Die Zeit dreht sich in Kreisen - Brigitte Buttmann-Simon - E-Book

Die Zeit dreht sich in Kreisen E-Book

Brigitte Buttmann-Simon

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Beschreibung

Zwei Frauen, beide 1785 geboren, mitten im Zeitalter der Vernunft. Eine ist die in Bremen weitgehend bekannte Giftmörderin Gesche Gottfried. Die andere eine Engländerin, Maria Graham, eine der ersten Entdeckerinnen Lateinamerikas. Während Maria, die einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammt, eine ausgezeichnete Erziehung erhält und als junge Frau nach Indien, nach Chile, Brasilien und durch Europa reist, darf Gesche als Tochter eines einfachen Schneiders nur die Kirchspielschule besuchen und ist nie über die Norddeutsche Tiefebene hinausgekommen. Zwei Leben, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, und doch haben die beiden Protagonistinnen eines gemeinsam. Sie sind eingezwängt in das Korsett von Konventionen und Geboten, das ihnen die Gesellschaft ihrer Zeit auferlegt hat. Beide versuchen sich daraus zu befreien: die eine reist, die andere mordet ...

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Zwei Frauen, beide 1785 geboren, mitten im Zeitalter der Vernunft. Eine ist die in Bremen weitgehend bekannte Giftmörderin Gesche Gottfried. Die andere eine Engländerin, Maria Graham, eine der ersten Entdeckerinnen Lateinamerikas. Während Maria, die einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammt, eine ausgezeichnete Erziehung erhält und als junge Frau nach Indien, nach Chile, Brasilien und durch Europa reist, darf Gesche als Tochter eines einfachen Schneiders nur die Kirchspielschule besuchen und ist nie über die Norddeutsche Tiefebene hinausgekommen. Zwei Leben, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, und doch haben die beiden Protagonistinnen eines gemeinsam. Sie sind eingezwängt in das Korsett von Konventionen und Geboten, das ihnen die Gesellschaft ihrer Zeit auferlegt hat. Beide versuchen sich daraus zu befreien: die eine reist, die andere mordet...

Brigitte Buttmann-Simon wurde 1946 in Lübeck geboren. Als Lehrerin für Deutsch und Spanisch hat sie viele Jahre in Bremen gearbeitet, wo sie bis heute lebt. Sie ist mit einem chilenischen Musiker verheiratet und mit der Stadt Valparaíso, wo sich ein großer Teil der Geschichte ereignet, eng verbunden.

Inhaltsverzeichnis

Bremen, 1785

Cockermouth 1785

Valparaíso 1785

Bremen 1793

1793 Douglas, Isle of Man

Valparaíso 1793

Bremen 1804

London 1804

Valparaíso 1804

Bremen 1814

Schottland 1814

Valparaíso 1814

Bremen 1822

Rio de Janeiro 1822

Valparaíso 1822

Bremen 1828

London 1828

Valparaíso 1828

Bremen 1831

London 1835

Valparaíso 1835

Bremen 1840

Valparaíso 1993

London 2008

Bremen 2008

Bremen, 1785

Bremen ist eine ernste, gescheuerte Stadt, mit Linden bäumen vor den Häusern, sonst ziemlich nackt und kahl gelegen, in einer Sandwüste, unter Rüben und Braunkohl. (Johann-Günther König)

Das Wasserrad an der alten Weserbrücke schaufelt seit mehr als dreihundert Jahren kostbares Nass aus dem Fluss. Behäbig knarrend dreht es sich mit Strom und Lauf der Zeit, gießt Wasser, in dem wohl auch mal Lachse schwimmen, in einen hölzernen Behälter und verteilt es durch unterirdische Rohre in die Stadt. -Publica Commoda Ducit - hat man kürzlich am Gehäuse anbringen lassen, es bringt öffentlichen Vorteil. Die Öffentlichkeit, das sind hier ungefähr 200 Haushalte, wo abends die Kandelaber angehen und das Personal erlesenes Tafelsilber putzt, bevor die Gäste kommen. Die Ärmsten der Stadt, die in den Gottesbuden hausen, feuchte Keller, düstere Gänge oder Hütten aus brüchigem Holz, gehören nicht dazu.

Johann Timm wohnt dort, wo die Straßen enger, wo die Häuser kleiner werden. Er ist Schneidermeister, hat sich emporgenäht. Fleiß und Sparsamkeit haben ermöglicht, dass er nun endlich dreitausend Reichstaler zusammenzählen kann, ein kleines Vermögen. Wer dieses vorweisen kann, erhält das Bürgerrecht, darf den Bürgereid schwören, gehört nicht mehr zur Unterschicht.

Vor über zehn Jahren hatte Johann Timm, damals hieß er Johannes Demme, seinem Heimatdorf in Hessen den Rücken gekehrt. Er wollte nicht in den Soldatenrock gepresst und nach Amerika verschifft werden. Sein Landesvater, Friedrich II von Hessen-Kassel, verhökerte seine Untertanen an die englische Krone, die Soldaten brauchte, um wider die aufständischen Amerikaner zu kämpfen. Eigentlich ist Ihro herzogliche Gnaden bekannt als Förderer der schönen Künste. Er huldigt bisweilen auch den neuen Ideen der Aufklärung, aber das Hofleben in der Residenz ist teuer. Die Festbankette, die Jagdpartien und Maskeraden, Feuerwerke, Tanz und kostspielige Mätressen verschlingen gewaltige Summen, reißen bodenlose Löcher in die Staatskasse, die immer wieder gestopft werden müssen. Und da man dem Volk keine neuen Abgaben auferlegen kann, es stöhnt ja sowieso schon unentwegt unter den alten, ist man dazu übergegangen, dessen Söhne zu verkaufen, ein einträgliches Geschäft, das ohne großes Zutun funktioniert, da sich die Ware ja von allein vermehrt. Der Verkauf von 12 000 Hessensöhnen bringt jährlich 450 000 Taler ein. Das zahlt sich aus.

