Die Zauberin von Nesthalf - Jonathan Hönes - E-Book

Die Zauberin von Nesthalf E-Book

Jonathan Hönes

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Beschreibung

Die kleinwüchsige Ysilda wächst in einem Dorf der Hinnd auf, fühlt sich dem Volk aber nie ganz zugehörig. Dabei hilft es ihr nicht, dass unerklärliche Dinge um sie herum passieren, für die sie zur Rechenschaft gezogen wird. Als ihr Onkel auftaucht und ihr einen magischen Armreif übergibt, offenbart er Ysilda, dass sie eine Zauberin ist. Sie erhält die Aufgabe, zum fernliegenden Arkanen-Tribunal zu reisen, um das Schmuckstück dort hinzubringen. Doch das ist gefährlicher, als sie ahnt, denn im gesamten Kaiserreich ist Magie verboten. Hexenjäger lauern hinter jeder Ecke und die mächtige Inquisition wird von der kaiserlichen Monarchin für jede gefasste Hexe entlohnt. Inmitten der Gefahr, als solche enttarnt zu werden, muss sich Ysilda bedrohlichen Kreaturen, abergläubischen Dorfbewohnern und weiteren Herausforderungen stellen, damit sie das Arkane-Tribunal erreichen kann.

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Prolog
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Jonathan Hönes

 

Die Zauberin von Nesthalf

 

 

 

 

 

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen.

Die Zauberin von Nesthalf

 

 

 

 

 

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

 

 

Lektorat: Madlen Müller

Korrektorat: Désirée Kläschen

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von Rawpixel und selbstgemalten Designs

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

ISBN: 978-3-98718-297-6

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Prolog

Der Witwer

 

Ein Witwer war ein Jäger. Genauer gesagt jagte er Hexen, weshalb er im Volksmund auch Hexenjäger genannt wurde. Die Barden dichteten seine Klinge zu einem erbarmungslosen Begleiter, der unersättlich das magische Gewebe seiner Beute verschlang. Der Witwer schrieb seinen Namen mit dem Lorbeersaft der zauberhaften Frauenzimmer, die er mit dem Handwerk des Zimmermanns zur Stube eines Knaben renovierte. Nachdem das Inkognito vom Haupt des Neugeborenen fiel, wurde es mit gebrautem Nektar gestillt und wuchs zu dem heran, was es niemals sein wollte: ein Experte der Hexenjagd.

Jarachel war ein solcher Witwer. Er war einer der wenigen, denen das schwarze Notenblatt der Kaiserin auf dem Rücken brannte und die unter ihrer Zustimmung dem Volke das Flötenspiel vortrugen. Sozusagen war er dem Proletariat ein Barde, den das singende Werkzeug des Todes auf all seinen Reisen begleitete. Dieses Instrument wurde stetig erreichbar vom Träger seines Sattels gehalten, wenn es zum Spiel einer höheren Oktave rief, um dem geschärften Metall eine zauberhafte Mahlzeit anzurichten.

Doch ohne die Macht seiner gewundenen Schlange war Jarachel nur ein gewöhnlicher Mensch mit einem Armreif von fragwürdiger Herkunft. Das goldene Schmuckstück verlieh ihm die Gabe zum unbedenklichen Verzehr von giftiger Alchemie und lagerte die daraus resultierenden Ressourcen in seinem genährten Kornspeicher.

An jenem Morgen erreichte der beurkundete Witwer die karge Provinz Nesthalf. Die gleichnamige Metropole siedelte seit mehreren hundert Jahren an den Linien des Omerions: dem Travlirschen Meer. Nesthalf war das Zentrum der Fischerei und der schnellste Fluss für Kiemenwesen ins Inland. Für den Export zahlten die nassen Jäger nur eine Silbermark pro Fuhre an den Grafen. Trockene Fallensteller aus der Provinz wurden hingegen mit zwei Silbermarken versteuert. Den größten Anteil dieser Spenden warf der Graf in den Tonkrug, der die Wachtürme von Nesthalf stützte. Dieser zweistellige Betrag war im Königreich markant und unter den Provinzen einmalig. Ein weiteres Quantum erwarb der Kaiserin ein neues Gewand aus den fernen Ländern hinter dem Omerion oder abseits der Grenzen Tamaliens’. Die restlichen Münzen wurden unmittelbar in der Nähe des Hafens verstreut und nur wenige gewannen den Wettlauf in die Stadtmitte.

An den Zügeln führte Jarachel seinen beschlagenen Transportwagen den Weg hinunter in das grasländische Nesthalfer Tal. Seine geschliffene Flöte begab sich vom Sattel auf die Reise zu seinem Werkzeuggürtel, der mit den effizientesten Instrumenten für das Metier des Witwers ausgestattet war. Jeweils zwei gebraute Substanzen. Ein Paar Vex Magina zur Wiederherstellung und zwei Azvus Avral zur Stärkung, tödlich für jeden anderen. Ein silberner Dolch für verfluchte Hexen sowie ein entzündlicher Keil für Waldhexen. Das Inventar der wesentlichen Reinigungswerkzeuge wurde aus einem Excoriminator zur Entfernung des Liebesapfels, einem Oculaufer für die opportune Desorientierung und einem Thoraxspranger mit der Folge einer Beruhigung des Atems zusammengestellt. In einer kleinen Tasche ruhte eine Viole mit dem Lebenssaft einer Wyvern und wartete auf den Moment, in dem der Auftrag des Witwers scheiterte.

Die Welt von Jarachel war grau und dämmerte, je mehr gebrauten Nektar er trank. Umso heller wurde sein Antlitz für das aufmerksame Augenmerk an den Höfen vom Wegesrand. Ob getränkt in Skepsis, Furcht oder Bewunderung, keines dieser Augen konnte der Witwer unterscheiden. Für ihn waren alle Gefühle in derselben Farbe gemalt. Dies zeigte sich auch am Nesthalfer Osttor, dem begehrten Schauplatz der meisten Augenpaare des Landes.

»Ihr mit dem dichten Bart und dem langen Haar. Ihr seid als Nächster dran«, sprach ein Wachmann der Garnison zu ihm und wies den Reisenden mit einer Handbewegung an, näherzutreten.

Jarachels Schuhwerk löste sich von den Fersen fremder Sohlen und nahm damit die Einladung zum Kontrollposten an. Seinem knabenartigen Gegenüber schien das polierte Fischwappen der Nesthalfer Garde einem pflegebedürftigen Kunstwerk gleichzusetzen, um Glanz und Anerkennung zu präsentieren.

»Fremder, verratet mir Euren Namen und nennt Euer Begehren, weshalb ausgerechnet Nesthalf Euch Obdach gewähren soll«, sprach der Knabe mit dem Federkiel zwischen den Fingern.

Die Buchstaben, welche das Pergament zeichneten, waren von jungfräulichen Händen, befähigt durch die Handschrift des Grafen, geführt.

»Du bist neu vor den Toren?«, fragte Jarachel rhetorisch und faltete einen geöffneten Brief auf, der den kaiserlichen Schiffbruch auf dem weichen Wachsmeer erlitten hatte. »Hier. Ich bin der angeforderte Witwer, Jarachel von Dornwiesen. Mein Handwerk wurde im Auftrag des Grafen Gudwig von Nesthalf und im Namen ihrer kaiserlichen Majestät erwünscht«, beglaubigte er mit dem entfalteten Dokument des ansässigen Grafen und der hoheitlichen Lizenz zum Musizieren.

