Die Zarentochter - Petra Durst-Benning - E-Book

Die Zarentochter E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

Das spannende Schicksal der Königin von Württemberg Der Zarenhof in Petersburg, 1840er. Die junge Großfürstin Olga muss den Erwartungen ihres Vaters gerecht werden und eine gute Partie machen. Doch ihr Herz will etwas anderes als die hohe Diplomatie, sie weiß, dass der goldene Käfig ihr nicht genug ist.  Sie findet ihre große Liebe, aber das politische Kalkül der Königshäuser nimmt auf Gefühle keine Rücksicht. Ein ergreifender Roman über die Liebe und das Leben – und über eine junge Frau, die allen Widerständen zum Trotz ihr Glück findet.  Auch eine junge Fürstin muss für ihre Liebe und ihr Glück kämpfen. Band 1: Die Zuckerbäckerin Band 2: Die Zarentochter Band 3: Die russische Herzogin

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Petra Durst-Benning

Historischer Roman

List

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-471-92003-9

© 2009 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Schöne Lesestunden wünscht herzlichst

Petra Durst-Benning

Für die Liebe meines Lebens

Im Frühling, im Überschwang meiner Jugendgleiche ich der Schwalbe, die bald da-, bald dorthin fliegt, ich ging, wohin das Herz es befahl.

Clément Marot (1496 bis 1544)

PROLOG

St. Petersburg, 14. Dezember 1825

Die Stiefel der Männer klackten laut auf dem gewienerten Parkettboden des Kabinettzimmers. Immer mehr drängten in den Raum. Das Licht wurde von den Mengen schwarzen Leders aufgefressen. Kleine Holzspäne flogen in die Luft, abgerieben von den mit eisernen Kappen und Nägeln beschlagenen Absätzen. Die Stiefel versammelten sich in einem Halbrund vor dem riesigen Schreibtisch, Schneeklumpen lösten sich von den Schäften und fielen kalt und weiß zu Boden. Wasserlachen bildeten sich ringsum.

Voller Entsetzen starrte das Kind auf den geschundenen Boden.

Wenn das Pjotr sah! Vaters Kammerdiener, der immer darauf achtete, dass keines der Kinder mit verdreckten oder nassen Straßenschuhen Vaters Heiligtum betrat!

Unwillkürlich fiel der Blick des Kindes auf die eigenen Füße, die in groben Wollstrümpfen steckten. Genau wie die zwei Fußpaare neben ihm, die Mary und Sascha gehörten.

Zu dritt kauerten die Geschwister hinter dem riesigen Vertiko, das den düster getäfelten Raum in einen Arbeitsbereich und einen halb privaten Wohnraum trennte.

»Was wollt ihr?«, herrschte ihr Vater die Männer an. Wie ein angriffslustiger Löwe stand er hinter seinem Schreibtisch. Rund um seine Füße gab es keine Wasserlachen.

»Du weißt, was wir wollen!« Eine unbekannte Stimme, böse.

»Unsere Freiheit!« Schneidend wie ein Schwert, diese Stimme. »Und Demokratie!«

»Für eine Klärung der Machtverhältnisse wollen wir sorgen!«

»Den Thron für Konstantin!«

Olly hielt sich die Ohren zu, um dem lauten Stimmengewirr zu entkommen. Konstantin! Die Männer meinten ihren Onkel mit den struppigen Augenbrauen, die wie kleine Tiere aussahen. Der Gedanke an Onkel Konstantin vertrieb einen Moment lang Ollys Angst, doch dann erinnerte sie sich daran, dass ihre Mutter immer die Nase rümpfte, wenn die Rede auf ihn kam. Er sei seltsam, meinte sie.

»Eine Klärung der Machtverhältnisse?«

Die Stimme ihres Vaters klang dumpf durch die gewölbten Handflächen an ihre Ohren.

»Freiheit, Demokratie – ihr müsstet euch mal reden hören! Wie ein Haufen Schwachsinniger hört ihr euch an.«

Mary und Olly tauschten einen Blick. Wenn der Vater so wütend war, legte man sich am besten nicht noch mehr mit ihm an. Aber das wussten die fremden Besucher scheinbar nicht …

Durch die offene Tür kroch eisige Winterluft. Um der vom Boden aufsteigenden Kälte zu entgehen, kauerte sich Olly auf ihre Fersen.

Ach, warum waren sie überhaupt in den riesengroßen, schrecklichen Winterpalast gezogen! In ihrem alten Zuhause, dem Anitschkow-Palast, hätten Sascha, Mary und sie jetzt bestimmt in ihren eigenen Zimmern gespielt. Dort war es gemütlich, dort hätten sie sich nicht so verloren gefühlt wie hier. Nach Tagen wussten die Geschwister immer noch nicht genau, wo inmitten der tausend Räume die Gemächer der Eltern lagen. Auch hatten sie Mühe, ihre eigenen Zimmer zu finden.

Die laute Stimme des Vaters beendete Olgas Tagträumereien.

»Ihr wisst, dass ich sofort nach Bekanntwerden von Alexanders Tod einen Eid auf Konstantin geleistet habe. Gern hätte ich ihm meine treue Gefolgschaft zugesichert. Es ist euch jedoch genauso bekannt wie mir, dass mein älterer Bruder schon vor Ewigkeiten in einem Geheimpapier auf die Thronfolge verzichtet hat. Bis er seinen Verzicht nun auch offiziell und in aller Öffentlichkeit ausspricht, kann es sich nur noch um wenige Tage handeln. Danach werde ich als Drittgeborener die Krone übernehmen – so sieht es das Gesetz vor. Was also macht ihr mir zum Vorwurf? Dass ich – im Gegensatz zu euch – Ehre und Großmut im Leib habe?« Bei den letzten Worten machte ihr Vater einen Schritt nach vorn. Sofort wurde der Halbkreis von Stiefeln um ihn herum enger. Mit angehaltenem Atem lugte Olly vorsichtig hinter dem Vertiko hervor.

Die Männer hatten ihre Schwerter gezückt und hielten sie ihrem Vater entgegen! Olly konnte gegen das Wimmern, das aus ihrem Mund drang, nichts tun. Sofort bekam sie von Sascha einen Stoß in die Rippen. Wenigstens schob er nicht ihre Hand weg, sondern drückte sie sogar, was Olly tröstlich fand. Im nächsten Moment spürte sie auch Marys Arm um sich herum. Die ältere Schwester zitterte wie Espenlaub.

»Wir werden es nicht zulassen, dass Ihr auf dem Grab unseres verstorbenen Zaren Alexander einen Freudentanz vollführt! Die Lage ist ernst, Großfürst Nikolaus. Nicht nur wir, auch unsere Regimenter werden Euch den Eid verweigern!«

Olly runzelte die Stirn. War das nicht Onkel Dimitri?

Sascha biss die Zähne aufeinander. Seine Wangen hoben und senkten sich dabei wie die eines Hundes, der auf einem Knochen kaut. Bestimmt hat auch er die Stimme von Onkel Dimitri erkannt, dachte Olly.

Der Bruder war ein glühender Bewunderer von Papas Freund – jedes Mal, wenn der Stabshauptmann der Leibgarde des Moskauer Regiments hier in St. Petersburg weilte, heftete sich Sascha an seine Fersen. Wenn er groß wäre, wolle er auch ein Regiment führen, erklärte er den Schwestern dann großspurig. Weder die dreijährige Olly noch Mary mit ihren sechs Jahren interessierten sich für Saschas Pläne, aber den Onkel mochten sie ebenfalls, denn immer brachte er ihnen eine Kleinigkeit mit. Das letzte Mal waren es Silberkugeln gewesen, in denen kleine Glöckchen verborgen waren. Als sie lautstark gewetteifert hatten, wer die Kugeln am weitesten rollen konnte, hatte Onkel Dimitri gelacht und gemeint, die Romanow-Kinder würden sich auch nicht besser benehmen als gewöhnliche Straßengören.

Doch jetzt baute sich Dimitri vor ihrem Vater auf und schrie: »Die Zeit ist reif für eine Revolution, das Volk ruft nach Demokratie und Freiheit!«

»Ein Aufstand? Und du mittendrin, mein lieber Dimitri? Alles hätte ich von dir gedacht, nur das nicht … Hier, auf meiner Seite müsstest du stehen!« Papas Stimme war eiskalt, so kalt, dass Olly ein Schauer über den Rücken lief.

Die Schwerter funkelten noch immer. Sascha hatte einmal gesagt, man könne damit einen Menschen ermorden.

»Ihr wollt Freiheit und Demokratie? Dann stich zu, mein lieber Freund. Hier, mitten in mein Herz. Aber bedenke, dass du damit auch das Herz Russlands triffst. Denn meine Herrschaft ist von Gott gewollt, daran werdet auch ihr nichts ändern. Euren revolutionären Umtrieben werde ich den Garaus machen, und wenn’s das Letzte ist, was ich tue.«

»Nikolaus … Zwing mich nicht, zum Äußersten zu gehen. Wir fordern nicht deinen Tod, nur deine Abdankung und –«

»Stich zu! Los! Sei nicht auch noch ein Feigling, wenn du schon ein Dummkopf bist, Dimitri!«

Die Stimmen verschwammen für Olly zu einem wilden Surren, als wäre ein Bienenstock aufgeflogen. Im nächsten Moment wurde es um ihre Beine herum tröstlich warm.

Die Stiefel trampelten, die Männer schrien. Warm rann es ihre Schenkel hinab.