Johann Demme machte sich auf den Weg, noch bevor die Werber des Landgrafen in sein Dorf kamen. Er hatte schon gehört, dass diese nicht nur warben. Wer den Soldatenrock nicht freiwillig anziehen wollte, wurde zum Dienst gepresst. Seine Flucht aus dem Heimatdorf war lang und mühevoll. Er zählte weder die Tage, noch die Wochen oder gar Monate. Er wanderte in Richtung Norden, meist nachts, wenn nur der Mond den Weg ihm wies und er gewiss sein konnte, dass ihm kein Häscher über den Weg lief. Es war ja eine wahre Treibjagd auf alle waffentauglichen Männer im Gange. Tagsüber wartete er reglos hinter Büschen und Sträuchern auf die nächste Nacht, die ihn umfing und schützte, still und verschwiegen. Nur wenn ihm das Brot ausging, verdingte er sich als Wanderschneider auf abgelegenen Bauernhöfen, richtete sich in der Scheune ein oder in der Küche und nähte mit flinker Nadel für Wasser, Brot, ein Stück Speck und zuweilen einen Humpen Bier.

Als die wuchtigen Mauern der Hansestadt Bremen ihn endlich umfingen, hatte er seinen wahren Namen fast schon vergessen. Er nannte sich nun Timm, heiratete eine unbescholtene Bürgerin der Stadt, eine Wollnäherin, und die sanften Gebirge, die dichten Wälder seiner hessischen Heimat waren bald vergessen.

Als Timms Frau im März dieses Jahres 1785 niederkommt, klatscht Regen gegen die trüben Fensterscheiben. Der Frühling hatte sich gerade zaghaft angekündigt. Im Hinterhof des kleinen Häuschens am Jacobikirchhof, zwischen Gerümpel, Steinen und alten Fässern schon das erste Grün. Eine Ranke umschlingt die brüchige Mauer, zu deren Füßen Timms Frau in mühevoller Pflege und nicht enden wollender Zuversicht ein Kräuterbeet angelegt hat. Wilder Wermut, Fingerkraut und Pfefferminz für die Hausapotheke. Und für die Küche Estragon, Petersilie, Kressekraut und den genügsamen Bärlauch, der noch vor den ersten Schneeglöckchen aus dem Boden sprießt.

Zur Geburt der Kinder, die Hebamme hatte schon angekündigt, dass es zwei werden würden, werden vier Eier gekocht, fast fünfzehn Minuten lang. Das nun kalkhaltige Wasser trinkt Frau Timm in kleinen Schlückchen. Die Hebamme hatte einige Tröpfchen Tollkirschensaft hineingeträufelt, das soll die Verkrampfung lösen und den Wehenschmerz mildern. Die Wehen kommen jetzt regelmäßig, in immer kürzeren Abständen, und trotz Tollkirschensaft und der aufmunternden Worte der Hebamme ist der Schmerz unerträglich. In den kurzen Pausen, in denen Frau Timm aufatmen kann, weiß sie schon, dass er gleich wiederkommen würde, unerbittlich, immer heftiger, kaum auszuhalten.

Draußen regnet es in Strömen. Die Haustür wird geöffnet und schlägt krachend wieder zu. Das Leben geht weiter. Timm hatte sich auf ein Kind eingestellt und nicht auf zwei zur gleichen Zeit. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, werden gewaschen, gewickelt und zu zwei Bündeln fest verschnürt. Sie sollen gerade heranwachsen, mit festem Rückrat.

Nach einer Stunde steht die Mutter wieder auf und geht in die Küche, schwankt, hält sich an der Tischkante fest und sinkt erschöpft auf einen Stuhl. Die plattierten Zierteller im Büffet, verschiedene Gläser für Bier und Wein, im Keller genügend Korn und Kartoffeln. Von Wohlstand war nicht die Rede, aber man hatte sein Auskommen. Wie würde das nun werden mit zwei Kindern? Frau Timm geht zurück in die Schlafstube und betrachtet die beiden Bündel. Als das Mädchen kam, hatte sie sich gefreut, es würde ihr später zur Hand gehen, als dann kurz danach der Junge ihren Leib verließ ... nun ja, er würde eben dem Vater helfen. Timm hatte sich sowieso einen Sohn gewünscht.

Die Kinder verziehen ihre kleinen Gesichter, sie schmatzen und blinzeln. Ich muss sie anlegen, für zwei reicht es aber nicht. Timm muss eine Amme besorgen.

Draußen ist es dunkel geworden und der Regen klatscht immer noch gegen die Fenster. Irgendwo rumpelt eine Kutsche vorbei. In den großen Häusern gehen die Kandelaber an, werden die Speisen aufgetragen. Frau Timm trinkt einen Schluck Wasser. Dann nimmt sie den Jungen und gibt ihm die Brust.

Wenig später kommt Timm mit der Amme, eine ungestüme, hitzige Frau, die das Mädchen anlegt. Über die Amme ist ein Zeugnis vorhanden, „dass sie sehr heftiger Gemütsart gewesen sei und schon einmal im Zuchthaus gesessen habe.“ Gesche behauptet später, dass diese Amme ihr mit ihrer Milch das Böse eingegeben hat.

