Die Zähmung der Tiere - Ada Dorian - E-Book

Die Zähmung der Tiere E-Book

Ada Dorian

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Beschreibung

Die Italienerin Francesca fühlt sich unter der innenpolitischen Lage der Türkei gezwungen, ihre langjährigen Stofflieferanten zu verprellen. Der türkischstämmige Amerikaner Uzay besucht seinen gealterten Vater in South Carolina und muss feststellen, dass dieser es aufgrund der außenpolitischen Lage vielleicht zu Lebzeiten nicht zurück in sein Heimatdorf schaffen wird. Die junge Schriftstellerin Nilay Birol, deren vermeintlich harmloses Märchenbuch plötzlich an politischer Sprengkraft gewinnt, verschwindet … Ada Dorian zeigt in fünfzehn Episoden eine Welt im Umbruch und wirft die Frage auf, welche Verantwortung jeder Einzelne für ein demokratisches Europa trägt.

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Die Zähmung der Tiere

Die Autorin

Ada Dorian, geboren 1981, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Sie forschte in Osnabrück über Erich Maria Remarque, wo sie nach langem Aufenthalt in Hamburg lebt. Sie gewann den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2009, ist Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 und war nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.

Das Buch

»Baran stand auf und sah sich um. Über einem Stuhl hing eine zerknitterte Bluse, niemand hatte gewagt, sie in den Schrank zu hängen. All die Dinge, die ihren Alltag ausgemacht hatten, lagen unvollendet da. Nur das Manuskript war fertig. Es war alles, was Nilay ihm hinterlassen hatte.«

Ada Dorian

Die Zähmung der Tiere

Roman

Ullstein

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Zitat aus dem Essay »Opfer werden« aus: Aslı Erdoğan, Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch, Essays© 2017 Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

ISBN 978-3-8437-1831-8Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenTitelabbildung: © gettyimagesAutorenfoto: © Melanie Hauke, BerlinE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Motto

Thomas

Clément

Christiane

Adil

Francesca

Baran

Marianne

Ingrid

Ediz

Dilek

Simone

Uzay

Bulut

Epilog

Jules

Davide

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Motto

Motto

In der Türkei ist Schreiben zu einer schicksalhaften Tätigkeit geworden, die sich oft anfühlt, als ob ein Geschoss von einem hauchdünnen Papier zurückgeworfen wird und einen selbst trifft.

Aslı Erdoğan

Thomas

lag auf dem Rücken und spürte, wie der harte Fußboden Druckstellen an seinen Schulterblättern erzeugte. Seine Unterschenkel baumelten im nächtlich beleuchteten Pool auf der Dachterrasse des Hotels. Wenn er den Kopf zur Seite legte, konnte er die Whiskeyflasche sehen, die er allein bis zur Hälfte geleert hatte. Der Verschluss musste am Boden des Pools liegen. Ein Korken mit aufgesetzter Steinkugel, Jade, hatte er beim ersten Schluck vermutet. Nach vier großen Zügen direkt aus der Flasche hatte Thomas sich gefragt, welche der beiden Eigenschaften des Flaschenverschlusses überwiegen würde, die Leichtigkeit des Korkens oder die Schwere des Steins. Also hatte er ihn in hohem Bogen ins Wasser geworfen. Ohne auch nur eine Sekunde der Verzögerung war der Korken, also vielmehr der Stein, zu Boden gesunken. Der Kork hatte ihn nicht aufhalten können.

