Die Wurzeln des Problems - AJ Sherwood - E-Book

Die Wurzeln des Problems E-Book

AJ Sherwood

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Beschreibung

Es ist wie die Gruselversion von Stille Post: Grant findet einen ermordeten Teenager in McMinnville. Er ruft Jon an. Jon findet das Geistermädchen. Er ruft Mack an. Mack spricht mit dem Geist, der sie zu weiteren Geistern führt. Die sie wiederum zu noch mehr Geistern führen.Und warum liegen alle Mordopfer unter Bäumen begraben? Ein Crossover zwischen den beliebten Reihen »Jons übernatürliche Fälle« und »Macks geisterhafte Erscheinungen«, in dem vor allem für Donovans Geschmack viel zu viele Geister vorkommen.

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AJ SHERWOOD

 

 

 

DIE WURZELN DES PROBLEMS

 

 

 

 

JONS ÜBERNATÜRLICHE FÄLLE 5

 

MACKS ÜBERNATÜRLICHE ERSCHEINUNGEN 4

 

 

 

 

 

Aus dem Amerikanischen von Johanna Hofer von Lobenstein

 

 

 

 

 

Über das Buch

Es ist wie die Gruselversion von Stille Post:

Grant findet einen ermordeten Teenager in McMinnville. Er ruft Jon an.

Jon findet das Geistermädchen. Er ruft Mack an.

Mack spricht mit dem Geist, der sie zu weiteren Geistern führt. Die sie wiederum zu noch mehr Geistern führen.

Und warum liegen alle Mordopfer unter Bäumen begraben?

 

Ein Cross-over zwischen den beliebten Reihen »Jons übernatürliche Fälle« und »Macks geisterhafte Erscheinungen«, in dem vor allem für Donovans Geschmack viel zu viele Geister vorkommen.

Über die Autorin

AJ steckt voller Ideen. Deshalb arbeitet sie meist an mehreren Projekten und Büchern gleichzeitig. Unter einem weiteren Pseudonym verfasst sie Fantasy-Romane, doch sie wollte unbedingt auch für die LGBTQ+-Community schreiben. Glücklicherweise war ihre Lektorin sofort damit einverstanden.

In ihrer Freizeit verschlingt AJ Bücher, isst viel zu viel Schokolade und verreist gern. Ihre erste größere Reise führte sie nach Japan, und das hat ihr so gut gefallen, dass sie sich fest vorgenommen hat, so bald wie möglich noch viel mehr von der Welt zu sehen. Bis dahin recherchiert sie weiterhin via Google Earth und schreibt über die Welten in ihrem Kopf.

Die englische Ausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Jon and Mack’s Terrifying Tree Troubles«.

 

 

Deutsche Erstausgabe April 2024

 

© der Originalausgabe 2023: AJ Sherwood

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2024:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining

im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

unter Verwendung von Motiven von ddukang undCrunchyBeans; beide stock.adobe.com

Lektorat: Judith Zimmer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

 

ISBN: 978-3-98906-031-9

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Vorwort

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

EPILOG

Weitere Bücher von AJ Sherwood

 

Liebe Leser:innen,

 

dieses Buch ist eine erfundene Geschichte, also bitte behandelt sie auch so. Wirklich. Die Bezugnahme auf lebende Personen, tote Personen, gute und schlechte Menschen, unfähige Politiker, Unternehmen, Restaurants, Veranstaltungen, Produkte, Orte, Referenzen zur Popkultur oder zu ausgefallenen historischen Begebenheiten sind dazu gedacht, der Geschichte Authentizität zu geben. Sie werden als literarische Mittel eingesetzt. Oder weil ich sie gerne in die Geschichte einbauen wollte. Charaktere, Namen, Geschichte, Orte, Dialog, seltsamer Humor und merkwürdige Ereignisse entstammen einzig und allein der sehr lebhaften Fantasie der Autorin und sollten nicht als real interpretiert werden. Nein, ich glaube nicht daran, meine Protagonisten umzubringen. Bei Bösewichten sieht es ganz anders aus.

 

Eure AJ Sherwood

 

 

Hashtags:

Cross-over zwischen Jons und Macks Welt * Hurra, sie sind alle wieder da * Oh, schaut mal, wir lernen Grant kennen * Bäumen ist laut Donovan nicht zu trauen * Bitte betet alle für Donovan, hier sind so viele Geister anwesend * Die Geister haben so einiges zu sagen * Mack schmiedet Pläne, also wird natürlich nichts daraus * Verdammt coole Polizistinnen * Jon und Mack können das Ende dieses Falls kaum erwarten * Serienmörder laufen Amok * Leute werden gegrabsteinigt * Eli ist sauer, dass sie alles verpasst hat * Mack möchte euch dringend einschärfen, Jon niemals als Batterie zu nutzen * Ganz ehrlich, macht es nicht

PROLOG

GRANT

Ich nahm die liebste Kuscheldecke des jungen Mädchens, unter der es sich häufiger zusammengerollt hatte als unter allen anderen Decken hier im Haus, und tat es ihr nach. Ob es merkwürdig war, im Haus völlig Fremder ein Schläfchen zu machen? Absolut. Würde es mit der Zeit weniger merkwürdig werden? Da ich solche Dinge nun schon acht Jahre lang machte und sich daran nichts geändert hatte – vermutlich nicht.

Was würde ich nicht für einen Anker geben! Dann hätte ich wenigstens einen Puffer an meiner Seite. Aber jetzt schob ich die Wehmut erst mal beiseite und versetzte mich in den geistigen Zustand, den ich für ein Schläfchen brauchte. Nacheinander alle Muskelgruppen entspannen, die Gedanken treiben lassen, das war der Trick. Mich auf die Traumwandel-Ebene versetzen und schauen, ob ich dort eine Verbindung zu dem Mädchen herstellen konnte. Wie bei allen Entführungsfällen gab es nur eine von zwei Möglichkeiten: Entweder befand sich irgendwo eine sehr, sehr verängstigte Person, oder …

Der Anschluss zum Traum schlug fehl, und die ohnehin schwache Verbindung zu dem Mädchen löste sich auf.

Oje. Es war leider die zweite Möglichkeit. Das arme Mädchen war tot.