Ins Taufregister, das seit einiger Zeit im ehrwürdigen Rathaus geführt wird, werden Johann Christof und Gesine Margarete Timm eingetragen.

Cockermouth 1785

Der deutsch - britische Musiker und Astronom Wilhelm Herschel entdeckt einen neuen Planeten, neue Galaxien, Sternhaufen und kosmische Nebel.

Zwei Flüsse durchkreuzen die kleine Stadt, Lebensadern, Verkehrs- und Handelswege. Unermüdlich treiben sie die an ihren Ufern errichteten Wassermühlen an. Drei Kirchen kann Cockermouth aufweisen, außerdem eine Schule und ein Armenhaus, in dem bedürftige Witwen unter der Knute des Reverends ein trostloses Dasein fristen.

Das Land um Cockermouth zieht sich in sanften Wellen dahin, umgeben von Hügeln, durchbrochen von Sumpfland, an dessen trügerischen Rändern Torfmoos und Besenheide wuchern. Schafherden durchqueren die Weiden, auf denen sich unzählige, mühsam errichtete Mauern aus Trockenstein schlängeln. Die Bauern, die auf ihren winzigen Parzellen Hafer, Roggen und Gemüse anbauen, sind ihrem Gutsherrn verpflichtet. Bevor sie ihre eigene Erde bearbeiten, müssen sie für ihn Torf stechen, seine Felder bestellen und im Herbst sein Getreide einfahren. Es ist ein armseliges Leben und so hat manch ein Landmann Egge und Pflug gegen Webstuhl und Spinnmühle eingetauscht. Ein schlechter Tausch.

Auch die Arbeit in der Wollmanufaktur rechnet sich nicht. Es würde kaum zum Überleben reichen, wenn nicht auch die Frauen und Kinder von Sonnenaufgang bis in den späten Abend hinein Flachs und Wolle spännen.

Eine Meile nordwestlich von Cockermouth, wo sich die beiden Flüsse der Stadt schon vereinigt haben und in die Irische See münden, stehen die Reste einer alten römischen Wachanlage. Hier, in Papcastle, kommt am 19. Juli Maria Graham auf die Welt. Es ist ein ungewöhnlich kühler Sommertag. Es hat viel geregnet in den letzten Tagen, doch nun zerteilt der Wind die Wolken und die Sonne kommt durch. Marias Mutter schaut wie so oft durch das Fenster hinunter auf die Mole, wo die Fischer ihre Holzboote überprüfen. Jeden Abend geht es hinaus auf die Jagd nach Hering und Makrele. Oft bitten die Fischer die junge Frau vor dem Auslaufen auf hohe See um ihren Segen. Marias Mutter ist sehr fromm, eine schmale, zarte Frau, fast zerbrechlich.

Sie ist häufig krank und zieht sich dann zurück in das Reich ihrer Träume, weit weg von dieser rauen, nebelumfangenen Insel, auf die sie ihrem Mann gefolgt ist. Marias Vater dagegen, Lord Dundas, Konteradmiral der Blauen Flagge, steht mit beiden Beinen fest auf den Planken der Schiffe, die er befehligt. Er hat im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Aufständischen gekämpft. Insgeheim hegte er gewisse Sympathien für die Insurgenten, die sich der Freiheit und der Vernunft verschrieben hatten. Ihr Ruf nach Unabhängigkeit von der englischen Krone klang durchaus verführerisch. Das gekünstelte Leben am Hof war sowieso nichts für ihn, das Leben in der Neuen Welt erschien ihm ungebundener, großzügiger, freier. Dennoch, er segelte für seinen König George und solange er nicht an dessen Hofe dienern muss, ist Lord Dundas zufrieden mit seinem Leben.

1783 war er nach harten Kämpfen aus der Neuen Welt zurückgekehrt. An seiner Seite eine junge, schöne Frau aus Virginia, die er kurz vor der Kapitulation der britischen Streitkräfte geheiratet hatte. Die Ehe ist nicht standesgemäß, Ann Thompson kommt aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die im Tabakhandel ihr Geld gemacht hat, während Marias Vater dem altehrwürdigen schottischen Adelsgeschlecht der Dundas of Dundas entstammt. Doch die Tochter des Tabakhändlers, (der als treuer Royalist nach der Kapitulation der königstreuen Truppen mit seiner Frau ebenfalls nach England ging), war außergewöhnlich schön und hatte eine zauberhafte Stimme, mit der sie wohl auch sein Herz betörte. Hier in Papcastle wird sie „die Nachtigall aus Virginia“ genannt.

Als Maria geboren wird, ist ihr Vater auf hoher See. Nach seinem Einsatz gegen die aufständischen Amerikaner befehligt er nun ein Patrouillenboot, das auf der Suche nach Schmugglern die unwegsamen Küsten von Schottland und Irland entlangsegelt. Die Mutter ist viel allein mit der kleinen Tochter. Bei rauer See dauert es oft Wochen oder Monate, bis ihr Mann wieder zu Hause ist. Dann versucht sie ihrem kleinen Garten etwas abzugewinnen. Mit Hilfe der Köchin hat sie Gemüse, Kräuter und Blumen angepflanzt. Oft denkt sie mit Wehmut an die unbegrenzte Weite ihres Heimatlandes, wo sich die Felder bis zum Horizont hinziehen, wo selbst die Häuser in den Städten von Bäumen und Büschen oder Gärten umgeben sind. Ihre Eltern sieht sie nicht mehr.

Und wenn sich bei Unwetter das Meer gewaltig aufbäumt und der Wind die Wogen bis an das Fundament des Hauses peitscht, versenkt sich die junge Frau aus Sorge um ihren Mann in die Bibel.