»Dimitri, Fürst Sergei Petrowitsch Trubetzkoi, Sergei Grigorjewitsch Wolkonski, Pawel Iwanowitsch – alle standen sie hier und verweigerten mir den Gehorsam … Gute Männer. Zumindest habe ich das bis zum heutigen Tag geglaubt.« Müde saß ihr Vater hinter seinem Schreibtisch, während die Mutter seinen Nacken massierte, so wie er es gern hatte.

»Dass etwas in der Luft lag, habe ich schon heute Mittag bei meiner Fahrt durch die Stadt gespürt. Simonow hatte mich außerdem davon in Kenntnis gesetzt, dass sich auf dem Senatsplatz ein paar wild gewordene Matrosen und Soldaten zusammenrotten würden. Aber dass auch viele meiner Generäle und Offiziere darunter sind – davon hat er nichts gesagt. Nie hätte ich gedacht, dass die Männer es tatsächlich wagen würden, mich hier im Palast –« Mit einem Seitenblick auf die Kinder brach er ab. »Wenn Simonow und seine Gefolgschaft nicht gekommen wären, nicht auszudenken!«

Die Geschwister duckten sich – jetzt bloß nicht auffallen und weggeschickt werden. Mit gekreuzten Beinen machte Olly noch einen Schritt zurück. Inzwischen war es ihr um ihre Beine nicht mehr wohlig warm, sondern nass und eklig. Wie ein Säugling hatte sie sich in die Hose gemacht …

»Ausgerechnet Dimitri … Der Mann stand mir nahe wie ein Bruder.« Einen Moment lang klang die Stimme ihres Vaters tränenerstickt.

»Dem Himmel sei Dank hast du ihn und alle anderen zur Räson bringen können. Wenn ich gewusst hätte, was hier los ist, während ich mir in der Eremitage Ölgemälde für meinen Salon aussuche – tausend Tode wäre ich gestorben!«

Beim Anblick seiner Frau, die nun ebenfalls den Tränen nahe war, richtete sich Nikolaus wieder auf. Besänftigend tätschelte er ihre Hand. »Umso besser, dass du nichts wusstest. Aufregung tut in deinem Zustand nicht not …«

Mit Erleichterung sah Olly, dass sich das Gesicht ihrer Mutter wieder erhellte.

»Jetzt, wo du tatsächlich Russlands Kaiser wirst, kommt unser nächstes Kind purpurfarben gewandet zur Welt …« Fast andächtig hielt sie ihren dicken Bauch.

»Aber meine Liebste, wir wollen doch den Namen unserer Vorväter verwenden! Andere Länder mögen vielleicht Kaiser haben – unser Russland hat einen Zaren, und das von Gottes Gnaden. Und als Zar werde ich Ungehorsam nicht dulden. Den Garaus mache ich den Vaterlandsverrätern, und wenn ich dafür bis an mein Lebensende brauche! Aber als Erstes muss ich mir eine Leibgarde zulegen, die ich bezüglich ihrer Loyalität auf Herz und Nieren prüfen werde.«

Wie stechend Vaters Blick war! Olly schauderte.

»Mein Bruder war ein guter Landesvater, aber nach den Jahren religiöser Verklärung ist es an der Zeit, neue Saiten aufzuziehen.«

»Übernehmen Sie jetzt, wo Onkel Alexander im Himmel ist, seine Arbeit?«, fragte Sascha mit großen Augen. »Braucht man dazu Pferde? Und Regimenter? Und Waffen? Ich könnte Ihnen dabei helfen, eine Uniform hätt ich immerhin schon …«

Mary erwachte nun ebenfalls aus ihrer Starre. »Das muss eine schreckliche Arbeit sein, wenn man mit so bösen Männern zu tun hat!«

»Wenn die bösen Männer nicht gegangen wären, hätte ich Sie vor ihnen gerettet!«

Eifersüchtig beobachtete Olly, wie Sascha für seine Bemerkung nicht nur ein Lachen, sondern auch noch einen Klaps auf die Schulter bekam. »Mein tapferer kleiner Soldat!«

»Ich war auch tapfer!«, blökte Mary wie ein Schaf hinterher. »Nur Olly hat sich in die Hose gemacht …«

»Ach Kind, musste das sein?« Unter dem tadelnden Blick ihrer Mutter starrte Olly beschämt auf den Boden.

Ihr Vater kam um seinen Schreibtisch herum und nahm Olly auf den Arm. Sofort versteifte sich ihr Körper. Oje, jetzt wurde auch noch sein Ärmel nass!

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Uns kann niemand etwas anhaben, niemand.« Eindringlich schaute er von Olly zu seinen beiden Ältesten. »Zwei Dinge müsst ihr Kinder euch merken: Erstens stehen wir Romanows von jeher unter Gottes Schutz. Er hält seine Hand über uns, nichts und niemand kann uns daher etwas anhaben. Und zweitens bin immer noch ich da …« Ein kleines Lächeln umspielte Papas Mund. »Nie und nimmer werde ich zulassen, dass euch etwas geschieht, versteht ihr das?«

Ollys verkrampfter Leib entspannte sich ein wenig.

Ja, sie verstand. Der Papa war immer für sie da.

TEIL I

Nähe des Frühlings

Im Himmel Stille wohnt; Geheimnisvoll der Mond,Von Nebel fein umwoben;Und übern Berg geschoben Hat sich der Liebesstern; Im blauen Abgrund, fern, Die Körperlosen, schwebend, Bezaubernd und belebend Die Stille und die Nacht, Begrüßen Frühlingspracht.

Wassili Andrejewitsch Shukowski

(1783 bis 1852)

1. KAPITEL

Zarskoje Selo, im Sommer 1833

Bonjour Madame, je suis Luisa et je –« Olly, die ihre in Fetzen gekleidete Puppe von einem Bein aufs andere hüpfen ließ, brach mitten in der Bewegung ab. »Was ist?« Stirnrunzelnd schaute sie zu, wie Mary ihre Puppe samt selbstgebastelter Krone und anderem Zubehör zurück in die Schachtel packte. »Ich dachte, wir spielen ›Die Königin sucht ein neues Zimmermädchen‹!«

»Du dachtest!«, sagte Mary schnippisch. »Ich möchte aber lieber Mama fragen, ob wir an ihren Kleiderschrank dürfen, ein paar Hüte anprobieren, bevor ich hier vor Langeweile sterbe …«

»Hüte anprobieren – das ist langweilig!«, rief Adini voller Inbrunst. »Olly und ich haben dir zuliebe sogar zugestimmt, dass unsere Puppen die armen Bauernmädchen sind, dabei wäre meine Antonia auch gern die Königin gewesen. Wozu habe ich sie so hässlich zurechtgemacht, wenn sie jetzt nicht einmal wegen einer Arbeit vorstellig werden darf?«

Betrübt sah Olly ihre Puppe an, die über ihren ersten Satz im Vorstellungsgespräch nicht hinausgekommen war. Für das von Mary vorgeschlagene Spiel hatte sie Luisas Zöpfe gelöst und regelrecht verfilzt, in der Hoffnung, dass Luisa nun wie ein echtes Bauernmädchen aussah. Ob sie ihre Haare je wieder glatt und glänzend hinbekommen würde?

Normalerweise drängte es die Kinder nach ihren morgendlichen Schulstunden hinaus ins Freie. Die Anlagen der sommerlichen Zarenresidenz Zarskoje Selo mit ihren Parks und Seen, ihren Tiergehegen, Spiel- und Teehäusern waren ein einziger herrlicher Spielplatz, den zu erforschen die Kinder nie müde wurden. So war es kein Wunder, dass sie alljährlich den im Frühsommer stattfindenden Umzug nach Zarskoje Selo kaum abwarten konnten. Zarskoje Selo bedeutete Spiel und Abenteuer.

Doch an diesem kühlen Augusttag pladderten dicke Regentropfen von den Bäumen und Hecken, alles wirkte düster und müde. Die Kieswege rund ums Schloss hatten ihr strahlendes Weiß verloren und sahen schmutzig grau und wenig einladend aus. Rund um den Katharinenpalast war es wie ausgestorben – keine vornehmen Kavaliere führten mit geschwellter Brust ihre Rösser vor, keine Hof damen spazierten mit Sonnenschirmen die verschlungenen Wege entlang, nicht einmal in der überdachten Galerie, die vom Architekten Cameron extra für Spaziergänge bei schlechtem Wetter angelegt worden war, ließ sich eine Menschenseele sehen.

Lediglich einige Gärtner mühten sich damit ab, vor der Galerie das erste Laub, vom Regen schwer und pappig geworden, mit Rechen und Schaufeln von den Rasenflächen zu entfernen.

Mary schaute missmutig aus dem Fenster. »Bei dem Wetter kommen Natalia und Nastinska sicher auch nicht vorbei, bestimmt sind die Wege viel zu aufgeweicht für die Kutschen. Dabei hätte ich meinen Freundinnen so viel zu erzählen!«, sagte sie mit der Inbrunst ihrer vierzehn Jahre.

»Dann erzähl’s doch Adini und mir, uns ist eh langweilig«, sagte Olly.

Mary schaute auf die Jüngere herab. »Für solche Gespräche seid ihr noch viel zu klein.«

Wütend funkelte Olly die Schwester an. »Wenn das so ist, dann spielen Adini und ich zukünftig eben allein.«

»Ach ja, damit du dich wieder heimlich zu deinem Freund Mischa schleichen kannst?«, zischte Mary. Das Wort Freund klang bei ihr wie ein Schimpfwort.

»Wer ist Mischa?«, kam es prompt von Adini.