»Sehr wohl, mein Herr. Wir wurden in Kenntnis gesetzt, dass ein beglaubigter Experte anreisen würde. Die Garde wird Euch zur Residenz des Grafen begleiten«, antwortete er und senkte den Kiel zum trockenen Grund.

Das Witwern im Auftrag einer Grafschaft und deren Exekutoren wurden nicht in das Protokoll der Stadt eingetragen. Das ersparte dem Herrn der Mauern einige goldene Mark der jährlichen Steuern.

 

 

 

Am Amtssitz der Hafenstadt untersagte der Graf seinem Gast eine ausreichende Erholung. Zu Hofe war derartiges Verhalten unsittlich, es sei denn, die Herren empfanden die Gesellschaft eines Witwers dringlich oder unumgänglich. Der Graf von Nesthalf war Stammkunde bei Knabentischlern, aber er war kein resignierter Mann und mied die höfischen Gepflogenheiten. »Es ist mir und der ganzen Stadt ein wahrhaftig wichtiges Anliegen, wenn Ihr uns Eure wertvollen Dienste erweist, gelobter Jarachel von Dornwiesen«, erfüllte des Grafen Stimme das Kontor.

»Sehr wohl. Meine Begleiter sind durstig und ich auch«, sprach Jarachel, nachdem ihm das Blatt vom Mund gefallen war. »Sagt mir einfach, wo es ist und was es ist, dann werde ich die Jagd beginnen.«

Der Graf sortierte einige Unterlagen und las, ein Lorgnon half dabei: »Unsere Erkenntnisse sprechen vom Hof der Isards am Rand des Urads. Verschleiert ist die Sippe unter dem Mantel einer Bauernfamilie. Jedoch wurden uns von den umliegenden Höfen magische Kräfte eines weiblichen Familienmitgliedes mit langen Ohren kundgetan.«

»Also reden wir hier von einer Hexe. Was denkt Ihr? Um welche Art von Hexe handelt es sich?«, fragte der Witwer.

»Es gibt Beobachtungen, dass eines der Weiber zahlreiche Besuche des Waldes vornehme und die Ernte ihrer Familie damit eine geringe Jugend erlebe. Wer jedoch von diesen Gestalten die Hexe ist, verbirgt sich in der Dunkelheit. Dies solltet Ihr in Gegenwart Eurer Witwerkunst selbst herausfinden.«

»Also eine Waldhexe?«, reimte sich Jarachel zusammen. »Dann benötige ich meinen heißen Keil, den Excoriminator und eine Dosis Vex Magina. Das ist demnach ein Preisaufschlag von vierzig Mark.«

Der Graf stimmte mit einem Apfel in der Kehle zu: »Dann sei es so. Nesthalf wird sich Eure Dienste erkaufen. Jedoch gibt es von unserer Stadt noch eine Bedingung. Ich weiß, dass ein Witwer für gewöhnlich die Beute im verdeckten erlegt, aber es ist wichtig, dass die Schafe den gefallenen Wolf erblicken. Demnach soll es einen Aufruf zur Hexenjagd geben, was Euch aber nur visuell beeinträchtigen wird. Natürlich sollt Ihr Euer wertvolles Handwerk ungehindert verrichten können.«

Jarachel zeigte sich einverstanden und sprach: »Wenn das Euer Wunsch ist, will ich diesem nachkommen. Also ruft Eure Bienen zur Honigsuche und lasst uns mit dem Witwern beginnen.«

 

 

 

Außerhalb des Bienenstocks sammelten sich die Arbeiter auf Geheiß ihrer Königin. Sie bereiteten ihre heißen und kalten Stachel für die bevorstehende Honigsuche vor. Jarachel behielt ihre Spitzen aufmerksam im Blick. Vor dem heroischen Völkerlied der Kaiserin waren es die Witwer, welche von dreizackigen Stacheln oder den entzündeten Brennhölzern gejagt wurden. Der Unterschlupf der Hexen war ein Karnickelbau, der in die Grenze des Urads hineinragte, wo die Äste ihn verschleierten. Die Bienen kreisten um das Loch, während die Königin ihren Furor übertönte.

»Hier spricht Graf Gudwig von Nesthalf. Wir haben den Hof der Isards umstellt. Zeigt uns freiwillig die Hexe, die euren Unterschlupf genießt, oder spürt den scharfen Verstand des Witwers!«

»Hasen verlassen ihren Bau nicht, wenn der Fuchs nach ihnen ruft«, erklärte Jarachel dem Grafen zur gegenwärtigen Gegebenheit und rieb den entzündlichen Keil über seinen stählernen Begleiter.

Das Metall goutierte die Hitze eines Schmelzofens und färbte sich nach dem Vorbild des Sonnenuntergangs. Die Fuchskrallen gruben den Tunnel zum Bau und die Bienen summten bekräftigend. Die harmlosen Karnickel flohen vor seinen brennenden Zähnen, doch die tapferen öffneten ihre Pfoten und schlugen nach dem Schwanz des Fuchses. Es brannte sich der Kiefer in ihr Fleisch und riss es zu den Leblosen. Das Hasenweibchen schützte ihre Nesthocker aussichtslos vor den Klauen des Raubtieres, doch bevor das Monstrum ihre langen Löffel krümmte, fragte es: »Du weißt, warum ich hier bin, Bäuerin. Ich suche sie, ich suche die Hexe von Nesthalf. Wer ist es?«

Das Weib sprach zu ihm. Ihre Stimme zitterte: »Ich bin es, ich bin die Hexe. Nimm mich gefangen, aber verschone meine Jünglinge.«

»Für Hexen ist eine Tribulation zu schwach«, antwortete Jarachel dem Weib und witwerte mit einem Streich.

Den Knaben und das Mädchen ließ er unbeachtet zurück. Das Vex Magina beträufelte seine Lippen, nachdem er aus dem Karnickelbau trat, wo die Trophäe seiner Jagd an den Löffeln gezogen ausgebreitet wurde.

»Das ist sie, das ist die Hexe von Nesthalf. Der Witwer hat sie getötet und uns gerettet. Brennt ihre Hütte nieder!«, surrten die Bienen und stachen ihre glühenden Stachelspitzen in den Bau. Die Tunnel verengten sich und Erde verschüttete das Heim. Die Bienen brachten die geerntete Polle zum Stock und kochten sie zu Honig.

»Ich danke dir, Witwer«, sprach der Graf zu ihm. »Du hast unserem Heim einen großen Dienst erwiesen, indem du die Hexe getötet hast. Jetzt können die Bewohner wieder ruhig schlafen. Komm nach der Verbrennung an mein Anwesen. Dir winkt eine beträchtliche Honorierung zu.«

Der Graf ließ Jarachel allein an dem brennenden Bau stehen. Der Witwer vernahm eine ungewohnte Schwäche und bemerkte die Abwesenheit seines goldenen Armreifs. Die Anwesenheit des Karnickelmädchens entging ihm jedoch nicht. Es war geradeso im Alter, den Bau auf den Hinterpfoten zu verlassen, und hockte jetzt haarlos vor ihm. Und da war sie. Die gewundene Schlange schmiegte sich um ihre Pfote.