Die Geschichten der Evangelien, Psalmen und Gebete sind die ersten literarischen Zeugnisse, mit denen Maria in Berührung kommt.

Valparaíso 1785

Vor Perücke und Seidenfrack waren die Ströme, Ströme arterienhaft, waren die Kordilleren, auf deren kahler Welle der Kondor und der Schnee unbeweglich schienen: war die Feuchte und das Dickicht, der noch namenlose Donner, die Planetensteppen. (Pablo Neruda)

Aliamapa oder Alimapu, verbrannte Erde, nannten die Chango -Indianer ihr Land, ein böses Omen, denn keine andere Stadt in diesem südlichen Teil der Neuen Welt ist so oft von verheerenden Bränden heimgesucht worden wie diese, die hier in der Bucht von Quintil langsam entsteht.

Wie ein dünner Streifen zieht sich das Land zwischen Bergen und Meer dahin, an manchen Stellen so schmal, dass kaum ein Weg sich zwischen den Wellen des tosenden Ozeans und dem Fuß der Berge hindurchschlängeln kann. Wo es breiter wird, wachsen wilde Mandelbäume, Quillay und der aromatische Culén, dessen gekochte Blätter wahre Wunder wirken. Sie senken Fieber, heilen Wunden, regen den Appetit an und vertreiben böse Geister. Die Indianer nehmen in Ehrfurcht an, was die Erde ihnen bietet: Samen für ihr Mehl, das Blatt der Königspalme für die Dächer ihrer Hütten, Kürbis, Mais und die Kartoffel, die nach zweihundert Jahren Spott und Missachtung inzwischen auch in den Küchen Europas Einzug gehalten hat. Die Pacha Mama, die Mutter Erde, ist heilig. Sie bestimmt den Lauf der Flüsse, den Wechsel zwischen Tag und Nacht und die Bahn der Vögel, die sich aufschwingen, um zwischen Ozean und schneegekrönter Kordillere hin und her zu gleiten, als wollten sie ein Netz spinnen. Der erste Schluck Wasser, der erste Bissen einer Mahlzeit werden ihr dargebracht. Zwischen Felsen und Gesteinsbrocken, die weit ins Meer hineinragen, haben sich kleine Seen gebildet. Hier ist das Wasser sanft und glasklar, hier sammeln die Menschen von Aliamapa Seeigel, Muscheln und andere Meeresfrüchte, denen eine aphrodisische Wirkung nachgesagt wird.

Und wenn die Wellen sich beruhigt haben, wenn der Ozean funkelt und glänzt im Sonnenlicht, fahren sie hinaus in ihren Booten aus Seelöwenhaut und machen Jagd auf Meeraal und Goldbrassen.

Die Chango-Indianer haben die harten Winter ausgehalten, wenn der Regen unaufhörlich hernieder prasselt und das Meer in eine wütende, graue Masse verwandelt. Sie haben den Winden getrotzt, die in die Bucht fegen und die Wellen über das Ufer peitschen. Sie haben Erdbeben überstanden, Seebeben und Hungersnöte, den spanischen Konquistadoren aber, den Engländern und all den anderen Glück und Reichtum Suchenden aus der Alten Welt konnten sie sich nicht widersetzen.

Wie eine mächtige, ungebändigte, alles verschlingende Woge überfielen die uniformierten und seidenbefrackten Eroberer das Land, rammten ihr christliches Kreuz in die Erde und nahmen es in Besitz.

Und mit den ersten Europäern kam die Axt in die Bucht von Alimapu. Unerbittlich wurden nun die Bäume geschlagen. Wo einstmals Wälder standen, wo die immergrünen Peumos und Maitenes wuchsen, zieht sich Gestrüpp oder nackte Erde die Hügel hoch. Es entstehen armselige Hütten, Ställe und schwankende Stege über den Bächen, die im Winter, wenn es häufig regnet, zu reißenden Wasserläufen anschwellen.

Eine Kirche wird gebaut – und zwar als erstes – eine wuchtige Festungsanlage zum Schutz gegen Piraten, ja, sogar eine Schule, in der die harte Hand der Priester regiert. Zweihundertfünfzig Jahre nachdem der spanische Eroberer Juan de Saavedra das Tal in Angedenken an seinen Geburtsort Valparaíso – paradiesisches Tal – taufte, hat der Ort etwas über 2000 Einwohner. Sie bauen Mais an, pflanzen Obstbäume und versammeln sich einmal im Monat unten am Hafen und warten auf das Schiff aus Callao, das ihnen nicht nur die ersehnten Nachrichten aus der Heimat bringt, sondern auch Waren, die es hier in dieser gottverlassenen Gegend nicht gibt: feine Tuche aus England, Waffen und Messer aus Toledo, Nägel, Zucker, Reis und für die wenigen, die des Lesens kundig sind, Bücher und Zeitungen.

Inzwischen ist auch ein bescheidenes Kloster errichtet worden, und – da die Piraten mit dem Anwachsen der Siedlung noch dreister die Meere durchpflügen – zwei weitere Festungsanlagen.

Die martialischen Schanzwerke tragen heilige Namen: San José, San Antonio, La Concepción – Heiliger Josef, Heiliger Antonius, Die unbefleckte Empfängnis –.

Klerus und Kanonen haben in dieser armseligen Siedlung das Sagen. Die Besitztümer der Kirche greifen weit ins Land hinein und jedes Schiff, das den Hafen anläuft oder verlässt, hat einen Altar und mindestens einen Geistlichen an Bord.

