen auch keine Geräusche, die für das menschliche Ohr hörbar wären, abgesehen vielleicht von einem gelegentlichen Knarren im Wind. Deshalb werden sie wahrscheinlich auch nicht in einem beliebten YouTube-Video »miteinander reden«. Aber ohne Pflanzen würde die Welt, wie wir sie heute kennen, nicht existieren.

Tatsächlich erwecken neueste Forschungsergebnisse den Eindruck, als seien wir vielleicht doch zu schnell bei der Hand gewesen, unsere PhotosynthesePhotosynthese treibenden Freunde abzuschieben. So wissen wir beispielsweise, dass Pflanzen tatsächlich einige Merkmale mit uns teilen, die uns in die Lage versetzen, Beziehungen zu anderen Tieren herzustellen. Zeitrafferaufnahmen zeigen, auf welch faszinierende und dynamische Weise Pflanzen ständig wachsen und sich in verschiedene Richtungen bewegen, um Zugang zum Licht zu finden.[13] Sie fühlen zwar keine Schmerzen im traditionellen Sinn, aber wenn Pflanzen von Raupen gefressen werden, schütten sie Abwehrsubstanzen aus, durch die sie für den Angreifer weniger attraktiv werden.[14] Ähnliches machen auch Bäume in AfrikaOstafrikaOstafrika, wenn GiraffeGiraffen sie abweiden: Sie geben chemische Verbindungen in die Luft ab, die andere Bäume warnen, damit diese ihre eigenen Blätter schützen.[15] Eine solche »Kommunikation« wurde auch in Wäldern nachgewiesen, in denen benachbarte Bäume versuchen, Nährstoffe an ihre geschädigten oder leidenden Gefährten weiterzuleiten; dabei nutzen sie riesige Pilz-»Netzwerke«, die zu den größten Lebewesen der Welt gehören.[16] Um möglichst stark wachsen zu können, betreiben Bäume in der winterlichen Umwelt gemäßigter Klimazonen manchmal auch eine Art Glücksspiel mit dem Abwerfen ihrer Blätter: Wagemutige Individuen riskieren den Tod durch Erfrieren, wenn sie ihre Blätter zu lange behalten.[17] Was jedoch an diesen Lebewesen bei Weitem am eindrucksvollsten ist: Sie gestalten unsere Welt so um, dass sie für nahezu alle anderen Lebensformen bewohnbar wird. Das Ausmaß dieser Leistung zeigt sich eigentlich erst dann, wenn wir der Frage nachgehen, wie die Erde ohne Pflanzen aussah. Dank aktueller Fortschritte der Wissenschaft sind wir dazu heute in der Lage.

Versetzen wir uns zurück in die Zeit des frühen KambriumKambriums vor rund 538,8 bis 509,0 Millionen Jahren.[18] Das mag sich nach einem seltsamen Ort für den Anfang eines Buches über tropische Wälder anhören – die Zeit ist nach Cambria benannt, dem lateinischen Namen für Wales –, aber in dieser berühmten Periode der Erdgeschichte kam es zur Auseinanderentwicklung der komplexen Lebensformen, ein Vorgang, der häufig als »kambrische Explosion« bezeichnet wird. Damals entstanden letztlich die evolutionären Abstammungslinien aller vielzelligen Tiere, die es heute noch auf der Erde gibt. Würden wir in die deutlich wärmeren Ozeane des frühen KambriumKambriums hinabtauchen, wir würden viele verschiedene Arten von Trilobiten sehen (charakteristische asselähnliche Gliederfüßer, deren Fossilien manch einer sicher kennt), außerdem andere wirbellose Tiere, die nach Beute jagen, Aas verwerten und Kleintiere aus dem Wasser filtern, während die Ökosysteme im Meer gerade eine vertraute Form annehmen.[19] Würden wir aber aus dem Gewimmel im Meer heraussteigen und an Land gehen, so würde uns eine scheinbar öde, geradezu apokalyptische Landschaft begrüßen. Die Kontinente bestünden aus trockenen Felslandschaften, und die wichtigsten Lebewesen existierten in Form von Mikrobenfilmen, die sich hier und da über Oberflächen hinzögen. Darüber hinaus wären die einzigen sichtbaren Anzeichen für Leben an Land vereinzelte schneckenähnliche WeichtierWeichtiere, die sich vorsichtig aus den Ozeanen an Land wagten und sich bemühten, mit den wenigen verfügbaren Bissen ihr Leben zu fristen.[20] Im frühen Kambrium gab es an Land keine Vielfalt der Lebewesen, ganz zu schweigen von etwas, das wir mit einem tropischen Wald in Verbindung bringen würden. Andererseits war die Welt aber nach den üblichen Klima-Klassifikationssystemen ganz sicher »tropisch«, denn diese Bezeichnung gilt für ein Klima mit monatlichen Durchschnittstemperaturen von 18 Grad Celsius oder mehr.[21] Im Kambrium lag die weltweite Durchschnittstemperatur mit rund 19 Grad Celsius erstaunliche fünf Grad höher als heute[22], und noch bis zum Beginn des DevonDevons (vor 419,0 Millionen Jahren) blieb sie bei durchschnittlich 18 Grad.[23]

In dieser »tropischen« Welt erschienen die ersten Landpflanzen auf der Bildfläche und vollführten mit einem alchemistischen Geschick, von dem wir nur träumen können, ihren größten Kunstgriff. Fast jeder hat wohl in der Schule schon einmal etwas von der PhotosynthesePhotosynthese gehört, dem Prozess, durch den die meisten Pflanzen und manche Bakterien die Sonnenenergie nutzen, um Kohlendioxid (CO2KohlendioxidCO2CO2) aus Luft oder Meer in Zucker und SauerstoffSauerstoff (O2) umzuwandeln. Aber man vergisst nur allzu leicht, welche grundlegende Bedeutung dieser Prozess für das Leben hat. Zu Beginn des KambriumKambriums, als es noch keine Landpflanzen gab, vollzogen zwar einige Bakterien und AlgeMeeresalgen bereits die Photosynthese, aber der CO2-Gehalt der Atmosphäre lag bei ungefähr 4500 Volumeneinheiten je Million und damit zehnmal höher als heute.[24] Gleichzeitig machte der Sauerstoff nur rund sieben Prozent der Erdatmosphäre aus[25], ungefähr ein Drittel des heutigen Wertes.[26] Unsere Rundreise über die Landflächen des frühen Kambriums würden wir deshalb nur mit Sauerstofftanks überleben. Außerdem fehlten mit den Pflanzen auch die Wurzelsysteme, die heute Gestein abbauen und unentbehrliche Nährstoffe für die meisten Nahrungsketten freisetzen. Diese blieben also in der harten Erdkruste eingeschlossen. Im Folgenden werden wir erfahren, warum der überwiegend »tropische« Zustand unseres Planeten zwischen Kambrium und DevonDevon ein hervorragendes »Treibhaus« war, in dem nicht nur die ersten Landpflanzen entstehen konnten, sondern auch die ersten Bäume und Wälder. Solche Pionierorganismen machten letztlich den weit verbreiteten warmen Klimabedingungen ein Ende, denn sie sorgten für einen deutlichen Rückgang der CO2-Menge und damit auch für globale Abkühlung bis hin zur Bildung von Gletschern an den Polen. Außerdem bildeten sie an Land die Bausteine für die ersten komplexen Ökosysteme, die sich in der KarbonKarbonzeit (vor rund 359,3 bis 298,9 Millionen Jahren) rund um die verbliebenen warmen, feuchten tropischen Äquatorregionen bildeten. Diese Wälder hielten den Boden fest, setzten Nährstoffe frei und stabilisierten sowohl das Klima als auch die Zusammensetzung der Atmosphäre. Sie boten einer wachsenden Vielfalt von Tieren ein ideales Zuhause, und daraus gingen schließlich die AmphibienAmphibien, ReptilienReptilien und Säugetiere hervor, von denen wir heute umgeben sind. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sie das Antlitz der Welt ein für alle Mal veränderten.

