Betrunkene Bäume - Ada Dorian - E-Book

Betrunkene Bäume E-Book

Ada Dorian

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Beschreibung

»Ein wunderschöner, ein perfekter Text.« Klaus Kastberger, Jurymitglied des Bachmann-Preises »Kraftlos ließ er sich auf die Matratze fallen und legte den Kopf auf das Kissen. Durch die weit geöffneten Fenster drang die warme, duftende Sommerluft und bewegte die Blätter über seinem Kopf. Erich schloss die Augen und lauschte für einige Sekunden dem leisen Knistern, das die Äste an der Tapete erzeugten. Der Stamm reichte bis zur Decke und sorgte dafür, dass die Krone sich fächerförmig ausbreitete. Erich liebte den Geruch der Pflanzen, er erleichterte ihm den Schlaf. Seit die Nachbarin unter ihm gefragt hatte, ob auch er ein Problem mit feuchten Decken habe, war er noch vorsichtiger geworden. Niemand sollte ihm seinen Wald nehmen. Es war alles, was er noch hatte.« Erich ist über achtzig und verliert Stück für Stück seine Unabhängigkeit. Außerdem trauert er um die Liebe seines Lebens. Als junger Forscher hatte Erich eine Expedition in die Taiga unternommen. In jener Zeit hat er Schuld auf sich geladen, die bis heute nachwirkt und Erich vereinsamen lässt. Dann jedoch tritt Katharina in sein Leben. Sie ist von zu Hause ausgerissen, als ihr Vater die Familie verlassen hat. Berührend und poetisch beschreibt Ada Dorian die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, die um Schuld und Verrat, um Heimat und Entwurzelung kreist.

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Das Buch

Erich ist über achtzig und verliert Stück für Stück seine Unabhängigkeit. Außerdem trauert er um die Liebe seines Lebens. Als junger Forscher hatte Erich eine Expedition in die Taiga unternommen. In jener Zeit hat er Schuld auf sich geladen, die bis heute nachwirkt und Erich vereinsamen lässt. Dann jedoch tritt Katharina in sein Leben. Sie ist von zu Hause ausgerissen, als ihr Vater die Familie verlassen hat. Berührend und poetisch beschreibt Ada Dorian die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, die um Schuld und Verrat, um Heimat und Entwurzelung kreist.

Die Autorin

Ada Dorian

Betrunkene Bäume

Roman

Ullstein fünf

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ISBN 978-3-8437-1472-3

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Titelabbildung: gettyimages/CSA Images Foto der Autorin: Melanie Hauke, Berlin

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

1

In der Ferne lagen die Berge wie unter einer weichen Bettdecke. Der farblose Himmel über ihnen verriet weder Tages- noch Jahreszeit. Einzig der Geruch, ähnlich einem warmen Moor, verriet, dass der Winter sich bald von der Landschaft trennen, sie für einen kurzen Augenblick aufgedeckt zurücklassen würde, um dann blitzschnell mit noch dichterer Decke zurückzukehren.

Es gab wenig Spielraum für Spekulationen. Ein kalter Frühling ganz in Gelb, dann ein heißer kurzer Sommer, wie ein Traum, aus dem man zu früh erwacht. Die Abstufungen zwischen den Jahren waren gering. Wie groß die Eisbrocken im Fluss, wie hoch die Wälder verschneit, wie tief die Seen gefroren, es war gegeben und machte in Zentimetern keinen Unterschied für die, die hier lebten. Niemand zählte die erfrorenen Hunde auf der Straße, niemand die toten Bettler. Man konnte froh sein, wenn jemand sich erbarmte und ihre Körper wegräumte. Nicht einfach wartete, bis der nächste Schnee sie zudecken würde. Das Wetter zu dieser Zeit an diesem Ort bestimmte Tagesabläufe, verhinderte oder bedingte Reisen, hielt auf oder beschleunigte, ja es entschied Schicksale. Jeder hier wusste das, wirklich jeder. Und keiner, wirklich keiner, konnte sich ein Leben andernorts vorstellen. Es ging nicht darum, dass man diesen Ort nicht verlassen, sich nicht nach Besserem sehnen wollte. Der Rest der Welt existierte einfach nicht.

Wolodja erwachte mit schmerzendem Rücken. Mühsam richtete er sich auf der schmalen Holzbank zum Sitzen auf. In der Bahnhofshalle liefen die ersten Soldaten auf und ab. Mit denen wollte er nichts zu tun haben, nicht mit den jungen Männern, die im Gegensatz zu ihm unverbraucht und kräftig wirkten, obwohl sie sein Jahrgang hätten sein können, und nicht mit ihren Uniformen, weil sie ihm Alpträume verursachten. Wolodja verdichtete das Ausatmen zwischen Schneidezähnen und Unterlippe zu einem kurzen, klaren Pfiff, woraufhin ein Hundekopf mit wachen Augen unter der Bank hervorlugte. Klackernd öffnete sich der Rollladen vom Busschalter. Ein kleiner dicker Mann lehnte ein handgeschriebenes Schild von innen an die Scheibe. Der Bus nach Syrjanka fällt heute aus. Nach Syrjanka, so schien es Wolodja, war es ein weiter Weg. Und obwohl er nicht vorgehabt hatte, dorthin zu reisen, malte er sich aus, wie es dort sein musste. Im Sommer konnte man von Srednekolymsk einfach mit dem Boot die Kolyma bis Syrjanka hinauffahren. Doch jetzt führte der Fluss noch große Brocken Eis mit sich. Wolodja las das Schild erneut, als hätte sich dadurch eine soeben erst entdeckte Möglichkeit im selben Augenblick zerschlagen. Der Mann hinter der Scheibe rückte das Schild noch einmal zurecht und hob den Arm zum Gruß, als er Wolodja entdeckte. Dieser nickte bloß und machte sich davon. Der Hund folgte ihm in leicht federndem Trab.