Bremen 1793

... das Böse kennen ist des Bösen Anfang schon. (Friedrich Rückert)

Unten an der Schlachte ein geschäftiges Treiben, rastlos und rege. Kisten und Kästen werden auf die Schiffe verladen, Fässer und Tonnen über Stege gerollt. Waren werden inspiziert, gewogen, bewertet, gekauft und wieder veräußert. Bis hierher gehen Ebbe und Flut. Die Luft riecht nach Salz und Teer. In den Speichern und Magazinen lagern Handelsgüter aus der ganzen Welt. Häute, Kaffee und Tabak aus Südamerika. Zucker und Kakao von den Indischen Inseln, Gewürze, Kork und Hanf. Flussaufwärts ziehen die Güter bis hin zum Wesergebirge. Flussabwärts kommen Holz und Eisenwaren, Salz, Flachs und Steine aus dem Solling, der sich dicht bewaldet zwischen Weser und Leine erstreckt. Die Waren kommen und gehen. Und wenn sich Taler und Groschen vermehren in dieser Stadt, hat das alles seinen Sinn.

Als Gesche und ihr Bruder drei Jahre alt sind, erwirbt der Vater ein Wohnhaus in der Pelzerstraße. Hier sind die Häuser solide, die Straße ist gepflastert und nachts beleuchtet. Nicht weit entfernt, in der Katharinenstraße, wohnen Professoren und Doktoren, Handelsherren und ein Buchhändler. Und im Palatium, dem Dom gegenüber, residiert sogar der Vertreter des Kurfürstentums Hannover, Adolf Freiherr von Knigge. Man befindet sich hier also schon in ganz guter Gesellschaft.

Selten sitzen die Timms abends oder am Sonntagnachmittag wie die Nachbarn auf ihren Beischlägen, steinerne Bänke vor den schmalen Häuschen, die spitzgiebelig nach oben ragen, denn Müßiggang ist aller Laster Anfang. Der Vater singt bei Tagesanbruch sein frommes Morgenlied und dann nähen die Timms mit flinker Nadel den ganzen Tag, verschließen abends um neun die Haustür und gehen sonntags in die Kirche, er in die reformierte, sie in den lutherischen Dom.

Damit sich auch Gesche und Johann von klein auf an Regelmäßigkeit, Fleiß und Ordnung gewöhnen, werden sie schon mit vier Jahren in die Kinderschule zur Jungfer Pothas geschickt. Hier lernen sie in der düster getäfelten Diele eines kleinen Hauses an der Domsheide mit fünfzehn anderen Kindern zunächst einmal stillsitzen. Es werden biblische Geschichten vorgelesen, Buchstaben nachgemalt, erste einfache Wörter geschrieben. Und wenn Jungfer Pothas den Jungen eine Hand voll Bohnen auf den Tisch legt um ihnen damit die erste Einführung in das Rechnen zu geben, bekommen die Mädchen Garn und Stricknadeln vorgelegt. Gesche möchte das Gleiche lernen wie die Jungen. Ungeschickt schiebt der Bruder drei Bohnen zur Seite, fügt fünf hinzu, zählt aus, nimmt vier wieder weg und zählt wieder aus. Während Gesche dabei zusieht und Masche für Masche aufnimmt, addiert und subtrahiert sie im Kopf und hat die Lösung schon gefunden.

Am Anfang bringt die Mutter die beiden Kinder zur Schule, doch schon bald müssen sie den Weg allein gehen, durch die Sögestraße, an der Liebfrauenkirche vorbei über den Marktplatz, wo sich Fässer mit Heringen, Stockfisch und gesäuertem Kraut aneinanderreihen, neben Körben voller Gemüse, Früchten und Beeren. Auf blank gescheuerten Holzplanken liegen Fische: Kabeljau, Schellfisch, Schollen und Stinte, auch Neunaugen und Lachse, vor allen Dingen Lachse, glänzend und glitschig. An einem kleinen Stand gleich neben dem Roland duftet es nach Nelken, Zimt und Kardamom. Und neben den Gewürzen liegen kandierte Fruchtschalen, Nüsse, Feigen und feine Schokolade in zierlichen, mit Papier ausgelegten Kästchen. Doch das sind unerreichbare Kostbarkeiten, die die Timms ihren Kindern beileibe nicht kaufen würden. Für überflüssiges Naschwerk wird kein einziger Groschen verschwendet.

Einmal präsentierte ein fremdländisch aussehender Mann ausgestopfte Vögel aus fernen Ländern. Sie strahlten in den verschiedensten Farben und Gesche spürte, dass es außerhalb der wuchtigen Stadtmauer, die abends um acht ihre Tore verschließt, noch etwas anderes gab.

In Frankreich hat das Volk den Thron gestürzt und seinen König geköpft, doch die Weser zieht unverändert grau und gemächlich durch die Stadt, die sich durch nichts erschüttern lässt. Kleine Lastschiffe fahren im Frühjahr flussabwärts bis hin ans Meer und verankern Baken oder Seetonnen, links schwarze, rechts weiße, je näher das Meer, je größer die Tonne. Am Ufer ziehen sich Felder und Wiesen entlang und Trauerweiden neigen sich im Wind. So offen das Meer, von dem dieser Fluss seine Güter aus aller Welt empfängt, so eng die Stadt, die von ihm lebt, umgeben von Mooren und Marschenland.

Im späten Frühling blüht die Marsch kurz auf und Wiesen und Weiden stehen in voller Blüte. Danach liegt sie wieder da in eintönig dunklem Grün.

Gesche wird das Meer nie sehen, nur die Schiffe, die an der Schlachte vorbeiziehen und in der Ferne verschwinden.

