Die Zeit der Ruhelosen - Karine Tuil - E-Book

Die Zeit der Ruhelosen E-Book

Karine Tuil

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Beschreibung

Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit. Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit. Der Aufstieg des brillanten Managers François Vély scheint unaufhaltsam. Bis seine Exfrau sich aus dem Fenster stürzt, als sie erfährt, dass er wieder heiraten will. Der Tragödie folgt die Entdeckung, dass seine neue Lebensgefährtin in eine Affäre mit einem Offizier verstrickt ist, der völlig traumatisiert aus Afghanistan heimkehrt. Außerdem wird Vély ein Mediencoup zum Verhängnis, man bezichtigt ihn des Rassismus und Sexismus. Als er persönlich und beruflich am Ende ist, ergreift ausgerechnet der Politiker Osman Diboula Partei für ihn – dabei ist Diboula bekannt als Wortführer gegen eine weiße gesellschaftliche Elite. Wenige Wochen später kommt es im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten, die für Vély fatale Konsequenzen hat. • Nominiert für den Prix Goncourt, wochenlang auf der Bestsellerliste - eine der relevantesten französischen Autorinnen • Lesung auf der lit.COLOGNE • Ein kluger, hochaktueller Gesellschaftsroman über den gnadenlosen Wettbewerb um Macht und sozialen Aufstieg

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Das Buch

Als Romain Roller von seinem Einsatz aus Afghanistan zurückkehrt, ist er innerlich gebrochen. In einem Luxus-SPA-Hotel auf Zypern, wo man die Soldaten zur mentalen Erholung unterbringt, beginnt er eine Affäre mit der Journalistin Marion Decker, die ihm Momente des Vergessens schenkt. Auch Osman Diboula befindet sich auf Zypern, Romain kennt ihn aus seiner Jugend in Clichy-sous-Bois. Osman stand nach den Unruhen in der Pariser Banlieue im Rampenlicht und hat inzwischen Karriere in der Politik gemacht. Die Rückkehr nach Frankreich bedeutet für alle eine schwere Prüfung. Osman wird Opfer rassistischer Ressentiments im Élysée, Romain fühlt sich seiner Familie entfremdet, und während in ihm der Krieg weiter wütet, sucht er Halt bei Marion. Doch dann erfährt er, dass sie mit einem der mächtigsten Männer des Landes verheiratet ist: mit François Vély, Chef eines großen Konzerns und Sohn eines jüdischen Widerstandskämpfers. Kurz vor der Fusion mit einem Wettbewerber posiert Vély für ein Magazin – auf einer Skulptur, die eine hocherotisierte dunkelhäutige Frau darstellt. Sofort bricht eine Welle der Empörung los, Vély wird als »dreckiger Jude« verunglimpft. Auf dem Höhepunkt des Skandals ergreift überraschenderweise Osman Partei für ihn. Kurz darauf kommt es bei einem Wirtschaftsgipfel im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten – mit fatalen Konsequenzen. Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit.

Die Autorin

Karine Tuil, geboren 1972, promovierte Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher. Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman Die Gierigen, der augenblicklich fürs Kino verfilmt wird. Karine Tuil lebt mit ihrer Familie in Paris. Maja Ueberle-Pfaff übersetzt aus dem Englischen und Französischen und hat u.a. Werke von Mark Twain, Jules Verne, Alice Walker und Pierre Assouline ins Deutsche übertragen.

Karine Tuil

Die Zeit der Ruhelosen

Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1557-7

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: Marga Frontera / getty Images

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Umschlag
Das Buch/Die Autorin
Titelseite
Impressum
DIE RÜCKKEHR AUS AFGHANISTAN
DIE AFFÄRE
IRAK
DAS ENDE DER UNBESCHWERTHEIT
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, preist all diese Werte, doch früher oder später werdet ihr das Problem der Identität auftauchen sehen.

Aimé Césaire,Nègre je suis, nègre je resterai. Entretiens avec Françoise Vergès

Das ist nur ein tröstlicher Betrug, denn die Geschichte des Lebens ist die Geschichte der unbezwingbaren Gewalt, sie ist ewig und unausrottbar, sie verwandelt sich, aber sie verschwindet nicht und wird nicht weniger.

Wassili Grossman,Alles fließt

Unbewusst spürte ich, dass für mich die Liebe dieses Massaker sein würde.

Cesare Pavese,Das Handwerk des Lebens

Das Auswahlverfahren war hart. Drei- bis viertausend Bewerber, vielleicht sogar mehr, und alle waren scharf auf eine Anstellung als Makler bei Cantor Fitzgerald, einer der größten Investmentfirmen der USA. Nach mehreren Bewerbungsgesprächen, die sich über sechs Monate hinzogen, erhielten nur zwei Personen den Zuschlag, ein Franzose und ein Amerikaner. Eines Morgens klingelte ihr Telefon: »Wir haben uns für Sie entschieden … Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass …« Die Kompetentesten. Die Besten. Die Elite. Und nun arbeiteten sie im Nordturm des World Trade Center, der eine im hundertsten, der andere im hundertvierten Stockwerk. Diejenigen Bewerber, die nicht genommen worden waren, hatten per Post ein kurzes, förmliches Schreiben erhalten: »Cantor Fitzgerald bedankt sich für Ihr Interesse … Wir bedauern, dass … stellt kein Werturteil über Ihre Qualifikation dar … für Ihren weiteren Berufsweg wünschen wir Ihnen …« Nach diesem Schreiben hatten sie die üblichen Phasen einer Niederlage durchlaufen: Enttäuschung – das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein – Verbitterung – Wut. Die Auserwählten traten ihre neuen Stellen in einem Zustand rauschhafter Euphorie an. Ein Jahr später, am 11. September 2001, krachten gegen neun Uhr vormittags zwei von al-Qaida-Terroristen entführte und gesteuerte Flugzeuge in die Türme des World Trade Center, woraufhin die Metallkonstruktion durch die Gluthitze nachgab. Um 10 Uhr 23 stürzte sich der Amerikaner aus dem hundertdritten Stockwerk, um den giftigen Gasen zu entkommen. Um 10 Uhr 28 starb der Franzose beim Einsturz des Nordturms. Drei Jahre später begann der Abschlussbericht der Kommission, die den Terroranschlag untersucht hatte, mit den Worten:

»Dienstag, 11. September 2001, der Himmel über der Ostküste der USA ist wolkenlos, es herrschen milde Temperaturen.«

»Auf meinen Befehl hin haben die Streitkräfte der USA Angriffe gegen Terroristen-Ausbildungslager der al-Qaida und Militäreinrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen. Diese sorgfältig gezielten Aktionen sollen die Verwendung von Afghanistan als Operationsbasis für Terroristen stören und die militärischen Fähigkeiten des Taliban-Regimes angreifen. Mit uns nimmt unser zuverlässiger Freund Großbritannien an der Operation teil. Andere enge Freunde, darunter Kanada, Australien, Deutschland und Frankreich, haben für den weiteren Verlauf der Operation Truppen zugesagt. […]

Wir verlangen viel von denen, die unsere Uniform tragen. Wir verlangen von ihnen, ihre Liebsten zu verlassen, weite Entfernungen zurückzulegen, Verwundung zu riskieren und sogar bereit zu sein, das höchste Opfer, ihr Leben, zu geben.«

DIE RÜCKKEHR AUS AFGHANISTAN

1

Es ist keine Ladung Blei, die auf dich abgefeuert wird, du bist nicht gleich tot, aber es entstellt, es zersetzt, langsam, kalt, wie eine toxische, tödlich strahlende Substanz, die dich verwandelt. In was? In ein höheres Wesen, gepanzert, stoisch, durch nichts zu erschüttern, in etwas Resistentes, das eine Menge aushält, in einen harten Kerl in Metallrüstung, mit Augen, die tief eingesunken sind, weil sie zu viel Entsetzliches gesehen haben. In einen Menschen, der nichts zeigt, der nichts preisgibt, der undurchdringlich ist: Nein, geht schon, alles in Ordnung, kein Grund zu klagen, bin keiner von diesen Typen-die-gleich-umfallen, Typen-die-schnell-aufgeben, die sich vor Angst in die Hose machen, die dem eigenen Bild die goldene Aura nehmen, sich als untauglich erweisen. Brutal geht es zu, erbarmungslos, es geht dir tief unter die Haut, etwas wird endgültig abgeschliffen, manche beschreiben es als einen heftigen Schlag gegen den Kopf, gefolgt von einem unkontrollierten Schleudern, eine Art Frontalaufprall, der dich zerlegt – es ist der echte Härtetest, du fühlst dich ausgeliefert, es ist ein Schmerz, auf den niemand vorbereitet ist, niemand. Er kann jeden Moment hervorbrechen, er überfällt dich hinterrücks, er ist tückisch: Du hattest Wünsche, Träume, Pläne, du liebst, wirst vielleicht wiedergeliebt, welch ein Glück, genieße es, es wird nicht von Dauer sein, plötzlich brechen andere Zeiten an, jeder Protest ist sinnlos, stellt euch in Reihen auf, rückt vor, marschiert in das Unruhegebiet, begebt euch in den Käfig – der Härtetest hat etwas Animalisches an sich –, man lässt alles Weltstädtische hinter sich, jedes aggressiv-autoritäre Gehabe, vergessen die Macht des äußeren Erscheinungsbildes, das Übersprudelnde, die Jugendlichkeit – Begeisterung war gestern –, nichts ist mehr von Bedeutung nach der Kapitulation, aus dem Leben ist ein Lehrstück über Verlustbewältigung geworden.