 

Mit der PhotosynthesePhotosynthese und den Wurzeln, die sie in die Erde strecken konnten, hatten die Pflanzen von ihrem ersten Auftauchen an das Potenzial, in Atmosphäre, Klima und Geologie unseres Planeten beträchtliche Veränderungen und Erschütterungen auszulösen. Lenton, Timothy »Tim«Timothy (Tim) Lenton, Professor und Direktor des Global Systems Institute an der Universität Exeter, interessiert sich für die Frage, welchen Einfluss die ersten Landpflanzen auf die verschiedenen Systeme (zum Beispiel Atmosphäre, Geosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre) hatten, die durch ihre Wechselwirkungen das Weltklima prägen. Er formuliert es so: »Es besteht ein kompliziertes Wechselspiel zwischen unseren Ozeanen, den Anteilen der verschiedenen Gase in der Luft um uns herum und – ganz entscheidend – der Bedeckung der Landflächen, die darüber bestimmt, wie die Sonnenenergie gespeichert und durch die Welt transportiert wird.« Geosystemforscher wie Tim vollziehen mit leistungsfähigen Computern in Modellen nach, wie sich Veränderungen der Anteile verschiedener Gase in der Atmosphäre, der Geschwindigkeit und Richtung der Meeresströmungen sowie der Verteilung verschiedener Vegetationsformen auf den Gesamtzustand der Erde auswirken, und wie verschiedene Teile unseres Planeten auf unterschiedliche Weise von solchen Veränderungen beeinflusst werden. Die Ergebnisse vergleicht man am besten mit einer geowissenschaftlichen Version von Minecraft. Am Ende kann man anhand der tatsächlichen, aus alten Sedimenten oder Eisbohrkernen gewonnenen Daten zum CO2KohlendioxidCO2CO2- und O2-Gehalt der Atmosphäre sowie zur Temperatur überprüfen, ob die Modelle »funktionieren«. Ist das der Fall, lassen sich daraus zutreffende Aussagen über den Zustand der Erde zu einem bestimmten Zeitpunkt ableiten.

Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete für diesen Klima-»Sandkasten« waren Voraussagen über die Treibhausgasemissionen des 21. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die globalen Temperaturen in den kommenden Jahrzehnten. Er wurde aber auch zur Klärung der Frage genutzt, wie sich der Zustand unseres Planeten nach dem Auftauchen der ersten Landpflanzen veränderte. Dazu mussten die Computerexperten sich aber zunächst mit den klassischen Methoden der PaläobotanikPaläobotanik, das heißt mit der Erforschung vorzeitlicher Pflanzen, beschäftigen; nur so konnten sie die entscheidende Frage beantworten: Wann erschienen die ersten echten Landpflanzen (EmbryophytenEmbryophyten) auf der Bildfläche. Nach einer allgemein anerkannten Vorstellung waren die ersten Landpflanzen keine GefäßpflanzenGefäßpflanzen, sondern »niedere Pflanzen«: Ihnen fehlten komplexe Strukturen wie das Transportnetz der wasserleitenden Xylemzellen und die Phloemzellen, die Nährstoffe von den Wurzeln der Pflanze zu ihren anderen Teilen befördern. Diese Pflanzen entwickelten sich aus AlgeAlgen, die im Wasser leben, und lange glaubte man, sie hätten den heutigen Leber-, HornmoosHorn- und LaubmoosLaubmoosen (den BryophytenBryophyten) geähnelt, die wohl fast jeder schon einmal gesehen hat: Sie bedecken in unseren Gärten oftmals große Flächen auf dem Boden, auf Felsen oder Bäumen. Diese Sporen produzierenden Pflanzen sind heute allgemein für ihre Fähigkeit bekannt, Wasser zu speichern, und Tieren können sie auch als wichtige Nahrungsquelle dienen. Da man aber annahm, dass insbesondere die LebermoosLebermoose die älteste abgespaltene »Schwesterabstammungslinie« der Landpflanzen war,[27] wurden die Wirkungen der ersten Landpflanzen auf Erdoberfläche und Atmosphäre in den Klimamodellen häufig übersehen.[28]Den MooseLebermoosen fehlt nämlich eine Reihe von Merkmalen, beispielsweise die Spaltöffnungen oder StomataStomata, winzige Löcher in den Blättern, die geöffnet und geschlossen werden können und der Pflanze helfen, während der PhotosynthesePhotosynthese die CO2KohlendioxidCO2CO2-Aufnahme und den Wasserverlust zu steuern – solche Öffnungen findet man nur bei den komplizierter gebauten Gefäßpflanzen. Damit schienen die Lebermoose eine ideale Zwischenstufe zwischen den »primitiven«, im Wasser lebenden Algen und den komplexen, an Land lebenden Gefäßpflanzen zu sein[29]. Aber wie man sich leicht vorstellen kann, standen selbst begeisterte PaläobotanikPaläobotaniker vor einem Problem, als sie diese Vermutung überprüfen wollten, denn dazu musste man die ältesten derartigen Pflanzen erst einmal finden und untersuchen.

Das LebermoosLebermoos Marchantia polymorpha. Die ältesten Pflanzen ähnelten vermutlich heutigen BryophytenBryophyten wie Leber-, LaubmoosLaub- und HornmoosHornmoosen. LebermoosLebermoose wie Marchantia polymorphaMarchantia polymorpha gelten häufig als älteste Abstammungslinie der Landpflanzen und sind damit ein Modellsystem für den Übergang von AlgeAlgen, die im Wasser leben, zu den landlebenden GefäßpflanzenGefäßpflanzen. Die genauen morphologischen und physiologischen Eigenschaften der ersten Pflanzen, die das Land besiedelten, waren aber bis vor Kurzem nicht bekannt.