Ach, Mist. Ich hasste das. Ich hatte immer solches Mitleid mit der Familie, die auf diese Weise herausfinden musste, dass sie einen geliebten Menschen verloren hatte. Ich war nicht gerne der Überbringer schlechter Nachrichten, erst recht nicht, wenn so große Hoffnungen auf mich gesetzt worden waren.

Aber es war nicht zu ändern. Ich sollte es hinter mich bringen, wie ein Pflaster mit einem Ruck abzureißen. Leise vor mich hin fluchend stand ich auf und fing Chloes Blick auf. Meine Polizisten-Freundin kannte mich lange genug. Ihr war klar, dass mein schnelles Aufstehen nichts Gutes bedeutete.

Sofort unterbrach sie ihr Gespräch mit der im Esszimmer wartenden Familie und kam zu mir herüber.

»Kein Glück gehabt?«, fragte sie leise, einen traurigen Ausdruck auf den hübschen Zügen.

»Ich befürchte, sie ist bereits tot. Ich habe noch nicht mal die Traumebene erreicht.«

»Verdammt. Ich hatte so gehofft …« Chloe brach mit einer Grimasse ab. »Nun. Du hast getan, was du konntest.«

»Ich weiß nicht recht, ob das der passende Moment ist, aber du könntest die Angehörigen an die Psy weiterverweisen. Die könnten den Leichnam orten. Ich kann der Familie das Mädchen nicht zurückgeben, doch wenigstens hätten sie dann die Möglichkeit, einen Abschluss zu finden. Und sie könnten sie richtig bestatten.«

»Ja. Ja, ich strecke mal die Fühler aus und schaue, ob sie sich das vorstellen können. Wenn nicht, komme ich vielleicht in ein paar Tagen noch mal darauf zurück. Ich würde die Dinge ungern so belassen, um ihretwillen. Das Mädchen selbst ist ja jetzt jenseits aller Schmerzen.«

Das war das Einzige, was mich nachts schlafen ließ. Meine Aufgabe war es, den Lebenden zu helfen. Für die Belange der Toten waren andere Instanzen zuständig.

Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, nickte ihr zu und verließ das Haus. Gott, war ich müde. Inzwischen war ich seit etwa zwanzig Stunden auf den Beinen. Lieber nicht nachrechnen – ich wollte es nicht wirklich genau wissen. Bestimmt hatte ich bereits Panda-Augen, und meine kurzen braunen Locken erinnerten an die Medusa. Ich hätte ohne Weiteres ein paar meiner Zähne gegen eine heiße Dusche und ungestörten Schlaf eingetauscht, bei dem mich kein Notfall nach drei Stunden schon wieder aus dem Bett holte.

Das war aber leider mein Schicksal.

Am Auto hielt ich noch mal inne. Was auch immer die richtige Verhaltensweise war, einfach zu gehen, fühlte sich falsch an. Ich hatte das Gefühl, etwas für diese sympathische Familie tun zu müssen. McMinnville lag ein wenig außerhalb meines Tätigkeitsbereichs, und ich kannte hier draußen kaum jemanden. Man hatte uns dazugeholt, weil die örtliche Polizei keine Abteilung für Vermisstenfälle hatte. Dafür waren sie hier zu kleine Fische. Nachdem sie vergeblich nach dem Mädchen gesucht hatten, war der Fall an uns übergeben worden, in der Hoffnung, dass wir es finden könnten, bevor etwas wirklich Schlimmes geschah.

Dass die Psy sie ausfindig machen würde, stand außer Frage. Carol konnte sie allein anhand ihres Namens aufspüren. Ich hatte schon mehrfach mit ihr zusammengearbeitet, wenn die Vermisstenanzeigen überhandnahmen und ich Unterstützung brauchte. Carol war verdammt gut, und ich würde ihr diese Sache liebend gern überlassen.

»Entschuldigung, Mr Walker?«

Die große, schlanke Brünette, die mir als Tante des Mädchens vorgestellt worden war, kam die Treppe herunter auf mich zu. Mia, so hieß sie. Sie wirkte wie eine Geschäftsfrau mit ihrer Bluse und der marineblauen Hose. Die roten, hochhackigen Schuhe klackten auf dem Gehweg. Unter ihrem Make-up war sie blass, offensichtlich bestürzt, doch sie hatte sich im Griff. Nicht der Typ, der in einer Krise zusammenbricht. Solche Leute mochte ich. Sie erleichterten mir meine Arbeit.

»Ja, Ma’am?«, begrüßte ich sie, nicht sicher, was sie von mir wollte.

»Zunächst vielen Dank, dass Sie hier sind und versucht haben zu helfen. Das wissen wir sehr zu schätzen. Ich wollte, Sie hätten Sarah finden können, aber …« Mia schaute weg. Ihre Augen glänzten, und sie biss bebend die Zähne zusammen. »Doch das ist natürlich nicht Ihre Schuld.«

Leider sahen manche das anders. »Vielen Dank, dass Sie das sagen. Ich hätte sie Ihnen zurückgebracht, wenn ich gekonnt hätte.«

»Das glaube ich Ihnen. Danke. Ich habe mit angehört, was Sie mit der Polizistin besprochen haben. Dass es eine Agentur gibt, die Sie empfehlen können, damit wir Sarah wenigstens beerdigen können? Mein Bruder ist nicht in der Verfassung, sich darüber Gedanken zu machen, daher würde ich sie gerne beauftragen. Könnten Sie den Kontakt herstellen?«

»Ja, Ma’am.« Ich zog das Handy aus der Tasche, dann hielt ich inne. »Lassen Sie mich offen sein. Ich vermute, dass diese Leute mehr tun können, als die Leiche Ihrer Nichte aufzufinden. Es ist ein sehr gut aufgestelltes Team von Profis, und sie haben schon so einige Mörder überführt. Einer von ihnen ist das beste Kriminalmedium im ganzen Land. Wenn jemand die Möglichkeit hat, Ihrer Nichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sind es diese Leute.«

In ihren Augen blitzte es zornig, und sie richtete sich abrupt auf. »Gerechtigkeit klingt gut, Sir. Sehr gut. Einmal Gerechtigkeit extra scharf für mich, bitte. Es ist mir egal, was es kostet. Wenn Sarahs Seele dadurch Ruhe findet, beauftrage ich sie.«

Sehr sympathisch. Wirklich schade, dass ich auf Männer stand, sonst hätte ich mir irgendwie ihre Nummer besorgt. Wir waren vom gleichen Schlag. »Ich rufe kurz dort an, dann können Sie sofort einen Termin vereinbaren.«

»Ich bitte darum.«

Mein Anruf ging aus offensichtlichem Grund an Donovan. Ihn würde ich verlässlich beim ersten Versuch erreichen, während es extrem lästig war, Jon mit Festnetznummer und Anrufbeantworter hinterherzutelefonieren.. Inzwischen ignorierten wir alle Jons Festnetznummer.