Im Liegen sah Thomas durch die gläserne Umwehrung der Dachterrasse. Dass sie ihn nach den Verhandlungen in Ankara ausgerechnet hier einquartiert hatten, konnte als Affront begriffen werden. Noch in der Nacht hatte man ihn nach Istanbul geflogen und hier auf der asiatischen Seite der Stadt in ein Hotel gebracht, als sollte er über den Bosporus auf Europa blicken, ein weit entferntes Europa, das den Verhandlungspartnern den Rücken gekehrt hatte. Auch sein Mitstreiter in der Debatte um den Militärstützpunkt İncirlik war hier untergebracht worden. Den gesamten Rückflug von Ankara hatten sie nicht ein Wort miteinander gewechselt. Die Gespräche waren anders verlaufen als geplant, längst ging es nicht mehr um das, worüber offen verhandelt wurde. Ursprünglich war es um das Besuchsrecht deutscher Abgeordneter bei den in İncirlik stationierten deutschen Soldaten gegangen. Die unterschwelligen Befindlichkeiten aller Parteien hatten sich zu gegenseitigen Verletzungen entwickelt, zu nässenden Wunden. Spätestens als der Dolmetscher immer wieder auf die Uhr gesehen hatte, war Thomas klar geworden, dass sie zu keiner Einigung mehr kommen würden. Ein Abzug der deutschen Soldaten war das letzte Drohmittel, das sein Kollege spät in dieser Nacht ausgesprochen hatte. Übermüdet und mittlerweile unkonzentriert war Thomas in Gedanken abgeschweift, hatte an Simone und an ihr letztes Telefonat gedacht. Er vermisste sie, doch hatte er sich bei ihrem Gespräch nicht getraut, das so zu formulieren. Simone war seit einer Woche auf Vortragsreise in den USA. Im Gegensatz zu ihm beschäftigte sie sich mit den theoretischen Grundvoraussetzungen für einen politischen Neuanfang in Europa. Thomas blieb lediglich die Schadensbegrenzung. Er fühlte sich, als müsste er ein Puzzle zusammensetzen, dessen Einzelteile nicht aufeinander abgestimmt waren. Seine Arbeit, ja sein ganzes Leben, schien auf Duldsamkeit zu basieren.

Am Telefon hatte Simone ihm begeistert erzählt, dass Professor Bojana Daskalow, eine Kollegin von der Universität Sofia, sie gebeten hatte, ihren Vortrag auf letzte Fallstricke zu prüfen. Die Anerkennung der deutlich älteren Professorin hatte sie auf eine Weise euphorisiert, die Thomas trotz der großen Distanz hatte spüren können. Sie hatte ihm berichtet, dass Daskalow in ihrem Vortrag Parallelen ziehen würde zwischen den aktuellen Bemühungen zur Stabilisierung der Europäischen Union und Camus’ Konzept des glücklichen Sisyphos. Die politische Arbeit, so Daskalow, glich einem Ringen um die gemeinsame Sache, bei der die Freude über das Gemeinsame, gemeinsam Erreichte, den Ton angeben sollte. Thomas hörte Simone aufmerksam zu und verschwieg, dass er diese Begeisterung längst hinter sich gelassen hatte, sie lag in der Fahrrinne des Bosporus wie ein Amboss, nicht einmal die Wellen bewegten sie noch.

Thomas setzte sich auf, was ihm einige Mühe abverlangte und die Dachterrasse kurz schwanken ließ. Er blickte an sich herunter. Obenrum war er mit Hemd und Krawatte bekleidet, untenrum lediglich mit einer Unterhose. Irritiert sah er sich um. Hinter ihm lagen seine Anzughose, sein Jackett und seine Socken fein säuberlich zusammengelegt auf einer beleuchteten Sitzinsel. Seine Lederschuhe standen ordentlich ausgerichtet davor. Thomas knetete seine Augen und schüttelte den Kopf. Selbst wenn er, wie offenbar heute Nacht, die Kontrolle verlor, schien alles klar geregelt zu sein.

Thomas zog die Beine aus dem Wasser, seine Füße waren schrumpelig. Auf dem Weg zur Bar hinterließ er eine nasse Spur. Ohne zu zögern, trat Thomas hinter den Tresen und suchte im unbeleuchteten Personalbereich der Kellner, die von hier aus am Tag Cocktails servierten, nach einem Korken. Er fand einen Schraubverschluss mit großem Durchmesser und setzte ihn der Whiskeyflasche wie einen Hut auf. Dann stellte er die Flasche in einen der Kühlschränke.

Thomas musste sich setzen, um nach der Hose Socken und Schuhe anziehen zu können. Normalerweise tat er das im Stehen, doch das Vornüberbeugen erschien ihm an diesem frühen Morgen zu gefährlich. Dann trat er an die gläserne Umwehrung, betrachtete die Morgenröte, die langsam in ein Hellblau kippte. Dass er hier oben eingeschlafen sein musste, konnte er nur anhand von vagen Erinnerungen an wirre Träume festmachen. Wie Sisyphos hatte er im Traum einen Stein den Berg hinauftransportiert, wieder und wieder, in endloser Schleife. Jedoch hatte Thomas ihn nicht den Berg hinaufgerollt, sondern ihn in einem Trekkingrucksack auf dem Rücken getragen. Erst war es ein großer Stein gewesen, schwer zwar, aber in seiner Kompaktheit zu händeln. Dann war der Stein immer weiter zerbrochen, in einzelne Teile, bis nur noch Kies übrig war. Als Sand rann der einstige Stein schließlich aus seinem Rucksack. Am Gipfel angekommen, war sein Gepäck leer gewesen.

