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Karine Tuil

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Beschreibung

Der Preis der Freiheit In einem Hochsicherheitstrakt des Pariser Justizpalastes muss die charismatische Untersuchungsrichterin Alma Revel über die Festsetzung oder Freilassung eines blutjungen Mannes entscheiden, gegen den ein Terrorismusverdacht vorliegt. Doch nicht nur beruflich ist Alma extrem gefordert. Ihre Ehe ist am Ende und sie stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre, ausgerechnet mit dem Anwalt, der nun den Terrorverdächtigen verteidigt. Alma trifft eine folgenschwere Entscheidung, die ihr Leben und ihr Land auf den Kopf stellen wird. Was sind wir bereit aufzugeben, um unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten? 

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Karine Tuil

Diese eine Entscheidung

Roman

Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.«

André Gide, ›So sei es oder Die Würfel sind gefallen‹

 

 

»Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung.«

Milan Kundera, ›Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹

DIE SICHERHEITSZONE

»Denn wie ihr wisst, war Sicherheit des Menschen Erbfeind jederzeit.«

William Shakespeare, ›Macbeth‹

 

 

»Wenn man nicht besitzen kann, zerstört man.«

Charles-Ferdinand Ramuz, ›Die Schönheit auf der Erde‹

1

Wollen Sie sich die Aufnahmen des Attentats wirklich ansehen?

 

Lange Zeit war ich es gewesen, die diese Frage gestellt hatte. Als Ermittlungsrichterin, spezialisiert auf Terrorismusbekämpfung, sah ich mich jedes Mal aufs Neue vor ein grundlegendes ethisches Problem gestellt: Sollte ich den Angehörigen der Opfer die Bilder der Anschläge zeigen, wie sie es forderten? Dienten die Bilder von verstümmelten Leibern, zerplatzten Schädeln, Kinderkörpern mit abgerissenen Gliedmaßen wirklich der Wahrheitsfindung? Ich versuchte, die Angehörigen davon abzubringen, ich wollte sie vor der Obszönität des Todes schützen. Doch nun hat sich das Blatt gewendet, und ich bin diejenige, der ein Ermittlungsrichter abrät, sich den Hergang der Tat anzusehen, so wie ihn der Terrorist mit einer an seinem Körper befestigten Kamera gefilmt hat. Ich bin diejenige, die sie schützen möchten, aber ich bestehe darauf, ja, ich will es wissen, vielleicht muss ich es sehen, um es glauben zu können, denn das Grauen hat etwas ungemein Irreales an sich. Auch wenn man noch so häufig gesagt bekommt, dass es geschehen ist, weigert sich alles in einem, das Offenkundige zu akzeptieren. François bleibt stumm und rührt sich nicht, ich weiß, dass er vor unserem Gespräch ein Beruhigungsmittel genommen hat, denn er hat mir in seinem Büro ebenfalls eines angeboten. Ich habe abgelehnt, denn ich hatte in der Nacht schon zwei Tabletten geschluckt, während ich stundenlang hellwach zusammengerollt im Bett lag.

François Vasseur hatte die Stelle bei uns kurz nach dem Attentat auf Charlie Hebdo angetreten, der Anschlag damals gehörte zu seinen ersten Fällen. Er und ich arbeiten häufig im Team, und man kann sagen, dass wir uns gut ergänzen: Ich bin die rote Richterin, viel zu links und zu nachgiebig aus seiner Sicht, denn er steht politisch rechts und verkündet gern, man dürfe keinen Schritt zurückweichen, man handhabe die Dinge hierzulande viel zu lax, Frankreich blamiere sich.

Wir nehmen nebeneinander Platz im Büro von Éric Macri, dem Richter, dem die Bearbeitung des Falles obliegt. Der Attentäter ist lebendig gefasst worden, nachdem er sich vierundzwanzig Stunden am Ort der Tragödie in einem Raum verschanzt hatte, und Éric wird ihn gleich vernehmen. Er hat das rote Lämpchen an der Tür eingeschaltet, das heißt, er will nicht gestört werden. Wir haben über dieses Lämpchen oft unsere Witze gerissen: Ob er sich wohl gerade mit einer seiner zahlreichen Eroberungen vergnügte? Wir haben viel miteinander gelacht – ein wirksames Mittel, uns gegen die allgegenwärtige Gewalt abzuschotten. Doch heute sind wir alle drei den Tränen nahe.

Éric fragt, ob wir die Gerichtspsychologin hinzuziehen wollen. Sie bereitet die Familien der Opfer in der Regel auf die schrecklichen Bilder vor, die sie erwarten, und steht ihnen auch danach zur Seite – nach einem so schweren seelischen Schock ist niemand gefeit vor einem Nervenkollaps. Ich verneine, François schüttelt den Kopf. Éric sucht meinen Blick und fragt mich noch einmal in eindringlichem Ton: »Alma, bist du dir sicher? Warum tust du dir das an? Du solltest dich davor schützen.« Und ich wiederhole mit einer gewissen Nervosität in der Stimme – denn ich habe Angst vor den Bildern, die er mir gleich vorführen wird, und ich halte es durchaus für möglich, ohnmächtig zu werden –, »ja, ich bin mir sicher, ja, ganz sicher«. Im Rahmen meiner Berufstätigkeit habe ich mir schon etliche Videos von Gewalttaten angesehen, manchmal sogar zusammen mit Éric: Aufzeichnungen aus Überwachungskameras oder Enthauptungen, aufgenommen mit einer kleinen GoPro-Digitalkamera, die Extremsportler gern verwenden, um sich bei ihren Aktivitäten zu filmen, und die Terroristen für ihre eigenen tödlichen Zwecke entdeckt haben. Töten allein reicht ihnen nicht, sie wollen zeigen, wie sie getötet haben, sie wollen demonstrieren, mit welchem Hass, mit welcher Kaltblütigkeit, mit welcher Brutalität sie töten und leben. Éric drückt auf die Fernbedienung und sagt, »los geht’s«, als würden wir gemeinsam ein brennendes Gebäude erstürmen, und ich weiß – wir wissen es alle –, dass diesmal ich es sein werde, die von den Flammen verzehrt wird.