Romain Roller kannte die Angst, er hatte sich mit der Zeit an sie gewöhnt, im Zuge seiner Ausbildung gewissermaßen, denn in einem Alter, in dem seine Kumpel sich kleine Jobs an Land zogen, Wachmänner, Chauffeure oder Sporttrainer wurden, in einem Alter, in dem die Ehrgeizigen am anderen Ende der Stadt ihre berufliche Zukunft wie eine langfristige Investition planten, war er zur Armee gegangen, zur Gebirgskommandogruppe, die dem Gebirgsjägerbataillon der Gebirgsbrigade unterstellt war. Dort war er in den Rang eines Oberleutnant aufgestiegen – und wohin hatte ihn das gebracht? In den Kosovo, nach Mitrovica, wo er gesehen hatte, wie brennende Menschen aus ihren Häusern rannten oder sich aus den Fenstern stürzten, nachdem jemand Molotowcocktails in ihre Wohnung geworfen hatte, Menschen, die mit allen Mitteln zu überleben versuchten, weil niemand freiwillig stirbt, das war es vor allem, was er im Krieg gelernt hatte.

In Bouaké an der Elfenbeinküste wurde ein Feldlager französischer Soldaten auf Friedensmission von einem Flugzeug des ivorischen Präsidenten bombardiert, wobei neun französische Soldaten und ein Amerikaner starben. In Zentralafrika lagen verwesende Leichname herum, mit Macheten zerstückelt, umgeben von olivengroßen Fliegen, die laut wie Kettensägen surrten, ganze Familien lagen da, Männer, Frauen, Kinder, Opfer ethnischer Konflikte.

Danach glaubst du, gegen alles gewappnet zu sein, du bist immer noch imstande, ohne Beruhigungsmittel und Alkohol einzuschlafen, du wirst nicht mitten in der Nacht durch Bilder von Massengräbern aus dem Schlaf gerissen, du hast Wünsche und Sehnsüchte, du gehst aus, du redest, ja, schon, aber wie lange noch, wie lange? Denn du kannst das Elend dieser Welt in unzähligen Variationen kennengelernt haben, wenn du nicht in Afghanistan warst, hast du nichts gesehen …

Die Hölle von Afghanistan. Du bist überwältigt von der Natur, ihrer Vielfalt, den versteckten Höhlen, der Schroffheit, alldem, womit dein Feind bestens zurechtkommt und was du dir erst vertraut machen musst, denn er kennt die Gegend besser, als du sie je kennenlernen wirst – das weite, von Schluchten durchzogene, hügelige Terrain mit den kreideweißen Gipfeln des Hindukusch im Hintergrund, die sternenklaren Nächte, diese Postkartenlandschaft. Den von dichten Obstgärten gesprenkelten Grüngürtel, die üppige Vegetation, in die du vordringst, immer mit einem Stoßgebet auf den Lippen, dass dir bitte keiner eine Kugel in den Kopf jagen möge, und natürlich passiert es doch, es wird geschossen, Handgranaten werden gezündet, du siehst nichts, dein Gegner haut ab, verkriecht sich irgendwo, wartet in aller Ruhe ab. Er hat nur eines im Sinn: Wunden zufügen. Dieses Land ist eine Bombe, verstehst du?

Und alle haben den Finger am Abzug: der Taliban, der in seinem Versteck darauf lauert, dass du auftauchst, der Kundschafter, der vor deiner Basis steht und in einem Kauderwelsch, das dich nervös macht, mit dir zu sprechen verlangt, das Kind, das mit seinem entwaffnend offenen Blick auf dich zukommt, dabei kannst du dir nie sicher sein, ob es eine geladene Waffe in seinen Shorts versteckt oder nur ein Bonbon will, der Bauer, der zuckersüße, saftige Pflaumen aufliest und dir eine anbietet, du bist schwer in Versuchung, aber du weißt nicht, ob das gut ist. Sie ablehnen? Damit demütigst du ihn, denn in einem Land, in dem die Ehre so großgeschrieben wird, könnte er dadurch in die Arme der Aufständischen getrieben werden. Sie annehmen? Das birgt die Gefahr, ein anderes Erzeugnis verpasst zu bekommen, nämlich eine blaue Bohne.

Mit wem telefoniert der Afghane, der mitten auf der Straße steht und eurem Konvoi den Weg versperrt? Sein Handy könnte der Fernzünder für eine Bombe sein, aber woher sollst du das wissen, von deinem Platz im Fahrzeug aus kannst du es nicht erkennen, welche Entscheidung ist also die richtige: Ihn nicht weiter zu beachten? Ihn auf offener Straße zu erschießen? Dein Kampfeinsatz ist legitim, moralisch vertretbar, legal. Der Soldat der afghanischen Armee, den ihr ausbilden sollt, ein sanfter, freundlicher junger Mann, dem deine Männer ausführlich erläutern, wie man eine Kalaschnikow bedient, könnte ein eingeschleuster Aufständischer sein. Woher weißt du, dass er es nicht ist? Dass er nicht bei einer Operation seine Waffe gegen dich richten oder dich im Schlaf umbringen wird? Dass er dir nicht mit einer Axt den Schädel spalten wird, so wie es Roller bei einer Zusammenkunft mit afghanischen Stammesältesten erlebt hat – bang! Ein Schlag auf den Kopf eines fünfundzwanzigjährigen Kanadiers, dessen Gehirn auf die Anwesenden spritzte. Auf der Rückfahrt zur Basis sprach niemand ein Wort, alle stellten sich tot, sie sahen nicht – nein, sie wollten nicht sehen –, dass Fleischfetzen an ihren Jacken und Haaren klebten, sie sahen nicht – nein, sie wollten nicht sehen –, dass auch die Hartgesottensten unter ihnen zitterten, als hätte man sie auf einen Presslufthammer gestellt. Roller dachte selbst in diesem Moment an die Einsatzregeln – das nennt man Kaltblütigkeit, Selbstbeherrschung – und rief den Soldaten in Erinnerung, dass sie ihren Frauen, Freunden, Eltern nichts davon erzählen durften.

Am Abend antwortest du deshalb vor dem PC auf die Frage »Wie fühlst du dich?« mit »Gut. Sehr gut. Supergut.« Lüg sie an. Lüg sie an, wenn sie dich fragen, wie deine Stimmung ist, ob du die Hitze verträgst, den Druck, die Schutzweste, das Gewicht der Ausrüstung. Lüg sie an, wenn sie wissen wollen, warum du einen Verband um die Hand trägst. Lüg sie an, wenn sie dich mit Fragen bestürmen: »Hast du die Müsliriegel bekommen, die ich dir geschickt habe?« Antworte: »Ja, ja, sie waren köstlich«, auch wenn du seit drei Tagen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hast. Anschließend kannst du zusammenbrechen und dich auskotzen, aber allein, unter der Dusche, wenn die Fleischfetzen des Kanadiers den Abfluss verstopfen, wenn ein Teil von dir zu zerfallen droht, wie ein Körper, der in ein starkes Lösungsmittel geworfen wird.

Könnte der Übersetzer, der euch seine Dienste anbietet, nicht ein von den Taliban ferngesteuerter Spion sein, eine Geisel, die unter Zwang handelt? Es ist ein Leichtes, ihn zu erpressen, indem sie damit drohen, seine Familie zu töten, falls er nicht mit ihnen zusammenarbeite, sie wissen, wo sie wohnt, sie kennen den Namen seines Vaters und seiner Schwester, du weißt, was wir deiner Schwester antun können, ja, er weiß es, sie werden ihr eine Kugel in den Kopf jagen oder sie mit Säure bespritzen, ein Strahl ins Gesicht, und sie ist für immer entstellt, als abschreckendes Beispiel. Der Übersetzer, der zu Anfang der Mission auf eurer Seite steht, könnte zwei Monate später ohne weiteres ins Lager der Feinde überwechseln, weil er Angst hat. Ja, mach dir besser gleich klar, dass die Angst da unten alles beherrscht. Und dann liegt vielleicht ein Leichnam mitten auf der Straße, der mit Sprengstoff vollgestopft ist, oder diese kleine Ziege mit dem Glöckchen um den Hals trottet hinter dir her, oder ein Selbstmordattentäter taucht mitten in einem Gelände auf, das ihr gerade sichert, und rennt auf dich zu, als wärst du das schönste Mädchen der Welt, als hätte ihn die Liebe wie der Blitz getroffen, aber den tödlichen Schlag verpasst er dir, der Mistkerl … Du glaubst, du kannst inzwischen mit dem ganzen Horror und dem Stress und dem alles zersetzenden, verhängnisvollen Hass umgehen, du wirst deine Angst vor den selbstgebauten Sprengfallen nie ablegen können, die man hier IED nennt, improvised explosive device, und die in Afghanistan der Feind Numero eins sind, schlimmer als die Jagdflugzeuge, denn wenn du darauf trittst oder fährst, werden dir mindestens die Hände, die Arme oder ein Teil des Schädels weggerissen, und selbst wenn du das überlebst, liegst du danach mutterseelenallein, von allen vergessen im Militärkrankenhaus, und wünschst dir, du wärst lieber gleich krepiert, denn dann hätte wenigstens deine Witwe eine Rente und könnte sich ein neues Leben mit einem anderen aufbauen, einem Normalo, nicht mit einem Soldaten, der nach einem sechsmonatigen Einsatz als Bausatz wiederkommt. Weißt du, wie sie diese Mordvariante nennen? Blumen pflanzen … Das ist Taliban-Romantik.