Den unmittelbarsten Anhaltspunkt für das Auftauchen der Landpflanzen bieten die fossilierten Abdrücke der Pflanzen selbst oder der Sporen, mit denen sie sich fortpflanzten und die in vorzeitlichen Sedimenten zurückgeblieben sind. Nach einer Reihe geologischer Prozesse, an denen hoher Druck beteiligt war, verwandelten sich solche Sporen irgendwann in Gestein und blieben bis heute erhalten. Die ältesten EmbryophytenEmbryophyten-ähnlichen Sporen hat man in Sedimenten aus ArgentinienArgentinien gefunden. Sie stammen aus der Zeit vor rund 470 Millionen Jahren[30], einer geologischen Periode, die ebenfalls eine Verbindung nach Wales hat: Ihr Name OrdoviciumOrdovicium (die Phase vor rund 486,9 bis 443,1 Millionen Jahren) erinnert an die Ordovicer, eine Bevölkerungsgruppe, die im heutigen Nordwales von den Römern unterworfen wurde. In jüngerer Zeit wurden fossile Abdrücke entdeckt, die nach Auffassung einiger Forscher fünf Gruppen von MooseMoosen repräsentieren sollen; sie stammen aus einem Krater, der in Tennessee beim Bau des Douglas Dam, TennesseeDouglas Dam ausgegraben wurde, und sind rund 460 Millionen Jahre alt[31]. Damit sind sie deutlich älter als eines der weithin anerkannt ältesten Fossilien mit dem Körperbau einer Landpflanze; dieses stammte aus IrlandIrland und hat ein Alter von mindestens 427 Millionen Jahren[32]. Aber wer schon einmal bei der Gartenarbeit oder auf einem Waldspaziergang ein Moos angefasst hat, der weiß, wie empfindlich diese Pflanzen sind: Sie zerbröseln einfach unter den Händen. Deshalb unterschätzt man angesichts der verfügbaren Fossilien mit ziemlicher Sicherheit das wahre Alter der ersten Landpflanzen. Durch Vergleiche zwischen heutigen und fossilen Pflanzen kann man abschätzen, wie viel Zeit in der Vergangenheit erforderlich war, bis sich die unterschiedliche Morphologie – das heißt die Körperform – herausgebildet hatte[33]. Solche Schätzungen sind allerdings ungenau, denn Evolution kann mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. Außerdem sind Pflanzenfossilien, insbesondere aus dieser Frühzeit, unglaublich bruchstückhaft; man hat also frustrierend wenig in der Hand, wenn man verstehen will, wann und wie die Abstammungslinien der Landpflanzen entstanden sind, wie sie sich weiterentwickelt haben, wie sie aussahen und welche Wirkungen sie möglicherweise auf unseren Planeten hatten.

Deshalb versuchen manche Wissenschaftler mit anderen Methoden, Licht in die Evolution der Landpflanzen zu bringen. Sie gehen beispielsweise von modernen genetischen Befunden über verschiedene Familien von Moosen und anderen Landpflanzen aus und versuchen, eine Art »»molekulare Uhr«molekulare Uhr« zu entwickeln.[34] Eine solche »Uhr« funktioniert nach einem recht einfachen Prinzip: Mutationen in den Gen- oder Proteinsequenzen der Pflanzen treten mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf, die sich berechnen lässt. Vor diesem Hintergrund kann man die heutigen Gensequenzen verschiedener Pflanzengruppen vergleichen, und das Ausmaß der Unterschiede verschafft uns dann einen Eindruck von dem Zeitraum, seit sich die Abstammungslinien gebildet und voneinander getrennt haben.[35] Mithilfe solcher Untersuchungen konnte man feststellen, dass die GefäßpflanzenGefäßpflanzen oder TracheophytenTracheophyten, zu denen Bäume, Sträucher, Blumen sowie die FarnFarne und ihre Verwandten gehören – also die Arten, die heute das grüne, pflanzliche Leben dominieren – tatsächlich später entstanden sind als Leber- und LaubmoosLaubmoose.[36] Und was noch wichtiger ist: Man konnte auch nachweisen, dass LebermoosLebermoose nicht die älteste Abstammungslinie der Landpflanzen sind; damit erhebt sich die Frage, welche Bedeutung ihre Merkmale überhaupt haben, wenn man etwas über die ältesten Pflanzen aussagen will, die das Land besiedelt haben.[37] Aber trotz alledem bleibt die früheste Evolutionsvergangenheit der Pflanzen unsicher, und es war unglaublich schwierig, einen einigermaßen verlässlichen Zeitpunkt für das Auftauchen der ersten Landpflanzen abzuschätzen. Da genetische Mutationen so komplex sind und der Wandel in Populationen, biologischen Arten und sogar Pflanzenfamilien in unterschiedlichem Tempo abläuft, sind Datierungen, die ausschließlich auf heutigen genetischen Befunden basieren, von berüchtigter Unsicherheit und liefern höchstens grobe Anhaltspunkte.[38] Wenn man weder über die Zeit der ersten Pflanzen noch über ihre biologischen Merkmale genaue Aussagen machen kann, lässt sich natürlich nur unter größten Schwierigkeiten herausfinden, ob und wann sie Auswirkungen auf das Weltklima hatten.

Glücklicherweise fassten 2018 einige Wissenschaftler den Entschluss, die verschiedenen Stärken und Schwächen der genetischen und paläontologischen Erforschung des Ursprungs der Landpflanzen kombiniert zu nutzen und ein genaueres, umfassenderes Modell für ihr Auftauchen zu entwickeln. Das Team unter Leitung von Wissenschaftlern der Universität Bristol kombinierte die genetischen und die morphologischen Schätzungen für die Geschwindigkeit der Pflanzenevolution und orientierten sich dabei an den vorhandenen »Fixpunkten«, die sich aus tatsächlichen Fossilfunden ergaben. Pressel, SilviaSilvia Pressel, Leiterin der Abteilung für AlgeAlgen, Pilze und Pflanzen am Londoner Natural History Museum, LondonNatural History Museum und Koautorin der Studie, stellt dazu fest: »Die Arbeiten ermöglichten es, die anfangs noch groben Evolutionsmodelle zu testen und mithilfe von Belegen zu verfeinern, die man richtig anfassen kann.« Außerdem können die Wissenschaftler solche Modellierungen viele tausend Mal ablaufen lassen und so herausfinden, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie die Realität abbilden. Alle Analysen liefen darauf hinaus, dass die ersten Landpflanzen vor ungefähr 500 Millionen Jahren auf der Bildfläche erschienen, mitten in der Periode des KambriumKambriums und unmittelbar nach der Evolution der vielzelligen Tierarten, die sich unter Was-ser entwickelten.[39] Noch bedeutsamer waren die molekularbiologischen Analysen verschiedener Pflanzenabstammungslinien durch ein anderes fachübergreifendes Team von Paläo- und Neobotanikern, sie deuteten darauf hin, dass der Urahn der Landpflanzen vermutlich schon komplizierter gebaut war, als man bis dahin angenommen hatte: Er besaß bereits wurzelähnliche Filamente und Spaltöffnungen an seinen Oberflächen.[40] Mit diesen Eigenschaften konnte er mehr Boden und CO2KohlendioxidCO2Kohlendioxid nutzen, als man zuvor für möglich gehalten hatte.[41]