Donovan nahm nach dem dritten Klingeln ab. Seine tiefe Stimme klang leicht aus der Puste. »Hallo, Grant.«

»Hey, Mann. Alles klar bei dir?«

»Du erwischst mich beim Fliesen-ins-Haus-Schleppen. Was gibt’s?«

»Ich habe einen Fall für euch. Ein junges Mädchen, sechzehn Jahre alt, nach der Schule auf dem Heimweg verschwunden. Ich habe gerade versucht, sie zu orten, und … Sie ist nicht mehr am Leben.«

»Verdammt. Willst du den Fall an die Psy übergeben?«

»Genau, auf die Bitte eines Familienmitglieds hin. Die Tante möchte euch beauftragen. Nicht nur, um ihrer Nichte eine richtige Beerdigung zu ermöglichen, sondern auch, um den Mörder zu schnappen. Könnt ihr das übernehmen?«

»Aber ja. Perverser Dreckskerl, wer immer das war. Ein Kind umzubringen. Schick mir den Kontakt. Ich besorge ihr einen offiziellen Termin, sobald ich wieder zu Hause bin. Oder noch besser, gib ihr meine Nummer, dann kann sie mich direkt anschreiben.«

»Wird gemacht. Danke, Mann.«

»Nur zur Info, wo ist dieser Fall?«

»McMinnville.«

»Das ist gut. Dann ist die Anfahrt nicht allzu weit. Einfacher für uns.«

Etwa eine Stunde mit dem Auto, je nach Verkehr. Für mich war es sogar noch näher. Ich wusste, warum er gefragt hatte. Jons Radius entsprach mehr oder weniger der Entfernung, die gut mit dem Auto zurückzulegen war. Ich hatte von dem katastrophalen Flug der beiden nach Las Vegas gehört – aber darüber breitete man am besten den Mantel des Schweigens. »Stimmt. Danke, dass ihr den Fall übernehmt, Donovan. Es ist kein gutes Gefühl, die Dinge hier so unerledigt zu lassen. Haltet mich auf dem Laufenden, wenn ihr könnt.«

»Machen wir. Und keine Sorge, Grant. Dieses kranke Miststück kriegen wir.«

»Ich weiß. Gute Nacht.« Ich legte auf und wandte mich wieder an die Tante. »Er sagt, Sie sollen ihm schreiben, und er besorgt Ihnen schnellstmöglich einen Termin. Sie sind in guten Händen. Ihr Ansprechpartner ist Donovan Havili. Er ist der Anker des Mediums, von dem ich sprach, Jon. Seine Fähigkeiten sind extrem ausgeprägt, deshalb kann er selbst keine elektronischen Geräte bedienen. Teilen Sie ihnen alles mit, was Ihnen einfällt, und bringen Sie etwas mit, was Sarah gehört hat. Damit kann das Medium, das die Ortung vornimmt, leichter ihren Aufenthaltsort bestimmen.«

Mia hörte aufmerksam zu, speicherte Donovans Nummer in ihrem Handy und hielt es dann umklammert wie eine Rettungsleine. Für sie fühlte es sich wahrscheinlich auch danach an.

Ich konnte nur hoffen, dass Jon und Carol diesen Dreckskerl finden würden. Jeder, der ein Kind umbrachte, gehörte in meinen Augen nicht ins, sondern unter das Gefängnis. Doch jetzt lag es nicht mehr bei mir. Ich wünschte ihnen jedenfalls gutes Gelingen.

KAPITEL 1

JON

Je mehr Zeit ich in diesem Haus verbrachte, desto besser verstand ich, warum Brandon und Mack es gekauft hatten. Zuerst hatte mich der orange-goldene Teppich in der Küche etwas abgeschreckt, ganz zu schweigen von den wirklich gruseligen Paneelen, die sich vom Wohnzimmer bis zum Hobbyraum im hinteren Teil zogen. Doch die Substanz des Hauses war klasse. Alle Räume hatten eine gute Größe, Fundament und Statik waren in bestem Zustand – es waren vorwiegend Schönheitsreparaturen zu erledigen.

Und wenn die Havilis eines beherrschten, dann waren es Renovierungen.

Diese Woche halfen wir alle mit, um so viel wie möglich zu schaffen, bevor Mack und Brandon nächste Woche einzogen. Sie hatten das Haus zwar schon vor vier Monaten gekauft, aber kaum Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen, weil sie ständig wegen nervtötender Geister umherreisen mussten. Das hier war der Endspurt, bei dem alle bereits angefangenen Projekte fertiggestellt werden sollten. Die beiden hatten sich für den Umzug zwei Wochen freigenommen, denn sie wollten vorher wenigstens die Küche, das Bad, das Schlafzimmer und das Wohnzimmer in einen bewohnbaren Zustand bringen. Alani hatte verkündet, dass es für Mack und Brandon allein zu viel Arbeit sei, ein Familientreffen einberufen und einen Schlachtplan entworfen. Einen beeindruckenden Plan.