Auf den Straßen überdeckte der Gestank der Kohleöfen den Geruch des nahenden Frühlings. Es war bereits Mai und mit zwei Grad am Morgen erstaunlich warm.

Wolodja öffnete seine Jacke. Aus den drei Schichten darunter stieg ein talgiger Geruch auf. Er atmete tief ein. In den nächsten Tagen würde er ein Bad brauchen. Körpergeruch machte ihm nichts aus, solange es nur sein eigener war. Auf seinem Weg wich er den Holzkarren aus, auf denen die Leute Lumpen, Kohlen oder Schutt transportierten. Der Hund spiegelte jede seiner Bewegungen und folgte ihm mäandernd durch das Viertel. Wenn Wolodja einen Soldaten sah, wechselte er die Straßenseite und bog in die nächste Gasse ab. Seit zwei Jahren hielt er sich in der Stadt auf. Mehr war es nicht, kein Wohnen, kein Leben, nur ein Aufhalten und Warten. Er kannte alle Straßen und noch so kleinen Gassen, hatte in vielen Winkeln schon geschlafen. Wenn im Winter die Temperatur unter minus vierzig Grad gefallen war, dann war er die Nächte wach geblieben und herumgelaufen. Im Wald hätte er sich eine Behausung bauen können, um nicht bei der erstbesten Gelegenheit zu erfrieren. Doch hier in der Stadt wurde er weggescheucht, sobald er ein paar Lumpen in einem Hauseingang ausbreitete. Dann drohten die Leute gleich mit der Armee. Und Wolodja wollte um keinen Preis einem von denen auffallen. Was er brauchte, war ein Ort, an dem er ungestört sein konnte, um zu überlegen, wie es mit ihm und seinem Leben weitergehen konnte. Er brauchte eine Bleibe, einen Platz zum Schlafen zumindest für einige Wochen, bis er entschieden hatte, was immer es nun zu entscheiden gab. Von Dmitri, einem Landstreicher aus den Bergen, hatte er gehört, dass es einen alten Bäcker am Rande der Stadt geben sollte, der sich über die staatlichen Zuteilungen hinwegsetzte und über seiner Backstube ein Zimmer vermietete.

»Kostet ein halbes Vermögen, aber den Duft von frisch gebackenem Brot gibt es umsonst«, hatte Dmitri gesagt und zahnlos gelächelt.

Wolodja hatte sich gewundert, warum Dmitri, der ansonsten nicht gerne teilte, diese Information an ihn abtrat.

»Ich bin schon auf halbem Weg nach Jakutsk«, hatte dieser geprahlt. Aus seinem Mund hatte es wie eine Verheißung geklungen.

»Was willst du da?«

Dmitri hob die Schultern und schürzte die Oberlippe, so dass sein nacktes Zahnfleisch zum Vorschein kam. »Was willst du hier in Srednekolymsk?«

Wolodja klopfte an die Hintertür der Backstube. Und obwohl das weiße Brot hier den Gerüchten nach mit Sägespänen gestreckt wurde und deshalb schwer im Magen lag, betörte ihn der Duft, und sein Bauch verkrampfte sich, als die Tür geöffnet wurde.

»Wer stört?«, fauchte der alte Bäckermeister.

Wolodja erklärte sein Anliegen und sah dabei zu Boden. Sein Gegenüber musterte ihn.

»Und der Hund?«

»Kann draußen schlafen.«

Der Bäcker nickte.

»Ein reinrassiger Laika?«

Wolodja betrachtete den Hund, der aufmerksam neben ihm saß.

»Ja.«

Das Zimmer hatte ein winziges Fenster, das mit einer Holzplatte verrammelt war. Durch die Ritzen drang der süßliche Geruch des frischen Brotes. Im Halbdunkel lag eine nackte Matratze, an der Wand hing ein Waschbecken.

Der Bäcker zeigte darauf. »Funktioniert nicht.«

Für einen kurzen Augenblick unterdrückte Wolodja einen tiefen stechenden Schmerz. Eine Matratze und ein Dach für ihn allein, das war mehr, als er seit langer Zeit hatte erhoffen können.

»Wie viel?«, fragte er.

Der Bäcker sagte eine Summe, die Wolodja nicht hatte.