Alexandra Feodorownas Blick schoss zu ihren Töchtern hinüber. »Olly – du triffst dich doch nicht etwa mit diesem … Bootsjungen? Ich habe Charlotte Dunker erst letzte Woche eingeschärft, dass ich derartigen Umgang mit Leibeigenen nicht dulde.«

Olly biss sich auf die Lippen. Das war wieder mal typisch Mary! Nie konnte sie ein Geheimnis für sich behalten. Warum hatte sie ihr nur von Mischa erzählt? Er war der Sohn des Bootsmannes, der für sämtliche Boote und die Admiralität zuständig war. Seine Familie wohnte in einer kleinen Hütte am Rande des Parks.

»Was ist denn nun? Antworte mir«, kam es ungeduldig vom Schreibtisch.

»Ich bin Mischa nur ein, zwei Mal zufällig begegnet«, sagte Olly und schämte sich für ihre Lüge. »Das ist doch kein Verbrechen, oder? Sie selbst sagen doch immer, wir sollen freundlich zu allen Menschen sein.«

Alexandras Augenbrauen hoben sich. »Von wegen zufällig begegnet – mir wurde berichtet, dass du sogar schon im Haus des Bootsmannes warst! War das auch nur ein Zufall?«

Olly schluckte. Woher wusste die Mutter das? Von Mary?

Als Mischa sie zum ersten Mal in das kleine Haus gebeten hatte, in dem er, seine sechs Geschwister und die Eltern wohnten, hatte Olly nicht gewusst, ob sie fasziniert oder abgestoßen sein sollte angesichts der drangvollen Enge, die dort herrschte. Kleider, große und kleine Säcke, Werkzeug – alles lag wild zusammengewürfelt herum. Auf der Sitzbank neben dem Ofen hatte sogar ein Huhn gesessen. Seltsamste Gerüche hatten die Luft erfüllt – nach Leder und Bootslack, Tieren und Krautsuppe und vielem mehr. Olly hatte gar nicht gewusst, wohin sie zuerst schauen sollte, wie ein Schwamm hatte sie die neuen Eindrücke in sich aufgesaugt. Dass man so leben konnte …

Mischas Geschwister sahen auch ganz anders aus als ihre eigenen Brüder und Schwestern. Sie hatten kantige Schultern, ein breites Kreuz und Hände mit Schwielen und Rissen.

Das käme vom Arbeiten, hatte Mary gesagt und so angewidert das Gesicht verzogen, dass Olly das Kaninchen, das neben seinem abgezogenen Fell im Spülstein lag, lieber nicht mehr erwähnte. Angeekelt, aber auch fasziniert hatte sie immer wieder auf den blutigen Fleischhaufen starren müssen – gern hätte sie dieses Erlebnis mit jemandem geteilt.

Mischas Mutter war von ihrem Besuch alles andere als begeistert gewesen. Fahrig hatte sie ihre blutbefleckten Hände an der Schürze abgewischt, hatte ungelenk einen Knicks gemacht und Olly einen Tee angeboten. Dabei hatte sie die ganze Zeit über so ausgesehen, als würde sie vor Schreck gleich in Ohnmacht fallen. Olly hatte zwar nicht alles verstanden, was die Frau auf Russisch zu Mischa sagte, aber sie glaubte, dass es Vorwürfe waren, weil er sie mitgebracht hatte. Und dass sie deswegen Ärger befürchtete. Nach ein paar Schlucken bitteren Tees hatte sich Olly schnellstens wieder verzogen. Mischa hatte sie danach nie mehr eingeladen, was Olly schade fand. Dass Menschen derart eng zusammenleben konnten, hätte sie nie gedacht. Zu gern hätte sie mehr über dieses Leben erfahren! Was sie den ganzen Tag über arbeiteten, ob ihnen auch manchmal so schrecklich langweilig war wie ihren Geschwistern und ihr, ob die Hühner wirklich mit in der Hütte schliefen und vieles mehr. Aber wie sollte sie das ihrer Mutter erklären?

»Es ist nur so … also ich …«, stotterte Olly und atmete auf, als sie sogleich von ihrer Mutter mit einer abrupten Geste zum Schweigen gebracht wurde. Manchmal hatte es auch sein Gutes, dass Geduld nicht unbedingt zu Alexandras herausragenden Eigenschaften gehörte …

»Genug davon. Ich muss mich jetzt auf all die vielen Dinge konzentrieren, die mein lieber Willamow und mein ebenso lieber Longinow so eloquent vortragen. Von all den Listen, Plänen und Vorschlägen ist mir schon ganz schwindlig!« Theatralisch hielt die Zarin sich eine Hand an die Stirn.

Die Mädchen kicherten, wobei Marys Lachen eher verhalten ausfiel – mit vierzehn Jahren gackerte man nun einmal nicht mehr so kindisch wie die jüngeren Geschwister.

Auch die zwei Sekretäre des Wohltätigkeitsamtes, die wie an jedem ersten Mittwoch im Monat zu einem Vortrag bei der Zarin erschienen waren, schmunzelten.

»Eine letzte Liste noch, dann haben wir es geschafft, Eure Hoheit«, sagte der ältere von beiden und schaute Alexandra dabei schwärmerisch an.

»Das haben wir nur Ihrer guten Vorbereitung zu verdanken.«

Die Röte schoss ins Gesicht des Sekretärs, und unbeholfen trat er von einem Bein aufs andere.

Olly grinste. Die liebe Mamuschka! Wie sie ihren Blumenschal zurechtrückte und so tat, als merke sie nicht, welche Wirkung sie auf den Herrn hatte. War das nicht typisch für ihre schöne Mutter? Sie wurde von allen Menschen geliebt, verehrt, geachtet – doch sie selbst sah nichts Besonderes darin.

»Wenn eine Frau lieb und freundlich ist, bedarf sie keines Geheimnisses«, hatte sie vor ein paar Tagen zu Mary gesagt, als diese nach Mamas »Geheimnis« im Umgang mit anderen Menschen fragte.

»Maman, dürfte ich Sie bitten –« Bevor Mary ihren flehentlichen Singsang fortsetzen konnte, schüttelte Alexandra schon den Kopf. »Mary, Liebes, ich habe keine Zeit für euch. Warum besucht ihr nicht eure Brüder? Sie würden sich bestimmt über ein bisschen Zuwendung freuen.«

»Das ist aber so langweilig«, seufzte Mary. »Nisis und Mischas Kindermädchen lassen uns die Kleinen nicht halten, geschweige denn mit ihnen spielen. Sie haben ständig Angst, wir würden uns ungeschickt anstellen.«

»Dabei gehen wir mit ihnen um, als wären sie rohe Eier«, bekräftigte Olly die Aussage ihrer Schwester. »Und mit Kosty ist auch nichts mehr anzufangen, seit vor zwei Wochen sein neuer Lehrer angekommen ist. Von früh bis spät sitzen die beiden im Studierzimmer.« Olly hatte den Bruder noch nie so unglücklich gesehen wie in dieser Zeit. Dem Himmel sei Dank beschränkten sich die Studien der Mädchen während der Sommermonate nur auf die Vormittage.

»Herr Lütke ist nun einmal der Ansicht, dass Kosty das Lernen zukünftig umso leichter fällt, je rascher er in den Stoff hineinfindet. Wohnt doch seinem Unterricht ein wenig bei.«

Heftig winkten die drei Schwestern ab – manchmal kam ihre Mutter wirklich auf seltsame Ideen!

Die Zarin wies auf die mit weinrotem Samt bezogene Chaiselongue. »Dann macht es euch hier gemütlich.«

Wohl oder übel trollten sich die drei Mädchen in Richtung der Sitzmöbel – es war besser, ein bisschen zu schlummern, als zurückgeschickt zu werden in die Kinderzimmer, wo einen bloß die Gouvernanten durch die Gegend scheuchten.

»So habe ich mir unseren Sommer auf dem Land nicht vorgestellt«, seufzte Mary, während sich die Schwestern unter die Decke kuschelten. Wenige Momente später waren alle drei eingenickt.

2. KAPITEL

Mutter, ist Kosty bei Ihnen?« Die Tür wurde aufgerissen, eine Brise Regenluft drang ins Zimmer. »Herr Lütke sucht ihn überall, Kostys Kindermädchen weiß auch nicht, wo er ist, sie hat ihn im Unterricht vermutet und –«

Schlaftrunken rappelte sich Olly auf. »Sascha!« Wie so oft in letzter Zeit, wenn sie ihrem großen Bruder gegenüberstand, erschrak sie. Sascha schien seit letzter Woche schon wieder um einen Kopf gewachsen zu sein, mit seinen fünfzehn Jahren überragte er sogar bald den Vater.

»Habt ihr eine Ahnung, wo Kosty ist?«, fragte er nun mit seiner krächzenden Stimme. Die vom Regen durchtränkte Kleidung klebte ihm am Leib, und er wirkte noch schlaksiger als sonst.

Die drei Schwestern verneinten. »Vielleicht weiß Charlotte Dunker etwas? Kosty hängt schließlich fast ständig wie ein Kleinkind an ihrem Rockzipfel«, sagte Mary spöttisch. »Keine Ahnung, was er ausgerechnet an ihr so toll findet.«

»Und was ist mit seinem eigenen Kindermädchen?«, fragte die Mutter stirnrunzelnd.

Olly versetzte ihrer Schwester einen Stoß in die Rippen und fauchte leise: »Kannst du eigentlich gar nichts für dich behalten? Altes Plappermaul!« Dass Kosty um die Aufmerksamkeit ihrer dänischen Gouvernante Charlotte Dunker buhlte, passte ihr selbst auch nicht. Beim abendlichen Bibellesen krabbelte er Charlotte sogar manchmal auf den Schoß, und Olly musste dann sehen, wo sie blieb. Dabei gehörte Charlotte Dunker doch ihr! Ihr allein. Dass Kostys eigenes Kindermädchen eine freudlose, kühle Person war, dafür konnte sie schließlich nichts.