Thomas betrachtete das gegenüberliegende Ufer, die Straßen und Gebäude, die Kennedy Avenue. In ein oder zwei Stunden würde er mit dem Shuttle durch den Avrasya-Tunnel auf die europäische Seite Istanbuls fahren, die Kennedy Avenue entlang bis zum Flughafen. Avrasya, das wusste Thomas, hieß übersetzt Eurasien. Einen vereinten Kontinent, Europa und Asien in Eintracht, das hatten die Verhandlungen der letzten Tage gezeigt, würde es so schnell nicht geben. Als die Sonne sich ihren Weg in die Bucht bahnte, leuchteten am anderen Ufer die Minarette der Sultan-Ahmed-Moschee golden auf. Thomas stach das Licht in den Augen, er schloss sie kurz, was ihm einen erneuten Schwindel verursachte.

Ohne zu frühstücken, stieg Thomas in den Kleinbus, der ihn und zwei weitere Geschäftsreisende in dunklen Anzügen zum Flughafen bringen sollte. Als auf der anderen Seite des Bosporus das grelle Morgenlicht am Ende des Tunnels sichtbar wurde, atmete er auf. Die gesamte Fahrt sah er aus dem Fenster und befühlte die kleine Schatulle in der Außentasche seines Jacketts. Sie war mit Samt bezogen und schmeichelte seinen zittrigen Fingern. Den Ring, den sie barg, hatte er bei einem Juwelier in Ankara gekauft. Dass Simone nicht ahnte, was er vorhatte, erfüllte seine Vorstellung von Romantik.

Der erste Ring, den er vor acht Jahren von einer Reise in den Jemen mitgebracht hatte, war, das hatte er ihr zusagen müssen, bevor sie ihn an den Finger steckte, kein Verlobungsring gewesen. Simone war keine Frau, die sich einfach heiraten ließ. Den Ring damals hatte er sich auf der Suche nach einer Brosche zum achtzigsten Geburtstag seiner Mutter zusätzlich aufschwatzen lassen. Zusammen hatten die Schmuckstücke deutlich das vorgesehene Geburtstagsbudget überschritten, auch wenn es sich um ein rundes Jubiläum handelte. Also hatte er den Ring separiert und aufgehoben. Als er dann ein knappes Jahr später Simone bei einem Ethik-Symposium in Berlin kennenlernte und sie bereits nach einer Woche des gemeinsamen Tagens die Nacht bei ihm verbrachte, hatte er nach ihrer Abreise einer inneren Sehnsucht nachgegeben und ihr den Ring unversichert per Post nach Heidelberg nachgeschickt. Beim anschließenden Telefonat hatte er sein gesamtes diplomatisches Geschick anstrengen müssen, um den Ring und seine Aussage zu relativieren. Zum Glück hatte er damals keine Karte, keinen Brief beigelegt. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Ring eine Erinnerung an ein paar wunderbare Tage in Berlin sein sollte, und verabredeten sich wieder.

Seine Gefühle für Simone hatten sich seit damals nicht verändert. Wo immer sie waren, sie telefonierten fast täglich. Thomas hatte seine Wohnung in Berlin behalten und Simone ihre in Heidelberg. Den Sommerurlaub verbrachte Thomas bei ihr, Weihnachten und Silvester sie in der Regel bei ihm. Ansonsten waren sie zu Meistern in der Organisation von Transittreffen geworden. Ein oder zwei Tage ließen sich in der Regel anhängen, wenn sie zufällig in der gleichen Stadt, im gleichen Land weilten. Einmal hatten sie tatsächlich lediglich drei Stunden im Moskauer Flughafen miteinander verbracht. Doch damit sollte endlich Schluss sein. Die Verhandlungen der letzten Tage hatten Thomas gezeigt, dass er den Job, den er einst so sehr angestrebt hatte, mittlerweile leid war. Er fühlte sich ausgelaugt und sehnte sich nach einem gemeinsamen Ort für Simone und sich, egal wo auf der Welt. Sie sollte entscheiden, er würde ihr folgen, wenn sie denn nur seine Frau werden würde. Thomas erhoffte sich etwas Verbindlichkeit.