Seit Juni hatten wir zwischen unseren Fällen immer wieder an der Renovierung gearbeitet. Mack war zum Streichen eingeteilt, was nicht weiter verwunderlich war. Damit hatte er schon als Teenager Geld verdient, und er konnte es besser als wir anderen. Skylar war zuständig für die Technik – Alexa installieren, das Haus auf Smart-Level bringen und so weiter. Alani hatte das Fliesenlegen übernommen, und Donovan half ihr beim Zuschneiden und Tragen. Kanye und Brandon hatte es übernommen, den Teppich in Küche und Esszimmer herauszureißen. Ja, genau – in der Küche und im Esszimmer lag Teppichboden. Ich war davon ebenso befremdet wie sie. Und es war eine Menge Teppich. Darunter war Sperrholz zum Vorschein gekommen, es gab also keinen Holzboden zu retten. Sie hatten Vinylboden verlegt, das sah gut aus. Außerdem hatten sie sich die Mühe gemacht, das Haus Jon-sicher zu machen, sodass ich mich in den meisten Räumen problemlos aufhalten konnte. Das war in meinen Augen ein echter Liebesbeweis.

Meine Mutter und ich hatten uns die Paneele vorgenommen. Das Holz war in gutem Zustand, und niemand wollte es abreißen und durch Rigipsplatten ersetzen, denn das würde lange dauern und wäre teuer. Die einfache Lösung war, die Lücken zu verspachteln, das Ganze etwas anzuschleifen und dann zu überstreichen, wodurch eine glatte Wand entstehen würde. Mom hatte an einer Seite angefangen, ich an der anderen.

Im ganzen Haus erklangen Arbeitsgeräusche, aber bei uns war es halbwegs ruhig. Da ich nicht oft Gelegenheit hatte, allein mit meiner Mutter zu reden, gedachte ich, diese zu nutzen.

»Wie geht’s dir so, Mom?«

Sie wandte mir den Kopf zu. Ihre blauen Augen blitzten. Die roten Haare lösten sich aus dem Pferdeschwanz, zu dem sie sie zusammengefasst hatte, und die Strähnen umrahmten ihr hellhäutiges Gesicht. »Als ob du das nicht lesen könntest.«

»Es ist höflicher, zu fragen«, gab ich wohlerzogen zurück.

»Mir geht es ganz fantastisch, wie du sehr wohl weißt. Ich schwöre, wenn ich Alani schon früher gekannt hätte – also richtig gekannt hätte –, hätte ich Rodger sofort den Laufpass gegeben.«

»Ich würde auf die Bibel schwören, dass Donovan und Brandon ihr Talent als Anker von ihrer Mutter haben. Es ist, als hätten sie das Beste von beiden abbekommen, Kanyes Herz und Alanis Wissen.«

»Das würde ich auch beschwören. Es ist so eine Erleichterung, endlich einen guten Anker zu haben. Inzwischen verstehe ich völlig, warum du dich schon nach einem Blick auf Donovan festgelegt hast. Jeder vernünftige Mensch hätte das Gleiche getan.«

Ach, jetzt verstand sie es also. Ich versuchte, nicht darauf herumzureiten. »Die ganze Familie ist ein Segen.«

»Amen.«

»Du hast also endgültig beschlossen, bei ihnen einzuziehen?«

»Habe ich. Besser gesagt, Kanye hat mir die Entscheidung abgenommen. Er hat mich beiseitegenommen, mir die beste Umarmung meines Lebens gegeben und mich sehr ernst gefragt, ob ich nicht einfach bleiben will. Er meinte, er würde mich vermissen und Alani wäre ganz unruhig bei dem Gedanken, mich irgendwo alleine in einem Haus zu wissen. Eigentlich wollte ich gar nicht weg. Ich wollte schon gerne bleiben, ihnen aber auch nicht zur Last fallen.«

Ja, das Gefühl kannte ich. Ich hatte das Gleiche mit Donovan durchlebt. Danke, liebes Universum, für die Geduld dieses Mannes. Es gab Tage, an denen er jedes Quäntchen davon brauchte, um es mit mir auszuhalten.

»Es ist schwer, ihnen zu widerstehen, wenn sie einen so anschauen, ich weiß. Man sieht einfach, wie ehrlich sie sich wünschen, dass man bleibt, und man vergisst dabei, warum man überhaupt wegwollte.«

Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Genau. Ganz genau so ist es. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich auch nur darüber nachgedacht hatte, wieder auszuziehen. Es ist schon eine Umstellung – wenn zwei erwachsene Frauen unter einem Dach leben, ist das vollkommen normal –, doch wir gewöhnen uns gut ein. Außerdem kann Alani inzwischen wirklich gut mit den Hinterbliebenen der Opfer umgehen. Sie erklärt ihnen, was ich tue, damit niemand Anstoß daran nimmt. Das ist etwas, das Rodger gar nicht erst versucht hat. Ich liebe sie dafür.«

Ja, die Liebe zeichnete sich deutlich golden auf ihren Meridianen ab. Mom meinte das nicht im romantischen Sinne – aber Liebe ist und bleibt Liebe. Platonisch oder romantisch, sie ist klar zu erkennen.

»Kanye versucht, glaube ich, einen Weg zu finden, dich auch von einer Verankerung mit ihm zu überzeugen.« Das meinte ich halb im Scherz, halb als Vorwarnung. Nicht, dass er sich wirklich außen vor fühlte, doch er sah die Verbindung der beiden Frauen und wollte gerne daran teilhaben. So in der Art.

Mom starrte mich an, als hätte ich etwas Verwirrendes gesagt. »Können Übersinnliche denn überhaupt zwei … Ach du lieber Himmel. Na klar! Natürlich kann ein Medium auch zwei Anker haben. Wie bei Eli, Quinn und Booker.«

»Sie sind natürlich ein Sonderfall, aber regelwidrig ist es nicht.«

Sie biss sich auf die Unterlippe, und ich bemerkte, dass ihre Energiebahnen sich veränderten. Lavendelfarben für Nachdenken, Grasgrün für Vertrauen und dazu das Kürbisrot der freudigen Erwartung. Oh ja, die Idee gefiel ihr.

Ich hatte keine Gewissensbisse dabei, sie weiter in diese Richtung zu stupsen. »Denk einfach darüber nach. Ich weiß genau, dass es Kanye sehr glücklich machen würde.«

Mom nickte langsam, und das Lavendel auf ihren Meridianen wurde intensiver. »Mache ich. Offen gestanden sehe ich nichts, was dagegenspräche. Es hat nur Vorteile.«

»Die meisten Leute würden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Zwei Havilis als Anker! Ich meine ja nur.«

»Schon richtig, wenn du es so formulierst, wirkt es albern, dass ich überhaupt zögere. Ich schlafe mal drüber und rede dann mit den beiden.«

Ich konnte erkennen, dass sie im Grunde bereits so gut wie entschlossen war. Aber wenn sie die Idee überschlafen wollte, war nichts dagegen einzuwenden. Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist natürlich dir überlassen.«

Ich hätte noch mehr dazu sagen können, doch dann hörte ich Donovans Handy klingeln und wie er den Anrufer begrüßte. Grant? Wenn der anrief, konnte es nichts Gutes bedeuten.