 

Als Erstes nehme ich die stämmige Gestalt eines Mannes wahr, der mit aufgerissenem Mund angstvoll in meine Richtung starrt, und ich sehe, wie sein Schädel unter der Wucht einer Kalaschnikow-Salve explodiert, wie sein kopfloser Körper dann zusammenklappt. François springt auf und stürzt, eine Hand aufs Herz gepresst, aus dem Zimmer, als drohe er, sich jeden Moment auf den edlen Parkettboden zu erbrechen. Ich bleibe sitzen. Tief atmen, Alma. Mein ganzes Wesen zittert, das ist keine Einbildung, es ist echt, auch wenn ich äußerlich nicht das Geringste zu erkennen gebe, ich habe gelernt, meine Gemütsbewegungen zu beherrschen. Bei einer Vernehmung darf man sich die eigenen Gefühle nie anmerken lassen. Éric wendet den Blick ab, er musste sich das Video im Zuge der Ermittlungen bereits anschauen. Ich bin also die Einzige, vor deren Augen sich gerade das nationale Drama abspielt, das zugleich mein persönliches Drama ist. Die Aufnahme ist leicht verwackelt, die Bilder schwanken mit den Schritten des Mörders, man sieht alles ein wenig verschwommen. Ich höre Schüsse, Schreie und einzelne Worte des Attentäters, dessen Stimme ich sofort zuordnen kann, weil ich sie kenne: Allahu Akbar! Die Szenerie ist dunkel, nur spärlich erhellt durch bunte Lichtstrahlen, die irisierend über die vor Entsetzen versteinerten Gesichter huschen. Die Kamera filmt auf Brusthöhe. Die Opfer fallen zu Boden, getroffen von Schüssen aus der Kalaschnikow. Ich habe das grauenhafte Gefühl, dass es meine Hand ist, die die Waffe hält, dass ich es bin, die schießt. Dass ich es bin, die tötet.

Transkription des Gesprächs Nr. 67548 auf Leitung 06XXXXX

 

»Ich liebe dich, Sonia.«

»Ich bin jetzt deine Frau, LOL.«

»Ein Leben lang.«

»Ja, ein Leben lang.«

»Bist du bereit, alles hinter dir zu lassen?«

»Das wird das Paradies!«

»Wir bleiben erst kurz in der Türkei, zwei, drei Tage, als Hochzeitsreise, und dann geht es weiter nach Syrien.«

»Du bist dir sicher?«

»Klar! Solange ich nicht alles für mein Ziel getan habe, geht es mir nicht gut.«

»Ich hoffe, du massakrierst sie alle, ich werde dich jedenfalls anfeuern. LOL.«

»LMAO, das ist lieb. Ich bin bereit. Maximal entschlossen. Und keine Sorge, für die Frauen der Kämpfer wird gesorgt.«

»Ich weiß.«

»Inschallah, wir werden glücklich sein.«

»Voll!«

»Hast du eigentlich das Video gesehen, das ich dir geschickt habe?«

»Ja, total cool, wie der Bruder ihn enthauptet.«

(Sie lachen.)

2

Ich heiße Alma Revel. Ich bin am 7. Februar 1967 in Paris zur Welt gekommen. Ich bin neunundvierzig Jahre alt.

Ich bin die einzige Tochter von Robert Revel und Marianne Darrois.

Ich bin französische Staatsangehörige.

Getrennt lebend, Mutter von drei Kindern.

Ich bin Ermittlungsrichterin in der Abteilung Terrorismusbekämpfung.

 

Vor drei Monaten habe ich im Rahmen meiner Tätigkeiten eine Entscheidung getroffen, die ich für richtig hielt, die jedoch dramatische Konsequenzen hatte. Für mich und für meine Familie. Für mein Land.

 

Man kann sich in den Leuten täuschen. Man weiß nichts über sie oder nur wenig. Lügen sie, sind sie aufrichtig? Mein Beruf hat mich gelehrt, dass der Mensch kein monolithischer Block ist, sondern ein wechselhaftes, undurchschaubares Wesen von erheblicher Widersprüchlichkeit, das einen jederzeit überraschen kann, sei es durch seine Monstrosität, sei es durch seine Menschlichkeit. Warum zerstört jemand mit verbissener Willkür das eigene Leben oder das eines anderen? Ich weiß es nicht, ich bin nicht im Besitz der Wahrheit, ich suche sie unermüdlich. Sie offenzulegen, ist mein einziges Ziel. Ich gehe wie eine Journalistin vor, wie eine Historikerin, eine Schriftstellerin, meine Arbeit besteht im Nachvollziehen und Nacherzählen. Ich versuche, die fatale Anziehungskraft der Gewalt zu verstehen, in die unergründlichsten Winkel des Bewusstseins vorzudringen, die man nicht unbeschadet durchleuchtet, aber letztlich bleibt mir aus meinen vielen Berufsjahren nur die Erkenntnis, wie komplex die Menschen sind. Sie sind unberechenbar, sie handeln wie Getriebene; häufig geht es ihnen um ihre soziale Stellung, sie fühlen sich gekränkt, gedemütigt, am falschen Platz, sie beginnen zu hassen, und dann töten sie. Aber sie töten auch einfach so, aus einem Impuls heraus, und wenn wir uns die Gründe für eine Tat nicht erklären können, trifft sie uns am härtesten. Wir erforschen die Gedanken und Absichten der Täter, wir haben das Bedürfnis nach Erklärungen – aber wozu? Am Ende stoßen wir doch nur auf Leere und menschliche Verletzlichkeit.

