Die Zitadelle - A.J. Cronin - E-Book

Die Zitadelle E-Book

A.J. Cronin

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Beschreibung

Einer der großen Romane der Weltliteratur, jetzt in neuer Bearbeitung. Ausgezeichnet mit dem National Book Award. Großbritannien in den 1920er Jahren. Frisch approbiert und voller Idealismus tritt Dr. Andrew Manson seine erste Stelle als Hilfsarzt in einem walisischen Bergwerksstädtchen an. Der Realitätsschock lässt nicht lange auf sich warten: Die Bevölkerung ist arm und unwissend, und unter seinen Kollegen sind Gleichgültigkeit, Inkompetenz und Korruption endemisch. Verbissen stürzt sich Manson in den Kampf für eine bessere Patientenversorgung und eine wissenschaftlich fundierte Medizin, beflügelt und unterstützt von der Liebe seines Lebens, der Dorfschullehrerin Christine. Nach vielen Rückschlägen, ständigen Anfeindungen und vergeblichen Neuanfängen geht sein Vorrat an Idealismus jedoch immer mehr zur Neige. Mit der Übersiedelung nach London tut sich eine neue Welt auf. Er gerät an Kollegen, die wissen, wie man sich mit wenig Aufwand die Taschen füllt, an betuchte (aber nicht unbedingt kranke) Patienten – und wird bald zum gefeierten Society-Doc. Erst ein schwerer Schicksalsschlag bringt ihm wieder die verlorenen Ideale seiner Anfangszeit in Erinnerung … Einer der meistgelesenen Romane des 20. Jahrhunderts in neu bearbeiteter Übersetzung, mit Annotationen der medizinischen Fachausdrücke und (medizin)historischen Zusammenhänge

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Inhalt
Cover
Erster Teil
1
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3
4
5
6
7
8
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Zweiter Teil
1
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Dritter Teil
1
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Vierter Teil
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Glossar
A.J. Cronin
Impressum

 

A. J. Cronin

Die Zitadelle

Roman

 

Aus dem Englischen

von

Richard Hoffmann

 

Übersetzungslektorat und Anmerkungen:

Dr. Kirsten Bödeker

 

 

Erster Teil

1

An einem Spätnachmittag im Oktober des Jahres 1924 blickte ein schäbig gekleideter junger Mann mit gespannter Aufmerksamkeit durch das Fenster eines Abteils dritter Klasse in dem fast leeren Zug, der sich von Swansea das Penowelltal hinaufarbeitete. Den ganzen Tag war Manson vom Norden her schon auf der Fahrt, war in Carlisle und Shrewsbury umgestiegen, aber auf der Endstrecke seiner mühseligen Reise nach Südwales wurde er von einer immer stärkeren Erregung erfasst. Er sollte nämlich in dieser fremdartigen, hässlichen Gegend seine erste Stelle als Arzt antreten.

Draußen ging ein schwerer Regen zwischen den Bergen nieder, die sich zu beiden Seiten der eingleisigen Bahnlinie erhoben. Die Gipfel waren in grauer Himmelswüste verborgen, die Hänge aber fielen, verunstaltet von großen Schutthalden der Erzbergwerke, schwarz und öde ab. Ein paar schmutzige Schafe streunten darauf umher und suchten vergeblich nach Gras. Kein Busch, kein grüner Fleck war zu sehen. Die Bäume sahen im Zwielicht des scheidenden Tages wie dürre, kümmerliche Gespenster aus. An einer Biegung der Strecke blitzte der rote Schein einer Gießerei auf. Er beleuchtete einige Dutzend Arbeiter, die, nackt bis zum Gürtel, mit gestrafftem Rücken ihre Arme zum Schlag erhoben hatten. Obwohl das Bild durch den aufragenden Förderturm eines Bergwerks rasch dem Blick entzogen wurde, hinterließ es doch einen Eindruck von geballter, lebhafter Kraft. Manson holte tief Atem. Er spürte, wie auch ihn plötzlich ein Kraftgefühl durchflutete, eine überwältigende Zuversicht auf die Erfüllung seiner Hoffnungen und Zukunftsaussichten.

Das Dunkel war hereingebrochen und verstärkte noch den Eindruck der Fremdartigkeit und Verlassenheit der Landschaft, als nach einer halben Stunde der Zug in Drineffy einlief. Endlich war Manson am Ziel. Er nahm seinen Koffer, sprang aus dem Zug und schritt rasch den Bahnsteig entlang, eifrig Umschau hal­tend, ob man ihn abholen würde. Beim Ausgang wartete unter einer im Wind schwankenden Lampe ein gelbgesichtiger alter Mann mit eckigem Hut und einem nachthemdartigen Wetter­mantel. Mit scheelen Blicken musterte er Manson, und seine Stimme klang widerwillig, als er endlich sagte:

„Sind Sie der neue Hilfsarzt für Doktor Page?“

„Gewiss. Mein Name ist Manson. Andrew Manson.“

„Schön. Meiner ist Thomas. Den alten Thomas nennt man mich gewöhnlich, hol‘s der Teufel. Ich hab das Gig[1] hier. Steigen Sie ein – wenn Sie nicht schwimmen wollen.“

Manson warf seinen Koffer hinauf und kletterte auf das zer­schrammte, von einem hochbeinigen, knochigen Rappen gezo­gene Gig. Thomas folgte ihm, ergriff die Zügel und wandte sich an das Pferd.