»Monatlich im Voraus.«

Wolodja versuchte sich den Raum einzuprägen, um auf der Bank am Busbahnhof davon träumen zu können. Er musste sparen, doch erst einmal musste er Geld verdienen. Außer ein paar Stunden als Packer für die Fernbusse, die die Stadt einmal wöchentlich verließen, hatte niemand ihm Arbeit gegeben.

»Ich komme wieder.«

»Du kannst den Hund als Anzahlung dalassen«, sagte der Bäcker und griff dem Tier in den Nacken. Der Hund gab keinen Laut von sich.

Wolodja schüttelte den Kopf. »Ich komme wieder, wenn ich genug Geld habe.«

Der Bäcker lachte gehässig. »Na, dann viel Glück. Wie im Gold ist es hier nicht gerade.«

Anatoli von der Busstation hatte ihm etwas vermittelt.

»Da kannst du mit einer goldenen Nase wieder rauskommen«, prahlte er.

Wolodja war misstrauisch. Zwar kannte er Anatoli als zuverlässigen Arbeiter für die Busbetriebe, aber ebenso als Glücksspieler, der seine Schulden nicht beglich.

»Was springt für dich dabei raus?«

»Nur eine kleine Vermittlungspauschale.« Anatoli hielt die Hand vor die Augen und zeigte eine erbsengroße Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Und für mich?«

»Genug, damit du dein kleines Schlösschen für ein paar Monate bezahlen kannst und dir der Bäcker nicht in die Quere kommt.«

Wolodja nickte und sah hinunter zu dem Hund, der entspannt auf der Seite lag, als hätte er mit alldem nichts zu tun.

»Gut«, sagte er und verzog keine Miene.

Anatoli klatschte in die dicken Hände. »Nach Feierabend bringe ich dich zu ihm.«

Anatoli zerrte Wolodja in das Gasthaus. Der Eingangsbereich war so vornehm eingerichtet, dass er sich seiner selbst schämte. Die Sessel, die zu einer kleinen Gruppe um einen flachen Teetisch standen, schienen den Gästen einzig zum Verweilen zu dienen. Wolodja überlegte, wie wunderbar man auf den weichen Polstern schlafen musste. An der Decke hing ein Lüster, der wirkte, als wäre er ein Überbleibsel aus der Zarenzeit. Der Gastwirt schüttelte den Kopf, als er den Hund sah. Ohne Zögern ließ Wolodja ihn vor der Tür sitzen.

»Willst du ihn nicht anbinden?«, hatte Anatoli gefragt.

»Nicht nötig.«

Nun stand Anatoli am Tresen und gestikulierte wie sonst nur am Kartentisch. Als wäre er selbst Gast des Hauses, drehte er sich um und schlenderte auf Wolodja zu, der noch immer am Eingang stand.

»Er kommt gleich.«

Wolodja nickte und rieb vorsorglich die Handinnenflächen an seiner Hose ab. Es bildeten sich kleine Röllchen vom Schmutz der letzten Nächte im Freien. Als Anatoli ihn anstupste, sah er auf.

Der Mann, der die Treppe herunterkam, war groß und hager und viel zu dünn angezogen. Er trug ein sauberes helles Hemd, darüber einen Pullover, der nicht vermuten ließ, dass er vorhatte, das Hotel am Abend noch einmal zu verlassen. Auf langen, dünnen Beinen machte er selbstsichere Schritte auf sie zu.

»Privet.« Sein Russisch klang geborgt.

Anatoli begrüßte ihn per Handschlag.

»Guten Tag.« Er machte eine Verbeugung, als wäre ihm ein Kunststück gelungen. »Herr Warendorf ist aus Deutschland, musst du wissen«, sagte Anatoli zu Wolodja.

Wolodja spürte, wie etwas ihm die Kehle zuschnürte. Unter seinen Schichten von Jacken und Pullovern begann er zu frieren, obwohl der Eingangsbereich passabel beheizt war.

»Er wird Sie nicht verstehen«, erklärte Anatoli.

Doch Wolodja verstand jedes Wort.

»Aber ich suche einen Dolmetscher«, sagte der Deutsche.

»Und einen guten Führer für die Taiga.« Anatoli strahlte und zeigte auf Wolodja. »Sie werden keinen Besseren finden.«

Der Deutsche zuckte mit den Schultern.

»Setzen wir uns.« Anatoli hatte seine Spielermiene aufgesetzt. Jetzt konnte er dem Deutschen ein schlechtes als fabelhaftes Blatt verkaufen. Widerwillig setzte Wolodja sich zu den beiden auf einen der gepolsterten Stühle. Als er saß, merkte er, wie weich die Sessel waren, doch er wagte nicht, sich zurückzulehnen.

»Er wird Sie führen, wohin Sie wollen.«

»Und ein anderer? Der meine Sprache spricht? Der für mich übersetzen kann?«

Anatoli machte sein Unmöglich-Kopfschütteln. Täglich praktizierte er es hinter der Scheibe, wenn Busse überbucht waren oder die Passagiere drei statt der zwei erlaubten Gepäckstücke pro Kopf einzuschmuggeln versuchten.