 

Ich habe 2009 in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung angefangen und bin seit 2012 zuständig für die Koordination dieses Bereichs. Von meinem Büro in der Galerie aus – einem besonders gesicherten Flügel im Pariser Justizpalast – koordiniere ich ein Team aus elf Richtern und Staatsanwälten. Nur wenige Leute wissen, mit welchen Aufgaben Anti-Terror-Richter und -Richterinnen betraut sind, denn wir agieren im Verborgenen, ähnlich wie die Mitarbeiter von Nachrichtendiensten. Wir führen Ermittlungen durch, wir befragen Verdächtige und deren mutmaßliche Komplizen, wir sprechen mit den Angehörigen der Opfer. Wir erheben keine Anklage, wir befassen uns nicht mit der Frage der Schuld – dafür gibt es Staatsanwälte. Unser Metier ist die Beweiserhebung, wir klären den Sachverhalt, denn wenn man nichts Konkretes in der Hand hat, untermauert man nur die verbreitete Theorie, die Strafverfolgung sei in solchen Fällen politisch motiviert.

Wir arbeiten grundsätzlich in Zweier-Teams. Je nach Tragweite des Falls sind wir auch zu dritt, manchmal sogar zu viert oder fünft. Der mit dem Fall betraute Richter zeichnet hauptverantwortlich, aber bei Besprechungen und wenn Entscheidungen gefällt werden, wird immer ein zweiter hinzugezogen. Drei Dienste arbeiten mit uns zusammen, der französische Inlandsnachrichtendienst DGSI, die Anti-Terrorismus-Unterabteilung SDAT der nationalen Polizei und die Anti-Terror-Abteilung der Kriminalpolizei, sprich die fähigsten Ermittlungsbeamten des Landes. Bei Anschlägen werden sofort alle drei Dienste verständigt. Meine Aufgabe besteht darin, das Vorgehen der Polizei zu organisieren und zu lenken. Ich wechsle mit den ermittelnden Beamten um die fünfzig Mails täglich. Darüber hinaus finden regelmäßige Treffen statt. Wir können uns auf ein umfangreiches Expertenwissen stützen, auf DNA-Analysen, Computerdaten, psychologische Gutachten. Wir beauftragen Psychiater und Persönlichkeitsermittler, die uns helfen, die Vorgeschichte einer Straftat zu rekonstruieren.

Kaum ein anderer Arbeitsplatz ist so exponiert wie die Anti-Terror-Abteilung. Wer hier tätig ist, muss belastbar, entschlussfreudig und ein wenig abenteuerlustig sein, muss austeilen und Gewalt (interne, externe, politische, bewaffnete, religiöse, soziale) aushalten können, Gewalt immer und überall – darauf kann einen im Grunde nichts vorbereiten. Mein Vorgänger hatte mich gewarnt: Du wirst von dieser Dunkelheit aufgesaugt werden, sie wird dich kontaminieren, du wirst keinen Schlaf mehr finden. Dennoch war ich nicht darauf gefasst gewesen, dass sie mich so gründlich zermürben würde. Man fühlt sich manchmal sehr allein, ständig läuft man Gefahr, von der Politik instrumentalisiert, manipuliert, attackiert oder von den Medien vereinnahmt zu werden. Wenn unsere Abteilung mit so diffizilen Fällen befasst ist wie beispielsweise den Anschlägen der Jahre 2012 und 2015, lastet die kollektive Trauer wie eine schwere Bürde auf unseren Schultern. Die Menschen erwarten so viel – zu viel, denn unsere Machtbefugnisse sind ebenso begrenzt wie unsere Kräfte. Tag für Tag stoße ich an die Grenzen meiner Belastbarkeit und muss Stress bewältigen. Ich betrete mein Büro um 8 Uhr 30 und verlasse es um 19 Uhr – theoretisch, denn in Wirklichkeit sind wir in der Anti-Terror-Abteilung rund um die Uhr im Einsatz. Abends bereite ich zu Hause die geplanten Vernehmungen vor und protokolliere meine Anordnungen. Wenn ich Bereitschaft habe, gehe ich auch am Wochenende ins Büro, was mir über die Arbeit hinaus ermöglicht, meinem familiären Alltag zu entfliehen und den schleichenden Verfall meiner Ehe zu verdrängen. Meine Tage sind prall gefüllt, ich habe einen Termin nach dem anderen, Befragungen, Sitzungen, Besprechungen mit Ermittlern, Anwälten, Richterkollegen und -kolleginnen. Es ist ein langer Tunnel voller vernunftgeleiteter Entscheidungen und Zuständigkeiten, in dem eine permanente, nie nachlassende Anspannung herrscht. Ein einziger Verfahrensfehler kann sich verheerend auswirken. Am Beginn meiner beruflichen Karriere war ich Verwaltungsrichterin. Wenn ich damals einen kleinen Drogendealer auf freien Fuß setzte, wusste ich, dass er schlimmstenfalls wieder dealte, hingegen können, wenn ich mich heute irre, durch mein Verschulden Menschen sterben.