Mom sah, wie meine Miene sich veränderte, und fragte: »Was ist denn?«

»Grant ist am Telefon. Kennst du Grant Walker?«

»Kommt mir bekannt vor. Abteilung für Vermisstenfälle, oder?«

»Ja, genau. Ein ganz bodenständiger, guter Kerl. Einer der besten Spurenleser, die ich kenne. Er ruft nur an, wenn etwas gründlich schiefgegangen ist oder er dringend Hilfe braucht.«

»Oh nein.«

»Ja, das ist auch mein Gefühl.« Ich trat näher an das Bad am Flur heran, um zuzuhören.

Die sehr rosa Fliesen waren längst abgeschlagen. Waschbecken und Badewanne (ebenfalls rosa) waren weiß lackiert. Alani hatte den Fliesenspiegel an der Dusche fast fertig: weiße Metrofliesen, im Fischgrätmuster angeordnet. Es sah wirklich klasse aus. Meine Aufmerksamkeit galt allerdings meinem Verlobten.

Ja, ich nutzte jede Gelegenheit, Donovan meinen Verlobten zu nennen. Warum fragen Sie?

Donovans Meridiane wirkten zu gleichen Teilen traurig und wütend. Das glühende Rot des Zorns pulsierte bei jedem Wort. Er fing meinen Blick auf und sagte ins Handy: »Machen wir. Und keine Sorge, Grant. Dieses kranke Miststück kriegen wir.«

Oha. Das klang ja gar nicht gut. Er beendete den Anruf, und ich war im Geiste schon aufgebrochen. »Grant hat einen Fall für uns?«

»Ja, aber wir können heute Abend nichts mehr tun. Er hat ein vermisstes Mädchen gesucht und gibt den Fall jetzt an uns ab.«

»Ach, verdammt.« Nun verstand ich, warum Donovan so wütend war. Ich war es auch, um ehrlich zu sein. Kinder zu töten, war eine sichere Methode, mich wütend zu machen.

Neugierig tauchte Mom hinter mir auf, um besser hören zu können. Doch es war Alani, die mit einem misstrauischen Blick aus goldbraunen Augen fragte: »Warum bist du so wütend? Magst du den Mann nicht?«

Sie hatte die Hände auf den Knien abgestützt. Sicher war sie eine der wenigen Personen, die vorsichtig so auf einem Badewannenrand balancieren konnten. Mit ihren eins paarundfünfzig war sie klein genug, um das zu schaffen.

»Grant ist super«, versicherte Donovan schnell. »Ein echt guter Typ und sehr kompetent. Das ist nicht das Problem. Es ist … Er ist ein Spurenleser. Er wird fast ausschließlich zum Auffinden von Vermissten eingesetzt. Wenn er jemanden nicht finden kann, bedeutet das, dass die Person tot ist. Er kann nur die Lebenden orten.«

Auf Alanis Gesicht zeigte sich Verstehen. »Oh nein. Dann hat also eine arme Familie ein Kind verloren, ist es das?«

»Leider ja.« Donovan tippte, während er mir die Einzelheiten berichtete. »Der Fall ist in McMinnville. Die Tante des Mädchens erteilt uns morgen offiziell den Auftrag. Sie wird mir ihre Kontaktdaten schicken, dann organisiere ich einen Termin für sie. Morgen Vormittag steht nichts an, oder?«

»Nein«, bestätigte ich. »Sorg dafür, dass sie früh kommt. Damit wir gleich anfangen können, bevor die Fährte kalt ist. Geht es nur ums Auffinden oder auch um den Mörder?«

»Beides.«

»Gut.« Ich hasste es, Dinge nur halb zu erledigen. Nicht nach dem Mörder zu suchen, hätte sich nach einer halben Sache angefühlt. »McMinnville. Das ist ja nicht so weit zu fahren. Sagst du Jim Bescheid?«

»Allen, um genau zu sein. Im Gruppenchat.«

Das war sicher das Schnellste.

Ich sah mich im Haus um und überlegte, was schon erledigt war, was noch zu tun war, und fühlte mich etwas schuldig. Wir mussten heute Abend fertig werden. Danach musste ich mich darauf konzentrieren, einer trauernden Familie zu Gerechtigkeit zu verhelfen.

Mom legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Keine Sorge. Wir kriegen das hier schon hin. Du und Donovan habt schon eine ganze Menge geschafft. Eure Brüder werden sicher verstehen, dass ihr abberufen wurdet.«

Wir waren zwar noch nicht angeheiratet oder verschwägert, aber Brandon und Mack waren definitiv wie Brüder für mich. Und sie hatte recht: »Ich wollte ihnen gerne noch mehr helfen. Sie sollten richtig einziehen können, bevor der nächste chaotische Fall sie wieder herausreißt.«

»Keine Sorge.« Alani lächelte beruhigend. »Wir machen das schon. Das Haus ist ja fast schon halb wieder auferstanden. Mack will morgen noch die Küchenschränke streichen, danach verlege ich den Fliesenspiegel an der Wand. Zum Glück waren diese schönen Schieferfliesen unter dem Teppich. Jetzt mal ehrlich, wer verlegt denn so teuren Fliesenboden und deckt ihn dann mit Teppich zu?«

Donovan schüttelte den Kopf. »Das ist die Frage des Jahrhunderts. Okay, die Tante hat geschrieben. Morgen früh um zehn kommt sie vorbei.«

Also nicht allzu früh. Gut. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass es heute Abend spät werden könnte.

Hinter uns ertönte ein ungläubiges Lachen, es klang nach Brandon. Ein dunkles Grollen, das die Wände des Hauses erzittern ließ.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, dröhnte seine tiefe Stimme.