»Er ist der Einzige. Einen anderen, der zu dem bereit ist, was Sie vorhaben … und dann noch die schlechte Bezahlung.«

Anatoli ließ sich enttäuscht nach hinten fallen, als überlegte er, das Blatt hinzuwerfen.

»Das Budget des Instituts ist begrenzt«, erklärte der Deutsche und versuchte, die Ware, die hier verhandelt wurde, nicht direkt anzusehen. Wolodja starrte zu Boden. Der Teppich des Aufenthaltsraums war dunkelrot mit beigefarbenen, fast golden wirkenden Ornamenten. Er betrachtete die eigenen abgelaufenen Schuhe auf dem Muster. Dann schielte er auf die Lederhalbschuhe, die der Deutsche trug. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte jeder in diesem Raum den Deutschen nur für seine Schuhe eigenhändig erwürgt. Das war noch nicht allzu lange her. Wolodja rechnete zurück. Fünfzehn Jahre nur, seit der Krieg vorbei war, fünfzehn Jahre, die über den Verbleib eines Paars Schuhe entschieden.

»Einen Hund gebe ich Ihnen obendrauf«, schob Anatoli nach, als hätte er es sich soeben ausgedacht.

Wolodja ließ sich nichts anmerken.

Der Deutsche nickte. »Wie regeln Sie hier die … Bezahlung?«

»Gold.« Anatoli ließ sein Gewinnerlachen hören. »Oder Bargeld.«

Der Deutsche ging in sein Zimmer und kam mit einem Bündel Geldscheine zurück, die er dem Busbeamten aushändigte. Dieser steckte einen großen Teil davon in die eigene Tasche und gab Wolodja den Rest.

Auf dem Weg zurück zur Busstation erklärte Anatoli ihm, was der Fremde hier wollte. Soweit er es verstanden hatte, war der Deutsche Wissenschaftler und arbeitete in Berlin an einem Institut, das seit einigen Jahren enge Kontakte zu den russischen Universitäten pflegte.

»Hier in der Gegend gibt es keine Universität«, sagte Wolodja.

»Aber Bäume, Bäume haben wir mehr in den Wäldern als die gesamte Sowjetunion Wissenschaftler.« Er schmunzelte über die eigene Klugheit.

»Was will er im Wald?«

Anatoli zuckte mit den Achseln. »Für die Scheine, die du in der Tasche hast, sollte das egal sein. Bring ihn, wohin er will, zeig ihm, was er sehen will. In ein paar Monaten bist du wieder hier und kannst in dein Schlösschen einziehen.«

»Monate?« Nicht, dass Wolodja etwas Besseres vorgehabt hätte.

Anatoli machte sein Heute-fällt-der-Bus-nach-Nishnekolymsk-aus-Gesicht und legte den Kopf schief. »Hatte ich das nicht erwähnt?«

»Ich hatte mit ein paar Tagen gerechnet.«

Der Busbeamte lachte. »Hast du mal die Scheine in deiner Tasche gezählt? Ein paar Tage, pah. Wenn du zurückkommst, bist du ein gemachter Mann. In der Wildnis wirst du das Geld wohl kaum ausgeben. Ach, wo wir gerade darüber sprechen, soll ich es vielleicht für dich verwahren, solange du weg bist?«

Wolodja schüttelte den Kopf.

Nachdem Anatoli seine Aktentasche aus dem Kartenhäuschen der Busstation geholt hatte und grußlos gegangen war, suchte Wolodja sich auf einer der Bänke einen Platz zum Schlafen. Der Hund kroch unter die Sitzfläche und verstaute die Schnauze unter seinem buschigen Schwanz. In der Nacht fror es erneut, doch die Temperaturen waren es nicht, die Wolodja wachhielten. Nachdem er sich unter der zugigen Überdachung mehrfach von rechts nach links gedreht und noch einmal die Bank gewechselt hatte, saß er im Dunkel der sibirischen Nacht und studierte die Fahrpreise auf der handgeschriebenen Tafel. Am nächsten Tag gingen Busse in drei Richtungen. Am Morgen hatte einer von Anatolis Kollegen Dienst. Ihm würde es nicht auffallen, wenn Wolodja eine Fahrkarte für die weiteste Strecke lösen und einfach verschwinden würde. Er nahm die Scheine aus der Tasche und zählte sie. Dann hätte er immer noch genug Geld, um sich an einem anderen Ort ein ebenso gutes Zimmer wie das über der Backstube zu nehmen. Für mehrere Monate sogar. Oder er könnte den Sommer allein in den Wäldern verbringen und das Geld für den unwirtlichen Winter sparen. Ein Zimmer war im Winter mehr wert als jetzt, wo der Frühling begann.

Er dachte an die Stimme des Deutschen und daran, wie er Anatoli am Ende des Gesprächs beiseitegenommen und gefragt hatte, ob er für ihn, Wolodja, ein Zimmer organisieren solle. Er hatte schon an vielen ihm fremden Plätzen übernachtet, war sozusagen zu Gast gewesen, doch noch nie in einem Gasthaus. Er konnte sich nicht ausmalen, wie die Zimmer dort aussahen.