Der Kleinbus fuhr auf das Gelände des Flughafens und setzte ihn und die anderen Passagiere am Terminal ab. Die morgendliche Hitze schlug Thomas beim Aussteigen aus dem klimatisierten Bus entgegen. Dem Fahrer, der ihm das Gepäck anreichte, gab er ein großzügiges Trinkgeld. Thomas würde nicht so schnell wieder hierherkommen, das hoffte er zumindest.

Er zündete sich eine Zigarette an und suchte einen Platz im Schatten unter dem Vordach, an dem er unbehelligt von ankommenden Reisenden rauchen konnte. Der erste Lungenzug erinnerte ihn an den letzten des gestrigen Abends, an das Auszirkeln der Verträge bis spät in die Nacht. Auch hier hatte er sich bequatschen lassen. Seine Reise nach Ankara hatte der deutschen Regierung vor allem Zugeständnisse eingebracht. Umso erleichterter war er, dass in wenigen Stunden sein Urlaub begann. Spätestens mit dem Einstieg in den Flieger zum Zwischenstopp in London würde er die Krawatte lockern und den Rest der Reise höchstens an der Formulierung seines Heiratsantrags feilen. Dafür hatte er noch einige Tage Zeit. Simone war zurzeit an der Universität von South Carolina in Columbia. Thomas würde zunächst zwei Wochen bei Johannes in New York verbringen. Johannes war ein alter Schulfreund und arbeitete mittlerweile seit zehn Jahren für die amerikanischen Behörden. Thomas wollte Jo, wie die Amerikaner ihn nannten, in seine Heiratspläne einweihen und ihn bitten, sein Trauzeuge zu sein. Anschließend würde Thomas dann nach South Carolina fliegen, wo er Simone nach Beendigung des Kongresses in Charleston treffen wollte. Melinda James, eine amerikanische Professorin, mit der Simone seit Jahren befreundet war, hatte sie und ihn anlässlich der bevorstehenden Sonnenfinsternis in ihr Ferienhaus nordöstlich von Charleston eingeladen. Thomas war zunächst wenig begeistert gewesen, schließlich wollte er mit Simone allein sein, um ihre Zukunft zu besprechen, ihr ein Ja abzuringen und einen gemeinsamen Wohnort festzulegen. Als Simone ihm jedoch Fotos von jenem Ferienhaus am Atlantik geschickt und er die Möglichkeit begriffen hatte, seinen Antrag auf den Tag der Sonnenfinsternis zu legen, schien ihm das Schicksal eine Kulisse zuzuspielen, die kaum zu überbieten war. Das Strandhaus lag auf der Isle of Palms, direkt hinter einer Reihe von Dünen. Thomas würde den richtigen Zeitpunkt abpassen und Simone einen unvergesslichen Antrag machen, einen, den sie nicht ablehnen konnte.

Thomas betrat das Flughafengebäude und lockerte bereits jetzt die Krawatte. Eigentlich war es Zeit für ein Frühstück, doch der bevorstehende Flug hatte ihm den Appetit verschlagen. Dass er nicht gerne flog, hatte er vor Jahren noch als zu behebendes Handicap betrachtet. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte das Coaching, das ihm die Angst vor der Höhe hatte nehmen sollen, allenfalls eine leichte Verbesserung gebracht. Das Zittern, das ihn auf Langstreckenflügen stets begleitete, war geblieben.

Ungeduldig gab Thomas sein Gepäck auf, das größer als sonst war. Lediglich den Aktenkoffer behielt er bei sich. Die Unterlagen hatte er ausgeräumt und im Koffer verstaut, um Platz zu schaffen für einen Wollschal, eine Tüte türkischen Nougat und drei Zeitungen, die er auf dem Flug zur Ablenkung lesen wollte.

Thomas setzte sich auf einen Barhocker an der Theke einer Flughafenbar. Trotz der Uhrzeit bestellte er Rakı.

»Kurzstrecke oder Langstrecke?«, fragte der Barkeeper und sah ihn aufmerksam an.

»Langstrecke«, antwortete Thomas.