Das klang vielversprechend, oder? Ich trat rücklings aus dem Raum, spähte um die Ecke und sah mit einem Blick, warum er das gesagt hatte.

Brandon und Kanye hatten den halben Teppichboden im hinteren Gästezimmer abgelöst und zur Seite gerollt. Zum Vorschein kamen schimmernde Eichendielen in perfektem Zustand. Kanye kniete auf dem Boden und zog Heftklammern heraus. Sein rundes Gesicht war mit Staub verschmiert. Für einen Mann, der zweimal Brandons Umfang hatte, war er deutlich gelenkiger, als ich vermutet hätte. Die Anstrengung lohnte sich: Der Boden war staubig, aber nach einer gründlichen Reinigung würden die Dielen wieder wie neu sein. Sie sahen aus wie der Holzfußboden im großen Schlafzimmer, gehörten also offensichtlich zum Originalbestand des Hauses.

Mack trat an meine Seite, schaute sich das Ganze an, dann verkündete er: »Und dann sprach Satan: Legt Teppich auf den Holzfußboden!«

Dafür bekam er einen Fistbump von mir. »Ehrlich, welcher Vollpfosten hat sich das nur ausgedacht?«

»Immerhin hat es die Böden geschützt.« Kanye zog kopfschüttelnd eine weitere Ecke des Teppichs ab. »Hier macht es auch noch einen guten Eindruck. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, so was zu machen, außer dass sie es womöglich für modern gehalten haben. Jungs, ich würde sagen, ihr habt in diesem Zimmer gerade ordentlich Zeit und Geld gespart. Dieser wunderschöne Holzboden braucht nicht abgedeckt zu werden.«

»Mon cher, ich frage mich gerade, ob es im Wohnzimmer und im Flur vielleicht auch so aussehen wird.« Mack neigte den Kopf. »Vielleicht finden wir überall so hübsche Böden?«

Brandon schwenkte den Cutter in seiner Hand. »Ich habe eine sehr gute Methode, das herauszufinden.«

Neugierig folgten wir ihm in Richtung Wohnzimmer. Um ihretwillen hoffte ich auf Holz.

Brandon machte einen Schnitt in den Teppich zwischen Flur und Wohnzimmer und zog eine Ecke ab.

Verstaubter Eichenholzboden kam zum Vorschein.

Mack reckte die Faust in Siegerpose. »Yes!«

Meine Mutter klatschte in die Hände und wippte auf den Zehenspitzen. »Oh, und die Dielen sehen genauso gut aus wie die in der Küche. Das spart euch wirklich eine ganze Menge Zeit und Geld.«

Das konnte man sagen. Selbst wenn Teile davon neu lackiert werden mussten, war es der Alternative immer noch vorzuziehen. Ich fühlte mich gleich wesentlich weniger schuldig, weil wir morgen schon wegmussten; schließlich war ihre Arbeitslast gerade halbiert worden.

Mir tat die trauernde Familie in McMinnville leid, aber heute Abend wollte ich mich auf meine eigene Familie konzentrieren. Manchmal musste man in meinem Beruf auch einfach mal an sich denken.

KAPITEL 2

JON

Ich saß bereits im Konferenzraum, als Donovan unsere neue Klientin hereinführte. Wir waren lange aufgeblieben, um mit dem Haus so weit zu kommen wie möglich, und die Spätschicht saß mir noch etwas im Nacken. Darum hatte ich auch schon die dritte Tasse Kaffee in der Hand.

Vor der Tür bat Donovan die Besucherin, ihre Armbanduhr, ihr Handy und die Autoschlüssel in eine Sicherheitsbox zu legen, die Marcy an sich nahm. Durch die Glaswand hörte ich ihn erklären: »Jon ist ein sehr mächtiges Medium, er steht quasi unter Hochspannung. Das bedeutet, dass er für alle elektronischen Geräte wie ein elektromagnetischer Schlag ist. Wenn Sie ihm zu nahe kommen, wird er Ihre Geräte zerstören, ohne es zu wollen. Sie erhalten sie nach dem Meeting sofort zurück.«

»Oh! Ja, verstehe. Dann überlasse ich sie Ihnen zu treuen Händen.«

Ich sah mir die Klientin von Kopf bis Fuß an, während ich ihre Aura las. Eine Geschäftsfrau, vielleicht Juristin oder etwas mit Immobilien? Nicht verheiratet, keine Kinder, Anfang vierzig. Ihr Kummer saß tief, obwohl man es ihr äußerlich nicht anmerkte. Das dunkle Ultramarin der puren Trauer hatte sich auf ihre Meridiane gelegt, gemischt mit dem trüben Rot tiefen Zorns. Jemand hatte es gewagt, einem ihrer Lieben etwas zu tun.

Sie würde sichergehen, dass der Täter bestraft wurde.

Ich lächelte, denn sie war mir sofort sympathisch. Wir waren vom gleichen Schlag. Es war nicht zwingend notwendig, dass ich unsere Klienten mochte, aber es erleichterte uns die Arbeit.

Sie trat ein, und ich stand auf, um ihr die Hand zu geben.

»Jonathan Bane.«

»Mia Clark. Vielen Dank, dass Sie diesen Fall angenommen haben. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.«

»Es ist mir eine Freude, Ma’am. Das meine ich ganz wörtlich. Es ist eine Freude, solche Dreckskerle zu fassen, die es okay finden, Kindern etwas anzutun. Bitte setzen Sie sich. Ein Kollege kommt noch dazu, unser Computer-Guru. Er hat sich die Polizeiakte schicken lassen, damit wir sie uns ansehen können.«

»Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber die wird uns kaum weiterhelfen«, meinte Sho, der gerade hereineilte, die schmächtige Gestalt wie immer in einen übergroßen Hoodie gehüllt. Er nahm auf der anderen Seite des Raums Platz, so weit entfernt von mir wie möglich. »Hi, Miss Clark. Mein Name ist Sho.« Er lächelte die Klientin an, wobei kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln erschienen.

Sie lächelte zurück. »Hallo. Ist Ihr Laptop denn sicher hier drin?« Viele Frauen fanden Sho toll. Er war chinesisch-vietnamesischer Abstammung und süß wie ein K-Pop-Star.