Ihre Eltern nähen von morgens bis abends, säumen, bügeln, setzen Knöpfe und drehen jeden Groschen dreimal um, bevor er ausgegeben wird.

Mit sieben Jahren kommen Gesche und ihr Bruder in die Kirchspielschule zu Herrn Schweers. Hier wird aus biblischer Geschichte Religion und sie lernen nun richtig Lesen und Schreiben. Die anderen Mädchen in der Schule bekommen von ihren Müttern oftmals ein paar Groschen mit, von denen sie sich kleine Leckereien kaufen können, Bonbons, ein Stück Zuckerbrot oder kandierte Nüsse. Gesches weiß, dass ihre Eltern ihr für so etwas nicht einen einzigen Groschen geben würden. Es hätte nicht einmal Sinn gehabt sie zu fragen. Sie würden ganz sicher nein sagen und Gesche mag keine Auseinandersetzungen, lieber anders auf Abhilfe sinnen.

Als die Mutter das Kind nun wieder einmal zum Brotkaufen schickt, bietet sich die Lösung des Problems wie von allein in der Bäckerstube an, wo duftendes Weißbrot, Bremer Zwiebäcke und Hefestückchen mit Zimt verführerisch in den Regalen liegen. Gesche kauft ein Weißbrot, so wie es ihr die Mutter aufgetragen hat und zehn Zwiebäcke, wie immer, nur dass sie heute etwas kleinere Zwiebäcke fordert und von daher ein paar Groschen von dem abgezählten Geld einbehalten kann. Schnell verschwindet der Schatz in ihrer Schürze und zu Hause zwischen Strümpfen, Leibchen und Hemden in der Kommode. Es war ganz einfach. Gesche behält nun regelmäßig beim Einkaufen einzelne Groschen für sich zurück und steht den anderen Mädchen in der Schule nun endlich in nichts mehr nach. Welch ein Gefühl, sich nun auch mal Naschwerk kaufen zu können und auch andere Dinge, die vielleicht überflüssig sind, aber schön. Für die Eltern ist alles, was nicht lebenswichtig ist, nur Tand und Firlefanz.

Gesche fängt nun an, der Mutter kleine Mengen Geldes aus der Haushaltskasse zu stehlen. Auch das fällt zunächst nicht auf. Als die Mengen aber größer werden, wird die Mutter stutzig, Der Verdacht fällt auf den verschlossenen Bruder. Als die Eltern den Jungen zur Rede stellen, steht Gesche ungerührt daneben und sieht zu, wie der Bruder verzweifelt bemüht ist, seine Unschuld zu beteuern.

Einzelne Groschen sind nun nicht mehr genug und dieses verlockende Gefühl, die Genugtuung, die Gesche empfindet, wenn sie erkennt, dass der Diebstahl wieder einmal unentdeckt blieb, treiben sie noch weiter an.

Der Mamsell Stubing, die bei den Timms zur Untermiete wohnt, stiehlt sie einen ganzen Taler, was nun weder übersehen noch übergangen noch einfach abgetan werden kann. Das ganze Haus wird durchsucht, jede Schublade, jeder Winkel durchstöbert, jede Möglichkeit in Erwägung gezogen. Sogar die Bibel, außer einigen Erbauungsschriften das einzige Buch im Haus, wird aus dem Schrank genommen und durchgeblättert. Sich sicher wähnend beteiligt sich Gesche sogar an der Suche und als die Mutter sie lange und fest ansieht, gibt sie den Blick gleichmütig zurück.

Nun hat die Mutter aber ihre Tochter schon länger in Verdacht und beschließt die Wahrheit herauszufinden. In der Neustadt gibt es eine weise Frau, eine Kristallkuckerin, die hat schon manches Verborgene in ihrem Spiegel erschaut, sogar die Zukunft, die würde sie um Rat bitten.

Endlos lang die Stunden, nachdem die Mutter aus dem Haus gegangen ist. Vorbei die Gelassenheit, die Gewissheit, dass man ihr Tun nie aufdecken würde. Gesche schwitzt, ihr Herz rast, was ist das für eine Frau, die ihre Mutter aufsuchen will? Wie kann sie in einem Spiegel die Wahrheit sehen?

Der Vater sitzt wie immer an seiner Näharbeit und sagt keinen Ton. Johan ist draußen. Das Schweigen lastet schwer auf dem Kind. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre der ohnehin wortkarge Vater völlig verstummt. Gesche klammert sich an den Küchentisch, bis die Mutter zurückkommt. Die Kristallkuckerin hat ihr den Dieb genannt. Sie weiß jetzt, wer es war, will aber keinen Namen nennen. Wie ein Messer dringen die Worte der Mutter in das Kind, das wie erstarrt dasitzt und keine Miene verzieht. Weiß die Mutter, dass sie es war, dass sie ihre Eltern und Mamsell Stubing bestohlen hat?

Die Mutter nimmt ihr Nähzeug zur Hand und sieht über das Kind hinweg. Eine trügerische Ruhe herrscht im Haus, schnürt die Gefühle ein, verwehrt jedes Wort, und die Eltern nähen weiter, als sei nichts gewesen.

Es ist aber nichts mehr, wie es war.