Durch Silvias Arbeiten kam zu dem Bild eine weitere Dimension hinzu. Manch einer hat vielleicht schon davon gelesen, wie Pflanzen und Pilze sich zusammentun und eine enge »symbiontische« Gemeinschaft (die MykorrhizaMykorrhiza) bilden. Die Pilze verflechten sich mit den Wurzeln einer Pflanze, liefern ihr mehr Wasser und Nährstoffe aus dem Boden, helfen ihr, Gestein und Boden abzubauen, und schützen sie sogar vor Krankheitserregern.[42] Im Gegenzug versorgen die Pflanzen den Pilz mit Zuckermolekülen aus der PhotosynthesePhotosynthese. Heute wissen wir, dass die meisten Landpflanzen eine solche beiderseits nützliche Partnerschaft eingehen. Etwa 90 Prozent aller Pflanzenarten werden von hilfreichen Pilzen unterstützt, und die Landkarte der Pilz- und Bakterienarten zwischen den Wurzeln der Bäume auf der ganzen Welt wurde als »»Wood Wide Web«Wood Wide Web« bekannt[43], weil es Nährstoffströme durch ganze Ökosysteme möglich macht[44]. Nach heutiger Kenntnis ist diese Beziehung bereits sehr alt, denn Pilzstrukturen, darunter kleine, baumähnliche Gebilde, die als Arbuskeln bezeichnet werden, hat man schon in Pflanzenzellen aus der Zeit vor 400 Millionen Jahren gefunden[45]. Bei manchen BryophytenBryophyten (vor allem MooseMoosen) fehlen solche Wechselbeziehungen jedoch, womit die Frage, ob die ersten Landpflanzen bereits Beziehungen mit Pilzen eingegangen waren, offen bleibt. Wissenschaftler wie Pressel, SilviaSilvia studierten die Vielfalt und Funktion der Pilze in den verschiedenen Gruppen der Bryophyten und sequenzierten die Genome heutiger MykorrhizaMykorrhiza-Pilze; damit konnten sie bestätigen, dass die »unterirdische Kooperation zwischen Pflanze und Pilz bis zu den Wurzeln der Pflanzenevolution an Land zurückreicht«[46]; wahrscheinlich waren dabei weit mehr verschiedene Pilze beteiligt, als vermutet[47]. Insgesamt wird also zunehmend deutlich, dass die ersten Landpflanzen bereits früher und parallel zu ihren helfenden Pilzen entstanden; demnach hatten sie auch stärkere Auswirkungen auf die ganze Erde, als man immer dachte.

Pilzstrukturen in einem heutigen LebermoosLebermoos. Die MykorrhizaMykorrhiza-Pilze unterstützen die Pflanzen bei der Wasser- und Nährstoffaufnahme aus dem Boden; solche Beziehungen zwischen Pilz und Pflanze reichen bis zu den ersten Landpflanzen zurück.

Kehren wir noch einmal in das Computerstudio und ins Jahr 2012 zurück. Damals hatte Lenton, Timothy »Tim«Tims Arbeitsgruppe mit ihrer Simulationsmethode zwei bedeutende Erkenntnisse über die ersten Landpflanzen gewonnen. Erstens konnte sie mit experimentellen Methoden zeigen, dass heutige MooseMoose selbst mit ihren eingeschränkten Wurzelsystemen die Verwitterung von Gestein beträchtlich vorantreiben können, nämlich fast im gleichen Maße wie die komplizierter gebauten »höheren« GefäßpflanzenGefäßpflanzen. Dazu schütten sie Säure aus ihrem Gewebe auf die umgebende Oberfläche aus. Bei der Verwitterung des Gesteins wird CO2KohlendioxidCO2CO2 aus der Atmosphäre in Form von Ionen (Bicarbonat, Calcium) in Säurelösungen gebunden, und gleichzeitig wird CO2 auch durch PhotosynthesePhotosynthese aus der Atmosphäre entfernt. Diese neuen Schätzungen wurden durch die Befunde der Studie von 2018 und die Entdeckung, dass die ältesten Landpflanzen im Gegensatz zu Moosen bereits eine Verbindung zu den Pilzen eingegangen waren, deutlich höher; mit ihrer Hilfe kann man abschätzen, wie hoch die CO2-Konzentration und die Temperaturen während des OrdoviciumOrdoviciums waren. Solche Computermodelle sind zwar zwangsläufig bis zu einem gewissen Grade ungenau, aber wenn man davon ausgeht, dass Landpflanzen ohne eigene Gefäße vor 475 bis 460 Millionen Jahren nur 15 Prozent der Landflächen besiedelt hatten (heute sind Pflanzen auf rund 32 Prozent aller Landflächen zu finden[48]), legen sie die Vermutung nahe, dass sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre zu jener Zeit halbierte, was mit einer globalen Abkühlung von rund 4 bis 5 Grad Celsius verbunden war[49]. Welche Größenordnung dieser globale Wandel hatte, kann man sich klarmachen, wenn man an das heutige Ziel denkt, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und damit auf der ganzen Welt eine Reihe verheerender Kipppunkte abzuwenden[50]. Geht man von einer noch früheren Besiedelung durch Pflanzen aus, könnten die Veränderungen vielleicht schon im späten KambriumKambrium vor rund 490 Millionen Jahren eingesetzt haben. Interessanterweise sind Klimaveränderungen zumindest im OrdoviciumOrdovicium deutlich zu erkennen[51], was darauf hindeutet, dass solche Prozesse tatsächlich ungeheure Auswirkungen auf die Anfänge des komplexen Lebens auf der Erde hatten.

Erstens reichte die rekonstruierte Abkühlung aus, um vor rund 443,1 Millionen Jahren, an der erdgeschichtlichen Grenze zwischen Ordovicium und Silur, eine EiszeitEiszeit auszulösen. Der Name »Silur« stammt ebenfalls aus Wales, und auch wenn man die eisigen Wetterverhältnisse zu Beginn dieser Periode vielleicht eher mit einer Reise in das walisische Gebirge der Brecon Beacons in Verbindung bringt, ist der Grund, dass die Namen so vieler geologischer Zeiträume aus diesem Land stammen, ein anderer: Viele prägende Arbeiten in der Geologie sind Briten und GroßbritannienGroßbritannien zu verdanken, und die Namen der großen Zeiträume, die man zum ersten Mal auf den Inseln nachweisen konnte, wurden der übrigen Welt später übergestülpt. An der Grenze vom Ordovicium zum Silur kam es zu einem so extremen Temperaturrückgang, dass darauf eine der kältesten Phasen während der letzten halben Milliarde Jahren der Erdgeschichte folgte[52] – einer Zeit, die 1500-mal länger ist als das Dasein unserer Spezies. Zweitens wurden durch die verstärkte Verwitterung aus den zuvor öden Gesteinsflächen wichtige Nährstoffe freigesetzt, insbesondere Phosphor, ein Element, das für das Wachstum von Lebewesen äußerst wichtig ist. Zu viel Phosphor kann allerdings insbesondere im Wasser auch negative Auswirkungen haben; heute beispielsweise regt die Verschmutzung mit Phosphor oftmals das schnelle Wachstum Gift produzierender AlgeAlgen an. Auch damals, im Ordovicium, dürfte der durch Verwitterung freigesetzte und in die Ozeane gespülte Phosphor ähnliche Wirkungen gehabt haben. Die »Algenblüte« bot zwar immer mehr Meereslebewesen eine Lebensgrundlage, sie verbrauchte aber nach und nach auch den begrenzten SauerstoffSauerstoffvorrat im Wasser. Entsprechend ist das Ende des Ordoviciums durch das Ersticken und ein Massenaussterben von Meereslebewesen gekennzeichnet. Ein früheres Datum für die ersten Pflanzen – die Zeit vor rund 500 Millionen Jahren – wäre zwar ein Hinweis, dass dieser Prozess relativ langsam ablief, eine ähnliche Abkühlung und ein Massenaussterben sind aber auch für die Mitte des KambriumKambriums dokumentiert, und das könnte für eine unmittelbarere Mitwirkung dieser grünen Lebewesen sprechen. Jedenfalls hat die aktuelle Forschung eindeutig gezeigt, dass schon die primitiven Landpflanzen das Klima, die Atmosphäre und die Erdoberfläche dramatisch verändert haben. Diese Pflanzen überlebten ihre selbst verursachte EiszeitEiszeit, weil sie sich in den wärmeren Regionen am Äquator zusammendrängten. Dort warteten sie ab, bereit, zu wachsen und die Welt in noch größerem Umfang zu verändern. Während die Ozeane anfangs litten, bereitete sich das Land auf eine beispiellose Ausbreitung des Lebendigen vor.