»Oh, ich habe um all meine Geräte einen besonders starken EMP-Schutz installiert, wegen diesem Kerl. Trotzdem bleibe ich nur kurz und flitze gleich wieder raus. Für alle Fälle. Darum würde ich vorschlagen, dass wir loslegen.«

Wie setzten uns, Mia mir gegenüber, Donovan an meiner Seite. Ich trank einen Schluck Kaffee und machte eine ermunternde Geste. »Erzählen Sie bitte. Was immer Ihnen einfällt. Wir stellen dann zwischendurch Fragen.«

Sie nickte. In ihren Augen schimmerten Tränen, die jedoch nicht hervorquollen. Ihre Beherrschung war eisern. »Meine Nichte heißt Sarah. Sie ist – war – sechzehn Jahre alt, hatte gerade letzten Monat Geburtstag. Ein ruhiges Mädchen, sehr introvertiert und so lieb, wie man es sich nur denken kann. Sie mochte Bücher und Animes. Hatte nur wenige Freundinnen, denen sie aber sehr nahestand. Es gab nie Schwierigkeiten mit ihr. Ehrlich gesagt war sie viel zu beschäftigt mit Lesen, um auf dumme Gedanken zu kommen. Darum war es auch so seltsam, dass sie plötzlich verschwand. Sie ist nach der Schule immer nach Hause gelaufen, das ist nur knapp über eine Meile, und normalerweise war sie pünktlich auf die Minute. Manchmal habe ich sie zu Hause abgeholt und zu Hausbesichtigungen mitgenommen.«

Ich unterbrach. »Entschuldigung, nur damit ich es richtig verstehe: Ich sehe auf Ihren Energiebahnen, dass Sie mit sowohl mit Recht als auch mit Immobilien zu tun haben?«

Sie lächelte kurz. »Oh, Sie sind gut. Ich bin als Treuhänderin vom Bezirk beauftragt, Grundstücksansprüche zu regulieren. Ich begutachte leer stehende Objekte, kaufe sie im Auftrag des Bezirks und auktioniere sie an Projektentwickler weiter. Studiert habe ich Immobilienrecht.«

Aha. Das passte. »Sie fahren also viel herum und schauen sich alte Gebäude an?«

»Genau, und Sarah hatte Freude an älteren Häusern. Wir haben beide eine Schwäche für Architektur, das hat uns verbunden. Ich habe sie mitgenommen, und sie durfte die Begehungen mitmachen, danach haben wir uns etwas zum Naschen geholt und ein bisschen unter Mädchen geplaudert.«

Der Kummer überwältigte sie. Sie hatte ihrer Nichte sehr nahegestanden, und es brach ihr das Herz, dass sie tot war. Ich wollte, ich hätte sie umarmen können, denn sie konnte es gerade wirklich brauchen.

»Als Sarah nicht nach Hause kam, war ich erst nicht allzu besorgt, obwohl es ungewöhnlich war. Dann verging eine Stunde, und sie war nicht zu erreichen, antwortete auf keine meiner Nachrichten, da fand ich es langsam doch besorgniserregend. Ich bin ihren Schulweg abgefahren, um sie zu suchen, und habe mich bei ihren Freundinnen gemeldet. Die hatten sie zuletzt gesehen, als sie sich auf den Heimweg machte. Ich habe mir immer größere Sorgen gemacht, habe meinen Bruder und meine Schwägerin angerufen und ihnen Bescheid gesagt. Sie sind gleich von der Arbeit nach Hause gekommen, um nach ihr zu suchen. Es wurde inzwischen dunkel, und ich wusste einfach, dass etwas richtig, richtig Schlimmes passiert sein musste. Also haben wir die Polizei verständigt.«

Sho warf ein: »Ich habe das entsprechende Formular vor mir.«

»Wir haben sofort eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber nicht alles der Polizei überlassen. Wir haben selbst weitergesucht, Freunde und Familie mobilisiert und waren an ihren Lieblingsorten, Buchladen, Bibliothek, auch ein paar Geschäfte. Nichts. Ich habe der Polizei laufend durchgegeben, wo wir schon waren.«

Die Vorgehensweise gefiel mir. An ihrer Stelle hätte ich es genauso gemacht.

»Wann wurde Grant hinzugezogen?«, erkundigte sich Donovan.

»Etwa sechs Stunden nachdem die Polizei angefangen hat zu suchen. Ich glaube, er wurde schon vorher angerufen, aber er war noch bei anderen Fall mit einem vermissten Kind. Wir mussten warten, bis er dort so weit war.« Mia suchte Donovans Blick. »Kennen Sie Grant gut? Er war so liebenswürdig, als er bei uns war.«

»Wir haben schon oft mit ihm zusammengearbeitet«, antwortete Donovan. »Sie haben also auf Grant gewartet …?«

»Ja, und dann …« Sie brach erstickt ab und sah lange beiseite.

Ich ersparte es ihr, die Geschichte zu Ende zu erzählen. »Und der hat Sie an uns verwiesen. Danke. Was können Sie uns sonst über Sarah sagen? Wer sind ihre Freundinnen?«

»Charlotte King und Violet Wright. Mit ihnen und den Eltern habe ich bereits gesprochen. Ich darf Ihnen ihre Adressen und Telefonnummern geben.«

Organisierte Menschen waren ein Segen. Sie sparten uns so viel Zeit. »Danke, mit ihnen allen würde ich gerne reden. Geben Sie bitte diese Informationen Sho, bevor wir losgehen.«

Mia zögerte und atmete dann einmal tief aus. »Ich bin nicht sicher, ob es etwas damit zu tun hat, aber Sarah war Geisterseherin.«

Plötzlich war ich hellwach. »Wie mächtig?«

»Nicht übermäßig. Es hieß, mit zunehmendem Alter würde sie vielleicht noch ein bisschen stärker werden. Doch bisher war sie gerade so in der Lage, Geister zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Manchmal, wenn wir uns ältere Gebäude angeschaut haben, blieb sie stehen, um sich mit den dort lebenden Geistern zu unterhalten. Dann berichtete sie mir, was sie über die Geschichte des Hauses erfahren hatte. Manchmal hatten die Geister auch Anliegen. Einmal pro Woche hatte sie Unterricht, um mit ihren Fähigkeiten umgehen zu lernen, und nächstes Jahr sollte sie auch richtig ausgebildet werden.«

Na, das war ja sehr interessant. Donovan und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Wenn etwas einen stillen Bücherwurm aus seinem Alltagstrott herausreißen würde, dann vermutlich ein Geist.