„Hüh, Taffy, los!“, sagte er.

Sie fuhren los, durch die Stadt, die – so sehr Andrew sich auch bemühte, ihre Umrisse wahrzunehmen – im klatschenden Regen nichts anderes erkennen ließ als ein undeutliches Gewirr niedriger grauer Häuser, die zu Füßen hoher, überall aufragender Berge aneinandergereiht waren. Mehrere Minuten sprach der alte Kutscher kein Wort, sondern warf unter der triefenden Hut­krempe hervor seinem Fahrgast unablässig geringschätzige Bli­cke zu. Er glich in keiner Weise dem schmucken Kutscher eines erfolgreichen Arztes, im Gegenteil, er sah verhutzelt und schlam­pig aus und gab fortwährend einen durchdringenden Stallgeruch von sich. Schließlich sagte er:

„Haben wohl eben erst Ihren Doktor gemacht?“

Andrew nickte.

„Ich hab’s ja gewusst.“ Der alte Thomas spuckte aus. Die Freude über seinen Scharfsinn machte ihn etwas gesprächiger. „Der letzte Hilfsarzt ist vor zehn Tagen fort. Die meisten halten es nicht lang aus.“

„Warum?“ Trotz seiner Nervosität lächelte Andrew.

„Einmal ist die Arbeit zu schwer, vermute ich.“

„Und weiter?“

„Das werden Sie schon noch herausbekommen.“ Einen Augenblick später hob Thomas, wie ein Fremdenführer, der auf eine prächtige Kathedrale weist, die Peitsche und zeigte damit auf das Ende einer Häuserzeile, wo aus einer kleinen erleuchteten Tür eine Dampfwolke drang. „Sehen Sie dort! Da ist meine Alte und mein kleines Heim. Sie wird wahrscheinlich waschen.“ Ein flüchtiges Grinsen zuckte über seine lange Oberlippe. „Vermut­lich werden Sie bald recht froh sein, dass Sie das wissen.“

Hier endete die Hauptstraße; sie bogen in einen kurzen, holp­rigen Seitenweg ein, schaukelten über ein Stück unbefestigten Grund und bogen in den schmalen Zufahrtsweg zu einem Haus ein, das abseits von den benachbarten Häuserreihen hinter einer verkümmerten Esche lag. Am Tor stand der Name Bryngover. „Wir sind da“, sagte Thomas und hielt den Gaul an.

Andrew stieg ab. Im nächsten Augenblick, während er sich noch mit Überlegungen quälte, wie er sich beim Eintreten ver­halten sollte, wurde die Haustür aufgerissen und schon befand er sich in der erleuchteten Halle, wo ihn eine lächelnde, große, ha­gere Frau von etwa fünfzig Jahren mit ruhigen Gesichtszügen und klaren blauen Augen herzlich begrüßte.

„Na also! Na also! Sie sind gewiss der Doktor Manson. Treten Sie nur ein, bitte, treten Sie ein! Ich bin die Schwester vom Dok­tor, Miss Page. Hoffentlich war Ihnen die Reise nicht zu anstren­gend. Ich freue mich wirklich, Sie bei uns zu sehen. Ich bin noch immer fast außer mir, seit dieser grässliche Kerl, den wir hatten, fort ist. Das war ein Schlaumeier, wie ich noch keinen gesehen habe, das kann ich Ihnen sagen. Den hätten Sie mal sehen sollen. Oh! Aber jetzt Schwamm darüber! Jetzt ist ja alles in Ordnung, wo Sie da sind. Kommen Sie gleich mit! Ich will Ihnen Ihr Zim­mer, in dem Sie logieren werden, persönlich zeigen.“

Andrews Zimmer im Obergeschoss war ein kleiner, getünch­ter Raum mit einem Messingbett, einer gelb lackierten Kommode und einem Bambustischchen, auf dem Waschschüssel und Krug standen. Während Miss Page mit ihren hellen blauen Augen Andrews Gesicht musterte, sah er sich in dem Raum um und sagte dann mit ängstlicher Höflichkeit:

„Das sieht sehr behaglich aus, Miss Page.“

„Gewiss. Sie haben recht.“ Sie lächelte und klopfte ihm müt­terlich auf die Schulter. „Es wird Ihnen hier bestimmt ganz prächtig gefallen. Tun Sie das Ihre, dann will ich das Meine tun. Schöner kann man es doch nicht sagen, nicht wahr? Jetzt kom­men Sie aber augenblicklich mit mir und lassen sich dem Doktor vorstellen!“ Sie hielt inne; ihr Blick forschte noch immer in dem seinen und sie bemühte sich um einen ungezwungenen Tonfall. „Ich weiß nicht, ob ich es in meinem Brief erwähnt habe, aber eigentlich – ist der Doktor seit einiger Zeit nicht ganz gesund.“

Andrew sah sie mit jäher Überraschung an.