Zu meinem Berufsalltag gehören auch Dienstreisen, bis zu vier jährlich, die mich ins Ausland, in von Dschihadisten kontrollierte Konfliktzonen führen. Dort treffe ich auf Mitarbeiter des RAID, einer Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung, oder den schwer bewaffneten GIGN, die Eingreiftruppe der Gendarmerie, und muss nicht selten mitten in der Nacht aus Sicherheitsgründen die Unterkunft wechseln. Ich sehe mich Gefangenen gegenüber, die ich vor Ort vernehmen soll, unberechenbaren Typen mit Totenkopfmasken, die ich nicht einschätzen kann, und höre im Dunkeln hasserfüllte Slogans wie »Franzosen! Verschwindet, sonst ist es zu spät!«. Auf Reisen bin ich Krankheiten ausgesetzt und zu Hause einer Gesundheitsprophylaxe, die mir jede Energie raubt, und immer küsse ich vor der Abreise meine Kinder, ohne etwas von meinen Gefühlen preiszugeben, und denke dabei, dass es womöglich das letzte Mal ist. Ich bin über sämtliche Attentate informiert, die irgendwo auf der Welt verübt werden, sofern es französische Opfer gab, ich halte mich regelmäßig in Diktaturen auf, die den Terrorismus unterstützen, in Kriegsgebieten, in denen Anarchie herrscht, in rückständigen patriarchalen Regimes. An den Einsatzorten gehe ich zwangsläufig Risiken ein, ich weiß, dass ich misshandelt und gedemütigt und womöglich sogar entführt werden könnte. Auf der Skala meiner Ängste rangieren Vergewaltigung und Enthauptung gleich hinter der Angst vor dem Tod meiner Kinder. Ich habe oft Angst, aber nach einer gewissen Zeit lernt man, die Angst zu beherrschen.

Tatsächlich kann man sich an den Gedanken zu sterben gewöhnen, woran man sich jedoch nie gewöhnt ist der Hass. Wo der Hass hervorbricht, vergiftet er alles. Er begegnet mir beim Öffnen der Post für die Häftlinge (Alma Revel, Sie werden in der Hölle brennen) oder wenn ich Aufzeichnungen von Gesprächen im Besucherraum abhöre (die Richterin, diese Hure), er ist da, wenn ich mir die Aufnahmen von Enthauptungen oder Massakern ansehe (Wir werden euer Land der Ungläubigen zerstören), wenn ich Männer, Frauen oder Jugendliche vernehme (Euer Recht erkenne ich nicht an, eure Gesetze sind Dreck, Sie sind Dreck), wenn ich per SMS bedroht werde (Die Brüder werden dir die Fresse einschlagen, du Schlampe). Am Ende summieren sich die vielen kleinen Risse zu einem tiefen Spalt, einem Abgrund, den man auf die eine oder andere Art durch ein – notfalls erfundenes – emotionales Narrativ überbrücken muss. Im Allgemeinen sind Richterinnen und Richter nicht beliebt, die Menschen betrachten uns als Grundpfeiler des staatlichen Strafapparats, sie halten uns für rigide und machtbesessen, für die Erfüllungsgehilfen des Gesetzes – den bewaffneten Arm der Zwangsmacht.

 

Mein Vater war ein großer Leser und Anhänger von Foucault, den er häufig zitierte: »Es ist hässlich, straffällig zu sein – und wenig ruhmvoll, strafen zu müssen.« Ich bin Robert Revels einzige Tochter; die Geschichte hat meinen Vater vergessen, obwohl er in den 1960er-Jahren einer der militantesten Aktivisten der proletarischen Linken war und Jean-Paul Sartre nahestand. Bevor er in den Drogenkonsum und in die Kriminalität abrutschte, wäre er fast Sartres Sekretär geworden. Er erzählte mir gern, dass meine Großeltern, kommunistische Widerstandskämpfer, in seiner Wiege Waffen und Flugblätter gegen die Nazis versteckt hätten. Damit hat alles angefangen, glaube ich – mit dem Gedanken, dass die Katastrophe jederzeit eintreten kann, man jedoch vor dem Gegner niemals kuschen darf. Meine Mutter lernte er auf einer Elite-Universität kennen. Sie wurden ein Paar, eines dieser leidenschaftlich engagierten Paare, die an die Revolution glaubten, sie waren Produkte einer Zeit, in der Intellektualität und Sexualität miteinander verschmolzen und man noch glaubte, Literatur und Ideen könnten die Welt verändern und jeder müsse »gegen sich selbst denken«, um die eigene Persönlichkeit auszubilden und zu entwickeln. Meine Eltern machten die Verwerfungen der Geschichte zur Blaupause ihres gemeinsamen Lebens.

Meine Familiengeschichte wäre möglicherweise ruhmreicher verlaufen, hätte mein Vater nicht praktisch über Nacht beschlossen, sich Pierre Goldman anzuschließen. Goldman, Sohn jüdischer Résistance-Kämpfer, war eine Ikone der Linken, rebellisch, geistreich, brillant und umtriebig, aber auch labil und beseelt von der Überzeugung, dass der Kampf mit Waffen geführt werden müsse. Er drängte meinen Vater dazu, sich ebenfalls zu bewaffnen und sich Mitte des Jahres 1968 in Venezuela an Guerilla-Aktionen zu beteiligen.

Nach der Rückkehr aus Südamerika im Jahr darauf ließ sich mein Vater gemeinsam mit Goldman zu kriminellen Aktivitäten hinreißen. Goldman wurde unter anderem der Mord an zwei Apothekerinnen zur Last gelegt, doch schrieb er während seiner Haft einen ungestümen Text mit dem Titel Dunkle Erinnerun-gen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden, in dem er seine Unschuld beteuerte. Er wurde auf Bewährung entlassen und wenig später auf offener Straße erschossen. Mein Vater wiederum wurde bei einem Einbruch in die Pariser Wohnung eines Großunternehmers ertappt, für elf Jahre hinter Gitter gesperrt und von allen vergessen. Meine Mutter zog mit mir nach Südfrankreich in eine von Intellektuellen gegründete Landkommune, deren Mitglieder, vorwiegend Bürgersöhne, die Gesellschaftsstruktur durch ein bäuerliches Leben in der Provinz verändern wollten. Nach ein paar Jahren entschied sie sich für das Dreigestirn Bequemlichkeit-Sicherheit-Vernunft, verließ die Gemeinschaft und ging eine kleinbürgerliche Ehe mit einem Dorfarzt aus den Südalpen ein. Dort, zwischen hohen Bergen, im abgeschiedenen Tal von Valgaudemar, wuchs ich auf.