»Ob es am Ende ein Geist war?«, überlegte Donovan laut.

Mia nickte. »Ja, den Gedanken hatten wir auch. Es muss ein Geist gewesen sein, der Sarah von zu Hause weggelockt hat. Darum haben wir auch das gesamte Stadtgebiet abgesucht. Sie hätte überall sein können. Das erklärt allerdings nicht, wieso sie nicht ans Telefon gegangen ist und nicht nach Hause kam. Die ganze Familie ist absolut einverstanden mit ihrer Gabe, ich ganz besonders. Ich hab mich gerne mit ihr über die Geister unterhalten, und das wusste sie. Ein Geist wäre kein Grund gewesen, meinen Anruf nicht anzunehmen. Aber irgendetwas muss passiert sein. Ich muss wissen, was es war. Wenn es ein Unfall war, wenn sie helfen wollte und sie das an einen gefährlichen Ort geführt hat, kann ich das akzeptieren. Doch wenn jemand sie getötet hat, will ich, dass diese Person bestraft wird. Und das, meine Herren, ist Ihr Fall.«

Ich sah ihr in die Augen. »Dafür können wir sorgen. Es wäre nicht das erste Mal, auch wenn ich jedes Mal hoffe, dass es das letzte Mal ist. Sie können sich auf mich verlassen. Ich habe eine Nichte in Sarahs Alter. Wenn ich ihren Mörder finden müsste, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Ich kann mir gut vorstellen, was Sie gerade durchmachen.«

Mia atmete zitternd aus, und das Lächeln, das sie mir schenkte, wirkte erleichtert. »Dann verstehen Sie mich also. Gut. Mr Walker sagte, Sie können Sarahs Leiche finden. Wäre das noch heute möglich?«

»Ja, Ma’am, das wird der erste Schritt sein. Ich selbst kann so etwas nicht, denn ich lese Energiebahnen, keine Spuren. Das macht meine Kollegin Carol. Wenn Sie etwas von Sarah dabeihaben, wird es einfacher, doch sie braucht im Grunde nur ihren Namen.«

Mia zog einen verschließbaren Beutel aus der Handtasche und reichte ihn uns. Darin lag ein silbernes Keltenkreuz an einer langen Kette.

»Sarahs Lieblingshalskette«, erklärte sie mit traurigem Lächeln. »Sie hat sie jeden Tag getragen, aber der Verschluss ist vor drei Tagen kaputtgegangen.«

»Das ist definitiv ein Objekt, mit dem Carol gut arbeiten kann. Danke.« Grant musste ihr geraten haben, etwas mitzubringen. Entweder er oder Donovan. Gut, dass sie daran gedacht hatten.

Donovan nahm ihr die Kette ab und legte sie auf den Tisch.

Sho sagte: »Im Polizeibericht steht nicht viel mehr als das, was Miss Clark uns berichtet hat. Sonst ist da nur noch der Papierkram für das Hinzuziehen von Grant. Sarah war offiziell sechs Stunden vermisst, als Grant kam und feststellte, dass sie nicht mehr am Leben ist. Sie gilt im Moment als vermisst, mutmaßlich verstorben.«

Verdammt. Das war tatsächlich eine sehr dünne Akte. Die Polizei hatte kaum einen Ansatzpunkt, mit dem wir etwas anfangen konnten. Ich warf Sho einen Seitenblick zu.

»Die Genehmigung zum Ermitteln haben wir?«

»Ja. Grant hat dafür gesorgt.«

Ein wirklich guter Kollege. Er hatte getan, was er konnte, bevor er uns den Fall übergeben hatte. Dafür schuldete ich ihm ein Abendessen.

»Damit ist dann alles geklärt.« Ich wandte mich an Mia. »Donovan bringt Sie jetzt zu Sharon. Dort unterschreiben Sie den Auftrag an uns, und das ist auch schon alles. Danach beginnen wir offiziell mit der Suche nach Sarah. Sie können gern bleiben und den Prozess beobachten, aber Sie können auch mit Ihrer Familie zu Hause warten. Sobald wir sie geortet haben, gilt der Fall wieder als laufende Ermittlung. Das heißt, Sie können leider nicht anwesend sein, wenn wir Sarahs Leiche bergen.«

Mia zögerte eine ganze Weile, schließlich entschied sie: »Dann fahre ich wieder zu meinem Bruder. Sie haben meine Nummer. Melden Sie sich einfach, wenn Sie sie gefunden haben.«

»Das werden wir. Mein herzliches Beileid, Miss Clark. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um für Gerechtigkeit zu sorgen, so gut wir können.«

»Danke, Mr Bane. Das weiß ich zu schätzen.« Sie stand auf.

Donovan brachte sie zu Sharon. Ich schloss die Tür hinter ihnen und drehte mich zu Sho um.

»Ernsthaft? Nichts weiter in der Polizeiakte?«

»Nur kurze Zeugenaussagen von ihren Freundinnen. Die wurden gefragt, wo sie sein könnte. Ich habe hier außerdem eine Liste von Orten, an denen gesucht wurde – das sieht allerdings eher nach Mias Liste aus.« Sho schüttelte entmutigt den Kopf. »Dieses Mädchen ist wirklich wie vom Erdboden verschluckt. Kein Wunder, dass Grant hinzugezogen wurde. Es gab keinen einzigen Anhaltspunkt.«

»Ach, verflucht. Ein Glück, dass wir Carol haben.«

Sho klappte den Laptop zu, verstaute ihn in der Sicherheitshülle und grinste mich an. »Und die werden wir jetzt nutzen. Lass uns das Mädchen nach Hause holen. Und wenn es sich als Mord erweist, wird Donovan hoffentlich einen Bösewicht zu verdreschen haben.«

»Ist es so offensichtlich, dass er das will?«

»Er ist fuchsteufelswild, Mann. Aber Kinder sind nun mal ein wunder Punkt bei ihm.«