Trotzdem ärgerte sie sich darüber, dass Mary Kostys Vorliebe gepetzt hatte. Nun würde Mutter die beiden Gouvernanten zur Rede stellen, und Kosty würde Ärger bekommen.

Mary konnte manchmal so gemein sein!

Die eilig herbeigerufene Gouvernante wusste allerdings auch nichts über Kostys Verbleib. Und Marys Gouvernante Julie Baranow war ebenfalls ratlos. Adinis englische Betreuerin, die von allen nur Mrs Brown genannt wurde, hingegen glaubte, Kosty vor Stunden an der hinteren Küchentür gesehen zu haben, was kurz darauf von der Hauptköchin bestätigt wurde: Großfürst Konstantin habe um hartgekochte Eier und ein paar Scheiben Brot gebeten. Sie habe sich noch über seinen ungewöhnlich großen Appetit gefreut – wo er doch normalerweise eher zu den schlechten Essern gehörte.

Olly verzog das Gesicht. Großfürst Konstantin – wie pompös sich das anhörte! Genau wie Großfürstin Olga, Großfürstin Maria oder Großfürstin Alexandra – meist dauerte es einen Moment, bis sich die Kinder angesprochen fühlten, wenn sie so gerufen wurden. Zum Glück hatten die Eltern ihnen schon früh Spitznamen verpasst, dachte Olly nicht zum ersten Mal. Das lieblich klingende Adini passte doch tausendmal besser zu ihrer wunderschönen jüngeren Schwester als das gestrenge Alexandra, bei dem jeder sofort an ihre Mutter dachte. Und Mary klang wie die Heldin einer aufregenden Geschichte, vielleicht auch wie eine Theaterschauspielerin, befand Olly, die ihre Schwester um diesen Spitznamen regelrecht beneidete.

»Eier und Brot?« Die Zarin schaute von einer zur anderen. »Was will das Kind damit?«

Die Gouvernanten zuckten mit den Schultern.

»Dabei steht heute ein erster Exkurs in die Arithmetik auf meinem Lehrplan«, warf Herr Lütke vorwurfsvoll ein.

»Sollten wir nicht Vater zu Rate ziehen?«, fragte Sascha. Seine braunen Stirnfransen hingen ihm nass in die Augen.

»Das würde ich nur ungern tun«, sagte die Mutter gedehnt. »Euer Vater hatte heute Nacht eine seiner schrecklichen Kopfwehattacken …«

Olly und Mary tauschten einen Blick. Oje – dann war er schlecht gelaunt und reizbar. Am besten kam man ihm an solchen Tagen erst gar nicht unter die Augen.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, aber eventuell müssen wir mit einer Entführung rechnen oder –« Als Sascha die vor Schreck geweiteten Augen seiner Mutter sah, brach er ab.

»Warum sollte jemand ausgerechnet Kosty entführen?«, wollte Mary wissen. »Außerdem patrouillieren die Männer von Vaters Leibgarde Tag und Nacht übers ganze Gelände. Sascha, uns kann doch nichts passieren, oder?«, fügte sie furchtsam hinzu.

»Und wenn das dieselben Männer sind, die Vater ständig Ärger machen mit ihren Aufständen und Rebellionen?«, hauchte Adini und lief ängstlich zu ihrer Mutter.

»Auch mit einem zweitgeborenen Sohn in der Hand lässt sich Druck ausüben …« Noch während Alexandra sprach, verlor ihr Gesicht jegliche Farbe. Eine der Hofdamen hielt ihr eilfertig ein Fläschchen Riechsalz hin, doch Alexandra winkte ab.

Einen Moment lang war es still. Angst schlich Olly den Rücken hinauf.

Wie sagte der Vater immer? Bloß nicht Bange machen lassen! Sie räusperte sich. »Vielleicht hat sich Kosty bloß irgendwo versteckt, weil er die Nase voll hatte vom Lernen. Ich an seiner Stelle hätte das schon längst getan, bei den vielen Unterrichtsstunden –«, die er bei seinem schrecklichen Lehrer Lütke hat, wollte sie noch anfügen. Aber wie so oft, wenn sie vor Erwachsenen sprechen sollte, versagte ihre Stimme mitten im Satz. Was ausnahmsweise kein Fehler war – Herr Lütke schaute auch so schon äußerst grimmig drein.

Keine halbe Stunde später war eine große Suche im Gange. Die Gouvernanten durchforsteten gemeinsam mit Mutters Hofdamen sämtliche Räume des Katharinenpalastes, die Gärtner und Hausangestellten durchkämmten die weitläufigen Parkanlagen und Nebengebäude. Nikolaus schickte einen Teil seiner Männer in die nahen Wälder, andere zu Pferd in die offene Landschaft. Sascha und weitere Männer sollten zu den umliegenden Landgütern reiten – vielleicht war Kosty zu einem seiner Spielkameraden unterwegs?

Nisi, Mischa und Adini wurden samt ihren Kindermädchen eingesperrt. Niemand wollte riskieren, dass im allgemeinen Trubel noch ein Kind verlorenging. Mary bot sich an, mit auf die kleineren Geschwister aufzupassen.

Olly war zu nichts eingeteilt worden. Aber einfach nur dasitzen und abwarten? Sie schnappte sich eine Jacke und rannte los.

Immer wieder begegneten ihr Gärtner, Hausangestellte und anderes Personal – niemand hatte Kosty gesehen. Im chinesischen Dorf war er nicht, auch nicht in der knarrenden Laube, nicht in der Grotte und in keinem der Pavillons – Olly sah den Leuten an ihren mutlosen Gesichtern an, dass sie die Suche am liebsten abgebrochen hätten. Verdenken konnte sie es ihnen nicht – alle waren bis auf die Knochen durchnässt, der eisige Ostwind pfiff durch ihre Kleider, so dass man das Gefühl hatte, völlig schutzlos zu sein. Auch ihr selbst war eiskalt, sie spürte ihre Hände und Füße kaum mehr, ihr Gesicht schmerzte vom peitschenden Wind.

»Aufgeben gilt nicht!«, versuchte sie sich Mut zuzusprechen, während sie zum wiederholten Male die Hainbuchenhecken in der Nähe des großen Sees durchstreifte, die als eine Art Labyrinth angelegt worden waren. Aber mit jeder Minute, die verstrich, wurde ihre Sorge größer, malte sie sich die Gefahren, in denen sich ihr Bruder befinden konnte, schrecklicher aus.

Kosty … Das magere Bürschchen mit der Brille, hinter der die Augen so groß wirkten, war ihr von den drei Kleinsten der liebste. Er war ein so frohes Kind, so phantasievoll, so –

Womöglich war er schon … tot!

Tränen schossen Olly in die Augen, das Grün der Hecken verschwamm vor ihren Augen, sie schluchzte auf –

»Großfürstin, sind Sie das? So weinen Sie doch nicht, ich bin’s«, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr.

»Mischa?« Blind tappte Olly im Labyrinth umher, ihr rechter Blusenärmel verhakte sich im Dickicht der Äste, bis sie endlich den Ausgang gefunden hatte.

»Mischa!«, rief sie und wunderte sich über die große Erleichterung, die sie beim Anblick des Bootsjungen verspürte. Er, der das ganze Jahr über hier in Zarskoje Selo lebte, kannte den Park rund ums Schloss besser als sie alle zusammen – vielleicht hatte er eine Idee, wo man noch suchen konnte!

»Noch immer keine Spur von Großfürst Konstantin?«, fragte der Bootsjunge und zog sich seine Kappe zum Schutz gegen den Regen tiefer in die Stirn.

Olly schaute kopfschüttelnd auf ihn hinab. Er war zwar im selben Alter wie sie, aber einen guten Kopf kleiner. Irgendwie erinnerte er sie an Kosty, jedenfalls war er genauso mager wie ihr Bruder. Und so, wie er ständig die Augen zusammenkniff, war bestimmt auch er blind wie ein Märzenhase! Olly nahm sich vor, ihre Mutter zu fragen, ob man nicht eine Brille für Mischa besorgen konnte.

»Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich noch suchen soll.« Schulterzuckend blinzelte sie gegen die Regentropfen an, die ihr in die Augen liefen.

Mischa wies in Richtung des großen Sees, dessen Wasser vom Wind regelrecht aufgepeitscht war. »Gott sei Dank ist er nicht da draußen …«

Olly nickte. »Ja, Kosty liebt die Seefahrt über alles, da hätte es gut sein können, dass er sich ein Boot schnappt. Aber irgendjemand hat mir gesagt, dass alle Boote im Bootshaus liegen – das stimmt doch, oder?«, fragte sie in stockendem Russisch.

»Ja, sie sollen in den nächsten Tagen überholt werden. Außerdem – auf dem See hätten wir Ihren Bruder ja sofort entdeckt.«

Krampfhaft dachte Olly nach. »Hat auch schon jemand im Bootshaus nachgesehen?«

Mit einem lauten Knarren öffnete sich die riesige Tür der Admiralität. Sofort schlug ihnen der Geruch von Teer, Algen und nassem Holz entgegen. Während Olly zaghaft im Türrahmen stehen blieb, trat Mischa an ein Regal und kramte Streichhölzer hervor. Er ent

zündete eine kleine Laterne.

»Großfürstin, schauen Sie, da!«

Vor dem Steg, der von der Mitte des Bootshauses aus direkt ins Wasser führte und an dessen linker und rechter Seite ein halbes Dutzend Boote vertäut waren, lag im Halbdunkel ein kleiner Rucksack.