Du wirst dich nie an den Krieg der Feiglinge gewöhnen, die sich mit dem Zünder in der Hand hundert Meter von dir entfernt verstecken, hinter verminten Häusern mit weiß gekalkten Wänden. Du wirst nie auf das Entsetzen gefasst sein, das dich schüttelt, wenn du Granaten auf Häuser voller Kinder, alter Leute und Mütter abfeuern musst, weil sich die Gegner dort verschanzt haben, um euch wie Hasen abzuknallen, denn sie gehen davon aus, dass ihr nicht zurückschießt, sie kennen eure Regeln und machen sich über eure Moralvorstellungen lustig – Zivilisten schonen, nur bei Frontalangriffen schießen –, und damit treiben sie dich in Schuld und Verbrechen, denn du sprengst sie in die Luft und sagst dir immer wieder, dass du keine andere Wahl hattest, obwohl du natürlich eine hattest, nämlich schnellstens aus dieser Hölle abzuhauen und nach Hause zu fahren, wo Männer in deinem Alter in die Disco gehen, arbeiten, vögeln, Karten spielen, sich herumtreiben, sich um ungefährliche Stellen bewerben, und wer sagt dir denn, dass sich nicht einer von ihnen deine Frau schnappt, während du dafür kämpfst, dass sie auch weiterhin in die Disco gehen, arbeiten, vögeln, Karten spielen und sich herumtreiben können, ohne Angst vor dem Terror, dafür bist du doch hergekommen, oder? Du willst diese Bedrohung ausmerzen …

Du wirst nie auf die Schuldgefühle vorbereitet sein, die dich quälen, weil du vorschriftsgemäß den Befehl gegeben hast, auf eine »verdächtige Zielperson« zu schießen, und dann entdeckst, dass es sich um eine schwangere Frau handelte, die Hilfe gesucht hat, gerade mal achtzehn Jahre alt, wie hättest du auch wissen sollen, dass sie unter ihrer Burka nicht eine Bombe versteckte. Und wieso hättest du ihr vertrauen sollen? Sie oder deine Männer, lautet die Devise, aber das spielt keine Rolle, denn deinem Befehl gehorchend, hat der Soldat sie erschossen – und ihre Mutter wird dich verfluchen, dich und deine Kinder, bis ins fünfte Glied, und wird die Kinder, die ihr bleiben, im Hass auf dich großziehen, und sie werden dir bis in dein Land folgen und dich mit Feuer und Bomben, Terror und Drohungen, Schwertern und Säbeln vernichten, wie in einer biblischen Geschichte, sie werden Rache nehmen …

Du wirst nie auf die Angst vorbereitet sein, die dir in den Gedärmen wühlt, wenn du einen Draht bemerkst, der aus dem Boden ragt, und du weißt, du musst unbedingt etwas tun, denn wenn du nichts tust, kann es sein, dass ein Kind ihn herauszieht, um sich eine Marionette zu bauen, und dann wird womöglich das Kind zu einer Puppe mit fehlenden Armen und Beinen. Du rufst also den Sprengstoffbeseitiger, aber du musst immer darauf gefasst sein, dass er vor deinen Augen zerplatzt, während seine Frau gerade unter der Dusche ein neues Gel mit Orange-Mandarinen-Duft ausprobiert, mit dem sie ihn nach seiner Rückkehr verführen will. Du wirst nie darauf vorbereitet sein, bei jedem Gang über den Bazar von Tagab dem Tod ins Gesicht zu sehen, denn jeder Verkaufsstand ist ein Pulverfass, du weißt nicht, ob der Topf, in dem Krapfen in brodelndem Öl schwimmen, nicht explodiert, wenn du an ihm vorbeigehst, ob die Alte, die ihre Mandeln mahlt, dich nicht anspuckt, weil du niemals willkommen sein wirst, weil du ihr Haus bombardiert, ihre Tochter gedemütigt, ihr Feld zerstört hast; sie hat ihre Gründe, die du nie erfahren wirst, weil es dir nicht erlaubt ist, mit ihr zu sprechen: Männer reden nicht mit Frauen. Du weißt nie, ob die Menge dich nicht gleich einkreisen, dir die Luft abschnüren und dich zerquetschen wird, du wirst in Panik geraten, auch wenn die Ausbilder dir noch so sehr eingebläut haben, wie man Menschenmengen kontrolliert, und du deine Reaktionsfähigkeit in allen möglichen Winkeln der Erde erprobt hast, hier wollen sie deinen Kopf, sie würden auf ihm herumtrampeln, bis dein Gesicht nur noch ein formloser Brei ist, und ein Typ würde von oben deinen Tod filmen und das Video auf YouTube stellen …

Du wirst nie darauf vorbereitet sein, dass einer deiner besten Freunde vor deinen Augen von einer Sprengfalle zerrissen wird, auf die er bei einer Patrouille getreten ist, es reißt ihm die Beine ab, er schreit nach Morphium, das Blut spritzt, jemand muss ihm den Stumpf abbinden, Morphium, verdammte Scheiße! Wo ist die Trage? Wer hat das Funkgerät? Du wirst nie auf die Druckwelle – 530 km/h – und das ohrenbetäubende Krachen der Explosion vorbereitet sein, vielleicht bist du ja taub geworden, denn du hörst nicht einmal mehr die Schreie des Soldaten, der gerade mit heraushängenden Eingeweiden in deinen Armen stirbt, während ein Baumfalke über euren Köpfen kreist … Du wirst nie auf den Schock vorbereitet sein, dass er fünf Sekunden zuvor noch gesund und munter vor dir stand, sich mit dir unterhielt, und, peng!, nun ist von ihm nur noch die Hälfte übrig, sein Kopf blutet, um ihn herum eine mit Trümmern gespickte Staubwolke. Du wirst nie darauf vorbereitet sein, im Schotter nach seinen fehlenden Gliedmaßen suchen zu müssen, dir beim Kratzen in der harten Erde fast die Fingernägel abzureißen, du wirst sie nicht finden, die Nacht wird anbrechen, und dennoch kannst du an nichts anderes denken, du willst ihn vollständig wiederbringen, dieser Gedanke hilft dir, nicht loszuheulen, aber irgendwann schlägt die Traurigkeit zu, und du heulst trotzdem, weil du nie darauf vorbereitet sein wirst, ihn auch noch anzulügen, alles wird gut, obwohl du weißt, dass er im Hubschrauber oder im Krankenhaus von Kabul sterben oder sein Leben als ein Krüppel zubringen wird, angewiesen auf die Hilfe der Armee, des Staats, seiner Freundin, die ihn möglicherweise verlässt, weil sie ihr Leben genießen will … Du wirst nie darauf vorbereitet sein, in einen Hinterhalt zu geraten und vierundzwanzig Stunden lang unter Beschuss zu liegen, dabei zuzusehen, wie deine Männer fallen, ohne dass du etwas dagegen unternehmen kannst, außer wütend zu werden, weil der Rettungshubschrauber nicht auftaucht, lieber nicht das Risiko eingeht, im Anflug abgeschossen zu werden, oder weil die amerikanischen Kampfflugzeuge eure Gegner nicht ins Visier nehmen können, da ihr zu nah dran seid, sie würden euch ebenfalls töten, aber so bringt die Passivität dich allmählich auch um … Du wirst nie darauf vorbereitet sein, den Anblick der durch die Hitze aufgequollenen schwarzen Leiber ertragen zu müssen, die wenige Stunden zuvor noch die athletischen Körper deiner Gebirgsjäger waren, gestählt durch stundenlanges Fitnesstraining, Sport und gezielten Muskelaufbau. Männer, die mühelos den Mont Blanc hätten bezwingen können – bereits in Verwesung begriffen. Nein, bitte nicht ausgerechnet José Vilar, zweiundzwanzig, du hast doch seiner Mutter versprochen, ihn ihr lebendig wiederzubringen, nicht Vincent Debord, vierundzwanzig, der Einzige, der dich in Call of Duty geschlagen hat, und nun wird dich nie wieder jemand schlagen, er wollte nach seiner Rückkehr heiraten, er hatte dich gebeten, sein Trauzeuge zu sein, und nun wirst du nur noch seinen Tod bezeugen, du wirst seinen Sarg bis aufs Rollfeld begleiten, und was wirst du seiner Freundin sagen, wenn sie anruft, ihn sprechen will, um ihm zu beteuern, dass sie ihn liebt und sich nach ihm sehnt? Du wirst nicht darauf vorbereitet sein, dass man die Toten im Dunkel der Nacht mit blutbeschmierten Händen einsammelt, sie auf dem Rücken ins Camp trägt, schnell, schnell, bevor die Aufständischen kommen, denn man überlässt seine Männer nicht dem Gegner …