 

Zwar hatten sicher auch die ersten Pflanzen schon Einfluss auf die Systeme der Erde, aber erst nachdem die komplexesten GefäßpflanzenGefäßpflanzen – die Bäume – auf der Bildfläche erschienen waren, setzten sich solche Veränderungen allgemein durch. Die ältesten Fossilien »höherer« Pflanzen (Gefäßpflanzen oder TracheophytenTracheophyten) mit Xylem, Phloem und kompliziert verzweigten, invasiven Wurzeln, die besser zu unserer traditionellen Schulbuchdefinition von »Pflanzen« passen, stammen aus Kanada[53] und wurden auf ein Alter von rund 420 Millionen Jahren datiert; sie lebten also erst fast 80 Millionen Jahre, nachdem die ersten Pflanzen das Land besiedelt hatten, und sind die ersten Vertreter der vielfältigen komplexen, grünen Pflanzenwelt, die wir heute kennen. Wenig später, im DevonDevon (vor rund 419,0 bis 359,3 Millionen Jahren) erschienen die ersten Bäume auf der Bildfläche. Gegenüber anderen Pflanzen haben Bäume gewisse evolutionäre Vorteile, die ihnen einen schnellen Erfolg ermöglichten. Wie nicht anders zu erwarten, versetzt ihr robuster Aufbau sie in die Lage, höher zu werden und besseren Zugang zu Licht für die PhotosynthesePhotosynthese zu erlangen. Mehr Photosynthese bedeutete mehr Masse, sodass die Wurzelsysteme auch in größerer Tiefe und in größerem Umkreis nach Nährstoffen suchen können; gleichzeitig sorgten die Wurzeln und ihre hilfreichen Pilze für mehr Verwitterung, wodurch sich die Bodenbildung beschleunigte und sich das Gebiet, in dem Pflanzen Wurzeln schlagen können, stark vergrößerte. Durch mehr PhotosynthesePhotosynthese steigt auch die CO2KohlendioxidCO2CO2-Menge, die aus der Atmosphäre aufgenommen wird[54]. Da ein großer Teil dieses CO2 in robusten Baumstämmen aus Lignin und später aus Holz gespeichert wurde, und da diese Stämme auch nach dem Tod des Baumes der Zersetzung widerstanden, wurde es dauerhaft aus der Atmosphäre entfernt, sodass der relative Anteil des SauerstoffSauerstoffs in der verbliebenen Luft stieg. Die wahren Giganten der Pflanzenwelt und ihre Wirkung auf die Systeme der Erde waren ins Dasein getreten.

Bis vor Kurzem glaubte man, die Geschichte der Bäume auf der Erde habe in einem Steinbruch nicht weit von Albany im US-Bundesstaat New York begonnen. Dort, imRiverside Quarry, Albany, New, York Riverside Quarry bei Gilboa, waren Arbeiter in den 1920er Jahren beim Abbau von Steinen für ein Staudammprojekt auf Hunderte baumstammähnliche Gebilde gestoßen, die eines nach dem anderen aufrecht aus dem Gestein ragten, das sie abschlugen. Man rief Goldring, WinifredWinifred Goldring (1888–1971) hinzu, die erste Professorin für Paläontologie im Staat New York; ihre Untersuchungen an den erstaunlichen Funden[55] prägten fast ein Jahrhundert lang die Diskussionen über vorzeitliche Wälder. In den Stämmen erkannte man EospermatopterisEospermatopteris, eine Pflanze, die stark den heutigen FarnBaumfarnen ähnelt. Sie wurde zwar als im weitesten Sinne »baumartig« eingestuft, hatte aber keine echten Blätter. Die Photosynthese lief vielmehr in »Wedeln« (wie denen der Palmen) ab, die an nahezu senkrecht stehenden Zweigen ansetzten. Die Stämme von Eospermatopteris wurden auf ein Alter von rund 380 Millionen Jahren datiert und bestanden nicht aus Holz, sondern aus einer widerstandsfähigen, hohlen Ligninstruktur. Später, in den 2000er Jahren, fand man in Gilboa eine »AneurophytonAneurophyton-ähnliche« Ranke, die offensichtlich zusammen mit MooseMoosen an den baumförmigen Eospermatopteris in die Höhe geklettert war. Eospermatopteris wurde später zwar häufig als erster Baum mit entsprechender Anatomie gepriesen[56], die Aneurophyton-ähnlichen Ranken sind aber eigentlich ein besseres biologisches Beispiel für einen ProgymnospermenProgymnospermen, einen frühen Vorfahren der heutigen verholzten, samentragenden Bäume[57] – oder jedenfalls galt das bis 2019; dann erschien ein neuer heißer Konkurrent um den Titel des ältesten Baumes auf der Bildfläche.