Augenblicklich stieß Olly die Tür weiter auf, damit noch mehr Licht in den Raum flutete. »Kosty, wo bist du?« Die hereinschwappenden Wellen hatten den Bootssteg überflutet, auf den glitschigen Planken drohte Olly immer wieder auszurutschen. Jedes Mal, wenn eines der Boote durch eine Welle an den Steg gedrückt wurde, ertönte ein lautes Ächzen. Kosty fanden sie auf keinem der Boote.

»Hier hinten ist er auch nicht«, ertönte Mischas gedämpfte Stimme aus dem hinteren Teil der Admiralität, wo sich Werkbänke und Regale voller Segeltuch und anderer Utensilien befanden.

Im nächsten Moment vernahm Olly ein leises Wimmern. »Kosty?« Hektisch schaute sie sich um. »Kosty! Wo bist du?« Inzwischen zitterte sie so sehr, dass ihre Zähne gegeneinanderschlugen.

Und dann sah sie ihn, eingekeilt im Wasser zwischen zwei Booten. Vergeblich versuchte er, sich an den glatten Bootsleibern hinaufzuziehen, und immer wieder wurde sein Körper gegen eines der Boote geschlagen.

»Hilfe, ich –« Schon verschwand sein Kopf unter der unruhigen Wasseroberfläche.

»Kosty!«, schrie Olly, kniete sich hin, versuchte, die Hand ihres Bruders zu ergreifen. Doch während sie ins aufgewühlte Wasser schaute, begann der Boden unter ihr plötzlich zu schwanken, und sie verlor die Balance.

Wie ein Hund wurde sie jäh im Nacken gepackt, der Stoff ihrer Leinenbluse riss mit einem dumpfen Geräusch, und Olly fiel auf die Holzplanken zurück.

»Lassen Sie mich!«, keuchte Mischa und sprang ins Wasser.

Irgendwie gelang es ihnen kurz darauf, Kostys schlaffen Körper auf den Steg zu hieven.

»Kosty, Kosty, was machst du nur für Sachen?«, heulte Olly, während sie ihn auf ihrem Schoß wiegte. Wenn sie nicht rechtzeitig gekommen wären … Wenn Mischa nicht gewesen wäre!

Der Bootsjunge kniete erschöpft neben ihr. »Geht es ihm gut?«, fragte er, und seine Zähne klapperten vor Kälte.

»Ich wollte doch nur spielen«, schluchzte der Missetäter. »Calico Jack wollte ich sein, der berühmte englische Pirat! Ich habe nur auf besseres Wetter gewartet, dann wollte ich zu einem Streifzug aufbrechen und mit Gold und Edelsteinen zurückkommen.«

Trotz aller Erschöpfung und Sorge musste Olly lachen. »Du und deine Spiele, unmöglich bist du!« In bemüht strengem Ton fuhr sie fort: »Pirat hin oder her – du kannst dich doch nicht so einfach aus dem Staub machen! Wir dachten schon, du wärst entführt worden!«

»Aber warum das denn?« Verwirrt schaute der Bruder von einem zum anderen, dunkle Schatten, die im Gesicht eines Fünfjährigen nichts verloren hatten, lagen unter seinen Augen. »Und wenn schon!« Urplötzlich erwachte der schlaffe Körper zu neuem Leben. Kosty wand sich aus Ollys Umarmung und rannte ans Ende des Steges. »Dann wäre ich endlich weg von dem schrecklichen Lütke! Ich hasse ihn und seine Bücher! Er lacht, wenn ich etwas nicht auf Anhieb kann. Seitenlang muss ich Buchstaben schreiben, und trotzdem sagt er, meine Schrift wäre krumm und hässlich. Was immer auch Vater will, ich gehe nicht mehr zum Unterricht – lieber bin ich tot!«

3. KAPITEL

Nikolaus’ Faust donnerte so heftig auf den Esstisch, dass die Gläser klirrten.

»Sich einfach aus dem Staub zu machen und den ganzen Haushalt in Schrecken zu versetzen! Er wollte Pirat spielen, wenn ich das höre! Der Junge muss endlich verstehen, dass das Leben kein Spiel ist und unablässige Studien für ihn so wichtig sind wie das tägliche Brot. Sollte eines Tages der Fall eintreten, dass Kosty die Krone von Sascha übernehmen muss, muss er dafür gerüstet sein.«

Die Worte ihres Vaters strichen an Ollys Ohren vorbei, ohne einen Sinn zu ergeben.

Kosty war nichts passiert – nur das zählte. Er lag zwar schlotternd vor Kälte in seinem Bett und hatte eine ziemliche Standpauke über sich ergehen lassen müssen, aber weitere Blessuren hatte er nicht davongetragen.

Wären Mischa und sie allerdings später gekommen … Trotzdem hatte bisher keiner auch nur ein lobendes Wort über Mischas Rolle als Lebensretter verlauten lassen.

»Das viele Lernen fällt ihm schwer, unser Kosty hat ein sehr verspieltes Gemüt«, sagte Alexandra. »Nikolaus, bedenke, er ist erst fünf.«

Dankbar schaute Olly ihre Mutter an, die sich gerade einen Schluck Wein nachschenken ließ. Sie hatte also auch bemerkt, wie unglücklich Kosty war. Bestimmt würde sie nun dafür sorgen, dass Herr Lütke weggeschickt wurde.

»Wurde ich nach Alexanders Tod etwa gefragt, ob ich mich reif genug fühlte? Ein einfacher Brigadier war ich, hatte keine Ahnung von der Welt, als ich die Zarenkrone aufgesetzt bekam. Aber ich war ja auch nur der Nachgeborene, da legten meine Eltern keinen Wert auf meine Erziehung. Wäre es mir nicht gelungen, mich in kürzester Zeit in viele Dinge einzuarbeiten – Gott weiß, was aus unserem Russland geworden wäre.«

Olly runzelte die Stirn. Es dauerte doch sicher noch viele Jahre, bis Sascha zum Zaren gekrönt wurde, und ob Kosty je an seine Stelle treten würde … Das stand doch alles in den Sternen.

»Kostys Kinderfrau kann noch heute ihre Sachen packen, niemand in meinem Haus vernachlässigt seine Pflichten ungestraft.« Erneut donnerte Nikolaus’ Faust auf den Tisch.

Olly und ihre Geschwister zogen die Köpfe ein.

»Als ob ich nicht schon genug anderen Ärger hätte – erst vorhin musste ich aus einer Depesche über etliche neue Aufstände im Land erfahren. Manchmal frage ich mich, warum ich nicht gleich in St. Petersburg geblieben bin, von dort aus hätte ich die schädlichen Umtriebe besser kontrollieren können.« Ohne zu kauen, schluckte er ein Stück Brot.

»Aber wir sind so froh, dich bei uns zu haben«, sagte Alexandra und drückte seinen Arm. »Bestimmt ist alles nur halb so schlimm, du bist doch ein solch wundervoller Zar … Du erlaubst?« Schon tauschte sie ihren leer gegessenen Teller gegen seinen unberührten Teller.

Olly konnte die Mutter für ihren guten Appetit nur bewundern – wenn sie an Kosty dachte, der hungrig und verheult in seinem Zimmer saß, brachte sie keinen Bissen hinunter. Sie würde ihm nachher heimlich etwas zu essen bringen, beschloss sie. Obwohl sie frische Kleider anhatte und Charlotte sie gründlich abgetrocknet hatte, war ihr eiskalt. Schauer liefen immer wieder über ihren Rücken. Vielleicht sollte sie sich ein wenig hinlegen und ausruhen …

»Das sag diesen elenden Aufrührern, die überall im Land nichts Besseres zu tun haben, als immer wieder neue Brände zu legen!« Beklommen legte Olly ihr Besteck endgültig weg. Wann immer ihr Vater so sprach, bekamen seine Augen einen eisblauen Schimmer, und seine Lippen wurden zu zwei schmalen Strichen.

»Aber woher kommen diese Aufrührer?«, wollte Sascha wissen. »Nach Ihrem Regierungsantritt machten Sie doch dreitausend von ihnen den Garaus?«

»Tja, diese Leute scheinen wie Unkraut nachzuwachsen. Die Intellektuellen sind dabei die schlimmsten. Aber keine Sorge, ich werde ihre Glut ein für alle Mal löschen.«

»Und ich helfe Ihnen dabei!«, rief Sascha voller Inbrunst. »Von mir aus können wir gleich morgen losreiten und die Aufständischen suchen!«

»Du studierst jetzt erst einmal fleißig weiter. Und dann sorge ich dafür, dass du etwas von der Welt siehst. Von der Welt und von Russland, besser gesagt. Und erst dann wirst du mir hoffentlich eine große Stütze sein.«

Unter niedergeschlagenen Lidern musterte Olly ihren Vater. Dunkle Schatten umrahmten seine Augen, aber die erschienen nun nicht mehr gar so düster – Saschas Bemerkung schien seine Laune ein wenig gebessert zu haben.

Sie holte zaghaft Luft. Eigentlich wollte sie ihren Vater heute noch etwas Wichtiges fragen …

»Genug von den elenden Aufrührern und Brandstiftern. Die Offiziere meiner Leibgarde wollen in einer knappen Stunde ein kleines Pferderennen abhalten. Iwanow ist der Meinung, seine Neuerwerbung würde es mit jedem anderen Zossen aufnehmen. Aber Madjedew hält dagegen. Er wettet fünfhundert Rubel darauf, dass sein Rappe gewinnt!« Der Zar lachte, und seine Miene entspannte sich für einen Moment. »Ich habe eingewilligt, den Startschuss zu geben, du darfst gern mitkommen«, sagte er zu Sascha, der sofort aufsprang.