Du wirst nie auf den Geruch von Blut vorbereitet sein, den ekelerregenden Geschmack nach Eisen und kaltem Metall und Asche im Mund – was ist das? Geröstetes Fleisch. Und du beugst dich vor und kotzt dir die Seele aus dem Leib. Du wirst nie darauf vorbereitet sein, dass du über die letzten Minuten der Soldaten Lügen verbreiten musst – Anweisung von oben. Du wirst erzählen, dass sie als Helden an der Front gefallen sind, bis zum Ende tapfer gekämpft haben, dass sie schön und stolz waren – schön und stolz, genau, denn niemand wird je ihre verunstalteten Gesichter zu sehen bekommen, zum Schutz ihrer Familien, du wirst ihnen nicht sagen, wie du die drei Leichen nach dem Abzug der Taliban vorgefunden hast, sie lagen nebeneinander, wiesen Spuren von Folter auf – Schnitte und Einstiche mit Taschenmessern oder Schraubenziehern –, du wirst nicht sagen, dass man ihnen die Kehle durchgeschnitten und ihnen ihre persönliche Habe geraubt hatte, auch nicht, dass die Taliban in den Uniformen unserer Toten, unserer Soldaten umherstolzierten, du wirst still sein und dich an die scheinheiligen Floskeln halten, zum Schutz der Familien und im Namen des Staatsgeheimnisses, denn der Staat hat dich in dieses Drecksloch geschickt, du bist noch keine siebenundzwanzig, du hast noch nicht genug gelebt und geliebt, um zu sterben, und du denkst an deine Mutter, du möchtest nach ihr schreien, sie soll kommen und dich hier rausholen …

Du wirst nie darauf vorbereitet sein, die Nachricht vom Tod deiner Männer zu überbringen, und doch wirst du es früher oder später tun, du rufst einen deiner Vorgesetzten an, die hübsch bequem im Stützpunkt hocken, prompt wird die Internetverbindung gekappt, kein Soldat kann mehr Kontakt zu seiner Familie aufnehmen, damit keiner die Namen der Opfer ausplaudert, so hat es der Generalstab beschlossen, jemand wird es für sie übernehmen, irgendein niedriger Dienstgrad, er wird an der Haustür der Familie klingeln, jemand öffnet und denkt dabei: Jetzt ist es passiert. Das Leben ist zu Ende.

Das dachte auch Romain Roller, als sie in Paphos auf der Insel Zypern landeten und das Fünf-Sterne-Hotel bezogen, in dem sie drei Tage verbringen sollten, zur Erholung, wie es hieß, bevor sie nach Hause zurückflogen; eine Schleuse am Ende ihres sechsmonatigen Einsatzes, die sich die Regierung als Maßnahme vor der Rückkehr in das normale Leben ausgedacht hatte. Auf dem Programm standen autogenes Training, Fitness, Gruppentherapie, Einzelgespräche mit Psychologen – aber es war zu spät, Roller war fertig mit der Welt, als er in seinem Luxuszimmer mit Meerblick stand, er gehörte nicht hierher, dachte er, er sollte zurück nach Afghanistan und die Gliedmaßen seines Freundes, des Stabsunteroffiziers Farid Djitli, suchen, der, an Schläuche angeschlossen, im Militärkrankenhaus von Percy lag und vielleicht gerade krepierte, während sie sich in Paphos mit Papayas und »zuckersüßen, zart schmelzenden« Datteln vollstopften, während sie unter den Blicken junger Bikinischönheiten im Meereswasserbecken ihre Bahnen zogen und nichts anderes im Sinn hatten, als diese Mädchen flachzulegen, die sie auch noch bewundernd anstarrten, wenn sie mit ihren muskulösen Oberkörpern wie Superman persönlich am Strand entlangjoggten, der krepierte, während sie sich massieren ließen oder Karten spielten, sich nicht zwischen Hammam und Sauna entscheiden konnten, der krepierte, während sie im Hotelsaal an einem Karaoke-Wettbewerb teilnahmen, der krepierte, während sie auf ihren Zimmern an Joints zogen und sich gegenseitig erzählten, was für tolle Sachen sie nach ihrer Rückkehr machen würden: ausgehen, lachen, Liebe machen, leben.

Der krepierte.

2

Protektion und Cliquenwirtschaft mit all ihren Regeln, ihren Privilegien und ihrem imponierenden Beiwerk – mit dem Namen Vély gehörte man von Geburt an dazu. Und so stand François Vély, einundfünfzig, Chef eines der größten Mobilfunkunternehmens und zehntreichster Mann Frankreichs, mitten im Festsaal des Automobile Club de France, wo sich einmal im Monat die einflussreichsten Männer und Frauen des Landes zum Diner des Club Le Siècle versammelten – Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, hohe Regierungsbeamte, Unternehmensführer, Pressemoguln, Ärzte, Anwälte, kurzum: alle, die zählten. Ein neuralgisches Zentrum der Macht bildete sich an diesem Ort des geselligen Beisammenseins der Elite, der männlichen Elite vor allem, denn der Club bestand nur zu fünfzehn Prozent aus Frauen. François diskutierte angeregt mit einer berühmten Pariser Architektin, die ihm konzentriert und aufmerksam lauschte. Macht und Geld haben Sexappeal, doch François verfügte darüber hinaus über Charme, er besaß dieses Schillern, das die Menschen bezauberte, selbst diejenigen, die ihn schon länger kannten. Dazu ein Gesicht mit feinen Zügen, dunkelblaue Augen, umrahmt von langen dichten Wimpern, die beinah ein wenig feminin wirkten, außerdem war er groß und schlank – mit geradezu mönchischer Strenge achtete er auf Ernährung und Bewegung: kein Zucker, keine tierischen Fette, kein Brot, keine stärkehaltigen Nahrungsmittel am Abend, kein Salz und keinen einzigen Schluck Alkohol, zweimal die Woche Yoga bei einem Privatlehrer und viele Stunden Schwimmen in Porto-Vecchio, in Southampton, im Pool des Ritz. Das war der Preis, den er für seine elegante Erscheinung zahlte. Doch François besaß nicht nur äußerlich Klasse und bewegte sich geschmeidig wie kein Zweiter auf dem gesellschaftlichen Parkett, er war zudem intelligent und kultiviert. Er hatte an der École Polytechnique Ingenieurswissenschaften studiert und danach in Princeton Literatur – seine große Leidenschaft für die zeitgenössische Kunst –, bei Joyce Carol Oates, die ihn am Lewis Center for the Arts in Creative Writing unterrichtete. Geld? Darüber sprach er nie. Nur aus der Zeitung erfuhr man, dass sein Verdienst sich auf sechs Millionen Euro jährlich belief und er im 16. Arrondissement in der exklusiven und hochgesicherten Villa Montmorency wohnte, einer städtischen Enklave mit etwa 120 Privathäusern, wo der Quadratmeter nicht weniger als zwanzigtausend Euro kostete und nur wenige Privilegierte residierten: Erben, Stars der Unterhaltungsindustrie, Internetgrößen, Unternehmer.

Ein Gespür für gesellschaftliche Nuancen? Darin machte ihm keiner etwas vor. Alles an ihm, seine Selbstbeherrschung und seine natürliche Neigung zur Dominanz, seine leicht blasierte Weltläufigkeit, die in der Modulation seiner Stimme ebenso zum Ausdruck kam wie in seinen maßgeschneiderten Anzügen und den dunklen Berluti-Schuhen, markierte soziale Distanz. Er wirkte zugänglich, ja war besorgt um das Wohlergehen seiner Umgebung, hatte immer ein freundliches Wort für das Personal, in seiner Gegenwart kam man sich vor wie das achte Weltwunder, dabei war das eigentliche Wunder er selbst. Ein Vély zu sein war für sich genommen schon eindrucksvoll genug und erforderte keinerlei Arroganz. Er hatte die Macht und das seit seiner Geburt.

Sein Vater Paul Vély, geboren als Paul-Élie Lévy, Exminister und unermüdlicher Streiter für die Menschenrechte, hatte seinem Land im Zweiten Weltkrieg mit besonderer Kühnheit als Widerstandskämpfer gedient, bevor er verhaftet und Anfang 1944 als Jude nach Buchenwald deportiert worden war. Er war der Sohn von Mordechai Lévy, einem Antiquitätenhändler aus Troyes, und verkörperte mit seiner Biografie eine wahrhaft komplexe Identität. Kurz nach dem Krieg hatte Paul Lévy die Buchstaben seines Nachnamens umgestellt, weil er diesen als mögliches Hindernis für den Zugang zur französischen Gesellschaft betrachtete. Er wollte sich assimilieren, vielleicht auch neu erfinden – was sprach dagegen? Meine einzige Identität ist eine politische, pflegte Lévy/Vély zu betonen. Paul Vély, das unbeirrbare Gewissen der Linken, der engagierte Intellektuelle, das wollte er sein, das definierte ihn viel stärker als eine Identität, die man ihm wie eine Maske aufgesetzt und mit der er sich nie angefreundet hatte; sie war zu sehr mit Schmerz verbunden. Deshalb hatte er wenige Jahre nach der Geburt seines Sohnes dem Wunsch seiner amerikanischen Frau Susan entsprochen, die einer großbürgerlich-katholischen Familie entstammte, und seinen Sohn christlich taufen und erziehen lassen. Susan, eine hochgewachsene Rothaarige, hatte er bei einem Studentenaustausch kennengelernt. Ihre Eltern, ultrakonservative texanische Industrielle, hatten ihm von der Todesstrafe vorgeschwärmt – der Todesstrafe! Und das ihm, einem ihrer vehementesten Gegner! Die Ehe hatte nur fünf Jahre gehalten, doch nach der Scheidung hatte er nicht wieder an sein jüdisches Erbe angeknüpft. Eine Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, zum Christentum überzutreten, dann aber darauf verzichtet, weniger aus Anhänglichkeit an den Glauben seiner Väter als aus einem instinktiven Misstrauen gegenüber allen Formen von Religion. Während seiner Ehejahre hatte er sich den Riten gebeugt, die seine Frau der Familie auferlegte. Sie feierten Ostern und Weihnachten, hielten Sonntagsruhe und gingen zur Kirche, und gelegentlich hatte er sich sogar eine Kindheit bei den Jesuiten und bretonische Vorfahren erfunden.