Die Funde von Riverside Quarry, Albany, New, YorkRiverside gaben den Anlass zur weiteren Paläobotanikpaläobotanischen Erforschung der Gesteinsformationen an der Nordamerikanordamerikanischen Ostküste, und die führte schließlich zur Entdeckung eines weiteren bemerkenswerten Fossils. Wieder im Bundesstaat New York und wieder in einem Steinbruch (der dieses Mal allerdings aufgegeben war) entdeckten Wissenschaftler interessante Überreste einer vorzeitlichen, baumähnlichen Lebensform anderer Art. Die neue, Cairo genannte Fundstätte war den Datierungen zufolge zwei bis drei Millionen Jahre älter als die von Riverside und lieferte die gleichen hohlen Exemplare von EospermatopterisEospermatopteris wie auch die AneurophytonAneurophyton-ähnlichen, verholzten Ranken; zusätzlich fanden die Wissenschaftler aber auch sogenannte LycopsidenLycopsiden, entfernte Verwandte der heutigen Bärlapppflanzen (Gattung Lycopodium) und LebermoosLebermoose. Am verblüffendsten war aber, dass in diesen Sedimenten aus dem DevonDevon auch die bemerkenswerte Wurzel- und Sprossstruktur einer Pflanze aus der Gattung ArchaeopterisArchaeopteris erhalten geblieben war. Man kannte sie zwar auch schon aus früheren Untersuchungen, die Funde von Cairo zeigten aber eindeutig, dass Archaeopteris im Gegensatz zu Eospermatopteris bereits Merkmale von Samenpflanzen (Spermatophyten)Samenpflanzen (Spermatophyten) besaß, die damit älter waren, als man bis dahin angenommen hatte[58]. Dazu gehören ein großes, tiefes Wurzelsystem, das nicht von dem heutiger Pflanzen zu unterscheiden ist, eine große, aufrechte Form, ein dicker, verholzter Stamm, verschiedene Sporentypen und flache, grüne Blätter, die das Sonnenlicht effizient einfangen und CO2KohlendioxidCO2CO2 aufnehmen können[59]. Deshalb gilt sie als Vertreterin einer alten Abstammungslinie, aus der in der Evolution alle Samen produzierenden Pflanzen hervorgegangen sind, die heute in den Wäldern der Erde dominieren. Außerdem beschränkte sich Eospermatopteris im Wesentlichen auf überschwemmte, tief gelegene, sumpfige Lebensräume, ArchaeopterisArchaeopteris dagegen konnte mit seinen Wurzeln und den hoch entwickelten Blättern auch in trockenen Umgebungen gedeihen. Das versetzte diese Bäume in die Lage, sich auf der Erdoberfläche viel weiter zu verbreiten, womit sich ein Potenzial für umfassendere, weltweite Wirkungen ergab[60]. Fossilfunde aus der Zeit vor 388 bis 359 Millionen Jahren lassen darauf schließen, dass Archaeopteris nicht nur ein beherrschender Bewohner vieler Wälder in NordamerikaNordamerika war[61], sondern auch in Marokko[62], ChinaChina[63] und anderen Regionen vorkam.

Aber ganz gleich, zu welcher Gruppe von Lebewesen die ersten Bäume gehörten: Zusammen liefern die Fossilfunde von Gilboa und Cairo eine faszinierende Momentaufnahme von den ersten Waldökosystemen der Erde. Die neuartigen Gewächse mit ihren Blättern gestalteten die Oberfläche und Atmosphäre der Erde weiter um, und das nicht zwangsläufig zu ihrem eigenen Vorteil. Die neuen großen Pflanzen waren die ersten »Geoingenieure«[64]. Echte, tiefe, weitreichende Wurzelsysteme verwandelten beträchtliche Gesteinsmengen in üppige Nährböden. Als die Wurzeln weiter in alle Richtungen wuchsen, gingen sie immer engere Bindungen zu Pilzen und Mikroorganismen ein, wie sie auch heute den dynamischen Waldboden kennzeichnen[65]. Calcium, Magnesium, Natrium, Eisen, Aluminium und Kalium aus der Erdkruste wurden mobilisiert und bildeten neue, dicke, nährstoff- und sogar lehmreiche Ökosysteme und mineralische Carbonate[66]. Aber auch hier blieben nicht alle Mineralstoffe auf dem Land. Am Ende des OrdoviciumOrdoviciums fanden sie den Weg in die Weltmeere und trieben dort die Ausweitung der Lebenswelt voran[67]. Durch die schnellere, umfangreiche Verwitterung wurde mehr CO2KohlendioxidCO2CO2 in gelöster Form festgehalten, sodass sein Anteil in der Atmosphäre weiter sank[68]; hinzu kam die immer effizientere PhotosynthesePhotosynthese durch das üppige Blattwerk. Die von Pflanzen ausgehenden weltweiten Umwälzungen sorgten wieder einmal für eine Phase der drastischen globalen Abkühlung, die sogar noch stärker war als beim vorherigen Mal. Die Gletscher schoben sich von den Polen bis in niedrigere Breiten vor[69]. Am Ende des DevonDevons starben sowohl in den Ozeanen als auch an Land zahlreiche Arten aus. Hinzu kam der verbreitete Niedergang eines großen Teils der ersten Wälder, die es gewagt hatten, auf der Erde ihre Hoheitsgebiete abzustecken.

Aber nachdem die neuen, auf Bäumen basierenden Kombinationen so große biologische und geologische Erfolge erzielt hatten, war die Welt nun auch gezwungen, sich auf eine Art »Unausweichlichkeit der Wälder« einzustellen.[70] In der KarbonKarbonzeit vor etwa 359,3 bis 298,9 Millionen Jahren, als sich der Superkontinent PangäaPangäa bildete, die Gletscher sich zurückzogen und die kontinentalen Landmassen des heutigen Europa und Amerika größtenteils in den warmen, feuchten Äquatorregionen lagen[71], waren auch die Wälder wieder da. In den tropischen Breiten mit ihren feuchten, sumpfähnlichen Lebensräumen verbreiteten sich verholzte Bäume mit dicker Rinde zusammen mit ihrem Kleid aus Ranken und Kletterpflanzen. Der Name dieser geologischen Periode leitet sich vom KohlenstoffKohlenstoff (bzw. der Kohle, lateinisch carbo) ab, der nach dem Tod dieser neuen, widerstandsfähigeren Bäume in den Boden gelangte[72]. In den ausgedehnten Wäldern bildeten sich dicke Torfschichten, und da es keine Mikroorganismen und Pilze gab, die widerstandsfähige Holzfasern verdauen konnten, wurden sie tief in der Erde begraben. Hitze und starker Druck verwandelten sie in Jahrmillionen in die Kohlelagerstätten der Karbonzeit, an der Geologen auf der ganzen Welt heute diesen besonderen Zeitraum erkennen. Ironie des Schicksals: Die gleichen Kohlelager, die aus waldreichen Lebensräumen entstanden waren, nachdem diese die Erdoberfläche zu einem üppigeren, komfortableren Umfeld gemacht hatten, wurden während der Industrielle RevolutionIndustriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts als wichtigste Brennstofflieferanten wiederentdeckt. Durch die von Menschen verursachte CO2KohlendioxidCO2CO2-Freisetzung wurde ein Prozess umgekehrt, der Hunderte von Jahrmillionen zuvor begonnen hatte; heute sind deshalb nicht nur die Nachfahren dieser Waldökosysteme aus der Karbonzeit bedroht, sondern auch weite Teile der Erdoberfläche mit Lebensräumen für Pflanzen und Tiere (einschließlich unserer selbst).