»Gib mir den Armreif. Sofort«, forderte Jarachel laut und zeigte dem Karnickelmädchen die brennende Klaue.

Dieses senkte den Kopf und einen Schritt entfernt überrollte den Witwer eine Druckwelle, die ihn mit einem Donnerschlag zum Freudenmädchen machte. Seine Sinne verloren den Ursprung der Energie, denn dieser huschte als Lichtschimmer an den Rand des Urads und folgte einem namenlosen Pfad hinter das Holz.

1

Die Zauberin

 

Ein Zauberer war ein Nutzer der arkanen Künste. Er eignete sich die Magie auf unterschiedlichen Wegen an. Während sich der Geselle akribisch dem schwierigen Studium widmete, floss dem jüngst Geborenen die arkane Energie im Rebensaft der Älteren zu. Wem der Gedanke an diese außergewöhnlichen Mächte gefiel, aber magisches Geblüt sowie die pekuniären Mittel für den Lehrweg fehlten, war gezwungen, mit einem mächtigen Wesen zu verkehren. Unter einem bindenden Vertrag mit vagen Dekreten gewährten diese den Eintritt in die Schulen der Magie. Von diesen Schulen gab es insgesamt acht: die Schulen der Bannzauber, der Beschwörung und der Illusion, die Schulen der Hervorrufung, der Verwandlung sowie der Erkenntniszauber, Verzauberung und der Nekromantie. Obwohl jeder Zauberspruch einer dieser verschiedenen Schulen zugeteilt war, besaßen sie auch Gemeinsamkeiten. Der arkane Nutzer war bei vielen Zaubern an eine verbale Formel gebunden. Andere Sprüche benötigten somatische Malereien und manchmal war eine materielle Habe nötig, um die Magie in ihre Wirkung zu bringen. Die Kombination dieser Komponenten und die damit verbundene Aufbringung machte die Magie zu ihrem eigenen komplexen Mysterium.

In Pepritin waren solche arkanen Nutzer nur Gestalten einer alten Legende. Das kleine Dorf war nicht weit entfernt von Insengborn, einer der größeren Städte im Königreich Rilidid. Abseits der großen Wege und Landstraßen lebten hier drei Dutzend Familien der Halblinge in Ruhe und Frieden, abgeschirmt von den politischen Korruptionen der Grafen und des Königs im Land.

Ein Halbling war eigentlich nur ein Fabelwesen der Menschen, die sich abends mit Geschichten über das kleine Volk belustigten. Ihr richtiger Name war Hinnd. Da die Hinnd aber Humor besaßen, ließen sie sich von den Menschen auch weiterhin so nennen, denn immerhin waren sie nicht nur halb so groß, sondern auch halb so langweilig und halb so böse.

Die Bewohner von Pepritin waren heute früh auf den Beinen, denn es war der erste Tag des ersten Herbstmonats und somit ein Feiertag. Die Hinnd liebten Feste. Dafür waren nicht allein die vielen guten Speisen oder der üppige Verzehr von Braugetränken verantwortlich. Auch die familiäre Zusammenkunft und die unterschiedlichen Attraktionen zogen jeden Hinnd zur Fete. Fremde Reisende kritisierten des öfteren die Anlässe dieser vielen Feiern. Angestoßen wurde zu Geburtstagen, bei Besuchen von Verwandten, Hochzeiten und zu anderen festgelegten Feiertagen. Vor wenigen Monaten hatte ein Hinnd sogar den Umstand gefeiert, dass der träge Apfelbaum in seinem Vorgarten endlich die gewünschten Blüten bekommen hatte.

Jedenfalls war an dem heutigen Tag der Sommer vorüber und die Hinnd begrüßten den Herbst mit einem Fest und dafür mussten noch einige Vorbereitungen getroffen werden. Die Keltererfamilie Rebenpflug mit ihren vier erwachsenen und zwei jungen Kindern kümmerte sich um den Aufbau der Festzelte. Der Himmel war heute zwar wolkenlos, doch die Begrenzung machte das Zusammensitzen gemütlicher. Die Kleinfamilien Habichtbau und Goldgram stellten Tische und Stühle auf und fegten die ersten Herbstblätter vom Festplatz. Für das Anrichten des Büffets und Geschirrs waren die Astgebers zuständig. Die Familie Kurzfuß übernahm die Aufgabe, den Festplatz mit einer herbstlichen Dekoration zu schmücken und leuchtende Girlanden aufzuhängen.

Das war zumindest die Aufgabe für Ysilda. Sie war das zweitjüngste Mitglied der Familie Kurzfuß, aber definitiv das größte. Sie war sogar so groß, dass sie jeden Hinnd im Dorf mindestens um das Doppelte überragte. Schon in jungen Jahren konnte sie auf die anderen Bewohner herunterblicken und wurde deshalb von den Kindern ausgegrenzt und zu deren Belustigung zur Schau gestellt. Dazu kam auch, dass ihre Ohren viel zu groß waren und außergewöhnlich spitz zuliefen. Ihr ungewöhnliches Aussehen tolerierte nur ihre eigene Familie und die ihrer Freundin, Junachel.

Junachel war das einzige Kind der Hinndfamilie Ankrim, welche vor einigen Jahren aus den südlichen Ländern nach Pepritin gekommen und daher mit ihrem dunkleren Teint selbst sehr auffallend war. Zudem führten sie noch einen Buchladen mit abenteuerlichen Werken. Da die Hinnd ihre Geschichten üblicherweise mündlich tradierten, war dies eine wahre Rarität.

Ysildas Mutter, Faniel, besaß eine Weberei, in der sie mit ihren beiden Töchtern feinste Stoffe herstellte. Ihr Vater, Crin, und ihre beiden älteren Brüder, Knut und Finn, verkauften die fertige Ware auf dem Marktplatz von Pepritin und manchmal auch an reisende Händler aus der Stadt Insengborn.

Die Ankrims waren der Familie Kurzfuß beim Dekorieren behilflich und vermieden den Augenkontakt mit anderen vorbeilaufenden Hinnd, welche mit der Hand ihre grinsenden Münder verdeckt hielten, während Ysilda unbeholfen den Abschluss der Girlande an einem sechs Fuß hohen Pfahl befestigte.

»Das wäre dann geschafft. Ich danke dir, meine Liebe«, lobte Faniel ihre Tochter und trat ein paar Schritte zurück, um das Gesamtbild der Dekoration zu begutachten.

»Ich denke, wir sind hier fertig«, meinte Crin zufrieden und blickte in die Sonne. »Ruht euch noch ein wenig aus, dann können wir gemeinsam zu Mittag speisen. Ich freue mich schon auf den gebackenen Nachtisch«, erklärte er den Familien und schaute dann zu seiner Frau.

»Ich werde es anrichten«, antwortete sie auf den knurrenden Magen ihres Mannes, nahm den Korb mit den dekorativen Blumen vom Tisch und lief den Weg entlang zu ihrer Behausung.

»Wir sehen uns nachher«, sagte Karvin, Junachels Vater, und folgte den anderen, welche hinter Faniel zum Bau gingen.