»Die Juden haben Phantasie und nutzen sie mit Vorliebe, um dem Judentum zu entkommen«, hatte Pierre Mendès France, den Paul Vély gut kannte, einmal gesagt, und auf Vély senior traf das mehr zu als auf andere, denn er hatte nicht nur eine ihm genehme Familienlegende erfunden, wie es nach dem Krieg zahlreiche assimilierte jüdische Familien aus dem französischen Großbürgertum taten, sondern auch alle offiziellen Dokumente ändern lassen. Paul Vély war ein widersprüchlicher, mitunter doppelzüngiger Mensch und überzeugter Anhänger der republikanischen Idee. Jedes Wochenende empfing er auf einer zwanzig Hektar großen Domäne im Tal der Chevreuse, seinem Zweitwohnsitz, Größen aus Medien und Politik. Für seinen englischen Garten hatte er die Blumen nach der Musikalität ihrer Namen ausgewählt: Blauer Augentrost, Taurosenkraut, Persischer Ehrenpreis, Herbstzeitlose, Chrysantheme, Amaryllis, Bella Rosa … Einen der Gäste erinnerte die Anlage an Die Gärten der Finzi-Contini, und er fragte Paul Vély: »Haben Sie das Buch von Bassani gelesen? Oder den Film gesehen? Die Geschichte einer faszinierenden jüdischen Großfamilie, die durch den Krieg dezimiert wird … Unsagbar traurig!« Paul Vély war vor dem Fluch seiner Herkunft geflohen, und wenn er die Bemerkung in dem Augenblick auch mit einer Handbewegung abtat, so wurde der Gast doch umgehend zur Persona non grata erklärt. Im hinteren Teil des Parks hatte Vély im Inneren eines Natursteingebäudes eine geräumige Bibliothek eingerichtet, vorwiegend mit kostbaren Erstausgaben, dennoch für jedermann frei zugänglich, treten Sie ein und bedienen Sie sich. Paul Vély sagte häufig zu seinem Sohn: »Wenn du von deinen Freunden nicht enttäuscht werden willst, achte bei ihrer Auswahl auf den Bestand ihrer Bibliothek.«

Man ist, was man liest. Und den gebildeten Humanisten hatte es nicht wenig betrübt, dass sein Sohn die ersten beruflichen Schritte in eine Richtung tat, für die ihm nur der Begriff »katastrophal« einfiel. Nachdem François in den USA und in Frankreich die besten Schulen besucht hatte, fing er zunächst in New York bei Szpilman an, einer bedeutenden US-amerikanischen Telekommunikationsfirma. Doch dann kaufte er Anbieter für Online-Sexdienste und -Peepshows und baute im Internet Websites mit Pornovideos auf: Hellosexy und Sexy.com waren sein Werk. Erst Jahre später stieg er wieder in das eigentliche Telekommunikationsgeschäft ein. Und mit vierzig schließlich wurde er, in der Hoffnung auf einen Zugewinn an Respektabilität, Teilhaber einer der größten Tageszeitungen. Er punktete mit einer sehr originellen Geschäftsauffassung, seiner intuitiven Intelligenz, einem guten Gespür für Beziehungen, aber auch der ausgeprägten Fähigkeit, sich in Szene zu setzen. Mit Hilfe seiner PR-Berater entwickelte er eine Strategie der Markteroberung über das Image, und damit gelang es ihm, seinen Unternehmen innerhalb weniger Jahre einen Platz unter den umsatzstärksten französischen Aktiengesellschaften zu sichern. Seine Geschäftspartner nannten ihn brillant, einen echten Strategen und Bilderstürmer, gelegentlich mit der Einschränkung: Er steht zu gern im Rampenlicht.

Ihm eilte der Ruf eines talentierten Verführers voraus, im beruflichen wie im privaten Leben, eines Spielers, eines Mannes, der Frauen besonders dann begehrte, wenn sie mit einem anderen liiert waren, am besten mit einem Konkurrenten, einem Gegner auf Augenhöhe, eine solche Konstellation reizte François außerordentlich. In seinem Umfeld gab es reichlich Frauen, die eine Ehe als Chance zum kontinuierlichen sozialen Aufstieg betrachteten und nicht zögerten, von einem Mann zum nächsten überzuwechseln. Es genügte, sich in einem bestimmten Machtzirkel zu bewegen, diese spezielle Form der Endogamie funktionierte auf der Ebene der Eliten ganz hervorragend. Und so kam es, dass François nach einer ersten missglückten, knapp einjährigen Ehe mit der Tochter eines Londoner Aristokraten bedenkenlos seinem schärfsten Konkurrenten Martin Penn, dem Chef eines anderen Mobilfunkunternehmens, die Ehefrau ausspannte. Die Neue war eine bildschöne blonde Schauspielerin, Jean Seberg nicht unähnlich, sie hieß Katherine Kramer, war Australierin und fünf Jahre älter als er. Sie schenkte François drei Kinder – einen Jungen, Thibault, inzwischen zwanzig Jahre alt, und zwei Töchter, die siebzehnjährige Domitille und die fünfzehnjährige Alicia, bevor sie ihm den Krieg erklärte, nachdem er ihr kürzlich eröffnet hatte, dass die Stunde der Scheidung gekommen sei – das ewig gleiche Drama der ehelichen Zweisamkeit, das keiner unbeschadet übersteht. Doch damit konnte er sich jetzt nicht befassen, alle Scheinwerfer waren an diesem Abend auf ihn gerichtet.

Zwei Firmenchefs begrüßten François, man kam ins Plaudern, unterhielt sich über Fotografie als Kunst und über Steuerpolitik, tauschte Visitenkarten aus und versicherte einander, in Kontakt zu bleiben, als ein kleiner gedrungener Mann mit kurzgeschnittenem grauem Haar hinzutrat, der François spontan unsympathisch war, ihm die Hand auf die Schulter legte und vor allen Leuten sagte: »Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser. Was für eine Tragödie!« François wusste nicht, was ihm unerträglicher war, die unangebrachte Vertraulichkeit des Mannes oder die öffentliche Zurschaustellung von Mitgefühl, die ein Ereignis anklingen ließ, das er lieber vergessen hätte.

Seit einem halben Jahr hatte François nicht mehr an den Club-Diners teilgenommen, er hatte damit rechnen müssen, dass irgendjemand sich bemüßigt fühlen würde, den Skandal zur Sprache zu bringen. Aber er würde sich das Zepter nicht aus der Hand nehmen lassen, er würde an diesem Abend die Themen vorgeben, es ging darum, sein Netzwerk zu stabilisieren. Er musste den anderen beweisen, dass es ihm gutging, dass er wenige Wochen vor der Fusion seines Unternehmens mit der Szpilman-Gruppe – einem Projekt von ungeheurer Tragweite, an dem er seit Jahren arbeitete – kühn, beherzt, unbesiegbar war. In aller Ruhe führte er also sein Glas an die Lippen, gab ein halblautes »Sehr gut, vielen Dank« zurück und ging zu anderen Dingen über. Dennoch versetzte ihm die Bemerkung des Mannes einen spürbaren Dämpfer, und er fragte sich, warum er überhaupt hergekommen war. Früher hatte er nie ein Diner verpasst, hatte das vertraute Unter-sich-Sein genossen. »Man wählt den Club Le Siècle nicht, man wird erwählt«, bemerkte er mit Vorliebe Leuten gegenüber, die sich mit allen möglichen Tricks Zutritt zu verschaffen suchten. Man brauchte einen Bürgen, musste anschließend vom Verwaltungsrat akzeptiert werden sowie überragende Qualitäten und seine Verschwiegenheit unter Beweis stellen, denn es war verboten, das, was bei den Diners gesprochen wurde, nach außen zu tragen. François wusste mit Bestimmtheit, dass er hier, in den edlen Salons mit Blick auf die Place de la Concorde, wichtige Kontakte knüpfen und Kunden gewinnen konnte: erst eine zwanglose Annäherung, dann, ein paar Tage später, bei einem Frühstück im altehrwürdigen Hôtel de Crillon oder in einem Büro mit renommierter Adresse, die konkreteren Schritte. Draußen mochte Lärm veranstalten, wer wollte, man hörte nichts, war abgeschirmt, denn die Fenster waren wohlweislich doppelt verglast. Nicht einmal das Gekreisch der Touristen drang herein, die das Riesenrad bevölkerten, dessen Lichter sich auf den Scheiben des großen Gebäudes spiegelten.

François nahm an seinem Tisch Platz, er saß am Kopfende, stellte die Anwesenden einander vor und brachte als Gesprächsthema den Krieg in Afghanistan ins Spiel. Einige Tage zuvor hatten die Zeitungen über den Tod mehrerer französischer Armeeangehöriger im Tal von Kapisa berichtet. Seine Tischnachbarin, eine ehemalige Kommilitonin, die inzwischen zur Ministerin aufgestiegen war, erzählte erschüttert von einem zwanzigjährigen Gefallenen, dessen Foto sie im Figaro gesehen hatte. »Weißt du noch«, sagte sie zu François und schwenkte ihr Weinglas, »damals haben wir in einem Seminar über den Krieg gesprochen.« Ja, er erinnerte sich sehr gut daran, sie hatten drei Werke studiert, die die Ministerin gleich darauf aufzählte: »Wenn ich mich richtig entsinne, war eines Das Feuer von Henri Barbusse, außerdem von Clausewitz’ Vom Kriege, aber das dritte …?«

François hob sein Glas. »Aischylos, Die Perser! Lange schwieg ich Unglückliche unter der Last des Unglücks. Sie erstickte jedes Wort, erstickte jede Frage.« Die Tischrunde applaudierte. Gleich darauf brachten die Kellner die Entrées – ein Carpaccio vom Wolfsbarsch an Zitrusfrüchten, dazu sautiertes Gemüse von bewundernswerter Frische.