Als mein Vater Anfang der 1980er-Jahre aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er ein gebrochener Mann. Daher rührt meine Überzeugung, dass eine Gefängnisstrafe, auch wenn sie zu einer Art Einsicht ins eigene Tun verhelfen mag, sehr destruktive Folgen haben kann. Eine Inhaftierung bringt die dunkelsten Seiten in Menschen zum Vorschein, und wer diese Horizontverengung nicht selbst erlebt hat, weiß nicht, was für ein Desaster sie ist. Mein Vater bezog eine Sozialwohnung in Champigny-sur-Marne und fing an, harte Drogen zu konsumieren. Meine Mutter schränkte meine Kontakte zu ihm ein, bis ich volljährig war. Ende der 1990er-Jahre, mit gerade einmal fünfundfünfzig, starb mein Vater an einer Überdosis. In den Jahren zuvor, in denen ich mich ihm ein wenig angenähert hatte, warf er mir wiederholt vor, ich hätte mich auf die Seite der Repression geschlagen: »Dein Beruf ist es, Leute, die Probleme haben, fertigzumachen und einzusperren.« Das war natürlich eine grobe Vereinfachung. Urteilen ist auch ein politischer Akt.

 

Lässt man den Aspekt der Abstrafung einmal beiseite, so hat meine Tätigkeit durchaus ihre faszinierenden Seiten: Als Richterin erhalte ich Einblick in die Abgründe der menschlichen Natur. Die Menschen bringen sich selbst in furchtbare Situationen, und ich begleite ihren tragischen Lebensweg. Ich habe Menschen vor mir, die vom Schicksal zermalmt wurden, Männer und Frauen aus allen sozialen Schichten. Das Unglück macht keine Unterschiede, und man sollte nicht glauben, dass der eine besser damit fertig wird als die andere. Jeder macht aus seinem Leben, was er kann, entsprechend seinen Chancen und Fähigkeiten. An der Wand meines Arbeitszimmers hängt eingerahmt ein Satz von Marie Curie: »Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen.«

 

Aber manchmal versteht man gar nichts.

3

Ich war gerade vierundzwanzig geworden, als ich erlebte, wie hart der Beruf einer Ermittlungsrichterin sein kann. Die Fakten des Falls waren grauenhaft: Ein sechsjähriges Mädchen war erstochen in seinem Bett aufgefunden worden. Der Vater hatte die Kleine am Morgen entdeckt, die Mutter war verschwunden. Der Vater rief die Polizei, die Beamten durchforsteten jeden Wald und Winkel in der Umgebung nach der Mutter, am Ende fanden sie ihren leblosen Körper an einem Seeufer, sie war ertrunken. Was genau war passiert, warum? Das Rätsel, das die Tat umgab, sollte nie gelöst werden.

Mir oblag es damals, den vollkommen verzweifelten Vater und Ehemann über die Einstellung des Verfahrens zu informieren. Ich war so jung – auf welche psychischen Ressourcen hätte ich bei diesem Gespräch zurückgreifen sollen? Noch heute sehe ich den tränenüberströmten Mann vor mir, die Gerichtsschreiberin und den Anwalt, ebenfalls mit Tränen in den Augen. Ich musste die Kraft und die passenden Worte finden. Es war schrecklich, aber ich habe es geschafft.

 

In die Abteilung für Terrorismusbekämpfung kam ich acht Jahre nach den Anschlägen vom 11. September. Ich vernahm Männer und Frauen, die vor den Fernsehbildern der zusammenstürzenden Türme gesungen und getanzt hatten, die die offizielle Version der Ereignisse leugneten und an eine Verschwörung glaubten. Seit 1995 hatte es auf französischem Boden kein Attentat mehr gegeben, bis 2012 ein 23-jähriger islamistischer Terrorist nacheinander drei junge Soldaten in Zivil tötete, dann, mit der Waffe in der Hand, in eine jüdische Schule eindrang und drei Kinder und einen Lehrer – den Vater von zweien der drei Kinder – kaltblütig erschoss. Zum Gedenken an diese Kinder erklärte ich mich damals bereit, das Amt der Koordinatorin zu übernehmen. Ich war empört über die Unbeweglichkeit des Staates, die Trägheit und Blindheit der Gesellschaft, ich wollte verstehen, wie es zu so einer Tat hatte kommen können. Der Mörder war kein Verrückter und kein Psychopath, sondern ein Großmaul, ein Angeber, der Motorroller klaute, um illegale Straßenrennen zu fahren. Dass ein junger Mann wie er – den die Nachrichtendienste aufgrund seines Profils um ein Haar rekrutiert hatten – fähig war, Gleichaltrige zu ermorden und noch am selben Abend mit seinem Bruder und seiner Schwester Pizza essen zu gehen, dass er dann vier Tage später die Waffe gegen Schulkinder richtete – Kinder, von denen eines noch ein Pausenbrot im Mund hatte –, zeigte, wie grenzenlos die Barbarei war und wie wenig verlässlich man das Risiko einer Bluttat einschätzen konnte. Der Typ war bewaffnet, er hatte über vierundzwanzig Stunden mit den Unterhändlern des RAID und des Inlandgeheimdienstes diskutiert, ohne irgendwelche Anzeichen von Schwäche zu offenbaren oder ans Aufgeben zu denken. Die Tat bestimmte lange die Gespräche in unserer Behörde: Waren uns Fehler unterlaufen, und wenn ja, welche? Es herrschte große Ratlosigkeit, niemand konnte sich einen Reim darauf machen, aber seit diesem Ereignis arbeiteten alle Abteilungen unter Hochdruck.