Ein Bau war für die Hinnd der Name ihrer Behausung. Sie errichteten den kleinen Teil ihres Zuhauses gerne auf großen Grashügeln. Darunter wurden die wichtigen Zimmer in die Erde gegraben. Einige versteckte Tunnel führten dann aus dem Bau nach draußen. Das gab den Hinnd-Schutz und das wohlbefindliche Gefühl von Nähe, welches sie mit ihrer Heimat verband. »Hast du keinen Hunger?«, fragte Junachel Ysilda, welche argwöhnisch den tuschelnden Hinnd nachschaute, die unter vorgehaltener Hand an ihr vorbeiliefen, und dabei kein Anzeichen gab, sich zu bewegen.

»Nein, mir ist der Hunger vergangen. Gehen wir lieber dorthin, wo uns keiner sieht«, sagte sie und nahm ihre Freundin an die Hand.

Die beiden jungen Hinnd ließen den Festplatz hinter sich und folgten der größeren Straße von Pepritin hinaus auf die Felder. Diese gehörten der Familie Räucherfell, welche auch das Getreide erntete und daraus am Mühlbach Mehl herstellte. Das Mehl wurde dann an die Bäckerei der Hamlings verkauft, die es in ihrer Stube und auf dem Marktplatz als Brot verkauften. Am Straßenrand wuchsen schöne Obstbäume auf einer grünen Wiese, und da dieser Ort außerhalb des Dorfes war, war er der beste Platz, um ungestört zu sein. Nur ab und zu kamen ein paar Reisende vorbei.

»Schön wie immer hier«, meinte Junachel zufrieden und setzte sich ins Gras unter einen Baum. »Pass auf, dass du dir den Kopf nicht stößt.«

Ysilda zog belustigt die Mundwinkel hoch und setzte sich neben sie. Junachel bemerkte häufiger Witzeleien über ihre enorme Körpergröße, aber schließlich waren sie befreundet und Ysilda wusste, dass diese Sprüche nicht ernst gemeint waren.

»Weißt du, was ich mich frage?«, meinte ihre Freundin, während sie verträumt über die Felder blickte und ihre dunklen Augen am letzten sichtbaren Punkt der Straße verharrten.

»Warum wir jedes Mal auf das Grundstück der Räucherfells’ kommen, wenn ich wieder alleine sein will?«, antwortete Ysilda lachend.

»Diese Überlegung habe ich schon längst aufgegeben. Du kannst mir sowieso keine klare Antwort darauf geben, aber immerhin finde ich es wunderschön hier. Nein. Ich frage mich, was hinter diesem Feld und hinter den Weinbergen der Rebenpflugs ist. Was ist außerhalb von Pepritin und wie sind die Leute dort?«

Ysilda wusste, worüber Junachel reden wollte. Sie schwärmte für den Gedanken, in die Lande hinauszuwandern und die Welt zu erkunden. Diese Vorstellung war für die meisten Hinnd jedoch eine schaurige Mär. Die Hinnd liebten ihre Heimat und die traute Gesellschaft der anderen Familien. Sie wollten ein ruhiges und sorgenfreies Leben, abgeschieden von der düsteren Welt außerhalb von Pepritin und dem Umland der Karnickelebene.

Es gab nur zwei Gründe, warum ein Hinnd seine Heimat verlassen würde. Junachels Grund war der einfachste. Sie wollte das sanfte Leben hinter sich lassen und Abenteurerin werden. Der andere Grund, weswegen jemand seinen Bau, seinen Hof und seine Familie zurücklassen würde, wäre eine Bedrohung für diese. Wenn das alles in Gefahr wäre, dann würde sogar der heimischste Hinnd sein Zuhause verlassen und Ysilda kannte nur zwei, die das in Pepritin getan hatten. Ihr Onkel, Bertin, und sein Vater, Hamil Fruchtfuß, waren vor über vierzig Jahren hinaus in die Welt gereist, um das Dorf zu retten.

Was der genaue Grund dafür gewesen war, das wussten nur die Älteren und diese sprachen nicht gern über die beiden. Vielleicht war dies auch einer der wenigen Gründe, weshalb Bertin sein Leben als Abenteurer nach dieser Aufgabe fortgeführt hatte und nur selten ins Dorf reiste. Danach hielt er sich für die nächsten fünf oder zehn Jahre wieder irgendwo in der Außenwelt auf. Sein altes Zimmer in der Behausung der Kurzfuß’, was früher natürlich den Fruchtfuß’ gehört hat, stand ihm aber trotzdem immer offen.

»Ysilda? Hey, bist du noch anwesend?«, fragte Junachel und zupfte an ihrem Kleid, sodass das Mädchen aus ihren Gedanken gerissen wurde.

»Ja, ich höre dir zu«, gab sie zurück und merkte, wie sich ihre Wangen röteten. »Willst du wirklich dein jetziges Leben und deine Familie vollständig hinter dir lassen und jeden Tag aufs Neue überrascht werden, was hinter alldem steckt? Vielleicht wirst du damit unglücklich.«

»Eine Überraschung wird diese Reise bestimmt und es wird vermutlich eine Enttäuschung und gleichzeitig eine Freude, aber unglücklich werde ich nur, wenn du nicht mitkommst und bei mir bist«, sagte Junachel mit Ysildas warmer Hand fest in ihrer.

Ysilda schaute ihr in die kastanienbraunen Augen und sie erwiderte den Blick. Doch dann wurde ihre Ruhe durch das Rumpeln eines Karrens gestört und beide blickten die Straße hinunter nach Pepritin und dann zu der Bogenbrücke, die über den Weg führte, der neben der Mühle der Räucherfells aus dem Dorf führte. Ein Gespann mit einem dunklen Pferd trabte den gepflasterten Weg entlang. Die Räder quietschten, und als der überdachte Holzwagen näher kam, erkannte Ysilda den darauf sitzenden Hinnd, der ihn zum Dorf beförderte. Ein summendes Lied auf den Lippen und den kühlen Fruchtmost in der Kehle erkannte sie ihren Onkel, Bertin Fruchtfuß.

Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war auf den Tag genau vor fünf Jahren an ihrem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Die grauen Haare hatten sich seitdem vermehrt und seine Gesichtszüge waren deutlich älter geworden. Die tiefe Narbe auf seinem blinden Auge trat zwischen den Falten hervor. Auch der riesige Bernhardiner begleitete ihn wieder und saß ruhig neben ihm auf dem Gefährt. Bertin zog sanft an den Zügeln, und als die Räder zum Stehen kamen, blickte er zu den Mädchen hinunter.

»Das ist aber schön, wenn einen die Familie sogar vor dem Dorf empfängt. Freut mich, dich zu sehen, Ysilda. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt«, begrüßte er sie mit seiner warmen Stimme und stieg zu ihnen herab.

»Onkel Bertin, ich hatte nicht erwartet, dass du uns besuchst«, sagte Ysilda, nachdem sie sich runtergebeugt hatte, um ihn in die Arme zu nehmen.

»Ich habe einen Brief an deine Mutter geschickt. Vermutlich hat sie wieder vergessen, es euch zu erzählen. Aber ich konnte doch den zwanzigsten Geburtstag meiner Nichte nicht verpassen. Du weißt ja, der zwanzigste Geburtstag ist der wichtigste bei uns Hinnd, denn ab heute bist du erwachsen, Ysilda.« Er lächelte und sah dann zu dem großen Hund, welcher immer noch faul auf dem Karren ruhte. »Einohr, wir sind angekommen, schau mal, wer hier ist.«

Der Hund öffnete seine müden Augen, sprang schwerfällig vom Wagen und begann zuerst damit, die Mädchen zu umkreisen, zu beschnuppern und schließlich abzulecken. Soweit Ysilda wusste, hatte Bertin ihn immer nur mit Käse gefüttert und deswegen musste ihre Mutter beim letzten Besuch die Speisekammer verriegeln, da sich der Hund sonst Zugang verschafft hätte.