François hatte seinen privilegierten Lebensstil lange als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Doch ein Mensch wie er zog unausweichlich Neid auf sich, viele fragten sich, wenn sie ihn sahen: Verdammt, warum gerade er? Ihm war alles in die Wiege gelegt worden, alles zugeflogen. Hatte er jemals harte Prüfungen auferlegt bekommen? Musste er sich jemals bewähren? Natürlich hatte auch er unangenehme Phasen im Leben kennengelernt: einen Darmverschluss im Alter von zwölf Jahren, der einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt in einem geräumigen Einzelzimmer erforderlich machte, den Tod seiner geliebten Großmutter mütterlicherseits, unter dem er als Fünfzehnjähriger sehr gelitten hatte, und einmal, als sein Vater im Élysee-Palast zum Grand Officier de la Légion d’Honneur ernannt wurde, behandelte ihn ein Lehrer vor den anderen Schülern herablassend, weil François ihn gebeten hatte, eine Klausur zu verschieben. Auch ein paar peinliche Erlebnisse hatte es gegeben, etwa als ihn eine Mitschülerin abblitzen ließ, weil sie Frauen vorzog, oder als ihm einmal der Zutritt zu einem Nachtclub verweigert wurde – der Türsteher allerdings war noch am selben Abend entlassen worden, womit der Affront aus der Welt war. Im Ganzen jedoch hatte François mit fast fünfzig alles erreicht, was das Leben den vom Glück Begünstigten zu bieten hat. Bis ihm eines Abends beim Empfang eines großen Wirtschaftsmagazins die Journalistin und Schriftstellerin Marion Decker begegnete.

Und sein Lebensgebäude explodierte.

3

Wut und politischer Ehrgeiz hatten Osman Diboula zu einem instinktgeleiteten, frühreifen und durchaus gefallsüchtigen Politiker gemacht, aber welche Energie steckte in ihm! Der Präsident hatte ihn in seinen Beraterstab geholt, in einen Kreis also, in den normalerweise erst vordrang, wer seine psychische Belastbarkeit und Treue erwiesen hatte. Osman übte eine unglaubliche Anziehungskraft aus, der sich kaum jemand zu entziehen vermochte, er befand sich stets mitten im Geschehen. Er trug dunkle Anzüge von lässiger Eleganz und kaschierte so die Unerbittlichkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, die da lauteten: die Konkurrenz ausschalten, Siege erringen, Kämpfe bestehen, sich immer höherhangeln, auch auf die Gefahr hin abzurutschen, mit aller Macht am Erreichten festhalten, immer die eigenen Trümpfe in den Vordergrund spielen.

Innerhalb weniger Jahre hatte er sich unentbehrlich gemacht, war aus dem Schatten getreten und zu einer festen Größe im engsten Kreis um den Präsidenten geworden, was zu starken Spannungen führte und hartnäckige Vorurteile schürte. Seine Ernennung zum Jugendbeauftragten hatten nicht viele mit Wohlwollen aufgenommen, denn er gehörte nicht zu ihrer Welt. Er hatte nicht den klassischen Ausbildungsweg durchlaufen, keine Eliteuniversität besucht, kein Diplom aufzuweisen. Anders als seine Kollegen hatte er sich seine beruflichen Fähigkeiten in der Praxis erworben, im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, und nicht auf Schulbänken renommierter Bildungseinrichtungen oder auf den Fluren irgendwelcher Ministerien. Er hatte den Befähigungsausweis zum Freizeitanimateur und in dieser Funktion in Jugendzentren gearbeitet, wo er sich für bessere Ausbildungschancen und eine städtische Erneuerung einsetzte. Mit seinen Aktionen hatte er auf sich aufmerksam gemacht, denn er war der geborene Politiker, in seinem Wunsch nach Veränderungen wohl auch ein Idealist und nach den Unruhen von 2005 das designierte Sprachrohr der Kommune von Clichy-sous-Bois. Das Chaos einer aufgewühlten, brennenden Stadt, wenige Stunden nach dem Unfalltod zweier Jugendlicher, Bouna Traoré und Zyed Benna, fünfzehn und siebzehn Jahre alt, die auf der Flucht vor der Polizei an einem Transformatorenhäuschen durch Stromschläge starben, war die Geburtsstunde seiner politischen Karriere. Die Regierung hatte den Ausnahmezustand verhängt, die internationale Presse reagierte, indem sie Bilder der Stadtguerilla verbreitete, und Osman Diboula empfahl sich als der optimale Unterhändler: Er kannte die Familien der Opfer und auch die Jugendlichen, die, empört über die offizielle Version der Ereignisse, die Krawalle angezettelt hatten, er war in Clichy-sous-Bois geboren und aufgewachsen und hatte dort gearbeitet. Nachdem die Wogen sich wieder ein wenig geglättet hatten, hatte er ein Kollektiv mit dem Namen »Banlieue 34« gegründet, dessen Slogan sich so las: »Wer glaubt, es ist unmöglich, soll bitte die in Ruhe lassen, die es versuchen.« Er hatte mögliche Wege aus der Krise skizziert, die Problemviertel in einem neuen Licht präsentiert, als Teil der Gesellschaft, und öffentlich die Stigmatisierung ihrer Bewohner angeprangert. Er wandte sich in aller Deutlichkeit gegen Klischees, die Gewalt und mangelndes Verständnis förderten, gegen die überspitzte Berichterstattung in den Medien, gegen Journalisten, die ihre Kameras zückten und durch geschlossene Autofenster die Ausschreitungen filmten, als wären sie auf Safari, gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei, gegen die systematischen Ausweiskontrollen und gegen »Intellektuelle«, die, frisch aus der Maske kommend, in Talkshows über »die Banlieue« schwadronierten, ohne jemals dort gewesen zu sein, und die hinterher begierig fragten: War ich gut?

Clichy-sous-Bois war sein Habitat. Sein Universum. Die Umgebung war nicht ideal, weit davon entfernt, aber Osman und seine Gesinnungsgenossen erwarteten politische Lösungen, keine Machtdemonstrationen. Dieser Ansatz fand viele Anhänger und ein Echo außerhalb der Landesgrenzen. Selbst die Amerikaner schickten einen Abgesandten, der einen Blick auf den »neuen Ghetto-Propheten«, den Spross und künftigen Anführer der »sichtbaren Minderheiten« werfen sollte. An diesem »sichtbar« allerdings stieß sich Osman, seit er denken konnte. War er sichtbar, weil er schwarz war? Ihm selbst kam es eher so vor, als sei er transparent. »Sichtbar« hatte einen negativen Beigeschmack, es bedeutete, dass er auffiel: In einer weißen Landschaft verursachte er eine Irritation. Denn um innerhalb der Norm zu bleiben, musste man unsichtbar sein, das heißt weiß. Damals stützte er sich bei öffentlichen Äußerungen auf seine Erfahrungen und Gefühle, er hatte nicht viele Bücher gelesen. Erst später tauchten Mentoren in seinem Leben auf, insbesondere eine Frau, älter als er, die ihn unter ihre Fittiche nahm und ihm half, sich die fehlende kulturelle Bildung anzueignen.

Diese Frau, Laurence Corsini, war eine ehemalige Abgeordnete aus dem Mitte-Rechts-Lager, die sich aus der Politik zurückgezogen hatte, um sich ganz auf Unternehmenskommunikation zu verlegen. Sie war eine Person von charismatischer Ausstrahlung, die ebenso sehr Autorität signalisierte wie ein feines Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Osman lernte sie kurz nach den Unruhen bei einer Fernsehdebatte kennen. Corsini war es, die ihn 2006 dazu überredete, den Präsidentschaftskandidaten der Konservativen zu unterstützen und an den Mittwochstreffen des Teams teilzunehmen, bei denen eine Reflexionsgruppe die anstehende Wahlkampagne vorbereitete. Sie war von den rhetorischen Fähigkeiten und der politischen Vision des jungen Mannes beeindruckt, von der Ernsthaftigkeit, die er an den Tag legte, aber auch von seiner durch Wut genährten Entschiedenheit, die Reflexion und Analyse nicht ausschloss und aus der politischen Landschaft herausragte. Osman war das jüngste Kind seiner Eltern, sie waren Mitte der 1960er Jahre von der Elfenbeinküste nach Frankreich eingewandert und in einem Pariser Vorort gelandet. Sein Vater fand eine Anstellung beim Einwohnermeldeamt der Kommune, seine Mutter betreute zwischen acht Uhr früh und Mitternacht als Tagesmutter bis zu fünf Kleinkinder, man schätzte sie wegen ihrer flexiblen Zeiten, denn viele Frauen in der Banlieue arbeiteten nachts, besonders die Putzfrauen, die ihren Dienst in den großen Büroblocks und Kaufhäusern erst am frühen Abend antraten, wenn alle anderen nach Hause gingen. Osman Diboula hatte die elterliche Wohnung immer mit einem Pulk Kleinkindern geteilt und konnte deshalb mit Fug und Recht behaupten, er habe nicht zu Ende studieren können, weil es die Verhältnisse nicht erlaubten. Nachdem er mit knapper Not das Abitur geschafft und ein Jahr lang an der Universität Paris 13 in Villetaneuse Psychologie belegt hatte, machte er die Sozialarbeit zu seiner Vollzeitbeschäftigung. Er betonte gern, er habe die Sprossen der Karriereleiter eine nach der anderen erklommen, allein durch harte Arbeit und Willenskraft, doch in den Sitzungssälen der Ministerien, unter den Männern und Frauen, deren Lebenslauf nur Prädikatsabschlüsse enthielt, nützte ihm das wenig, dort musste er sich fast täglich hinterhältige Bemerkungen von Kollegen anhören, die in ihm nur ein Instrument der Gleichstellungspolitik sahen. Er wusste, was über ihn geredet wurde, er hatte es gelesen, gehört, erraten, oder jemand hatte es ihm zugesteckt: Er ist das Faustpfand der Regierung, damit die Banlieue stillhält, er wurde nur berufen, weil er schwarz ist, sie brauchen nun mal einen aus der Reihe der sichtbaren Minderheiten, eindeutig ein Produkt der positiven Diskriminierung, der Schwarze vom Dienst. Was hat Osman Diboula denn aufzuweisen, außer dass er schwarz ist?«