 

2015 kassierten wir einen Schlag nach dem anderen und bemühten uns nach Kräften, die Organisation der dschihadistischen Netzwerke zu durchschauen. Es war eine sehr schwierige Zeit, weil wir die internen Strukturen neu aufbauen mussten, doch mit der Zeit bekam auch der Umgang mit diesen jüngeren Fallakten mehr Routine. Es begann am 7. Januar 2015 mit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Die Attentäter waren tot, und wir hatten keine Ahnung, wie wir ihre Komplizen finden sollten. Niemand zweifelte daran, dass dies nur der Anfang war … Am nächsten Tag folgte in Montrouge der Mord an einer Polizistin, einen weiteren Tag später die Geiselnahme im Supermarkt Hyper Cacher, bei der mehrere Kunden auf niederträchtige Weise ermordet wurden, bis der RAID schließlich den Supermarkt stürmte. Innerhalb von drei Tagen ging unser Land in die Knie. In jener Zeit erhielten wir Verstärkung durch François, der zuvor als Verbindungsrichter in Spanien gearbeitet hatte. Von da an existierte unter den insgesamt elf Richtern der Behörde ein festes Dreier-Team. Es bestand aus Éric Macri, dreiundfünfzig, Sohn eines Ärztepaars aus Argentinien, das 2012 am Zustandekommen des Ressorts Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgewirkt hatte, Isabelle d’Andigné, fünfzig, die lange im Geschäftsbereich Finanzen gearbeitet und danach als Beisitzerin an zahlreichen Gerichtsverfahren teilgenommen hatte, und mir. Wir standen uns sehr nahe, wir tauschten uns über unsere Ängste und Gefühle aus, wir hatten das Bedürfnis, die außergewöhnlichen Erfahrungen dieser Jahre miteinander zu teilen. Ein paar Monate nach den Ereignissen im Januar 2015, als wir die Lage endlich wieder im Griff zu haben schienen, stürzten uns die Anschläge vom 13. November erneut ins Chaos. Drei IS-Kommandos verübten an einem einzigen Abend in und um Paris eine Serie von Attentaten und Selbstmordanschlägen, bei denen über einhundertdreißig Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Betroffen waren das Stade de France, mehrere Pariser Cafés und der Konzertsaal Bataclan – Symbole des jungen, modernen, offenen, ausgelassenen Frankreichs. Ich weiß noch, wie im Sekundentakt Agenturmeldungen und SMS eintrafen, ich erinnere mich an die apokalyptische Stimmung im Land. Der leitende Staatsanwalt für Anti-Terror-Ermittlungen wurde in Begleitung von Kollegen aus der Abteilung an den Ort des Geschehens geschickt, an die vorderste Front. Als sie von dort zurückkehrten, waren sie zutiefst erschüttert und brachten auch gegenüber den eilig herbeigerufenen Psychologen kein Wort über die Lippen. Einen Monat später betrat ich selbst, zusammen mit François und Isabelle, das Bataclan … Die Polizei hatte den Ort versiegelt, aber immer noch klebte überall Blut.

An einem solchen Ort hast du kaum einen Fuß über die Schwelle gesetzt, da überfallen dich sofort Bilder eines grauenhaften Gemetzels: Der Tod ist zum Greifen nahe, er dringt in dich ein, bohrt sich in dein Inneres. Du gehst da rein, gefangen in deiner eigenen Geschichte, deiner sozialen und politischen Identität; dann gehst du wieder raus und begreifst, dass du unwiderruflich deformiert und kontaminiert bist. Du wirst nie wieder dieselbe sein.

 

Die Geschichte der Gewalterfahrung unseres Landes schrieben wir als Kollektiv. Als Anti-Terror-Einheit versuchten wir dagegenzuhalten, uns als reaktionsschnell und leistungsfähig zu erweisen, aber wir waren angeschlagen. Nach 2015 wurde wirklich alles mit juristischen Mitteln verfolgt. Bei jeder Ausreise nach Syrien wurde überprüft, ob die betreffende Person mit Straftätern in Verbindung stand und möglicherweise einen Terrorakt plante. Es wurde nicht lange gefackelt. Der Staat differenzierte nicht mehr, die Präventivmaßnahmen trafen unterschiedslos alle Bürger und man hätte fast Rachegelüste dahinter vermuten können. Jugendliche wurden ebenso verhaftet wie Erwachsene, man lebte in steter Furcht und Sorge, kaum einem aus unserer Abteilung gelang es noch zu schlafen. Wir erwachten mit Angst im Bauch und gingen mit Beruhigungsmitteln ins Bett.

Gewissenskonflikte waren an der Tagesordnung. Nach jedem Attentat führte ich in meinem Büro Gespräche mit den Angehörigen der Opfer. Sie wollten die Schuldigen bestraft wissen, doch die lebten meistens nicht mehr. Um ihr Verlangen nach Gerechtigkeit zu befriedigen, behielt ich, manchmal über Jahre hinweg, Menschen in Haft, deren einziger Fehler es war, irgendwann einmal einen losen, ungewissen Kontakt zu den Tätern gehabt zu haben. Tat ich damit der Gerechtigkeit Genüge? Ich erklärte den Opferfamilien, die Einstellung des Verfahrens sei einem Freispruch am Ende eines jahrelangen, außerordentlich belastenden Prozesses vorzuziehen. Ich wagte nicht, ihnen zu sagen, dass die Verurteilung eines Unschuldigen ihren Schmerz nicht lindern würde.

Doch die Angehörigen der Opfer wollten auf einen Schuldspruch nicht verzichten, und ihr abschließendes Verdikt lautete jedes Mal: Wenn Sie diese Leute freilassen, ist das so, als wäre der Mensch, den ich liebe, umsonst gestorben.