»Und du bist auch noch hier? Ich hatte erwartet, dass es dich schon längst in die Außenwelt gezogen hätte. Du warst davon doch immer so begeistert«, fragte er freundlich an Junachel gewandt.

»Nein. Ich bin immer noch da. Es ist wirklich schwer, Pepritin zu verlassen. Es ist, als würde ich hier festgehalten werden und nie wegkommen.«

»Manchmal geht es schneller, als man denkt, und meistens kommt es unerwartet«, meinte Bertin wissend und schien an etwas zu denken. »Aber genug davon. Ich habe eine lange Reise hinter mir und ich freu mich darauf, die anderen der Familie wiederzusehen. Also, begleitet mich doch ins Dorf«, erklärte er und nahm die Zügel des Pferdes in die Hand.

Einohr folgte seinen Schritten und gemeinsam liefen sie entlang der Straße über die Felder zum Bau der Kurzfuß’. Dieser war auf einem grasgrünen Hügel am äußeren Rand des Dorfes errichtet. Ein gepflasterter Weg führte durch den überwachsenen Gartenzaun zur kleinen Hütte ganz nach oben, wo der gediegene Kräutergarten duftete und das herbstliche Obst an den Bäumen reifte.

»Bertin? Schön, dich zu sehen, das ist ja eine Überraschung, dass du kommst«, rief Crin freundlich, der mit Junachels Vater auf der Bank vor dem Haus saß. Beide rauchten an ihren Pfeifen. »Kinder, Fenia, kommt raus, Onkel Bertin ist da«, rief er ins Haus hinein, nachdem er aufgestanden war, und begrüßte dann seinen Schwager mit einer Umarmung.

Die gesamte Familie kam aus dem Bau und begrüßte den Hinnd. Fenia umarmte ihren Bruder mit einem Kochlöffel in der Hand, den sie wohl vergessen hatte abzulegen, Bertins Hund sprang von seinem Platz und begrüßte alle auf seine eigene Art. Über seinen Besuch schien die ganze Familie erfreut zu sein. Nur Junachels Eltern sahen ihn skeptisch an. Ysilda wusste, dass sie ihn nicht leiden konnten. Dies lag vermutlich daran, dass er Junachel schon in ihren jungen Jahren mit seinen Geschichten von Abenteuern begeistert und ihre Faszination bestärkt hatte, hinaus in die Welt zu reisen – und das wollten ihre Eltern überhaupt nicht.

»Warum hast du uns denn nicht Bescheid gegeben, dass du kommst? Wir hätten dein Zimmer hergerichtet und dir auch eine Mahlzeit vorbereitet«, fragte Crin und nahm Kaya, seine jüngste Tochter, auf den Arm, die sonst von Einohrs Zunge komplett abgeleckt worden wäre.

Bertin runzelte die Stirn, tauschte einen Blick mit seiner Schwester und Fenia schien sich an etwas zu erinnern: »Stimmt, ja. Ich habe völlig vergessen, es euch zu sagen. Bertin hat mir geschrieben, dass er uns zum Herbstfest besuchen kommt und mit uns feiern will. Ich war so mit den Vorbereitungen beschäftigt und hatte so viel um die Ohren, dass ich es wirklich vergessen habe.«

Bertin nahm einen Ausdruck an, den Ysilda weder deuten konnte noch jemals bei ihm gesehen hatte, und antwortete: »Um es genau zu nehmen, bin ich eigentlich nur wegen Ysildas zwanzigsten Geburtstag hier. Du weißt ja, dass das ein wichtiger Tag ist«, erklärte er seiner Schwester und sah sie an, als wollte er sie an etwas erinnern.

Ysilda schaute von ihrem Onkel zu ihrer Mutter, die wohl den Faden gefunden hatte und mit offenem Mund überlegte, was sie sagen sollte. Die unangenehme Stimmung hatte mittlerweile jeder bemerkt und niemand sagte ein Wort.

»Ja, richtig«, stotterte Fenia. »Der zwanzigste Geburtstag. Ja, das ist der wichtigste. Es ist schön, dass du dir zu diesem Anlass den Aufwand machst und extra nach Pepritin reist. Kommt, lasst uns hineingehen und essen, sonst wird es noch kalt«, schloss sie in Gedanken versunken ab und betrat den Bau.

Ysilda merkte, dass sie nicht die Einzige war, die nicht verstand, was hier vor sich ging. Auch den anderen stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Allerdings versuchte, sich keiner etwas anmerken zu lassen, und zusammen betraten sie die Behausung.

Das obere Stockwerk bestand aus zwei Räumen: dem Eingangsbereich mit Garderobe und dem Esszimmer mit Küche, von wo aus man durch die Fenster den größten Teil von Pepritin sehen konnte. Eine schmale Treppe führte dann nach unten zu den anderen Zimmern, die in den Hügel eingebaut waren. Darunter befanden sich die Schlafzimmer, das Bad, die Webstube, in der die Familie ihre Stoffe herstellte, die Speisekammer und der Mostkeller, der mittlerweile nur noch als Lagerraum diente.

Früher, als hier noch die Familie Fruchtfuß mit Bertins Vater Hamil gelebt hatte, stellten sie den beliebten Fruchtfußmost her. Dieses Getränk war ein altes Familienrezept, das nur noch von Bertins und Fenias jüngerem Bruder und ihrer weiteren Schwester hergestellt wurde, welche aber nicht mehr in Pepritin wohnten, sondern in andere nahegelegene Dörfer auf der Karnickelebene gezogen waren. Bertin selbst hatte keine Kinder und auch keinen Partner. So etwas ließ das Abenteuererleben anscheinend nicht zu. Somit war Fenia die Einzige der Geschwister, welche in Pepritin geblieben war und den Bau für ihre Familie übernommen hatte.

Nachdem alle ihren Platz an dem großen Esstisch gefunden hatten, richtete Fenia das Mahl an. Die Vorspeise war eine einfache Suppe, die so gut wie immer schmeckte. Danach servierte sie einen köstlichen Eintopf mit verschiedenen Gemüsesorten aus dem Garten, welchen sie mit passenden Kräutern gewürzt hatte. Zum Abschluss gab es noch süßes Gebäck, das sie von dem riesigen Hund fernhalten musste, der während dem Anrichten danach schnappte.

Das Mittagessen war für die Hinnd nur das zweitgrößte Mahl am Tag. Angefangen bei Tagesbeginn stand erst einmal das einfache Frühstück auf dem Speiseplan. Das Vormittagsvesper und das Mittagessen folgten gleich darauf. Bei den meisten Familien wurde dann stimmungsabhängig am Nachmittag noch Gebäck oder Tee serviert. Am überragendsten war jedoch das Abendessen, denn der Abend war die Festzeit und das, worauf sich ein Hinnd jeden Tag am meisten freute. Zu dieser Zeit war jeder fertig mit seinem Tagesgeschäft und konnte sich auf die familiäre Gesellschaft und eben vor allem auf das ausgiebige Abendmahl freuen.