Sind wir immer noch nicht weiter?, dachte Osman oft. Er hatte Fanon, Césaire, Senghor, Glissant, Baldwin, Wright und Morrison gelesen, spät zwar, aber die Lektüre hatte ihn verändert. Auch Malcolm X hatte er gelesen, die Rede vom 3. April 1964, und sie hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben: »Ich werde mich nicht vor einen leeren Teller an euren Tisch setzen, euch dabei zusehen, wie ihr esst, und dann behaupten, ich habe mit euch zu Abend gegessen. An einem Tisch zu sitzen heißt nicht, dass man ein Gast ist, erst wenn man mitisst, kann davon die Rede sein.«

Es wurde stillschweigend angenommen, dass seine Hautfarbe bei der Entscheidung des Präsidenten den Ausschlag gegeben hatte, dass es um Diversität gegangen war. Osman weigerte sich nicht nur, dies zu glauben – immerhin hatte er dem Wahlkampfteam des Präsidenten angehört –, sondern entlarvte derlei Argumente auch gleich als rassistische Vorurteile: Warum setzten sich die Eliten immer noch ausschließlich aus Weißen zusammen? Auf Grund von welchem Unterscheidungsmerkmal, welcher Borniertheit sollte er sich auf die Ersatzbank beschränken und darauf warten, dass er – wenn überhaupt jemals – an die Reihe kam, obwohl er so überzeugende Gedanken und Meinungen zu bieten hatte? Wer konnte die verhärteten Fronten in der Banlieue, in die sich kein Politiker ohne kugelsicheren Wagen und Eskorte wagte, besser aufweichen als er?

Er fühlte sich häufig benachteiligt, weil ihm die politische und kulturelle Bildung seiner Kollegen fehlte. Einmal fragte ihn der Präsident, was er von Gramsci halte, denn er beabsichtigte, in einer seiner Reden dessen Satz »Macht gewinnt man mit Ideen« zu zitieren. »Eine ausgezeichnete Wahl«, bestätigte Osman, obwohl er den Namen noch nie gehört hatte. In seinem Büro tippte er sofort »Gramsci« in die Suchmaschine und las in einem Wikipedia-Artikel: Italienischer Schriftsteller und Philosoph. Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. 1926 Verhaftung durch die Faschisten.

Der Eintrag weckte sein Interesse. Gramsci hatte während seiner Haft von 1926 bis 1937 über dreißig »Gefängnishefte« gefüllt, die meisten von Osmans Kollegen konnten daraus zitieren. Seine Wissenslücken auf dem Gebiet der Geschichte, Kultur und Politik waren beträchtlich, und in einem Kreis von Menschen, die von der Wiege an eine gute Erziehung genossen hatten, die als Klassenbeste die Geschichte Frankreichs im Schlaf herunterbeten konnten und die algerische Verfassung zumindest auszugsweise im Kopf hatten, fühlte er sich wie ein unbeholfener Fremdkörper. Wenn er den Einladungen der Amerikaner, die ihn nach den Unruhen von 2005 kontaktiert hatten, nicht gefolgt war, war nicht sein vorgeblicher Antiamerikanismus der Grund dafür, sondern dass er kein Englisch sprach. Die anderen Berater sprachen, schrieben und lasen die Sprache fließend, und dass er mehr arbeitete als seine Kollegen, die sich gelegentlich ein paar Stunden Privatleben gönnten, und tatsächlich rund um die Uhr verfügbar war, lag daran, dass er seine Kompetenz unter Beweis stellen wollte. Er nahm sich nie frei. Die Feier zum 65. Geburtstag seiner Mutter verließ er frühzeitig, und als er einmal mit 39 Grad Fieber im Bett lag, stand er auf, weil eine Krisensitzung anberaumt worden war … Selbst unter der Dusche suchte er Antworten auf innenpolitische Fragen. Seinen Freunden, die ihn fragten, wie er ein so entfremdetes Leben überhaupt aushielte, gab er zur Antwort, er liebe seine adrenalingesättigte Existenz.

»Man hat das Gefühl, ganz nah dran zu sein an allem, da, wo Entscheidungen fallen, die nicht nur die Gesellschaft, sondern die ganze Welt verändern werden. Sollte ich es einmal satthaben, dass ich von einem Essen mit der Familie aufstehen muss, weil der Präsident mich ruft, werde ich den Job aufgeben.«

Er fühlte sich wie berauscht. War es etwa kein legitimer Ehrgeiz, der Entourage des Präsidenten angehören und sich im Glanz des Élysée sonnen zu wollen, nachdem er jahrelang durch das Niemandsland seiner Banlieue gestapft war? Er erinnerte sich noch genau an das erhabene Gefühl, das in ihm aufgestiegen war, als er zum ersten Mal im Ehrenhof des Élysée-Palasts stand. Er hatte alles gegeben, um Macht ausüben zu können … Und dann war er auf einmal ausgegrenzt worden. Kaltgestellt, quasi über Nacht.

Zurück auf Start, dachte er, als er sich auf den Weg zum Diner des Club XXIe Siècle, des Treffpunkts der anderen Eliten, machte. In diesem Club stand die Förderung der Chancengleichheit in den Statuten, es ging darum, den klügsten Köpfen aus ethnischen, religiösen oder nationalen Minderheiten zu mehr Sichtbarkeit in den Sphären der Macht zu verhelfen. Der Name war natürlich ein verstohlener Fingerzeig auf den Club Le Siècle, von dem viele der Mitglieder heimlich träumten: »Alle Minister wollen Mitglieder des Siècle werden«, hatte einer der Begründer des Club XXIe Siècle einmal gesagt, »bei uns dagegen wollen alle Mitglieder Minister werden.«

Osman hatte sich seit zwei Jahren nicht mehr im Club blicken lassen, weil ihn seine Aufgaben im Palast zu sehr in Anspruch nahmen. Nun wollte er versuchen, an alte Kontakte anzuknüpfen und neue herzustellen. Außerdem war ein Exminister eingeladen, der über seine Erfahrungen sprechen und seine Denkmodelle für eine bessere Repräsentation der Minderheiten in der Politik darlegen wollte. Doch als der Mann das Wort ergriff, hatte Osman den Eindruck, einer Wahlkampfrede zu lauschen: Demagogie und Anbiederung, gepaart mit einem etwas anrüchigen Paternalismus. Auch der hoffnungsvollen Rede eines jüngeren Regierungsbeamten nordafrikanischer Herkunft konnte er nichts abgewinnen – der Redner pries die Integration, lobte Frankreich und wiederholte mehrfach, die Anwesenden seien doch alle der Beweis dafür, dass in Frankreich Menschen jeglicher ethnischer Herkunft Erfolg haben könnten. Derselbe Mann klagte im privaten Gespräch jedes Mal über Rassendiskriminierung, wenn er bei einer Beförderung übergangen worden war. Osman hatte nicht wenig Lust, aufzustehen und ihm entgegenzuhalten: Ja, Erfolg ist möglich, aber nur bis zu einer bestimmten Ebene. Darüber hinaus geht nichts.

Der junge Beamte erinnerte an den populären Slogan beim zweiten Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus im Jahre 1984: »Frankreich ist wie ein Mofa – um vorwärtszukommen, braucht es die richtige Mischung.«

Osman fühlte sich unwohl unter all den Jungunternehmern mit ihren Hochschulabschlüssen, den nordafrikanischen, schwarzafrikanischen und asiatischen Einwanderern oder Söhnen und Töchtern von Einwanderern. Für ihn hatte dieser Zusammenschluss einen üblen Beigeschmack: Hier versammelten sich die von der weißen Machtelite Frankreichs Ausgegrenzten. Oh, sicher, sie hatten große Erfolge aufzuweisen, sie stiegen immer weiter auf, bis in die höchsten Ämter, aber immer mit dem unguten Gefühl von Hochstapelei im Magen, das andere ihnen eingeflößt hatten. Herkunft. Quoten. Die positive Diskriminierung. Osman hörte schweigend zu, bis er es nicht mehr aushielt. Er sprang auf und unterbrach die Rede des jungen Mannes, als das Wort »Beurgeoisie« fiel, das »die neue Elite nordafrikanischer Herkunft« kennzeichne.