1793 Douglas, Isle of Man

Es gab die Zeit, da Wiese, Fluss, des Waldes Saum, auch wenn es ungewöhnlich nicht, was ich da konnte schaun, gekleidet schien mir in ein Himmelslicht, in Glanz und Frische wie im Traum. Doch jetzt ist alles anders, als es früher war, wohin ich mich auch wenden mag, zur Nacht, am Tag, die Dinge kann ich nicht mehr sehn, wie ich sie einmal sah. (William Wordsworth)

Immer wieder musste Marias Vater auf seiner Jagd nach Schmugglern Douglas anlaufen, windumwehter Hafen der Isle of Man. Nach der erzwungenen Union mit England galt auch in Schottland die Malzsteuer und der begehrte Whisky wurde nun illegal gebrannt und über Douglas nach England geschleust. War die See stürmisch und rau, dauerte es oft Wochen und Monate, bis Marias Vater wieder nach Hause zu seiner Familie kam und die war inzwischen beträchtlich angewachsen.

Als Maria zwei Jahre alt war kam William zur Welt. Ihm folgten, wiederum im Abstand von zwei Jahren, ihre Schwester Agnes und der kleine Ralph. Da die Kinder nicht ganz ohne ihren Vater heranwachsen sollten, kaufte dieser dort ein Haus, wo seine Aufgabe ihn immer wieder hinführte, auf der Isle of Man, in der Nähe von Douglas.

Auch hier wird hinter dem Haus vielerlei Gemüse angepflanzt. Knorrige Apfelbäume bilden die Grenze zu den Wiesen, wo mit Beginn des Frühlings Schafherden zur Sommerweide ziehen. Neben der Eingangspforte breitet ein mächtiger Mispelbaum seine Krone aus. In seinem dichten Laub wohnen gute Geister, erzählt die Köchin. Wenn wir die Mispeln im Herbst ernten, ziehen sie sich in die Wälder zurück, aber im Frühling, wenn der Baum in Blüte steht, kommen sie wieder.

Die Köchin singt alte Balladen und erzählt von den Mythen und Sagen der Kelten, die einstmals dieses raue Land beherrschten. In ihren Geschichten haben die Flüsse, Wälder und Berge der Insel Namen. Sie waren heilig und wurden verehrt wie Lug, der Sonnengott, von dessen Wohlwollen die Ernte des Korns abhing, wie Brigid, die Helle, die Strahlende, Göttin des Feuers und der Inspiration. Ihr zu Ehren stellen die Kinder zu Lichtmess Kerzen in die Fenster, um nach den düsteren Wintertagen die Rückkehr des Lichtes zu feiern. Mit Schaudern lauscht Maria der Geschichte von Wickerman, einer riesigen, menschenähnlichen Figur aus Korbgeflecht, in die Verbrecher, Gefangene oder auch Tiere gesperrt und angezündet wurden. Mit diesem Opfer sollten böse Geister auf ewig vertrieben werden und – betont die Köchin jedes Mal nachdrücklich am Ende ihrer Geschichte – die Verbrecher und Gefangenen war man somit auch leicht los.

Mit sechs Jahren bekommt Maria ein Pony, mit dem sie den Fluss entlang galoppiert, an den alten, verfallenen Festungen vorbei bis hin zur Steilküste, ans Meer, wo sich die Wellen emporschieben und in Schaumkronen zerplatzen. Wie ein einsamer Wächter ragt der Leuchtturm himmelwärts. Zwischen den Dünen kämpfen Stranddisteln mit dem Wind.

Die alten Festungen sind in sich zusammengebrochen, das Gemäuer verwittert. Bäume, Sträucher und der angriffslustige Schlingknöterich haben es erobert. Sie schieben sich zwischen Steine und Mauerreste und wälzen sie beiseite.

Und dennoch, wenn Maria innehält, verwandeln sie sich zurück in das, was sie gewesen sind, und erzählen von den Menschen, die einstmals hier gelebt haben: außer den sagenumwobenen Kelten die Wikinger, die auf ihren kunstvoll geschnitzten Drachenschiffen kamen, norwegische Fürsten in Silberfuchspelzen und das schottische Königshaus.

Wenn der Vater auf See ist, kann sie tief durchatmen und das Salz des Meeres schmecken, sich den Wind ins Gesicht fahren lassen. Dann kann sie barfuß mit den Kindern der Fischer zwischen Salzkübeln und Heringsfässern herumtollen, Muscheln aus den Netzen pflücken und getrockneten Fisch essen. Tage grenzenloser Freiheit und immer das Meer, das unendliche Meer, das Kontinente trennt und auch verbindet, der Horizont, der sich in der Ferne mit der silbrigen See vereinigt, die Boote, die sich immer weiter von der Küste entfernen, bis sie ganz verschwunden sind und vielleicht an irgendeinem geheimnisvollen Ort vor Anker gehen.

Ein jähes Ende hat der Zauber dieser Tage, wenn der Vater von seinem Einsatz auf See nach Hause kommt. Dann muss Maria der Mutter zur Hand gehen, die kleinen Geschwister hüten, Wäsche zusammenlegen, die Äpfel in der Bodenkammer wenden, damit sie nicht faulten, oder zum Trocknen in kleinen Stücken auf lange Bänder fädeln. Und wenn die Mutter abends ihren Stickkasten hervorholt, weiht der Vater das Kind in die Anfänge des Lesens und Schreibens ein. Dann ist ihr der Vater sehr nahe, dann liebt sie ihn dafür, dass er sich Zeit für sie nimmt. Sie weiß auch, dass ihr die Buchstaben und Wörter, die sie schon sehr bald geschickt zu Papier bringt, Türen öffnen werden, Türen und Fenster in eine andere Welt. Den Zauber der Worte erfasst sie schnell. Schon bald versucht sie, mit dem, was sie gelernt hat, Dinge zu beschreiben, die Blumen im Garten, das Heideland, das sich hinter den Apfelbäumen dahinzieht, das Meer, wenn es tost oder ruhig im Sonnenlicht schimmert.