Während des freudigen Schlemmens wurde Bertin mit Fragen von Kaya über seine Abenteuer durchlöchert. Für junge Hinnd war es einfach nur unvorstellbar, die Heimat zu verlassen und eine Reise durch die Wildnis mit unbekanntem Ziel zu beginnen. Bertin antwortete meist immer sehr mild und weniger so, als wären seine Abenteuer eigentlich ziemlich gefährlich und wagemutig gewesen. Die gelassenen Antworten schienen vor allem Junachels Vater zu stören, der aber nichts dazu sagte, sondern nur griesgrämig den Geschichten zuhörte. Seiner Meinung nach hätte Bertin wohl mehr die Gefahren hervorheben sollen, die solch eine Reise mit sich brachte.

Nachdem die Familien gegessen hatten und satt waren, stand Crin als Erster auf und streckte sich mit einem zufriedenen Ton, woraufhin er meinte: »Ein Schläfchen würde jetzt guttun. Das Essen war wie immer hervorragend, Liebling, aber es war auch anstrengend, das alles zu verzehren. Mein Magen braucht jetzt eine ausgiebige Ruhepause.«

Fenia stemmte wütend die eingezogenen Knöchel in die Hüften und gab ihrem Mann einen leichten Klaps mit dem Tuch, das sie gerade zum Abwischen des Tisches benutzt hatte. Im Anschluss knüllte sie den Stoff zusammen, warf das Bündel vor seine nackten Füße und meinte: »Dann kannst du wenigstens mal deine Krümel wegwischen und den Abwasch machen, es sei denn, du bewegst deinen faulen Hintern aus meiner Stube und hilfst unten auf dem Festplatz.«

»Ist schon gut. Ich gehe schon«, versprach Crin und hob schützend die Hände über den Kopf.

Er gab seiner Frau einen Kuss und öffnete die Tür des Baus. Mit Karvin und seinen Jungs im Schlepptau lief er durch den Garten und folgte dem Randstein des Weges hinunter zum Aufbau.

»Und du bleibst wie immer hier und gehst erst am Abend zum Fest?«, fragte Fenia Bertin, während sie mit Junachels Mutter anfing das Geschirr zu spülen. Bertin sagte nichts. »Dann kannst du wenigstens dein Zimmer durchkehren. Als ich das letzte Mal dort unten war, bin ich sofort wieder rausgerannt, da ich vor Husten keine Luft mehr bekommen habe«, warf Fenia ihm vor und sah, dass Bertin überlegend zu Ysilda schaute, die ihm gegenübersaß. »Liebes, wollt du und Junachel euch nicht den übrigen Tag freinehmen und erst am Abend zum Fest kommen? Du hast heute Geburtstag und ich finde, du solltest ein wenig Zeit für dich haben. Ich bin mit den ganzen Vorbereitungen schon überfordert und weiß nicht, wie ich das alles bis zum Abend schaffen soll. Aber das soll dich heute nicht berühren. Ihr könnt ja schon mal überlegen, was ihr heute Abend anziehen wollt. Ysilda, du hast ja so schöne Kleider.«

Ysilda nickte ihrer Mutter stumm zu und ging, ohne zu zögern, mit Junachel die Treppe hinunter in den unterirdischen Bereich des Baus. Tatsächlich war sie über den unerwarteten Entschluss ihrer Mutter verwundert. Noch nie war sie von dem Aufbau des Herbstfestes entbunden worden, nur weil es gleichzeitig auch ihr Geburtstag war. Aber eigentlich war das auch unwichtig. Sie war auf jeden Fall froh, dass sie Zeit zu zweit verbringen und den anderen beschäftigten Hinnd aus dem Weg gehen konnten.

»Und du hilfst mir jetzt, Bertin«, hörte Ysilda von oben, als sie die letzte Stufe überquerte und dann im übrigen Teil des Baus stand.

Ab hier musste Ysilda den Kopf einziehen und geduckt laufen. Die unterirdischen Räume waren niedriger als die oberen. Die Holzwände stützten den Bau vor der drückenden Erde des Hügels ab und kleine Klappen verdeckten die nach draußen führenden Tunnel. Ysilda besaß nach ihren Eltern das größte der insgesamt sechs Schlafzimmer. Allerdings war es auch nicht viel größer als die Zimmer ihrer Geschwister und den meisten Platz nahm vor allem ihr verlängertes Bett ein. Das eigene Zimmer war ein wertvoller Rückzugsort, wenn man mal alleine sein wollte. Als ein Ort für vier Augen bot es sich aber auch an.

Das alte Zimmer von Bertin war das einzige im Bau, das die Kinder nicht betreten sollten. Als sehr junge Hinnd hatten sie diese Regel heimlich gebrochen und manchmal hinter der Tür rumgeschnüffelt. Da es dort allerdings nichts Besonderes gab, hatten die Kinder das Interesse schnell verloren.

In Ysildas Zimmer setzte sich Junachel auf das Bett und wartete darauf, dass ihre Freundin den Kleiderschrank öffnete. Nachdem sie das gemacht hatte, suchte Ysilda drei Kleider aus, die in die engere Auswahl kamen.

»Dann zeig mal, was du zu bieten hast«, meinte Junachel neugierig, sprang vom Bett und half Ysilda beim Anziehen.

Das erste Kleid war einfarbig und dunkelblau. Ansonsten war es schlicht und hatte nichts Besonderes an sich.

»Wirkt irgendwie trist. Passt zu deiner allgemeinen Stimmung, aber ich bin wirklich dagegen, dass du dieses heute trägst, also fällt es schon einmal raus«, sagte Junachel bestimmend und bereitete das nächste Kleid vor. »Zu banal. Du siehst aus, als würdest du damit jeden Tag im Garten arbeiten«, meinte sie weiter und schüttelte unzufrieden den Kopf, nur um das nächste Kleid zu kritisieren, das am Hals und an den Hüften eng geschnürt war. »Servil«, war Junachels einziger Kommentar dazu, woraufhin sie ihr aus dem Stoff half. »Das war alles? Mehr hast du dir nicht ausgesucht?«, fragte sie vorwurfsvoll und trat selbst an den Schrank.

Nachdem sie ein wenig gesucht hatte, holte sie ein Kleid heraus, das Ysilda schon längst vergessen hatte. Durch das dunkle Rot wirkte es warm. Die weiten Ärmelabschlüsse bereiteten ein bequemes Tragegefühl und der weite Ausschnitt, die offenen Schultern sowie die geschwungene Bestickung sorgten dafür, dass die anderen Kleider in seinem Schatten verschwanden.

»Eminent und auf eine provokative Weise erotisch. Das sind die Werte, die ich an dir schätzen würde. Ich weiß zwar, dass du lieber versteckt bleiben willst und am besten gar nicht auffällst, um den anderen ja nicht deine vollkommene Schönheit zu zeigen, da sie dich ja vexieren könnten. Aber das ist nicht einfach nur der erste Tag des Herbstes. Nein. Es ist auch dein Tag und deswegen trägst du jetzt das und wirst mir keine Widerworte geben.«

Ysilda wusste, dass sie sich nicht wehren konnte. Wenn es wieder einmal darum ging, dass sie lieber unsichtbar sein und nicht auffallen wollte, wurde Junachel sehr eloquent. Sie würde so lange auf sie einreden, bis Ysilda überzeugt war.