»Warum kann man sie nicht Bourgeoisie nennen?«, fragte Osman. »Ist die Bourgeoisie nichts für Araber? Worte haben nun einmal eine Bedeutung. In ›Beurgeoisie‹ steckt das Wort beur, das, wie Sie alle wissen, nichts anderes ist als das Wort ›Araber‹, nur rückwärts gelesen. Spricht man etwa verlan auf den Fluren der Macht? Nein. In den Stadtrandsiedlungen aber schon. Dorthin schickt uns Ihr Begriff zurück. Ins Ghetto.«

Der Redner ruderte zurück: »Das habe ich damit nicht ausdrücken wollen.«

Eines der Clubmitglieder kam ihm zu Hilfe: »Beur, black, das sind inzwischen gängige Begriffe, sie haben Eingang in die französische Sprache gefunden …«

Aber Osman ließ sich nicht beirren: »Araber ist kein Schimpfwort. Und ich habe keinerlei Problem damit, zu sagen, dass ich schwarz bin. Ich mag diese Euphemismen nicht. Denken Sie an die Worte von Camus: Die Dinge falsch zu benennen heißt, das Unglück der Welt zu vergrößern.« Er merkte, dass seine geschwollene Ausdrucksweise etwas lächerlich wirkte, doch nun war er einmal dabei. »Ich bin schwarz. Ihr könnt gegen Vorurteile und Diskriminierung ankämpfen, soviel ihr wollt, der Stempel, den sie euch aufdrücken, wird euch immer bleiben. Für eine Befreiung aus dem mentalen Ghetto braucht es Mut.«

Auf seine spontane Einlassung folgte ein langes Schweigen. Es wurden noch ein paar artige Fragen gestellt und beantwortet, dann verließ Osman die Veranstaltung sehr schnell. In dieser Meute der Ehrgeizigen fühlte er sich plötzlich nicht mehr zu Hause. Die kulturelle Vielfalt würde sich ohne ihn weiterentwickeln müssen.

4

Es hatte in der ersten Nacht in Paphos begonnen. Die Erinnerung an das Grauen brach über ihn herein, als er sich auf dem Bett ausstreckte, in seinem Hotelzimmer mit Meerblick und idyllischen Malereien an der Wand, die wohl die Nerven der Soldaten beruhigen sollten. Was für ein Kontrast zwischen diesem romantischen Ambiente und den Horrorszenarien, die sich vor Romains geistigem Auge abspielten – furchterregende Bildfolgen jagten durch seinen Kopf, als gäbe es irgendwo einen Diaprojektor, der sich nicht abschalten ließ. Was für ein Kontrast zwischen der nächtlichen Stille und den Geschossen, die sich mit ihrem grellen Pfeifen in sein Hirn bohrten, dem Lärm der Detonationen, den Schreien der Verwundeten, der Druckwelle nach der Explosion, all das zerriss Romain innerlich, obwohl er keine sichtbaren Verletzungen davongetragen hatte. Sein Körper weigerte sich, zur Ruhe zu kommen, sein Geist war in Aufruhr, ein Lichtstrahl war auf sein Gewissen gerichtet, und Romain sah nur noch Abfall und Waffen, Blut und Sand: der Mensch an seinem Tiefpunkt.

Jede Einzelheit des Hinterhalts, in den sie geraten waren, blitzte wieder auf. Er warf sich vor, dass es ihm nicht gelungen war, seine Männer zu beschützen, er konnte kein Auge zutun, gegen die Schlaflosigkeit hatte kein Tranquilizer eine Chance. Und deshalb hörte sich Romain einen Rap an, einen harten Rap, nur damit kam er gegen die Panik an, mit Hilfe der Wut verzweifelter Underdogs, die alles kaputtschlagen wollten. Vielleicht war er seinerzeit genau aus diesem Grund zum Militär gegangen. Abgesehen davon, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, eines Exfallschirmspringers, der 1983 bei einem Attentat im Libanon umgekommen war und dadurch Romains Mutter, Sophie Roller, mit vierundzwanzig zur Witwe gemacht hatte. Er selbst war damals erst zwei gewesen.

Drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes lernte Romains Mutter in der Schule, wo sie als Küchenhilfe in der Kantine arbeitete, einen zehn Jahre älteren Sportlehrer kennen, einen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann mit einem Körper wie einer Eisenstange – Romain brauchte einen Vater, und der hier würde seinen Zweck erfüllen. Der Mann nahm sie bei sich auf, zog Romain anstandslos wie seinen eigenen Sohn auf, zehn Jahre lang, bis er Sophie von einem Tag auf den anderen verließ, wegen einer jüngeren Frau, die er weiß Gott wo kennengelernt hatte, und damit verließ er indirekt auch Romain. Der Weg führte für Mutter und Sohn ins Chaos, in die Existenzangst, in die Abhängigkeit. Sie bezogen eine Sozialwohnung in Clichy-sous-Bois, irgendwo musste man sie ja hinstecken, sie hätten auch bei den Großeltern mütterlicherseits unterkriechen können, in einem kleinen nordfranzösischen Dorf, doch Sophie hatte gesagt: lieber verrecken. Also verreckten sie beinah am Rand der Hauptstadt, aber seiner Mutter erschien alles besser als die Rückkehr zu ihren Eltern, vor denen sie achtzehn Jahre zuvor geflohen war. Doch welche Perspektiven hatten sie dort? Welche Hoffnung blieb ihnen in ihrer engen Drei-Zimmer-Wohnung mit Blick auf eine geköpfte Eiche? Und all die anderen, die sich im Schatten der Wohntürme herumdrückten, die Dealer, die Kleinkriminellen, was trieb sie an? Doch auch nur die Aussicht auf ein schöneres Leben, auf die Teilhabe am Kapitalismus, auf Kohle und Konsum. Wünschten sie sich etwas? Doch auch nur, so schnell wie möglich von hier abzuhauen.

Nachdem sein Stiefvater sich verdrückt hatte, ging es für Romain weiter bergab, bis hin zum Schulverweis. Aber er hatte Glück, Psychologen und Sozialarbeiter kümmerten sich um ihn, er beruhigte sich, scheinbar, unterschwellig allerdings brodelte die Aggression weiter, und deshalb fasste er den Beschluss, sich mit Beginn der Volljährigkeit bei der Armee zu bewerben, gemeinsam mit drei Freunden, Farid Djitli, Xavier Carel und Issa Touré. Issa wurde jedoch als untauglich für den Militärdienst befunden – Schwein gehabt, dachte Romain inzwischen, er hatte nicht mit ihnen durch die afghanische Hölle gehen müssen. Damals aber hatte es ihn mit Stolz erfüllt, Soldat zu werden, wie sein Vater und sein Großvater vor ihm und gegen den Willen seiner Mutter: Die Vorstellung, der Junge könne wie sein Vater enden, setzte ihr furchtbar zu, und sie verbarg nur schlecht ihre Enttäuschung, dass er die höhere Schule nicht zu Ende brachte.

»Deine Lehrer haben doch alle gesagt, dass du sehr begabt bist, alle! Aber du warst schon immer ein Hitzkopf, ein Draufgänger, völlig unberechenbar, nicht zu bändigen, ich konnte dich nie im Zaum halten.«

Und wer, bitte schön, hat dich darum gebeten?

Kämpfen, Action, Sport, starke Empfindungen, das liebte er. Die bedrückende Regelmäßigkeit eines Schulalltags kotzte ihn an, einem Routinejob nachzugehen, bei dem ein Tag wie der andere ablief, kam für ihn nicht in Frage. Er wollte das Abenteuer, und Abenteuer hieß für ihn, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Neun Jahre lang hatte er unerschütterlich seinen Dienst an der Waffe erledigt, und nun stieß er plötzlich an seine Grenzen. Für welche wahnsinnige Utopie waren sie da losgezogen und hätten bereitwillig ihr Leben geopfert? Für den Kampf gegen Obskurantismus? Gegen islamischen Terrorismus? Die Sicherung eroberter Gebiete? Den Wiederaufbau eines von Korruption und Drogenhandel zerfressenen Landes? Von wegen! Sie waren losgeschickt worden, um zu krepieren, zu krepieren und sonst gar nichts, von Strategen, die hochkomplizierte Zusammenhänge griffig in drei Worten zusammenzufassen wussten, von Spezialisten, die Tocqueville, Sunzi und David Galula gelesen hatten und mindestens drei Sprachen beherrschten, jedoch unfähig waren, sich in eine Situation einzufühlen und sich irgendwo anders als auf der sozialen Leiter einzuordnen.

Nein, mit der Seelenruhe war es vorbei, allein die Aussicht, seinen dreijährigen Sohn Tommy bald in die Arme zu schließen, beschwichtigte Romains inneren Aufruhr ein wenig. Der Gedanke an das Wiedersehen mit seiner Frau Agnès munterte ihn deutlich weniger auf, in den langen Monaten im Ausland war ihm ihre Existenz manchmal fast entfallen. Zu oft war es überlebenswichtig gewesen, den inneren Kontakt zu Frankreich, zur Familie abzubrechen, all das abzuspalten, was mit Gefühlen verbunden war.

Die Hitze, die Angst und die Rückkehr des Schreckens hielten Romain bis drei Uhr früh wach, schließlich stand er auf und verließ sein Hotelzimmer. Er brauchte einen Drink. Nervös näherte er sich der Lobby, schlich vorbei an dem Mann, der hinter dem Rezeptionstresen vor sich hin dämmerte, es war nichts zu befürchten, dennoch schlich Romain weiter, immer auf der Hut – und plötzlich spürte er etwas Lebendiges in seinem Rücken. Sofort zog er sein Messer und fuhr herum.