»Eine amerikanische Airline?«

Thomas nickte irritiert. Der Kellner drehte sich um, füllte ein Glas mit Leitungswasser und stellte es vor Thomas auf den Tresen.

»Die Amerikaner lassen Sie auf halber Strecke verdursten.«

Thomas musterte den Kellner und blieb an seinem Namensschild hängen. Metin.

»Ich möchte einen Rakı«, sagte er, um Freundlichkeit bemüht.

»Was Sie brauchen, ist Wasser, glauben Sie mir.«

»Okay«, sagte Thomas. »Dann einen Rakı und ein Mineralwasser.«

Der Kellner beäugte seinen Anzug und den Aktenkoffer, den er auf der Theke abgelegt hatte.

»Sie sehen nicht aus wie ein Tourist. Nur Touristen trinken unser Leitungswasser nicht.«

»Ich trinke es auch nicht.«

Metin lachte. »Sie fliegen mit einer amerikanischen Airline und trinken kein türkisches Wasser? Man sollte wissen, wo heute die Gefahren lauern.«

Thomas blickte ans Ende der Theke, an dem ein Gast vor einem milchig verdünnten Glas Schnaps saß.

»Er bekommt Alkohol und ich nicht?«, sagte Thomas.

Metin machte eine nickende Kopfbewegung in die Richtung des Gastes. »Kurzstrecke«, sagte er knapp.

»Wissen Sie, vielleicht gehe ich lieber woanders etwas trinken.« Thomas stand auf und sah sich nach einem weiteren Lokal um.

»Sie bekommen Angst, wenn ein Kellner Ihnen sagt, dass das Fliegen nicht mehr sicher ist?«

»Nein«, sagte Thomas, »ich möchte einfach nur einen Rakı trinken.«

»Flugangst? Viele meiner Gäste versuchen Flugangst mit Alkohol und Tabletten zu besiegen. Sie glauben nicht, wie viele Leute halb betäubt ins Flugzeug steigen.«

Thomas ließ die Arme hängen. »Ich hatte nicht vor, mich zu betäuben.«

»Gut«, sagte Metin und machte eine einladende Geste. »Dann trinken Sie Tee.«

»Rakı«, sagte Thomas und wollte gehen.

Der Kellner schüttelte den Kopf, schenkte ihm einen Schnaps ein und stellte ihn auf den Tresen neben das Wasserglas.

»Jetzt sind wir wieder Freunde?« Metin zwinkerte.

Stumm nahm Thomas Platz und trank einen Schluck. Die lange Wartezeit verführte ihn dazu, einen zweiten und dritten Schnaps zu bestellen. Metin hielt ihn nicht ab, quittierte lediglich jedes neue Glas mit einem winzigen Kopfschütteln.

Als es endlich Zeit für seinen Abflug war, wankte Thomas durch die Halle in Richtung Sicherheitscheck. Der Restalkohol vom Vortag und die drei Gläser Rakı vereinten sich in ihm zu einer Dumpfheit, die Kopfschmerzen ankündigte. Thomas befühlte die Schatulle in seiner Tasche. Der Samt der Verpackung erschien ihm nun noch langfloriger, noch weicher. Er wusste, dass der Ring den zulässigen Höchstwert für eingeführte Waren bei Weitem überstieg. Spätestens beim Zoll in New York würde er das Schmuckstück angeben müssen. Also nahm Thomas den Ring aus der Geschenkverpackung und steckte ihn sich an den kleinen Finger. Die Samtschachtel warf er bei einem der Bistros in den Mülleimer.

»Clément,

wo bist du?«

»Inés?«, sagte Clément und gab dem Taxifahrer ein Zeichen, die nächste Ausfahrt zu nehmen. »In Istanbul.«

»Ich stehe am Flughafen und warte auf dich«, sagte Inés und klang vorwurfsvoll.

»In Paris?«, fragte Clément, als wäre das ganz unwahrscheinlich.

»Natürlich in Paris. Du wolltest um elf Uhr hier sein. Ich habe in der Ankunftshalle gewartet, und du bist nicht gekommen. Jetzt ist es fast zwölf, und du bist noch nicht einmal losgeflogen?«

»Es dauert ein paar Tage länger, verzeih mir, Inés«, erklärte Clément.