»Und wir?«, sagte Mary. »Dürfen wir auch –«

»Wehe, ihr lasst euch hinten bei den Stallungen blicken! Ich will nicht dabei zusehen, wie eines meiner Mädchen beim Rennen unter die Hufe kommt.« Im Aufstehen ergriff der Vater ein letztes Stück Brot.

Jetzt oder nie! Olly nahm ihren Mut zusammen und zupfte an seinem Soldatenrock. »Vater, da wäre noch etwas … Ich … Darf ich am kommenden Sonntag mit in die Oper? Meine Noten sind diese Woche die allerbesten, sogar in Geographie! Und Sie hatten mir doch versprochen, dass ich, also wenn ich …«

»Das mag schon sein, mein liebes Kind, dass ich dir etwas versprochen habe. Im Gegensatz zu dir kenne ich allerdings jemanden, der deinen Fleiß leider nicht geteilt hat.« Er warf Mary einen strengen Blick zu. »Somit ist mein Versprechen hinfällig und ihr bleibt alle zu Hause.«

Wer die drei Schwestern durch den ovalen Innenhof des Katharinenpalastes laufen sah, hatte Mühe, sie auseinanderzuhalten: Alle drei waren für ihr jeweiliges Alter eher zierlich, hatten schlanke, schmale Gliedmaßen, ebenmäßige Züge, in denen das Leben noch keine Spuren hinterlassen hatte, dazu seidiges Haar. Obwohl ihre Kleider schlicht waren – cremefarbener Musselin für die Blusen, robuster Zwirn für die blauen Röcke –, sah man ihnen die gute Verarbeitung und perfekte Schnittführung an.

Erst bei näherem Hinsehen wurden die Unterschiede zwischen den Mädchen deutlicher: Während die achtjährige Adini den Weg entlanghüpfte und die elfjährige Olly mürrisch hinterherschlenderte, lief Mary mit ihren vierzehn Jahren verkrampft und mit nach vorn gebeugtem Oberkörper, um nur ja keine Aufmerksamkeit auf ihre sprießenden Brüste zu lenken. Seit ihre Taille geschnürt wurde, strichen ihre Hände immer wieder über den Stoff ihres Kleides, gerade so, als fühlte sie sich in ihrer Haut nicht sonderlich wohl.

»Ans Einschnüren gewöhnt man sich rasch«, hatte ihre Mutter erst kürzlich gesagt und angefügt, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis sich Mary wie eine Raupe zu einem wundervollen Schmetterling entpuppen würde.

Olly warf ihrer Schwester einen missmutigen Seitenblick zu. Keine Ahnung, was die Mutter damit gemeint hatte – war Mary nicht schon jetzt ein wunderschöner Schmetterling? Allein wie sie ihre schimmernden Haare aufwendig am Hinterkopf festgesteckt trug!

Natürlich hatte sie den mit Blüten und Blätterranken verzierten Kamm eingesteckt, den sie erst vor kurzem von ihrem Vater bekommen hatte. Ihr, Olly, hatte er noch nie so etwas Schönes geschenkt.

Aber sie war ja auch nicht seine Lieblingstochter. Ihre Augen funkelten nicht wie ein grüner Waldsee, auf dem goldene Sonnensprenkel tanzten, so wie Marys Augen es taten.

Mary wirkte stets so aufgeweckt und lebendig! Neben ihr fühlte sich Olly grau und blass.

Dennoch gab sie die Hoffnung nicht auf, was ihr eigenes Aussehen anging. »Aus so manch hässlichem Entlein ist noch ein schöner Schwan geworden«, hatte Tante Helene erst kürzlich gesagt und sie dabei in den Arm genommen. Alles brauche eben seine Zeit, Olly solle ihr Haar fleißig jeden Abend mit tausend Bürstenstrichen pflegen, dann würde es eines fernen Tages ebenfalls herrlich glänzen.

Olly hoffte inständig, dass die Tante recht hatte. War sie erst mal ein schöner Schwan, würde sich Mary gewiss nicht mehr so aufspielen können!

Adinis Haar hingegen glänzte auch ohne tausend Bürstenstriche. Ihre Taille war von Natur aus so schlank, dass man sie später wahrscheinlich nicht einmal würde schnüren müssen. Dazu der schlanke Hals, die feine Nase, die tiefblauen Augen …

Olly war froh, dass von ihnen dreien Adini die größte Schönheit war und nicht Mary.

»Warum hast du dich vorhin nicht für mich eingesetzt? Wegen deiner schlechten Studien muss ich auf die Oper verzichten, dabei hatte ich mich so darauf gefreut«, fuhr sie ihre ältere Schwester nun an.

Mary lachte nur. »Hast du keinen Mund zum Reden? Feigling!«

Olly biss sich auf die Lippen. Was konnte sie denn dafür, dass es ihr in der Gegenwart Erwachsener die Kehle zuschnürte und sie kaum ein Wort herausbrachte. Wegen Mischas Brille hatte sie auch nichts gesagt, dabei wäre die Gelegenheit günstig gewesen, ärgerte sie sich. Unwillkürlich wanderte ihr Blick in Richtung Admiralität. Zu gern hätte sie Mischa einen kurzen Besuch abgestattet. Hoffentlich war bei ihm alles in Ordnung. Im Gegensatz zu ihr war er nämlich nicht sofort nach Hause gegangen, um sich trockene Kleider anzuziehen, sondern hatte erst allen anderen Suchenden mitgeteilt, dass Kosty gefunden worden war. Ob er auch immer noch so fröstelte wie sie?

»Jetzt streitet euch nicht – wollen wir ein Wettrennen machen? Einmal bis zum Pfauengehege und wieder zurück.« Adinis Augen leuchteten voller Vorfreude.

»So was Kindisches, wenn mich jemand sieht!«, sagte Mary.

»Wir könnten auch die Pfauen füttern gehen.« Olly hielt die Brot-scheiben in die Höhe, die sie sich heimlich in die Rocktasche gesteckt hatte. Es war ihr nicht gelungen, sie dem Bruder ins Zimmer zu schmuggeln, sein Kindermädchen hatte sie vor der Tür abgewiesen. Armer Kosty – eingesperrt und hungrig.

»Au ja, das machen wir!«, rief Adini.

»Bestimmt sind unter den Teilnehmern von Vaters Pferderennen ein paar schneidige Offiziere«, seufzte Mary. »Wollen wir nicht doch versuchen, ein paar Blicke auf sie zu erhaschen? Das Brot kannst du auch an die Pferde verfüttern.«

»Aber Vater hat doch gesagt, wir dürften nicht.«

»Wenn wir es geschickt anstellen, bekommt er doch gar nicht mit, dass wir da sind!« Lachend sprang Mary davon. Olly und Adini zöger ten kurz, dann rannten sie hinterher.

Die Offiziere hatten ihr Rennen auf die Straße in Richtung Petersburg verlegt, daher war es rund um die Pferdeställe wie ausgestorben. Lediglich ein paar Stallburschen fegten den Hof, schleppten Stroh und Heu in die Ställe. Aus dem Inneren der Schmiede war das metallische Schlagen eines Hammers auf den Amboss zu hören.

»Da hast du wieder mal eine tolle Idee gehabt«, schnaubte Olly. Weitere Schauer liefen ihren Rücken hinab. Sie war sich nun ziemlich sicher, dass sie krank werden würde.

Mary stocherte mit einer Peitsche, die an der Stallwand gelehnt hatte, mürrisch im Sand.

»Großfürstin Maria, wollen Sie und Ihre Schwestern ausreiten?«, ertönte hinter ihnen plötzlich die Stimme eines Mannes.

Die Köpfe der Mädchen fuhren herum. »Kolja!«, kam es wie aus einem Mund.

Beklommen schauten sich Olly und Adini an. Das hatten sie nun davon! Wenn Vater von seinem ersten Pferdepfleger erfuhr, dass sie sich nicht an sein Verbot gehalten hatten, drohte ihnen das nächste Donnerwetter.

»Tja, ähm … eigentlich … sind wir gar nicht da«, stammelte Olly.

»Sind denn überhaupt Pferde im Stall?«, fuhr Mary dazwischen.

Kolja schüttelte den Kopf. »Nur die Ponys. Die meisten Pferde sind am Rennen beteiligt, lediglich Lugano und ein paar andere stehen auf der hinteren Weide.«

Marys Augen leuchteten beim Namen des Lieblingspferdes ihres Vaters auf. Kein anderes Pferd war so prachtvoll wie der große schwarze Hengst. »Lugano! Wir wollen ihn nur kurz besuchen, haben sogar Brot mitgebracht. Zeig’s her, Olly!«

Warum tat sie eigentlich immer genau das, was Mary ihr befahl?, fragte sich Olly verdrießlich, während sie das Brot aus ihrer Tasche zog.

Der alte Mann kratzte sich am Bart. »Zar Nikolaus ist sehr eigen, wenn es um Lugano geht. Eigentlich darf ich niemanden zu ihm lassen …«

»Kolja! Hältst du uns etwa für niemanden? Ich hoffe nicht, dass Vater jemals erfährt, wie unverschämt du uns gegenüber bist.«

Bevor Olly wusste, wie ihr geschah, riss Mary ihr die Brotscheiben aus der Hand. »Wir gehen jetzt Lugano besuchen. Und wehe, du erzählst unserem Vater von unserer Visite, dann Gnade dir Gott.« Sie hob die Peitsche, als wollte sie dem alten Mann eins überziehen.