In den ersten Wäldern der KarbonKarbonzeit lebten verschiedene vorzeitliche Bäume, die LycophytenLycophyten, die 40–50 Meter hoch waren und einen Durchmesser von bis zu zwei Metern hatten[73]. Lange Ranken wanden sich an diesen gewaltigen, baumförmigen Verwandten der heutigen Bärlappgewächse in die Höhe, und Schachtelhalmgewächse trugen zur Dichte der ausgedehnten, feuchten, tropischen, sumpfigen »KohlewälderKohlewälder« bei, die vor rund 300 Millionen Jahren den größten Teil der üppigen Waldlandschaften bildeten und heute als Fossilien aus jener Zeit zu sehen sind. Das restliche Drittel bestand aus sogenannten ProgymnospermenProgymnospermen und sogar echten, Samen produzierenden Bäumen wie den heute ausgestorbenen riesigen CordaitalesCordaitales, die vermutlich die Vorfahren der späteren NadelbäumeNadelbäume, GinkgoGinkgos und FarnPalmfarne (Cycadales) waren; sie erhoben sich aus den Feuchtgebieten und drangen abenteuerlustig in gut entwässerte, trockenere, höher gelegene Landschaften vor[74]. Echte Samenpflanzen (Spermatophyten)Samenpflanzen (Spermatophyten) entstanden schon im DevonDevon, aber erst unter den warmen Bedingungen der frühen Karbonzeit konnten sie auch höhere Breiten besiedeln[75]. Fossilien von riesigen Wurzelmatten aus der Zeit vor 305 Millionen Jahren[76] zeigen, welche »welterschütternden« Fähigkeiten die Wälder der Karbonzeit besaßen: Sie produzierten üppige Böden, in denen sie sich sowohl horizontal als auch vertikal festhalten konnten. In den so entstandenen aktiven, nährstoffreichen Böden wimmelte es von Pilzen, Bakterien und jetzt auch wirbellosen Tieren (vorwiegend InsektenInsekten), die sehr effizient organisches Material abbauten und auch im Boden eines tropischen Waldes aus dem 21. Jahrhundert nicht fehl am Platz wären[77]. Durch PhotosynthesePhotosynthese wurden weiterhin beträchtliche CO2KohlendioxidCO2CO2-Mengen absorbiert und festgehalten, was dazu führte, dass der Gehalt in der Atmosphäre nur noch knapp fünfmal so hoch war wie in vorindustrieller Zeit. SauerstoffSauerstoff war in der Atmosphäre zu manchen Zeiten sogar in größerer Menge vorhanden als heute[78]. Insgesamt spielten sich in der Atmosphäre der Devon- und der Karbonzeit so weitreichende Änderungen ab, dass auch die Pflanzen selbst sich anpassen mussten. Wie wir bereits erfahren haben, lässt sich der Ursprung der Spaltöffnungen bis ins KambriumKambrium und zu den ersten Landpflanzen zurückverfolgen[79], aber anscheinend nahmen ihre Zahl und die Fläche, die sie auf den Blättern bedeckten, im Laufe der DevonDevonzeit zu[80]. Manchen Vermutungen zufolge war die Vermehrung der Spaltöffnungen und die zunehmende Möglichkeit zum Gasaustausch eine Anpassung an den abnehmenden CO2KohlendioxidCO2CO2-Gehalt der Atmosphäre und die Umweltbedingungen jener Zeit[81], die Frage bleibt jedoch umstritten[82]. Aber wie dem auch sei: Die weltweit milden Klima- und Atmosphärenbedingungen boten jetzt beste Voraussetzungen für die Vermehrung der Lebewesen, und wie wir noch genauer erfahren werden, nahm die Zahl der uns vertrauten, landlebenden Organismen zu. Die Wälder, die zu jener Zeit in tropischen Breiten gediehen, waren der entscheidende Katalysator für diesen Prozess, der erst heute von Menschenhand allmählich rückgängig gemacht wird.

Eine 400 Millionen Jahre alte Spaltöffnung der fossilen Pflanze Aglaophyton majusAglaophyton majus aus dem Rhynie ChertRhynie Chert.

Anders als auf unserem Rundgang durch die öden Landschaften des Kambriums würden wir uns bei einem Spaziergang durch die neuen Wälder der KarbonKarbonzeit deutlich stärker zu Hause fühlen. Wenn wir jetzt über die Erde gingen, sähen wir Lebewesen und Ökosysteme, die den Pflanzen und Wäldern unserer Tage sehr ähnlich wären. Im Vergleich zum Geschnatter und Gequake der vielgestaltigen AmazonasbeckenAmazonas-Regenwälder oder auch zu den Geräuschen in britischen Waldlandschaften wäre es allerdings in den Wäldern der DevonDevonzeit oder im Karbon gespenstisch still gewesen. Noch gab es keine Pflanzenfresser, und niemand konnte die neuen, zellulose- und ligninreichen Pflanzen verzehren, die jetzt den Planeten bevölkerten; also konnten sie relativ unbehelligt nach oben und zur Seite wachsen. Andererseits bot der durch die hohen Bäume neu entstandene Boden den Tausend- und Hundertfüßern ein feuchtes, warmes Zuhause; sie verzehrten verwesendes Pflanzenmaterial oder machten Jagd auf andere winzige Lebewesen, die sich in dieser ganz neuen Welt durchschlagen wollten. In den Wäldern der Devon- und der Karbonzeit erschienen die ersten InsektenInsekten auf der Bildfläche[83]; gegen Ende des Karbons flogen manche davon – dank des steigenden SauerstoffSauerstoffgehalts in der Atmosphäre – mit einer Flügelspannweite von bis zu 60 Zentimetern durch die feuchten Sumpfwälder[84]. Räuberische Spinnen und Skorpione waren mittlerweile ebenfalls in den üppigen Wäldern zu Hause, und über den Boden wanden sich wahrscheinlich Würmer und Schlangen – hier können wir allerdings nicht sicher sein, denn ihr weiches Körpergewebe ist nicht in Form von Fossilien erhalten geblieben. Wenn wir den Waldboden der Karbonzeit umgegraben hätten, die Lebensgemeinschaften der kriechenden Kleintiere, die wir dort entdeckt hätten, hätten nicht wesentlich anders ausgesehen als jene, die uns heute begegnen.

Wenn wir den Blick nach oben wenden und uns die dichte, dunkle Unterseite der Baumkronen genau genug ansehen, erkennen wir vielleicht, wie diese ältesten Wälder trotz der Stille auch der Schauplatz einiger früher wichtiger Entwicklungsschritte landlebender Tiergesellschaften waren. Besonders deutlich wird das in Hamstead in der britischen Stadt Birmingham, dem »Juwel der Midlands«. Wie Wales, so mag auch dies eine seltsame Ortswahl sein, wenn wir uns mit den Ursprüngen der Ökosysteme in den tropischen Wäldern beschäftigen wollen. Aber die Kohleschichten, die im 18. und 19. Jahrhundert die Industriellen nach Birmingham lockten, eignen sich ideal für eine Betrachtung der Wälder aus der KarbonKarbonzeit – einer Zeit, in der Birmingham nicht weit vom Äquator gelegen hätte. Im Jahr 2016 präsentierten Wissenschaftler einen unglaublich bedeutsamen Fund im Zusammenhang mit der Evolution der ersten vierbeinige TiereVierbeiner[85]. Bei der Entdeckung handelte es sich um zwanzig rote Sandsteinplatten, die unbeachtet im Lapworth Museum of Geology gelegen hatten, seit ein Lehrer sie Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt hatte. Wissenschaftler fotografierten die Funde mit modernsten Scanningverfahren von allen Seiten – so entstanden insgesamt hundert Fotos aus verschiedenen Höhen und Richtungen (eine Methode, die als »PhotogrammetriePhotogrammetrie« bezeichnet wird) – und bauten daraus dreidimensionale Modelle der Spuren auf, die auf den Platten zurückgeblieben waren. Für Meade, LukeLuke Meade, den leitenden Autor der Studie, der die Blöcke nach über hundert Jahren nochmals untersucht hatte, »eröffneten die Befunde ein Fenster zum Birmingham am Ende der Karbonzeit«. Bei der Analyse der dreidimensionalen Modelle entdeckte man eine Reihe von Birmingham, Fußabdrücke vonFußabdrücken, die vom immer aktiver werdenden Tierleben in dieser Phase der Erdgeschichte auf den schlammigen, bewaldeten Überschwemmungsebenen hinterlassen worden waren.