Zuweilen sprechen die Eltern wohl auch über die Geschehnisse auf dem Kontinent. Seit das Volk in Paris die Bastille gestürmt hat, herrscht Unruhe in den Nachbarländern. Die anfängliche Begeisterung darüber, dass die Ideen der aufgeklärten Philosophen nun endlich in die Wirklichkeit umgesetzt wurden, schlug um in blankes Entsetzen, als das Volk seinen König köpfte. Doch Frankreich ist weit weg und dazwischen das Meer. Die gewohnten Dinge erfüllen den Tag und das Rad der Zeit dreht sich weiter.

Eines Abends, als Maria schon im Bett liegt, hört sie einen heftigen Wortwechsel zwischen den Eltern. Die Stimme des Vaters klingt hart und herrisch, die der Mutter kläglich und verzweifelt. Maria kann nicht verstehen, worum es geht. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers sieht sie, wie die Wolken am Himmel dahinjagen. Der Mond taucht kurz auf und verbirgt sich wieder. Als der Vater verstummt, hört Maria nur noch das Weinen der Mutter.

Am nächsten Morgen stehen zwei Pferde vor dem Tor, gesattelt und beladen. Es ist kühl und dichter Nebel umhüllt das Haus, den Mispelbaum und die Mutter, die mühsam ihre Tränen zurückhält. Maria weiß immer noch nicht, worum es geht.

Für einen kurzen Ausritt hätte man die Pferde nicht so schwer beladen. Es sieht so aus, als würde es auf eine Reise gehen, aber wohin? Die Mutter nimmt ihr Kind in die Arme, der Vater mahnt zur Eile. Es hat angefangen zu regnen und unerbittlich fegt der Wind den beiden Reitern die Nässe ins Gesicht, zerrt an ihren Kleidern, treibt ihnen die Tränen in die Augen. Mühsam kämpfen sich die Pferde durch zum Hafen, wo Maria und ihr Vater ein Boot betreten. Sturm ist aufgekommen, aber der Vater steht selbst am Steuerrad und manövriert das Boot mit fester Hand durch die aufgewühlte See. Und hier, während die Wogen gegen die Bordwand klatschen und die Segel im Wind knattern, erfährt Maria bruchstückweise, dass es zur Familie ihres Vaters geht, wo sie von nun an leben und eine ihr angemessene Ausbildung erhalten soll.

An Land nehmen sie eine Kutsche und fahren nach Liverpool. Stumm blickt Maria nach draußen, wo die Landschaft an ihr vorbeizieht, strohgedeckte Hütten, vom Sturm zerzauste Bäume, sanft gewellte Wiesen und Felder.

Am späten Nachmittag erreichen sie Liverpool und suchen die Verwandten ihres Vaters auf. Fremde für Maria, Menschen, die sie nie vorher gesehen, von denen der Vater nicht einmal erzählt hat. Nach der Begrüßung schafft der schon betagte Diener eine Truhe herbei mit Kleidern á la matelot und ein paar neuen Schuhen für die Schule. Würde sie von nun an hier leben und zur Schule gehen? Doch der Vater weist den Diener an, ein schnelles Abendessen zu servieren und noch in der gleichen Nacht nehmen sie die Eilpostkutsche nach London.

Erst in einer Posthalterei, wo sie den Wagen wechseln, wird Maria bewusst, was ihr geschieht. Dort wartet die Mutter auf sie, weinend und durchnässt vom Regen und der sprühenden Gischt auf See. Trotz des Sturms war sie ihrer Tochter gefolgt und vorausgeeilt, um sie noch einmal in die Arme zu schließen. Jetzt weiß Maria, dass die unbeschwerten Tage der Kindheit vorbei sind, dass der Abschied von der Mutter und den Geschwistern ein Abschied auf eine unbestimmte, wohl sehr lange Zeit ist.

Während der endlosen Reise nach London sitzt sie weinend auf dem Schoß ihres Vaters. Sie weiß nicht, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen wird.

Ann Thompson, die Nachtigall aus Virginia, stirbt wenige Monate nach dem Abschied von ihrer Tochter.

Valparaíso 1793

Kein gefährlicheres Wesen lebt als der Geschäftsmann, der auf seinen Raub ausgeht. (Baron Holbach)

Viertausend Seelen zählt der Ort inzwischen. In den Wintermonaten, wenn der Nordwind den Ozean peitscht und die Wogen wie gewaltige Sturzseen über die Küste hereinbrechen, traut sich kaum ein Schiff in die Bucht von Quintil, die offen und ungeschützt den Unbilden der Stürme ausgesetzt ist. Dann verstummt der Ort und entvölkert sich. Ohne Schiffe keine Waren, ohne Seeleute keine Käufer, die sich nach entbehrungsreichen Wochen und Monaten voller Zwieback und Pökelfleisch gern über frisches Obst und Gemüse aus den Tälern des Aconcagua hermachen. Die Kaufleute und Händler ziehen sich zurück in die Hauptstadt. Die Bauern bleiben fern in ihren Hütten, die sich in die Täler ducken, und versuchen mit dem, was sie im Sommer erwirtschaftet haben, die Monate der Winde und des Regens zu überstehen. Öde und verlassen der Marktplatz, die Wege und kleinen Gassen, die Lagerschuppen und Speicher, von denen es inzwischen mehr gibt als Wohnhäuser. Und die Kamanchaca, der Küstennebel, hüllt alles in graue Trübsal. Valparaíso versinkt im Winterschlaf. Doch im Sommer, wenn der Stille Ozean seinem Namen wieder Ehre macht und im