»Mary!«, rief Olly, doch da hatte diese schon auf dem Absatz kehrtgemacht und stakste mit hocherhobenem Kopf davon.

Olly und Adini folgten ihr stumm.

Außer Nikolaus’ wertvollem schwarzen Zuchthengst Lugano standen noch zwei braune Wallache auf der Weide. Das Gras wirkte nach dem anhaltenden Regen des Vormittags noch saftiger und grüner als sonst. Jedes Mal, wenn die Mäuler ein Büschel abrupften, ertönte ein leises Knirschen. Lugano war der Erste, der die Mädchen sah. Wiehernd kam er an den Zaun, seine Gefährten folgten in gebührlichem Abstand.

»Wie schön er ist«, hauchte Adini. »Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch einen Rappen. Jeden Tag würde ich seine Mähne bürsten, bis sie genauso seidig ist wie die von Lugano.«

Unter Marys Aufsicht verteilten die Mädchen die Brotstückchen so gerecht wie möglich, was nicht einfach war, da der Hengst seine Mitstreiter ständig verbiss. Irgendwann war das Brot alle, aber die Pferde blieben in Erwartung von Streicheleinheiten weiterhin am Zaun stehen. Um den Tieren näher zu sein, stiegen die Mädchen durch das Gatter auf die Weide. Olly lehnte ihren Kopf an Luganos Hals und schloss für einen Moment die Augen. Der Hengst grummelte freundlich und fuhr mit seiner Nase sanft über Ollys Schulter, als wollte er ihr Streicheln erwidern. Wie weich sein Fell war – weicher als der feinste Damenhandschuh! Und wie gut er roch! Nach Pferd und gequetschtem Hafer und ein bisschen nach Urin. Olly gähnte. Am liebsten hätte sie sich noch enger an das große Tier gekuschelt, ihre Arme um ihn geschlungen und –

»Und jetzt veranstalten wir unser eigenes Pferderennen!«, ertönte Marys laute Stimme, und die Vertrautheit, in der Lugano und Olly sich befunden hatten, war zerstört. Das Pferd stob mit ein paar Sätzen davon.

»Bist du verrückt geworden? Er hätte mich fast mit seinem Huf getroffen!«, fuhr Olly Mary an, doch die winkte nur ab.

»Passt auf: Ich jage alle drei Zossen mit meiner Peitsche über die Weide, und der Erste, der am gegenüberliegenden Zaun angekommen ist, ist der Gewinner. Aber zuvor wetten wir drei, welches Pferd gewinnt. Pah, nur weil wir Mädchen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir keinen Spaß haben dürfen.«

»Das ist die blödeste Idee, die ich seit langem gehört habe«, erwiderte Olly. »Wenn Vater erfährt, dass wir seinen Zuchthengst über die Weide gejagt haben, dann –«

»Ich denke auch, es ist besser, wir lassen das«, bestätigte Adini.

»Vater, Vater! Ich kann’s nicht mehr hören. Was seid ihr bloß für Feiglinge«, sagte Mary abfällig.

»Ich und ein Feigling? Das kann ich schon nicht mehr hören! Der da ist meiner«, sagte Olly und zeigte auf einen der Wallache.

Mary lachte. »Dann setze ich auf den anderen Zossen. Und Adini bekommt den großartigen Lugano. Na Schwesterherz, ist das etwa nichts?« Drohend hob sie ihre Peitsche hoch und ging den Pferden entgegen.

Der Zaun am anderen Ende der Weide war marode, viele seiner Pfosten morsch oder völlig durchgefault. Daher waren im Abstand von einem Meter zum alten Zaun über die ganze Länge der Weide tiefe Löcher ausgehoben worden, in die an einem der nächsten Tage die Pfosten für einen neuen Zaun gesetzt werden sollten. Ein flüchtig gespanntes dünnes Seil sollte die Pferde von diesem Teil der Weide abhalten.

Während zwei der Pferde in der Mitte der Weide abdrehten, um vor Marys lautem Geheul zu flüchten, rannte eines geradeaus weiter und durchbrach das kaum sichtbare Seil.

Der Tierarzt ließ vorsichtig das rechte Vorderbein des Pferdes sinken und strich ihm über die Flanken. »Da ist nichts mehr zu machen.« Er senkte den Kopf.

Ein dumpfes Aufheulen erklang. Alle Köpfe fuhren zu Zar Nikolaus herum.

Beschämt schaute auch Olly zu ihrem Vater hinüber, der leichenblass dastand. Tränen liefen über ihre Wangen. Im Rücken spürte sie die Hand ihrer Gouvernante, aber nicht einmal Charlottes Gegenwart vermochte den Schrecken des Augenblicks zu dämpfen.

Lieber Gott im Himmel – was hatten sie nur getan?

Nachdem Lugano im vollen Galopp in eines der Löcher getreten war, hatte er sich einmal vollständig überschlagen. Das dumpfe Geräusch beim Aufprall des riesigen Tierleibes auf dem feuchten Boden war das Schrecklichste, was Olly je gehört hatte. Mühevoll hatte sich der Hengst wieder aufgerappelt, seine zuvor seidige Mähne klebte erdverkrustet an seinem Hals. Keine der Schwestern hatte sich getraut, ihm nahe zu kommen, stattdessen hatten sie nur fassungslos auf das verletzte Tier gestarrt – dass mit ihm etwas nicht stimmte, war allen sofort klar gewesen. Es war Adini, ausgerechnet die Jüngste, die zum Stall gerannt war und Bescheid gesagt hatte.

Der Zar erwachte aus seiner Starre, fuhr sich mit der Hand grob übers Gesicht. »Und wenn wir das Bein schienen? Wenn wir ihm absolute Stallruhe gönnen, könnte er dann nicht –« Er brach ab, als er das Kopfschütteln des Arztes sah.

»Bei einer anderen Art von Bruch vielleicht, aber hier? Es tut mir leid, Hoheit.«

Außer dem leisen Rascheln des Windes, der durch die Birken blies, war nichts zu hören. Ein paar Schwalben, die ihre Nester in den nahe gelegenen Stallgebäuden gebaut hatten, zogen in der glutrot untergehenden Sonne ihre Kreise, als erwarteten sie ein besonderes Schauspiel. Das Pferd, dessen rechtes Bein den Boden nicht mehr berührte, zerrte an dem Strick, mit dem der Tierarzt es festhielt. Suchend schaute es sich nach seinen Weidegenossen um.

Alles nur ein böser Traum!, durchfuhr es Olly.

Im nächsten Moment zog ihr Vater seine Reitpeitsche hervor. Bevor die anderen wussten, wie ihnen geschah, ging er auf Kolja, seinen ersten Pferdepfleger, los. »Du Bastard, du bist schuld!« Die Schläge prasselten ungehindert auf den Leib und das Gesicht des alten Mannes ein. Er duckte sich, Blut lief seine Wangen hinab, seine Beine knickten ein.

Olly riss sich von Charlotte los. »Vater, nicht!«

»Olly, lass das!«, rief Sascha, und seine Stimme überschlug sich. Er versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen.

»Kolja kann nichts dafür! Wir sind schuld!« Sie zerrte am Arm des Vaters. »Bitte …«

Die Reitpeitsche sank. Der Pferdepfleger sackte auf der Stelle zusammen, und unter dem eiskalten Blick des Vaters begannen Ollys Eingeweide zu rebellieren. O Gott, gleich würde sie sich vor lauter Angst in die Hose machen … Mit letzter Kraft hielt sie seinem Blick stand. »Uns musst du bestrafen«, wiederholte sie leise.

»Nein!«, kreischte Mary auf. »Vater … Ich … Wir wollten doch nicht, dass Lugano was geschieht. Hätte Kolja uns nicht erlaubt –«

»Seid still, alle beide!«, fuhr Nikolaus auf.

»Madjedew?« Seine Stimme war leblos und leer.

Der Offizier nickte. »Bringen wir es hinter uns.« Mit schwerfälligen Schritten und hängenden Schultern setzte er sich in Bewegung, während die umstehenden Männer zurücktraten und eine Schneise für ihn frei machten. Lugano wieherte.

Hektisch winkte Charlotte Olly wieder zu sich. Auch Mary startete keinen zweiten Anlauf zu ihrer Verteidigung, was normalerweise ihre Art gewesen wäre, sondern ließ sich von Julie Baranow, ihrer Gouvernante, zu Adini und Mrs Brown ziehen.

Olly und Adini schauten sich an, jede sah im Blick der anderen die eigene Verstörung.

»Was haben wir nur angerichtet«, flüsterte Adini.

»Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen. Erst Kosty, jetzt ihr. Habt ihr Kinder eigentlich nichts als Unfug im Kopf?«, murmelte Charlotte Dunker so leise, dass es keiner der Männer hören konnte. »Dass das Ihre Idee war, Großfürstin, hätte ich mir denken können!«, zischte sie Mary zu.

»Ach, seien Sie doch still«, sagte Mary, jedoch ohne die übliche Barschheit, mit der sie der Dänin sonst begegnete.

»Ja, die Wahrheit wollen Sie nicht hören, aber –«

Olly zupfte an Charlottes Ärmel. »Bitte. Nicht jetzt.«

Madjedew kam zurück, in der einen Hand hielt er eine Pistole, in der anderen einen Apfel. Kurz bevor er das Pferd erreicht hatte, wies Zar Nikolaus ihn an, stehen zu bleiben. Dann trat er selbst auf das Tier zu, schlang die Arme in derselben Art um dessen Hals, wie Olly es zuvor getan hatte. Vertrauensvoll legte der Hengst den Kopf über die Schulter seines Herrn. Vor dem seidig schwarzen Fell des Tieres stach Nikolaus’ Gesicht kalkweiß ab. Die anwesenden Offiziere wandten sich peinlich berührt um, während der Mann, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende von Aufständischen hatte deportieren, foltern oder gar töten lassen, seinen Tränen ungehindert freien Lauf ließ.