Wolodja steckte das Geld zurück in die Tasche und ging erneut die Ziele der Fernbusse durch. Dabei klangen die deutschen Worte des Wissenschaftlers in seinem Kopf. So wie man nach Jahren der Untätigkeit eine Angel auswirft und den Schwung und die Geschmeidigkeit in den Armen nicht verlernt hat, so hatte auch Wolodja sich an die Worte erinnert. Nur mit zwei Menschen hatte er je Deutsch gesprochen, und er hatte nicht vor, das zu ändern.

2

Aus dem Fenster betrachtet, war lediglich ein kleiner Ausschnitt der Straße zu sehen, ähnlich einem Bild. Nur wenn er ganz dicht an die Fensterbank trat, eröffnete sich eine neue Perspektive, erweiterte sich der Blick. Es gibt Straßen in großen Städten, die sehen in hundert Jahren noch aus wie heute, weil sie bereits vor hundert Jahren so ausgesehen haben, dachte er. Und es gibt Straßen, die ihr Gesicht permanent verändern. Seine Straße gehörte zu den letzteren. Wechselnde Bewohner hatten Aussehen, Geräusche und Gerüche beim Einzug mitgebracht wie Gepäck und beim Auszug wieder mitgenommen. Früher war die Gegend hauptsächlich von Arbeitern bewohnt gewesen, deren Frauen am Tage aus den Fenstern riefen, Bürgersteige und Einkaufsläden bevölkerten. Es roch nach Suppe und abends hörte man ab und zu einen Streit. Als sie gingen, in den anderen Teil des Landes, blieb eine Leere zurück, die lange nicht gefüllt werden konnte. Nachbarfenster blieben dunkel, man hörte nur vereinzelt Schritte auf dem Pflaster. Die Fassaden, die ihm bis dahin nicht weiter aufgefallen waren, wirkten plötzlich heruntergekommen, abgelebt. Es dauerte, bis sie ein neues Kleid bekamen, bis wieder jemand hier leben wollte. Manche kehrten zurück, manche nicht. Die Leerstellen wurden gefüllt mit Dingen, die er nie zuvor gesehen, gehört oder gerochen hatte. Er hörte fremde Sprachen oder die eigene in ungewohnter Form, roch die fremden Töpfe und sah neue Namen über ehemals verwaisten Läden. Gegenüber kann man nun nach Übersee telefonieren, weiter die Straße hinunter gibt es ein Automatencasino mit bunten Lichtern. Gerade noch zu sehen, wenn er sich bei geöffnetem Fenster etwas hinauslehnt. Die neuen Nachbarn sind freundlich, aber distanziert seit der Wende. Man ist für sich und er selbst mehr allein als früher, als er die Eheleute von gegenüber noch kannte. Und obwohl kaum noch einer in den anderen Teil des Landes will, immer wieder Leerstand. Hier im Haus allein drei Wohnungen. Dort fehlen die Namensschilder an den Türen und auch unten am Klingelbrett. Sonst würde man es kaum bemerken. Nur leiser ist es im Haus, weniger Bewohner machen weniger Lärm. Früher hat man zu viert oder zu fünft hier gewohnt, in kleinen Wohnungen. Heute scheint man mehr Platz um sich zu brauchen. Viele wohnen allein. Auch das ist leiser.

Erich schlug sich mit der flachen Hand gegen den rechten Oberschenkel, als wollte er ein lahmes Pferd antreiben. Dann setzte er den Fuß auf den ersten Absatz und holte den anderen nach.

Stufe für Stufe nahm er die fünf Stockwerke nach unten. Auf jedem Treppenabsatz blieb er stehen und warf einen Blick zwischen den Geländerstäben hindurch in die Tiefe. Jedes Mal fluchte er leise und meinte damit eigentlich mehr sein Bein als die vielen Stockwerke. Als er hier eingezogen war, hatte man sich eine solche Situation noch nicht vorstellen können. Wer kann sich das Alter überhaupt vorstellen, dachte er und fluchte erneut.

Noch lange vor der Drohkulisse mit dem Heim hatte Irina ihm nahegelegt, in eine Wohnung im Parterre zu ziehen. Erich hatte damals nichts von der Idee gehalten, heute bereute er es manchmal, doch das sagte er Irina nicht. In der letzten Zeit war keine solche Wohnung im Haus mehr frei geworden und woanders hinziehen kam nicht in Frage. Irina verstand das nicht, wusste sie ja nicht, was er zu verlieren hatte.

»Geschafft«, sagte Erich zu seinem Bein.

Der beigefarbene Commodore wirkte auf seinem Parkplatz vor der Haustür wie festgewachsen. Blätter und vertrocknete Blüten hatten sich um die Reifen gesammelt und steckten hinter den Scheibenwischern. Die Heckscheibe war von dem Saft der ausladenden Linde fast vollständig verklebt.