In neunzig Prozent unserer Streitsachen ging es um den islamistischen Terror, dessen Propaganda die Schwächen unserer Gesellschaft auszunutzen wusste, aber es gab auch weiterhin Terroristen aus der rechtsradikalen und linksradikalen Szene. Über unseren Köpfen schien eine permanente Bedrohung zu schweben. Sobald ein Anschlag verübt wurde, riefen wir Richterinnen und Richter uns gegenseitig an: Was glaubst du, wer das war? Wir suchten nach Informationen über den Täter, wollten wissen, ob er den Ermittlern bekannt war, ob eine oder einer von uns ihn schon befragt hatte. Dahinter steckte die Angst, dass wir einen potenziellen Täter womöglich nicht rechtzeitig festgesetzt hatten.

Generaldirektion für Innere Sicherheit

4. Januar 2015, 14.34 Uhr

 

Ich heiße Meriem Kacem, geborene Benachour.

Ich bin am 3. Juli 1966 in Algier geboren.

Ich bin französische Staatsangehörige.

Ich arbeite im Rathaus von Bondy in der Kantine.

Mein geschiedener Mann ist Herr Kacem, Farid, verstorben.

Ich habe fünf Kinder: Mohammed, dreißig Jahre, Kader, achtundzwanzig Jahre, Anissa, fünfundzwanzig Jahre, Mehdi, siebzehn Jahre und Abdeljalil, einundzwanzig Jahre.

Mein Sohn Abdeljalil ist seit dem 30. Dezember 2014 verschwunden, zusammen mit seiner Frau Sonia Dos Santos. Ein paar Tage vorher hat er seinem großen Bruder Mohammed gesagt, dass er nach Syrien will. Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert ist. Er hat sich in den letzten Wochen ziemlich merkwürdig verhalten.

 

Frage: Sind Sie gläubig?

Antwort: Ich bin gläubige Muslimin. Abdeljalil geht seit ungefähr einem Jahr immer öfter in die Moschee.

Ich habe nichts kommen sehen, bis ich in seinen Sachen Flugtickets nach Istanbul gefunden habe.

Er hat mir erzählt, was in Syrien los ist, dass Baschar al-Assad sein Volk umbringt und Frankreich nichts dagegen tut. Frankreich bekämpft die Muslime, sagt er, und dass er seine Religion hier nicht so leben kann, wie er will.

Einmal hat er verkündet, es wäre sein großer Traum, in einem muslimischen Land zu leben.

Ich muss sagen, mit Abdeljalil war es nicht immer ganz leicht. Sie haben mir das Sorgerecht entzogen, wegen seinem Vater, der sehr gewalttätig war, aber ich habe es wiederbekommen, als ich mich von ihm scheiden lassen habe. Er ist ein guter Junge, allerdings hatte er als Jugendlicher große Probleme, er war verhaltensauffällig. Er kam in eine Pflegefamilie. Von da an wurde es immer schwieriger mit ihm. Später hat er dann wieder bei mir gelebt. Und irgendwann Sonia Dos Santos geheiratet, die beiden haben bis zu ihrer Abreise bei mir gewohnt.

 

Frage: Wissen Sie, mit wem Ihr Sohn Umgang hat?

Antwort: Er war mit Typen unterwegs, die ihn zum Stehlen und Dealen verleitet haben, aber dann hat er sich plötzlich verändert. Er wurde fromm und frommer und freundete sich mit Leuten an, die ihm den Kopf verdreht haben.

 

Frage: Wovon hat er seinen Lebensunterhalt bestritten? Hat er gearbeitet?

Antwort: Er übernahm immer mal wieder kleinere Jobs. Einmal hatte er eine Stelle in so einem Verein, wo er sich um junge Behinderte kümmerte. Aber seit einer Weile lebt er von Sozialhilfe.

 

Frage: Glauben Sie, dass Ihr Sohn sich in Syrien dem Islamischen Staat angeschlossen hat?

Antwort: Das weiß ich nicht.

 

Frage: War er ein Kämpfer?

(Anmerkung: Bei dieser Frage lächelt Madame Benachour.)

Antwort: Nein, nein … mein Sohn könnte keiner Fliege was zuleide tun.

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Das Leben konfrontiert uns alle mit persönlichen Krisen. In meinem Leben sind es zwei auf einmal: eine Liebesgeschichte und das Attentat.

 

Inmitten der allgemeinen Erstarrung nach 2015 hatte ich eine Affäre. Ich war seit fünfundzwanzig Jahren mit Ezra Halevi verheiratet, einem Schriftsteller. Wir hatten drei Kinder zusammen, Milena, dreiundzwanzig, und unsere zwölfjährigen Zwillinge Marie und Élie. Nach außen hin waren wir ein Vorzeigepaar. Wir machten einen harmonischen, zufriedenen Eindruck, wir gingen locker und ungezwungen miteinander um. Auf den ersten Blick sah niemand, wie weit der Prozess der Auflösung schon fortgeschritten war. Ezra thronte unter uns mit der patriarchalen Selbstverständlichkeit eines Mannes, der seinen wertvollen Beitrag zum Aufbau des Familiengebäudes bereits geleistet hat. Von ferne wirkten wir stabil, friedfertig – und in einer latent unsicheren Welt hat das Beständige durchaus seinen Charme –, aber auf den zweiten Blick war nicht zu übersehen, dass alles bröckelte. Am Ende verriet uns Ezras Unterbewusstsein. Seinem letzten Roman stellte er als Motto einen Satz von Giono voran: »Nichts ist wahr. Nicht einmal ich selbst, auch nicht meine Familie oder meine Freunde. Alles ist unecht.«

 