»Na gut, du hast ja recht. Ich würde es auch tragen, wenn da nicht ein Problem wäre«, gab sie zu und deutete dann auf den rechten Taillenbereich des Stoffes, der vollständig aufgerissen war.

Ysilda erinnerte sich an das unglückliche Missgeschick, das ihr passiert war, als sie das Kleid das letzte Mal getragen hatte. Abgesehen davon, war der damalige Tag sehr unglücklich verlaufen und bei den wieder aufkommenden Erinnerungen, die sie eigentlich verdrängt hatte, wurden ihre Augen feucht.

Junachel bemerkte das und nahm ihre Hand. Ysilda spürte ihre Wärme und eine unerwartete Energie, die sich in ihr ausbreitete. Je mehr sie versuchte das Gefühl zu ignorieren, desto eher wurde ihr schlecht und sie bekam das Verlangen, sich zu übergeben. Als das vermeintliche Erbrechen sie überkam, spürte sie, dass die gesammelte Energie aus ihr heraus über ihre Hand zu dem Stoff strömte und die Nähte des Kleides wie durch eine unsichtbare Hand bewegte, sodass sie sich wieder zusammenfügten.

»Wahrhaftig ein Déjà-vu. Ähnlich wie das letzte Mal, als du dieses Gewand getragen hast, nur dass heute keine Wohnräume dafür abbrennen müssen«, witzelte Junachel und blickte staunend und völlig ungläubig auf den selbstflickenden Stoff.

Es war nicht das erste Mal, dass Ysilda so etwas Unglaubliches erlebte. Schon häufiger waren irgendwelche merkwürdigen und unerklärlichen Dinge in ihrer direkten Nähe geschehen, sodass sie meist dafür verantwortlich gemacht wurde. Dazu gehörten teilweise lustige Momente, manche waren sehr peinlich und andere so schlimm, dass Ysilda sie lieber verdrängt hätte. Sie selbst schob es auf den Zufall, und, dass sie einfach Pech hatte, dort zu sein, wo etwas schiefging. Interessanterweise kündigten sich solche Situationen immer mit dieser kräftigen und aus dem Nichts kommenden Energie an und entweder wurde ihr dabei schlecht oder sie bekam den Reiz zu niesen.

»Sieh es mal so, immerhin kannst du dich jetzt nicht mehr rausreden und ich glaube, dass ich dieses Mal nicht verletzt werde. Also zumindest habe ich noch alle Gliedmaßen und meine Beine kann ich auch noch spüren«, scherzte Junachel, die schon mehrere dieser Momente miterlebt hatte.

Nachdem entschieden war, was Ysilda anziehen würde, bereiteten sich die Mädchen weiter auf den Abend vor. Junachels dunkle Haare wurden von ihrer Freundin zu einer aufwendigen Flechtfrisur geflochten, die nur mit vielen Haarnadeln gehalten werden konnte, da sie sonst zu glatt waren. Ysilda erhielt eine halboffene Frisur, bei der ihre Ohren frei waren, was Junachel unbedingt so wollte. Abschließend suchten die beiden noch schönen Schmuck aus, den sie später bei der Feier tragen wollten.

 

 

 

»Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen und mein Festkleid aus dem Schrank holen. Du kannst dich freuen, ich habe schon ausgesucht, was du am liebsten an mir magst«, erklärte Junachel oben im Garten, als es später geworden war, und lief den Hügel hinunter nach Hause.

Es war kurz vor der Feier und die Sonne verschwand langsam hinter den weiten Karnickelebenen. Ysilda überprüfte noch einmal ihr Aussehen im Spiegel. Obwohl Junachel sie vorhin überzeugt hatte, fühlte sie sich in diesem Aufzug doch ziemlich unwohl. Ohne Frage veränderte die Aufmachung ihr Äußeres in etwas Schönes und stand sehr im Gegensatz zu ihrer alltäglichen Erscheinung. Ysilda sah sich selbst bei großen Feiern lieber im Hintergrund, aber so war sie auffälliger als je zuvor.

Sie schloss ihre Augen und wandte sich vom Spiegel ab. Danach verließ sie das Zimmer, stieg die Treppe hoch und verriegelte hinter sich den Bau. Die Wärme des Tages war nicht mit der Sonne gewandert und somit streifte ein angenehmer Luftzug über ihre nackte Haut. Versteckt hinter dem dunklen Schleier sangen zirpende Tiere ihre Abendlieder und immer mal wieder raschelte ein Strauch in der Umgebung.

»Puh. Du bist noch da. Entschuldige bitte, dass ich so spät komme, ich war zu sehr mit meinem Äußeren beschäftigt und habe dabei die Zeit vergessen«, keuchte Junachel außer Atem, während sie hinter den Büschen in Ysildas Blickwinkel hervorkam und hastig die Treppen des Weges erklomm.

Oben blieb sie vor ihr stehen und stützte ihr Gewicht auf die Knie. Junachel hatte tatsächlich ihr schönstes Kleid ausgesucht. Es war smaragdgrün und dem von Ysilda in seiner Freizügigkeit beinahe ebenbürtig mit der Ausnahme, dass Junachels Dekolleté bedeckt war und sich die breiten Träger am Nacken hielten, sodass der Stoff eng ihren Hals umschloss. Dazu trug sie unterhalb jeder Schulter jeweils einen hellen Armreif, der durch ihren dunklen Teint hervorgehoben wurde.

»Schön siehst du aus«, meinte Ysilda, während Junachel langsam wieder zu Atem kam, und legte die Hand auf ihre pulsierende Schulter.

»Ich wusste, dass du das sagst. Aber jetzt lass uns nach unten gehen, sonst verpassen wir noch den Anfang«, antwortete sie zur einen Hälfte lachend, zur anderen keuchend, nahm dann Ysildas Hand und zusammen gingen sie die Treppen hinunter auf den beleuchteten Festplatz zu.

 

 

Von der Sonne blitzte nur noch der letzte Schein über die Karnickelebene, bis sie dahinter unterging und die Nacht das Land eroberte. Die Straßen von Pepritin waren wie leer gefegt. Alle Hinnd waren bereits beim Fest, das schon von Weitem durch sein buntes Laternenlicht und die Gesellschaft seiner Besucher erkennbar war. Als die beiden näher kamen, erregte Ysildas außerordentliches Aussehen sofort die Aufmerksamkeit der Feiernden, die auch hier hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln anfingen und nicht gerade unauffällig in ihre Richtung deuteten.

»Bleib ganz ruhig. Du siehst wunderschön aus und das ist auch richtig so. Ich bin mir sicher, der Neid verdreht sich in ihren alten Bauerntrachten und herauskommen nur giftgrüne Worte, die dich aber nicht zu interessieren haben und uns wenig brüskieren sollten«, meinte Junachel ernst und schaute zu Ysilda hoch, die bemerkte, dass ihre Wangen wieder abkühlten.

»Ja, du hast recht«, antwortete sie zustimmend und drückte ihre Hand fester, wodurch sie ermutigt wurde und den Festplatz betreten konnte.