»Seit wann weißt du das? Ich meine, warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Jetzt schaffe ich es kaum mehr, Lilou von der Schule abzuholen. Sie glaubt, dass ich dich mitbringe.«

»Verzeih, es ist wichtig. Es hat sich kurzfristig ergeben.«

In Wahrheit hatte Clément schon im Taxi zum Flughafen gesessen, als ihn Jules’ Anruf erreichte. Jules bat ihn, ihm ein wichtiges Interview abzunehmen, während er mit einem Informanten sprechen wollte, über den er am Telefon keine Details preisgab. Clément hatte den Fahrer angewiesen zu wenden und war zurück in die Stadt gefahren.

»Bekommst du den Mehraufwand wenigstens bezahlt?«

»Natürlich«, log Clément. Sein Auftraggeber wusste nicht einmal, dass er länger blieb. Lediglich Remi hatte er eingeweiht, er sollte wissen, wo er war, falls etwas passierte. Und dass etwas passierte, irgendetwas, schien außer Frage zu sein.

»Und dein Hotel, kannst du es verlängern?«, fragte Inés besorgt.

»Ich werde bei Jules wohnen, er hat eine Couch.«

»Bei Jules?« Inés klang nicht begeistert.

Jules hatte zuletzt eine Reportage aus Syrien geschrieben und sich selbst dabei in unmittelbares Kriegsgebiet begeben. Eine Woche lang war er verschwunden gewesen. Seine Schwester, mit der Inés sich ab und zu auf einen Kaffee traf, war damals außer sich vor Sorge gewesen.

»Er hat ein Zimmer. Es ist sicher«, sagte Clément, auch wenn er sich selbst nicht im Klaren darüber war, was er damit sagen wollte. Dass das Zimmer sicher war, davon konnten sie nicht ausgehen. Immer wieder hatte es Durchsuchungen auch bei ausländischen Journalisten gegeben. Dass er selbst sicher war, schien nach dem Telefonat, das ihn dazu veranlasst hatte, den Flieger nicht zu besteigen, umso ungewisser.

»Hast du überhaupt noch saubere Wäsche?«

Clément scheute die Antwort. »Jules kann mir etwas leihen.«

Inés lachte bitter. Jules war einen Kopf größer als er und muskulöser gebaut. Außerdem gehörte er nicht zu der Sorte Männer, die ihre T-Shirts gebügelt und gefaltet im Schrank aufbewahrten.

»Was soll ich Lilou sagen, wann du kommst?«

»Sag ihr, dass ich Geschenke für sie habe«, wich Clément aus. Er hatte für seine Tochter billigen Klimperschmuck bei einem Händler neben seinem Hotel gekauft. Lilou war erst sieben, ging jedoch seit fast einem Jahr zum Ballettunterricht. Clément hatte mit ihr eine tänzerische Darbietung der Entführung aus dem Serail an der Opéra National gesehen. Anschließend hatten sie in Inés’ Kleiderschrank nach entsprechenden Accessoires gesucht, zwischen ihren Businessanzügen aber nicht das passende Kostüm für Lilous Interpretation der Konstanze gefunden. Die blaue Plastiktüte im Koffer enthielt ein rotes Dreieckstuch mit einer Borte aus klimpernden Münzen, einen Gürtel mit silbernen Glöckchen, der Lilou unmöglich schon passen konnte, und eine Kette, die ihr bis zum Bauchnabel hängen würde.

Clément ahnte, dass seine Antwort Inés nicht befriedigte. »Für dich habe ich auch etwas.«

Inés hatte sich Gewürze gewünscht. Nicht jene, die für Touristen verpackt vor den Souvenirläden in der Sonne lagen. Sie hatte ihm eine Adresse gegeben und ihn gebeten, dort einzukaufen. Clément hatte es vergessen. Am Ende hatte die Zeit nicht mehr gereicht, um den Laden außerhalb von Istanbul anzufahren. Er hatte für Ersatz gesorgt und hoffte, dass Inés es nicht merken würde.

»Ich melde mich, wenn ich weiß, wie lang es dauert.«

»Pass auf dich auf«, sagte Inés, dann legte sie auf.

Clément fuhr direkt zu dem verabredeten Treffpunkt. Jules hatte ihm einen Fixer besorgt, einen ortskundigen Informanten, der ihn zu einem Kontaktmann an einen geheimen Ort bringen sollte. Jules, das ahnte Clément, hatte diese Aufgabe nur an ihn abgegeben, weil er selbst zeitgleich einen interessanteren, vielversprechenderen Interviewpartner traf.