»Schweinerei.« Erich nahm einen Stein vom Dach des Wagens, der eine deutliche Delle und eine Macke im Lack hinterlassen hatte. Aus Reflex sah Erich nach oben. Als er das gegenüberliegende Haus nur verschwommen wahrnahm, fasste er an seine Brusttasche.

»Verdammt.«

Die Brille musste in der Küche liegen, wo er am Morgen die Zeitung zu lesen pflegte. Erich verwarf den Gedanken, die fünf Stockwerke noch einmal rauf- und wieder hinunterzulaufen. In Momenten wie diesem versuchte er Erinnerungen an früher zu unterdrücken, als er eine Treppe im Dauerlauf, jeweils zwei Stufen überspringend, genommen hatte.

»Verdammt noch mal.« Erich warf den Stein in die Gosse und schloss die Fahrertür auf. Er wollte im Baumarkt Erde für die Zöglinge kaufen. Den Weg kannte er, es würde schon gehen. Noch bis vor wenigen Jahren war er den Weg gegangen und hatte erst zwei 10-Liter-Pakete Humus nach Hause getragen, am Ende nur noch eines. An der Kasse hatte man sich über seine regelmäßigen Einkäufe gewundert, gefragt, ob er in dieser dichtbesiedelten Gegend einen Garten habe.

»So ähnlich«, hatte er dann geantwortet.

Bis dorthin ging es hauptsächlich geradeaus, drei Ampeln, da würde er besonders aufpassen müssen. Erich startete den Wagen. Der Commodore klang, wie sein Knie sich beim Treten des Gaspedals anfühlte.

Er parkte aus. Wie gut, dass Irina ihn jetzt nicht sehen konnte. Er wusste, was sie gesagt hätte. Doch diese Freiheit hatte er sich bewahrt. An der ersten Ampel hielt er hinter einem roten Sportwagen, an der zweiten hinter einem schwarzen Geländewagen. Nur noch eine und dann später zurück. Er hielt an der dafür vorgesehenen Stelle, weil er das Ampellicht nicht erkennen konnte. Erich beugte sich nach vorne, so weit es über das Lenkrad eben ging, und kniff die Augen zusammen. Keine Chance, die Ampel zu erkennen. Hinter ihm hupte es. Erich nahm das als eindeutiges Zeichen und fuhr auf die Kreuzung. Plötzlich ein dunkler Schatten von links, Erich riss das Lenkrad herum. Der Wagen hüpfte über eine Verkehrsinsel, schlingerte unkontrolliert und rammte einen der Bäume am Straßenrand. Durch den Aufprall nach vorne geworfen, prallte er mit der Stirn gegen das Lenkrad. Blechern schlugen Gegenstände auf die Motorhaube. Erich sah auf.

Juglans regia, dachte er. Walnussbaum. Er schmeckte den Qualm, der durch das geöffnete Fenster zu ihm ins Wageninnere wehte. Dann verlor er das Bewusstsein.

»Erich«, rief eine Frauenstimme. Wobei es eher nach Errisch, mit Doppel-r und sch, klang. »Errisch.«

»Dawai, dawai«, hörte er die Stimme erneut.

Erich wusste, zu wem sie gehörte. Hunderte Male hatte er seinen Namen von ihr auf diese Weise vernommen.

»Errisch.«

Er sah sich um. Nur einzelne Tannen stachen aus dem aufsteigenden Rauch hervor und wurden dann wieder von dem umherwehenden Dunst geschluckt.

»Wo seid ihr?« Erich hörte die eigene Stimme laut in seinem Kopf. Sie brach an nichts, spiegelte die Weite des Himmels, die an diesem Morgen nicht sichtbar, aber dafür umso deutlicher hörbar war. Er machte einige schnelle Schritte in Richtung Waldrand und ließ sich vom warmen Qualm schlucken. Er atmete schwer, hielt sich, wie er es gelernt hatte, ein Taschentuch vor Mund und Nase.

»Wo seid ihr?«

Doch niemand antwortete ihm. Als kaum noch Sauerstoff zum Atmen vorhanden schien, ließ er sich an einem Stamm nieder. Über dem kühlen Waldboden, den die Brände noch nicht erreicht hatten, fiel ihm das Atmen leichter. Er ließ das Tuch sinken und lehnte erschöpft den Kopf an die Rinde. Ohne sich umzudrehen, ohne den Stamm zu befühlen, wusste Erich, dass er an einer Zirbelkiefer lehnte. Der Umfang des Baumes verriet sein Alter, das in dieser Gegend geradezu biblisch war. Erich füllte erneut tief seine Lunge. Der Baum atmete mit ihm.

»Errisch«, hörte er aus der Ferne zwischen den Bäumen. Er erahnte zwei Silhouetten, die stillstanden, als würden sie Ausschau nach ihm halten, und sich dann langsam entfernten. Erich sprang auf und suchte in dem hier oben so viel dichteren Rauch nach einem Anhaltspunkt. Er tastete nach dem Baum in seinem Rücken und stieß sich ab, doch blieben seine Füße an Ort und Stelle.