Die Feier war so stimmig und farbenfroh wie jedes Jahr. Im Zentrum saßen die Familien an langen Tischen und gaben sich ausgiebig der Völlerei hin. Auf einem Podest spielte der Hinnd Bardir Honigstolz auf seinem charismatischen Dudelsack und stampfte dazu abwechselnd mit den Füßen auf das Holz, sodass ein dumpfer Rhythmus entstand, während die anderen Musiker ihn mit Flöten und Schlaginstrumenten begleiteten. Gleich daneben wurde an der Bar Bier und Wein für die anstehenden Gäste ausgeschenkt, die im Anschluss an das Büffet traten und ihre hungrigen Mägen mit einem überfüllten Teller zufriedenstellten. Etwas weiter außerhalb konnten die Besucher selbst gesammelte Blätter und Zweige vorbeibringen, die dort zu einem Haarkranz oder anderem Schmuck verflochten wurden, welchen die Hinnd dann aufsetzten, um auf diese Weise den Herbst zu empfangen. Auf der anderen Seite wurde die Jahreszeit mit einer weiteren Tradition begrüßt. Hier durfte jeder Bewohner eine Kerze aus Bienenwachs anzünden, was Glück und Sicherheit für die Familie bringen sollte.

In dem ganzen Trubel musste Ysilda erst suchen, bevor sie ihre Familie fand. Ihre Mutter, ihr Vater und ihre Geschwister standen an der Schlange zur Bar. Bertin hingegen saß auf einer Bank und kraulte seinen großen Hund hinter dem Ohr. An seinem Gurt war ein schwerer Hammer befestigt. Soweit Ysilda wusste, hatte er diese Waffe irgendwo auf seinen früheren Heldenreisen erlangt und eigentlich hielt er ihn auch nur in greifbarer Nähe, wenn er wieder abreiste.

»Und? Siehst du sie?«, fragte Junachel, während sie sich lang zu machen versuchte, aber inmitten der ganzen Hinnd nichts sehen konnte.

»Ja. Da drüben sind deine Eltern«, meinte Ysilda und deutete in die Richtung von Karvin und Namelia, die zwar am gleichen Tisch wie Bertin saßen, aber einen großen Abstand zu ihm hielten. »Es scheint so, als ob sie dir bereits etwas zu Essen geholt haben und auf dich warten.«

»Wenn es für dich keine Umstände macht, dann versuch ich schon mal, mich zu ihnen durchzudrängen. Wir sehen uns gleich«, meinte Junachel und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Ysilda hatte es dabei einfach. Die meisten Hinnd gingen ihr wie immer aus dem Weg, da niemand von solch einem Hünen zertrampelt werden wollte, daher erreichte sie ihre Familie schnell und mit Leichtigkeit.

»Da bist du ja«, sagte ihre Mutter und erschrak kurz. »Ich habe dich fast nicht wiedererkannt, meine Kleine. Du siehst, na ja, anders aus als sonst, aber sehr hübsch.« Sie überlegte sichtlich und wurde dabei rot im Gesicht.

»Was hast du denn vor, Ysi? Es sieht doch nicht nach dem aus, was ich denke? Mit deiner Größe erreichst du das sowieso nicht«, spottete Knut und deutete auf ihr ausgefallenes Gewand.

Die beiden Brüder lachten hämisch und richteten sich so weit auf, wie ihre Köpfe es zuließen.

»Jetzt ist aber Schluss. Hört auf, bevor ihr überhaupt anfangt«, schimpfte Fenia schnippisch und hob warnend den Zeigefinger, was die beiden Brüder augenblicklich zum Schweigen brachte.

Nachdem ihre Teller befüllt waren und die Flüssigkeit in den Krügen über den Rand schwappte, ließen sie sich am Tisch neben Bertin nieder.

»Ich habe dir eine gegrillte Keule und etwas von dem Eintopf mitgebracht. Natürlich auch etwas vom Most, den du so gerne magst«, sagte Fenia zu ihrem Bruder und tischte das Mahl vor ihm auf.

»Most? Nur eine schlechte Nachahme aus dem Bau der Rebenpflugs. Es ist schade, dass du einen Weber geheiratet hast. Unser Vater, Hamil, hätte den Fruchtfußmost bestimmt gerne in Pepritin weiterhin hergestellt«, überlegte Bertin, nachdem er einen Schluck genommen hatte und sich dann seinem Essen widmete.

»Du hättest auch hierbleiben können, aber in die Welt hinauszuziehen und das Leben mit spaßigen Abenteuern zu verbringen, erschien dir offenbar sinnvoller. Wahrscheinlich wäre unser Vater dir dann nicht aus Sorge gefolgt und vermutlich noch hier«, antwortete Fenia und nahm einen Bissen von ihrem Mahl.

»Das ist wahr. Aber während der eine vom süßen Wind der Heimat wieder zurückgetragen wird, wird der andere von ihm davongeweht. Dieser lässt ihn dann nicht mehr zurück«, sprach Bertin, nachdem er den Humpen geleert hatte, und schaute dabei auffällig zu Ysilda, die nicht wusste, wie sie mit dem Blick umgehen sollte.

»Das reicht jetzt. Langweile die Kinder nicht wieder mit deinen Geschichten«, unterbrach Fenia den Kontakt und verwickelte Bertin in eines ihrer Familiengespräche, in dem sie über die alten Zeiten sprachen.

Nachdem sie die ersten Teller geleert hatten, stand die Familie auf und holte sich Nachschub. Ysilda wollte gerade mit ihnen gehen, doch dann wurde sie von Bertin aufgehalten.

»Bevor du eine weitere Platte beladen kannst und dich der Völlerei und dem Gesaufe unserer Gesellschaft vollständig hingibst, würde ich gerne noch deinem klaren Verstand meine Stimme widmen«, meinte Bertin und sah sie freundlich an.

»In Ordnung. Worum geht’s?«, fragte Ysilda und setzte sich wieder hin, um ihrem Onkel gespannt zuzuhören.

»Reden wir nicht hier darüber. Es ist nicht so, dass nüchterne Ohren uns hören, aber das wachsame Auge deiner Mutter bereitet mir Sorgen«, erklärte er, stand auf und sah sich aufmerksam um.

Ysilda folgte ihm und alleine, nur mit Bertins Hund, verließen sie den Festplatz und traten zum Bau der Kurzfuß’. Ihr Onkel führte sie wortlos hinunter in den Wohnbereich und blieb dann direkt vor seinem Zimmer stehen. Er nahm den Türgriff in die Hand und zog daran. Ysilda begann sofort zu husten, als ihr eine Staubwolke direkt ins Gesicht schlug und alles hinter dem Türrahmen in einen rauchigen und undurchdringlichen Schleier hüllte.

»Expellere Magica«, sprach Bertin bestimmt und formte mit seiner offenen Hand drei große Kreise, wodurch der Schleier augenblicklich verschwand und die Sicht auf sein Zimmer frei gab.

»Was war das?«, fragte Ysilda erstaunt, immer noch hustend, und hielt sich den Handrücken vor den Mund.

»Das ist nur ein kleiner Trick, damit niemand während meiner Abwesenheit in meinem Zimmer herumschnüffelt oder Sachen entfernt, die hierbleiben sollen«, erklärte Bertin und ging durch die Tür.

Ysilda folgte ihm skeptisch und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Bertins Zimmer war im Grunde leer. Nur die alten Möbel standen noch an ihrem Platz und boten Halt für Spinnenweben. An der linken Wand war das Bett aufgestellt, worauf sich Einohr sogleich begab, um es sich dort auf den Decken bequem zu machen.

---ENDE DER LESEPROBE---