»Der Mann, nach dem du Ausschau halten musst, sieht aus wie ein Animateur in einem All-inclusive-Hotel«, hatte Jules gesagt.

Was das genau bedeutete, hatte Clément nicht gefragt. Er ging davon aus, dass der Fixer ihn erkennen würde.

Clément betrat die vereinbarte Teestube und war in der plötzlichen Abwesenheit der Sonne fast blind. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich orientieren konnte. An kleinen Tischen saßen je mehrere Männer, spielten Brettspiele oder tranken Tee. Die Einrichtung war schlicht, heruntergekommen fast, von der Eingangstür bis zum Tresen hatten die vielen Gäste über die Jahre eine sichtbare Spur auf dem Linoleum hinterlassen. Hinter der Theke stand ein Mann mit grauem Haar, der gebannt auf einen kleinen Fernseher starrte, dessen Ton laut durch den Raum hallte. Als Cléments Augen sich gänzlich an das schwache Licht gewöhnt hatten, entdeckte er den vermutlichen Vermittler an einem Tisch in der hintersten Ecke. Der Fixer war schlank und zartgesichtig, trug eine gelbe Chinohose, ein knallrotes T-Shirt und eine neongrüne Sonnenbrille im Haar. Clément begriff, was Jules gemeint hatte. Zielstrebig ging Clément auf ihn zu und setzte sich.

»Baran«, stellte sein Gegenüber sich vor.

»Ist das dein echter Name?«, wollte Clément wissen.

Der junge Mann, den er auf Mitte zwanzig schätzte, lächelte. »Du kennst ja auch mein echtes Gesicht.«

Sein Französisch war hervorragend. Clément fragte sich, wo Jules ihn gefunden hatte. Es war nicht einfach, mutige Fixer auszumachen, die dann auch noch so gut übersetzen konnten, dass keine wichtigen Details verloren gingen. Clément nickte anerkennend und stellte sich vor.

»Du arbeitest für Le Globe?«, fragte Baran.

»Unter anderem«, erwiderte Clément.

»Das ist gut, das wird unserem Mann gefallen. Er spricht nicht mit jedem.«

Clément wand sich. »Die Zeitung weiß noch nicht, dass ich dieses Gespräch führe. Ich kann nicht zusagen, dass das Interview erscheint.«

»Glaub mir«, sagte Baran, »es wird erscheinen.« Entspannt lehnte er sich zurück und legte die Hände in den Schoß.

Der letzte Fixer, den Clément engagiert hatte, war ein kleiner, nervöser Mann Mitte vierzig gewesen. Er hatte Clément mit Mitgliedern der Protestbewegung in Kontakt gebracht und bei der Übersetzung eines Interviews so sehr geschwitzt und gezittert, dass Clément das Gespräch vorzeitig abbrach, um die Gesundheit des Mannes nicht zu gefährden. Baran jedoch schien sich seiner Sache sicher. Er sah sich nicht nach möglichen Beobachtern um, spielte nicht mit dem Teelöffel, der neben seinem leeren Glas auf der Tischplatte lag. Er war absolut ruhig und formulierte seine Sätze mit Bedacht.

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Clément wissen, der sich nicht sicher war, ob Barans Gelassenheit Mut oder Zweifel in ihm auslöste.

»Erst die Bezahlung.« Baran sah ihn selbstbewusst an.

»Hier?«, fragte Clément.

»Natürlich. Für die Leute hier bist du ein Tourist. Sie werden mich für deinen Fahrer halten.«

Dass Touristen mittlerweile beachtenswert waren, hatte Clément in der vergangenen Woche in Istanbul gesehen. Die langen Warteschlangen vor der Hagia Sophia waren versiegt wie in heißen Sommern die Flüsse im Taurusgebirge. Die Flieger, die aus aller Welt am Flughafen Istanbul-Atatürk landeten, waren halb leer. Dass die anderen Gäste der Teestube ihn für einen leichtfertigen Urlauber halten konnten, der das Land trotz aller Warnungen besuchte, machte ihm nichts aus. Inés bemängelte seit Jahren, dass seine Kleidung auf beruflichen Einsätzen an einen Urlaub mit Familie denken ließ.

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