»Wartet«, rief er in den unsichtbaren Wald hinein. Erich kniff die Augen gegen den Qualm zusammen, doch konnte er die beiden Gestalten nicht mehr ausmachen. Er wollte ihnen folgen, seine Füße aber schienen wie jene Zirbeln um ihn herum auf hundert Jahre mit dem Erdboden verwachsen. Er rief nach ihnen, doch sie kehrten nicht zurück.

»War-tet«, murmelte Erich, sein Geist entzog sich dem Traum. Er wollte bleiben, wollte in der Situation verweilen. »Wartet«, wiederholte er etwas deutlicher. Dann überkam ihn ein Husten, als wollte seine Lunge den Rauch früherer Jahre loswerden.

»Er wird noch etwas wirr sein«, hörte er jemanden in direkter Nähe sagen.

Als Erich langsam die Augen öffnete, erkannte er die Umrisse einer Frau in Weiß. Daneben stand, so viel erkannte er auch ohne Brille, Irina.

»Was machst du denn?«, fragte sie, erwartete aber anscheinend keine Antwort von ihm, denn sie plapperte direkt weiter. Dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, dass ihm nicht viel passiert sei.

»Du bleibst nur zur Beobachtung hier. In drei Tagen, vielleicht vier Tagen kannst du nach Hause.«

Erichs Kopf schmerzte. Er versuchte sich aufzusetzen, und sofort waren beide Frauen zur Stelle. Irina wehrte er ab, die Schwester ließ er gewähren, die konnte nichts dafür, es war schließlich ihre Aufgabe.

Erich betastete den Verband, der Stirn und rechte Schläfe polsterte.

»Vier Stiche und eine dicke Beule«, sagte Irina.

»Und … der … Wagen?« Erich hörte sich selbst, als hätte er ein Jahr nicht gesprochen. Seine Stimme klang leise und fühlte sich ungeübt an.

Irina schnaubte empört. »Abgeschleppt.«

Erich bat um ein Glas Wasser, das die Schwester ihm holte.

»Und wo … ist er … jetzt?«

»In einer Werkstatt vermutlich.«

Erich nickte, wobei ein Stich durch seine Stirn fuhr.

»Ich bringe Ihnen gleich etwas gegen die Schmerzen.« Die Schwester stellte das Wasser auf seinem Nachttisch ab. Erich vermied ein Nicken.

»Sagen Sie … kann ich hier … ein Telefon … haben?«

»Gegen Aufpreis, ja«, erklärte die Schwester.

»Das wird nicht nötig sein, für die paar Tage.« Irina winkte ab, und die Schwester verschwand, bevor Erich widersprechen konnte.

Er dachte an die Telefonate, die zu Hause eingingen. Der Apparat würde klingeln und niemand würde rangehen. Der Professor würde sich wundern. Erich musste ihm Bescheid geben.

»Soll ich dir ein paar Sachen aus deiner Wohnung holen?«

»Nein«, schoss es heiser aus Erich heraus. Irina stutzte.

»Nicht nötig«, schob er leise nach und trank einen Schluck.

»Unbedingt ein Telefon brauchen, aber bloß keine frischen Unterhosen.« Sie schüttelte den Kopf.

3

Orangerote Schleier hingen hoch am abendlichen Himmel. Dahinter ein Blau, das sich den ganzen Tag und auch die letzten Wochen gezeigt hatte. Der Sommer hielt sich für unsterblich. Er trotzte der einbrechenden Nacht mit seinem Farbenspiel und ließ die Temperaturen kaum merklich sinken. Dagegen standen schwarz drei Türme. Zweimal zwanzig Stockwerke, einmal fünfzehn. In Letzterem hatte die Kneipe geöffnet. Gerade ging die Außenbeleuchtung an. Die Plastikstühle auf der kleinen Betonterrasse waren nicht besetzt. Hier trank man nicht oder nur selten. Hier nahm man mit, nach oben, in die eigenen vier Wände. Nun leuchtete auch das Schild: Trinkhalle. Die Besitzerin stand unbeweglich hinter der Scheibe. Über ihr die Wohnungen, manche der Fenster bereits erleuchtet. Die Fassade mit den grauen und roten Platten ergab ein Muster. Ein verzweifelter Versuch, etwas Unansehnliches zu etwas Ansehnlichem zu machen. Es gab keine Balkone, nur kleine Austritte am Ende jedes Stockwerks. Auf einem von ihnen, weit oben, stand ein Mann und rauchte. Und der Rauch seiner Zigarette schien sich mit dem schwindenden orangefarbenen Dunst am Himmel zu verflüchtigen.

Katharina musste nicht lange warten, bis erst das Licht im Schlafzimmer und dann das im Badezimmerfenster erlosch. Nur wenige Sekunden danach – Katharina ging in Gedanken den Weg von der Wohnungstür zum Fahrstuhl die sechs Stockwerke hinunter am Müllschacht vorbei – drückte ihre Mutter um halb elf Uhr nachts, präzise und verlässlich, die Haustür mit dem gesamten Gewicht ihres Körpers auf. Die wehrhafte Bewegung ihrer schlanken Glieder verriet, dass sie müde und die Tür schwerer als sonst war. Katharina trat einen Schritt zurück in den Schatten zwischen den Papiermülltonnen.