Doch es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der alles echt war. Wir lernten uns Anfang der 1990er-Jahre in Bordeaux kennen. Ich studierte an der Nationalen Richterschule, und Ezra schrieb an seinem zweiten Roman. Was politische Ausrichtung oder Herkunft betraf, existierten zwischen mir und Ezra keinerlei Schnittmengen – seine Eltern waren osteuropäische Juden, die in den Siebzigern das Konsumdenken gegen die Religion in ihrer dogmatischsten Form eingetauscht hatten –, dennoch war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte alles, was mir gefiel, literarische Bildung, Talent und Humor, aber als orthodoxe Juden missbilligten seine Eltern unsere Verbindung, und das ging so weit, dass sie uns jahrelang nicht zu sich einluden, weil ich keine Jüdin war. Ich hatte gerade meine erste Stelle in Südfrankreich angetreten, als Ezra für seinen Roman Rohe Kraft den Prix Goncourt erhielt. Er erzählte darin, wie er sich als Zwanzigjähriger von seiner jüdischen Umgebung abgenabelt hatte. Von diesem Buch wurden fast 500 000 Exemplare verkauft, und es wurde in vierzig Sprachen übersetzt. Im Anschluss an die Preisverleihung reiste Ezra um die Welt, allein und offen für alle Verlockungen (auch die erotischen, wie ich später herausfand, was er jedoch leugnete, und da ich gerade ein Kind geboren hatte, beschloss ich, ihm zu glauben). Er verschwand praktisch aus unserem Leben und überließ mich mir selbst mit unserer ältesten Tochter. Zwei Jahre lang reiste er umher, und als er zurückkam, überhäuft mit Ehren und mit stolzgeschwellter Brust, kaufte er in der Nähe des Waldes von Fontainebleau ein abgelegenes Haus und fing endlich wieder an zu schreiben. Diesmal allerdings ohne Erfolg, denn er war nervös, fühlte sich leer und nutzlos, Selbstzweifel und Versagensängste nagten an ihm. Wonach suchte er? Ihm fiel nichts ein, ihm sollte nie mehr etwas einfallen, denn durch den Erfolg in allzu jungen Jahren war ihm etwas abhandengekommen – nicht der Ehrgeiz, sondern die innere Dynamik, die das Schreiben befeuert. Er wusste nicht mehr, wie er dieses innere Feuer, diesen Ärger/Zorn/Kummer anfachen sollte. Der Erfolg und das Geld hatten ihn befriedet. Er hatte nach seinem Literaturpreis von etwas anderem geträumt, von einer Art Selbstbestätigung, aber seine Hoffnungen wurden enttäuscht. Alle weiteren Bücher, die er schrieb, verrissen die Kritiker mit kategorischen Urteilen wie: »Ezra Halevi wird auf ewig der Autor eines einzigen großen Romans bleiben.« Seitdem betrachtete er sich als das Opfer einer Hetzjagd mit antisemitischen Untertönen und kam nicht mehr ohne Tranquilizer aus. Allen, die ihn nach seinem Beruf fragten, antwortete er: »Ich bin Hausmann«, aber unter der kühlen Ironie brodelte der Ärger darüber, dass er für seine beträchtlichen Anstrengungen unterm Strich nur die Undankbarkeit seiner Familie und das Desinteresse der Gesellschaft geerntet hatte. Er verbrachte viel Zeit vor dem Computer und war unter dem Benutzernamen Jean500 in den sozialen Netzwerken unterwegs, wo er zynische Kolumnen und bissige Kommentare über jüngere, bekanntere Buchautoren veröffentlichte und das elitäre Gehabe der Literaturszene geißelte. Er übte scharfe Kritik und träumte insgeheim davon, noch dazuzugehören. Sein autoritäres Auftreten hatte ihm sage und schreibe sechzigtausend Follower eingebracht. An zwei Wochenenden pro Monat fuhr er zu Literaturfestivals irgendwo in der Provinz. Aus meiner Sicht tat er das nur, um uns, seiner Familie, aus dem Weg zu gehen, um sich in Ruhe zu betrinken, ohne sich Vorwürfe anhören zu müssen, und um mit Frauen ins Bett zu gehen, die sich vom Nimbus des Schriftstellers verführen ließen und sich gern öffentlich mit ihm zeigten, auch wenn sein Stern mittlerweile verblasst war.

 

Unsere schwerwiegenden Eheprobleme fingen an, als wir uns ein paar Jahre nach Milenas Geburt für ein zweites Kind entschieden. Nachdem ich auf natürlichem Wege nicht schwanger geworden war, unterzogen wir uns einer Kinderwunschbehandlung – erduldeten träfe es vermutlich besser. Wer jemals einen derartigen Hindernislauf hinter sich gebracht hat, weiß, wovon ich spreche. Jeden Morgen musste ich meine Körpertemperatur messen, um den exakten Termin des Eisprungs zu bestimmen, und unsere sexuellen Aktivitäten darauf abstimmen, musste mir vorstellen, wie mein Ehemann vor Pornoheftchen masturbiert und sein Sperma in einem Röhrchen auffängt … Unsere gesamte Sexualität fand auf einmal unter ärztlicher Aufsicht statt, alle Anstrengungen richteten sich darauf, ein Kind zu produzieren. Eine In-vitro-Befruchtung nach der anderen schlug fehl, bis sich eines Tages endlich das Wunder ereignete: Ich erwartete Zwillinge. Ich hätte mich freuen sollen, aber ich war mit den Nerven am Ende. Die Schwangerschaft erlebte ich als eine einzige Qual, der Arzt hatte mir eine Cerclage und sechs Monate strenge Bettruhe verordnet. Die Babys kamen zu früh zur Welt und litten unter einem Atemnotsyndrom, wir fürchteten sie zu verlieren und hielten wochenlang in der Kinderklinik Wache. In dieser Zeit kehrte Ezra in den Schoß der Religion zurück, erst zögerlich, dann immer ernsthafter und wirrer. Er fing an, mit der Schrift in der Hand vor den Kinderbettchen zu beten, er besuchte die Synagoge und schob Talismane und Fotos von Rabbinern unter die Matratzen der Zwillinge. Ihre Geburt hatte ihn abergläubisch gemacht. Als die Babys nach Hause durften, befestigte er als Schutzmaßnahme am