Am zahlreichsten waren AmphibienAmphibien oder ähnliche Tiere. Sie tauchten als erste vierbeinige Tiere aus den Ozeanen auf und besiedelten das Land – erste, kurze Ausflüge auf das Trockene unternahmen sie schon im späten DevonDevon. Die warmen, feuchten Sumpfwälder der Karbonzeit und ihr Einfluss auf die Erdatmosphäre versetzten die Amphibien in die Lage, sich in den Lebensräumen an Land auseinanderzuentwickeln. Sie wurden zu den wichtigsten Landraubtieren; manche von ihnen erreichten eine Länge von mehreren Metern, verzehrten die vorhandenen Krabbeltiere und suchten in Sümpfen und Flüssen nach Fischen. Aber wie die heutigen Frösche und Molche waren sie immer gezwungen, zur Eiablage ins Wasser zurückzukehren; deshalb konnten sie das Land nur in begrenztem Umfang besiedeln. Die Birmingham, Fußabdrücke vonFußabdrücke von Birmingham deuten aber auf zwei weitere Gruppen von Wirbeltieren hin, die gehen konnten, sich fortpflanzten und die ersten dauerhaft landlebenden Gemeinschaften bildeten. Die seltenen Spuren der großen PelycosaurierPelycosaurier, die wahrscheinlich ein wenig wie die heutigen KomodowaranKomodowarane aussahen, repräsentieren ein Mitglied einer uralten Abstammungslinie, aus der am Ende die Säugetiere hervorgingen[86]. Kleinere Spuren deuten darauf hin, dass ReptilienReptilien (SauropsidenSauropsiden) auf der Bildfläche erschienen[87]. Sie waren anfangs klein und echsenähnlich, aber da sie »amniotische« Eier legten, deren Flüssigkeitshülle an Land der Austrocknung widerstand, begann mit ihnen die Herrschaft der Reptilien, darunter schließlich so vielgestaltige Tiere wie DinosaurierDinosaurier, Krokodile, Schildkröten und später die VögelVögel. In diesen warmen, feuchten Wäldern der Äquatorregion begann also vieles von dem, was uns zuerst einfällt, wenn wir an Tiere denken.

Die ersten tropischen Wälder sorgten für eine vollkommene Umgestaltung der Erdoberfläche: Sie lieferten Nährstoffe, Unterschlupf, stabile Böden und Atmosphärenbedingungen für vor Leben sprühende terrestrische Ökosysteme, in denen InsektenInsekten und verschiedene andere Tiere an unterschiedlichen Stellen der Nahrungsketten lebten und unterschiedliche Anpassungen ausprobierten. In dieser neuartigen Umwelt entstanden alle wichtigen Gruppen landlebender Tiere, die wir heute kennen, und einige von ihnen haben sich in den Fußabdrücken von Birmingham verewigt. Tropische Wälder waren also an Land die ersten komplexen Ökosysteme und hatten dauerhafte Auswirkungen auf Atmosphäre und Klima. Sie nahmen als neue, größere PhotosynthesePhotosynthesefabriken beträchtliche CO2KohlendioxidCO2CO2-Mengen auf und unterstützten sowohl mit ihren leistungsfähigen Wurzelsystemen als auch durch die Verdunstung aus größeren Blättern die WasserkreislaufWasserkreisläufe zwischen Atmosphäre und Boden; damit machten sie sich für das Leben auf der Erde unentbehrlich. Letztlich entwickelten sie eine ganz neue Weltordnung, in der von nun an auch an Land eine große Lebensvielfalt herrschte. Tropische Wälder waren entscheidend für die Entstehung einer Luft, die neue, landlebende Organismen atmen konnten, und für das Klima, in dem diese Organismen lebten. Wie wir in Kapitel 12 genauer erfahren werden, sind sie bis heute von entscheidender Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der verschiedensten Systeme. Daran sollten wir vielleicht öfter denken, wenn sie heute so schnell von unserem Planeten verschwinden. Aber das heißt nicht, dass sie unverändert geblieben wären. In Wirklichkeit hatte ihre Evolution gerade erst begonnen. Die 3-D-Scanaufnahmen der Sandsteinplatten von Birmingham zeigen viel mehr als nur Birmingham, Fußabdrücke vonFußabdrücke. Sie machen deutlich, welche Regentropfen in den feuchten KohlewälderKohlewäldern der KarbonKarbonzeit fielen, zeigen aber auch, welche Risse im Schlamm sich in den Trockenzeiten bildeten, die in den Flussniederungen vor rund 300 Millionen Jahren immer häufiger vorkamen[88]. Jetzt konnten die tropischen Wälder nur noch überleben, wenn sie sich veränderten, und das Gleiche galt auch für die anderen Lebewesen, die in ihnen zu Hause waren. Und sie veränderten sich, beeinflussten und erlebten einige besonders dramatische Phasen der Erdgeschichte, die noch bevorstanden.

Kapitel 2Eine tropische Welt

Tropische Wälder gibt es auf der Erde schon tausendmal länger als Menschen. Man kann also leicht so tun, als seien sie schon immer da gewesen – zeitlose, urtümliche Wächter unseres Planeten. Ihr hohes Alter dient im Umweltschutz oftmals als wichtiges Argument: Die unberührten, unbewohnten Wälder werden dem gefährlichen, zerstörerischen »Fortschritt« der Industrie und Landerschließung im 21. Jahrhundert gegenübergestellt. Selbst in der Populärkultur werden die tropischen Wälder in der Regel so dargestellt, dass Wandel oder Vielfalt keine Rolle spielen. Romanschriftsteller und Filmproduzenten nutzen nur allzu gern das immer gleiche Rankengeflecht, das immer gleiche dichte Unterholz und die immer gleichen dunklen, feuchten Umgebungen, um eine von Natur aus gefährliche »tropische« Umwelt darzustellen, und wie wir erfahren haben, ist auch »Dschungel«, das umgangssprachliche Wort für tropische Wälder, nichts weiter als eine allgemeine Bezeichnung für »Wildnis«. Würden solche Vorstellungen von unveränderlichen, gleichförmigen Wäldern stimmen, wir würden immer noch in einer Welt mit den in Kapitel 1 beschriebenen, von Bärlapp und FarnFarnen beherrschten Wäldern der DevonDevon- und KarbonKarbonzeit leben. In Wirklichkeit sind die tropischen Wälder heute in ihrer Gesamtheit die Heimat von mehr als der Hälfte aller Pflanzen- und Tierarten der Welt.[89] Das wäre sicher nicht der Fall, wenn sie alle gleich wären und sich während der letzten 300