Olly zitterte am ganzen Leib. Ich halte das nicht aus! Bitte, lieber Gott, mach, dass ein Wunder geschieht! Auch ihr schossen die Tränen in die Augen, tropften von ihrem Kinn zu Boden.

Im nächsten Moment löste sich ihr Vater von dem Pferd, das ihn verwundert anschaute.

»Hoheit?« Fragend hielt Madjedew die Pistole hoch.

Zar Nikolaus drehte sich zu Mary um. »Komm her!«

Mary sah sich zögerlich nach Julie Baranow um, doch die Gouvernante machte keine Anstalten, ihr zu folgen.

»Nimm den Apfel!«, herrschte der Vater sie an.

Marys Augen weiteten sich bestürzt.

»Gib ihm den Apfel. Und halte dabei die Hand still. Wehe, ich sehe dich auch nur zucken!«

»Vater, Sie können doch nicht erwarten, dass ich –«

»Los!«

»Entschuldigen Sie, Vater, aber vielleicht wäre es besser, wenn ich –«, krächzte Sascha. Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn der Zar riss Madjedew die Pistole aus der Hand, packte mit der anderen Hand Marys Arm, zog sie bis vor das Pferd.

Unter dem eisigen Blick ihres Vaters streckte Mary ihren Arm aus.

Das Pferd schnaubte erfreut und öffnete sein Maul, um den Apfel zu nehmen. Im selben Moment setzte Zar Nikolaus die Pistole an die Stirn des Hengstes.

Krampfhaft presste Olly die Hände auf beide Ohren. Sie wollte auch die Augen schließen, um das schreckliche Bild nicht sehen zu müssen, doch es gelang ihr nicht.

»Leb wohl!« Zar Nikolaus drückte ab.

Der schwere Pferdeleib sackte leblos zusammen.

Der Geruch des Schießpulvers mischte sich mit dem metallischen Geruch von Blut. Olly wurde es schwarz vor Augen, dann fiel sie in eine gnädige Ohnmacht.

4. KAPITEL

War das ein Schuss?« Fragend schaute die Frau des Bootsmannes ihren Sohn an, doch der zuckte nur mit den Schultern.

Seit ein paar Jahren wurden alle Angestellten von Zarskoje Selo informiert, wenn die Herrschaften auf Jagd gingen, damit nicht im Eifer des Jagdgefechts anstelle eines Rehs ein Mensch getroffen wurde – was in vergangenen Zeiten mehrmals vorgekommen war. Krampfhaft versuchte die Frau zu rekapitulieren, wo sich all ihre Kinder aufhielten: Die beiden ältesten halfen dem Vater im Bootshaus beim Aufräumen, Naschtinka melkte die Ziegen, Nastja war hinten mit der Wäsche beschäftigt, Grigor war auf dem Kohlacker.

»Mutter, ich bin so müde. Und mir ist so kalt …«

Der Blick der Frau fiel erneut auf das zusammengekauerte Häufchen Elend am Tisch. »Das kommt von deinen Heldentaten! Ich habe dir doch schon einen extra Teller Suppe gegeben, damit dir wieder warm wird, mehr geht nicht, dein Vater und deine Geschwister müssen heute Abend auch satt werden.« Sie strich ihrem jüngsten Sohn über den Schopf, fühlte dabei prüfend seine Stirn, die glühend heiß war. Der Junge war krank, auch das noch. Ein Paar Hände weniger, und das Tagwerk war nur schwer zu bewältigen. Sie stieß einen leisen Fluch aus. Warum hatte ausgerechnet ihr Mischa den Zarenbalg aus dem Wasser retten müssen? Einer von denen weniger – was wäre schon dabei?

»Kann ich wenigstens noch einen Becher Tee haben?«

Die Frau des Bootsmannes verschloss ihre Ohren gegenüber der flehentlichen Stimme. »Und die Arbeit tut sich von selbst, ja? Nichts da, zuerst gehst du nach hinten und hilfst Naschtinka beim Ziegen-melken, sonst wird sie nie fertig. Von mir aus soll sie die Milcheimer heute allein ins Haus schleppen, damit du dich ein wenig ausruhen kannst.« Noch während sie sprach, begann die Frau, mit einer Scheuerbürste einen Topf zu bearbeiten.

Mischa stand auf, schwankte, stützte sich an der Hüttenwand ab. Er warf seiner Mutter einen letzten bittenden Blick zu – vergeblich. Fahrig stolperte er aus der Hütte, um die ihm aufgetragenen Pflichten zu verrichten.

*

Olly wälzte sich unruhig in ihrem Bett hin und her, jeder Knochen tat ihr weh. In ihrem Kopf war jemand mit einem Hammer zugange, der ständig gegen ihren Schädel schlug und die Gedanken zerrüttelte. Und wenn bloß ihr Hals nicht so trocken und rau gewesen wäre! Bei jedem Husten glaubte sie in tausend Teile zu zerbrechen, da nutzte es auch nichts, wenn sie die Hände gegen die Rippen presste.

Zitternd griff sie nach dem Glas Wasser, das Charlotte ihr neben das Bett gestellt hatte. Doch das Schlucken tat ihr weh, und sie hatte das Gefühl, ihr Hals wäre eine glühende Masse.

»Die Lunge arbeitet schneller und heftiger als gewöhnlich, ich befürchte, es handelt sich um eine Lungenentzündung«, konstatierte einer der Leibärzte der Zarin, nachdem er seinen Kopf auf Ollys Brust gedrückt hatte. »Dazu das Fieber, das meiner Ansicht im Laufe der Nacht noch steigen wird …«

»Und was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Charlotte.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nichts Gutes, meine Liebe.«

Drei Tage und drei Nächte kämpfte Olly gegen das Fieber. Unermüdlich tauschte Charlotte warme gegen kalte Tücher aus. Olly nahm den Essiggeruch des feuchten Leinens nur entfernt wahr. Sie wollte keine nassen Tücher auf dem Leib, ihr war doch kalt! Nein, heiß war ihr, so heiß, sie verbrannte, da taten die Tücher gut. Das Stechen in ihrer Brust, es zerriss sie, es tat so weh …

»Schwesterherz, Olly, du musst durchhalten!«

Ist das Saschas Stimme …? Fieber … Hitze … Rote Schwaden in meinem Kopf, die fliegen, wegfliegen, wie die Schwalben auf der Weide …

»Wenn es wegen Lugano ist – das tut mir wirklich leid, Olly, das musst du mir glauben.«

Mary? Was tut Mary leid? Ollys Atem ging so schwer, dass sie außer ihrem eigenen Keuchen fast nichts hören konnte.

»Die Ärzte sagen, wenn das Fieber sinkt, hast du gewonnen.«

»Ich habe dir Luisa gebracht.« Adini? Die Puppe mit den zerrupften Haaren. Ein Spiel, alles nur ein Spiel.

»Olly, verflixt noch mal! Du darfst nicht sterben, hörst du?«

Jemand rüttelte so heftig an ihrem Arm, dass Olly glaubte, ihre vom Fieber überempfindlich gewordene Haut würde reißen. »Nicht sterben, nicht meinetwegen – das würde ich mir nie verzeihen!«

Kosty … Zwischen den Booten … regenschwere Glieder, der eisige Wind in ihrer Lunge … Mischa hat Kosty gerettet …

»Kosty?« Ihre Stimme war nur ein Seufzen.

»Schau, wie schwach sie ist! Das kommt von deinem Davonrennen. Wenn deine Schwester stirbt, bist du schuld daran.«

Eine böse Männerstimme. Lütke. Die kleine Hand jäh von Ollys Arm gezerrt.

Mit letzter Kraft riss Olly die Augen auf. »Kosty …«

»Sie ist wach, sie lebt, hurra!« Sein Aufheulen zerriss fast Ollys Ohren. Sie blinzelte, sah um ihr Bett herum Schatten – Charlotte, der schreckliche Lütke, ihre Geschwister.

»Alles wird gut«, keuchte sie. »Ich werde nicht sterben. Wir müssen doch … zusammenhalten …«

»Entspricht es wirklich der neuesten Pariser Mode, den Schal auf

diese Art zu tragen? Mache ich es richtig?«

»Schauen Sie, Maman, geht es auch so?«

Zusammen mit Charlotte Dunker schaute Olly vom Sofa aus zu, wie Mary und Adini sich um den Toilettentisch ihrer Mutter drängten und begierig versuchten, einen Blick in deren Spiegel zu erhaschen.

Erst seit ein paar Tagen durfte Olly immer wieder einmal für kurze Zeit ihr Bett verlassen – wie jeden Tag hatte sie dabei auch heute das Boudoir ihrer Mutter aufgesucht. Am frühen Abend waren dort nicht nur die Zarin Alexandra und ihre Zofen anzutreffen, sondern meistens auch Mary und Adini. Alle genossen den prachtvollen Raum, der ganz in Gold und Weinrot gehalten war, die intime Atmosphäre, in der es nach Puder und dem Parfüm ihrer Mutter duftete, wo Edelsteine glitzerten und Spitzenstoffe verheißend raschelten.

Adini und Kosty hatten sie oft im Krankenzimmer besucht, und trotzdem hatte sich Olly in den nicht enden wollenden Tagen der Bettruhe oft einsam gefühlt. Umso mehr sehnte sie sich nun nach der Gesellschaft ihrer Familie.