Unzählige Male hatte ihre Mutter Katharina auf dem Handy angerufen. In der ersten Woche bis zu fünfmal täglich. Ihre Stimme auf der Mailbox hatte weich und schuldbewusst geklungen. Manche der Nachrichten hatte Katharina sich mehrfach angehört, so als könnte sie ihren Inhalt nicht glauben. Weil sie nicht abnahm, hatte ihre Mutter in der zweiten Woche damit begonnen, ihr Nachrichten zu schicken. Sie bewahrte die Nachrichten auf, als könnte die Summe der Kontaktversuche ihr etwas über den Stand ihrer Beziehung verraten.

Ihre Mutter trug trotz der Wärme einen Mantel über dem Arm. Katharina wusste, dass sie am Morgen nach der Nachtschicht oft fror. Morgens um sechs, wenn sie Feierabend hatte, würde sie in den Mantel schlüpfen wie in ein gemachtes Bett. Er würde sie auf der langen Fahrt mit dem Bus wärmen. Gegen sieben Uhr, wenn Katharina zur Schule aufgestanden war, hatte ihre Mutter, noch immer im Mantel, in der Küche gestanden und Tee gekocht. Dabei hatte sie immer so müde ausgesehen, dass Katharina und der Vater kaum etwas dazu zu sagen wussten.

»Leg dich hin«, hatte vielleicht einer von ihnen gesagt und ihr die Kanne aus den eiskalten Händen genommen. Seit einigen Tagen gab es niemanden mehr, der sie ins Bett schickte.

Katharina schloss die Wohnungstür auf. Einen Augenblick zögerte sie, Licht zu machen, so als könnte die Beleuchtung sichtbar machen, was hier falsch lief. Dann betätigte sie doch den Schalter und wunderte sich über die Ordnung. Alles schien an seinem Platz zu sein, alles außer ihr und ihrem Vater. Die Schuhe im Flur, sonst einem Schuttberg ähnlich angehäuft, standen mit den Fersen zur Wand in einer Reihe. Es waren ausschließlich Schuhe der Mutter, Katharinas musste sie weggeräumt haben. Hoffentlich nicht weggeworfen, dachte sie und spürte, wie ein ungutes Gefühl sich in ihrem Brustkorb ausbreitete. Auch die Garderobe war leerer. Katharina vermisste eine Jeansjacke und ein kariertes Hemd, das sie noch vor kurzem zusammengeknüllt auf der oberen Ablage deponiert hatte. Lediglich die Sommerjacke der Mutter hing mit geschlossenem Reißverschluss zwischen ansonsten leeren Bügeln. Katharina streifte im Vorbeigehen den Stoff mit der Schulter. Wie bei einer unerwarteten Berührung zuckte sie zusammen.

In der Küche beachtete sie die Ordnung nicht weiter. Der Kühlschrank war mäßig gefüllt. Mit tropfenden Fingern stand sie vor der geöffneten Kühlschranktür und stopfte Wiener Würstchen aus dem Glas in sich hinein. Eigentlich war sie seit einem Vierteljahr Vegetarierin, hatte deshalb die seltenen Familienmahlzeiten gemieden. Die Mutter hatte sich geweigert, für Katharinas neuesten Spleen zusätzlich etwas zu kochen. Und Katharina hatte auf ihrer Position beharrt. Lieber aß sie Pommes mit Felix im Park als Gulasch mit den Eltern.

Doch jetzt hatte sie Hunger. Ein weiteres Wiener Würstchen verschwand mit wenigen Bissen in ihrem Mund. Es folgten einige Scheiben Toast mit Butter und Käse sowie ein halbvolles Glas saurer Gurken und mehrere Scheiben Aufschnitt.

Seit Tagen zum ersten Mal richtig satt, ging sie in ihr Zimmer und nahm den vertrauten Geruch wahr, der ihr eigener war. Alles, was ihr bis vor wenigen Wochen das Wichtigste gewesen war, schien nichts mehr zu gelten. Auf dem Bett lag frisch gebügelte Wäsche. Katharina schob sie beiseite und setzte sich. Die im Flur vermissten Schuhe standen unter dem Fenster. Das karierte Hemd lag gefaltet im Regal. Ansonsten schien alles seinen so zurückgelassenen Platz nicht verlassen zu haben. Nur an der Nachttischlampe lehnte eine ihr unbekannte Postkarte. Auf dem Bild nichts als Bäume. Ein dichter Wald, oben waren die Wipfel, unten die Stämme angeschnitten. Man sah keinen Boden und keinen Himmel. Auf der Rückseite die ordentliche Schrift ihres Vaters, jeder Buchstabe wie eine Skizze von etwas Größerem, rechte Winkel, kreisrunde Bögen. Katharina atmete ein, ohne auszuatmen.

Liebe Kathi,

bin gut angekommen.

Es gibt hier nichts als das, was das Foto zeigt.

Vertrag Dich mit Mama. Vermisse Dich.

Papa

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