„Oh, es ist nichts Besonderes“, fuhr sie rasch fort, ehe er sprechen konnte. „Er ist seit ein paar Wochen bettlägerig. Aber er wird bald wieder auf dem Damm sein. Machen Sie keine große Sache daraus!“

Verblüfft folgte ihr Andrew zum Ende des Korridors, wo sie eine Tür aufstieß und munter rief:

„Edward – das ist Doktor Manson, unser neuer Hilfsarzt! Er will dir guten Tag sagen.“

Während Andrew in den Raum trat, ein längliches, nachlässig eingerichtetes Schlafzimmer mit fest zugezogenen Chenille­vorhängen und einem kleinen Feuer im Kamin, drehte sich Edward Page im Bett langsam um, was ihn anscheinend große Mühe kostete. Er war ein großer, knochiger Mann von vielleicht sechzig Jahren, mit scharf eingegrabenen Zügen und müden, fiebrigen Augen. Sein ganzer Gesichtsausdruck war geprägt von Leid und einer Art müder Geduld. Dazu kam noch etwas: Im Licht der Petroleumlampe, das auf das Kissen fiel, gewahrte man, dass die eine Gesichtshälfte starr und ausdruckslos war. Auch die linke Körperseite war gelähmt und die linke Hand, die auf der Steppdecke lag, war zusammengekrampft zu einem glänzenden Kegel. Als Andrew diese Symptome eines schweren und allem Anschein nach schon länger zurückliegenden Schlaganfalls be­merkte, wurde ihm mit einem Mal recht unbehaglich zumute. Verlegenes Schweigen herrschte.

„Hoffentlich wird‘s Ihnen bei uns gefallen“, sagte Doktor Page endlich. Er sprach langsam und mit Mühe und verschliff ein wenig die Worte miteinander. „Hoffentlich wird Ihnen die Arbeit nicht zu viel. Sie sind noch sehr jung.“

„Ich bin vierundzwanzig, Doktor“, erwiderte Andrew unbe­holfen. „Ich weiß, dass dies meine erste Stellung ist, ich weiß das alles – aber ich scheue die Arbeit nicht.“

„Na also“, sagte Miss Page lächelnd, „ich hab dir‘s doch gesagt, Edward – mit dem Nächsten werden wir Glück haben.“

Eine fast noch starrere Regungslosigkeit verbreitete sich über Pages Gesicht. Er blickte Andrew an. Dann schien sein Interesse zu verblassen. Mit müder Stimme sagte er:

„Hoffentlich bleiben Sie.“

„Du lieber Gott!“, rief Miss Page. „Was das wieder für eine Redensart ist!“ Lächelnd und gleichsam entschuldigend wandte sie sich an Andrew. „Er spricht ja nur so, weil er heute ein biss­chen schlecht beisammen ist. Aber bald wird er wieder obenauf und ganz gesund sein! Nicht wahr, mein Lieber?“ Sie beugte sich über ihren Bruder und küsste ihn liebevoll. „Na also! Ich schicke dir durch Annie das Abendbrot, sobald wir gegessen haben.“

Page gab keine Antwort. Der versteinerte Ausdruck der einen Gesichtshälfte ließ seinen Mund verzerrt aussehen. Die gesunde Hand tapste nach dem Buch, das auf dem Nachttischchen lag. Andrew sah den Titel: „Die wilden Vögel Europas.“ Noch bevor der Gelähmte zu lesen anfing, hatte er begriffen, dass er entlassen war.

Als sich Andrew zum Abendessen hinabbegab, waren seine Gedanken in quälendem Aufruhr. Er hatte sich um diese Hilfs­arztstelle aufgrund einer Anzeige beworben, die im ‚Lancet‘[2] er­schienen war. Doch in dem Briefwechsel mit Miss Page, der mit seiner Anstellung geendet hatte, war mit keinem Wort von Dok­tor Pages Krankheit die Rede gewesen. Aber Page war krank; die Schwere des Gehirnschlags, der ihn arbeitsunfähig gemacht hatte, stand ganz außer Frage. Es mochte Monate dauern, bis er wieder imstande war, seinen Beruf auszuüben, wenn er dies über­haupt jemals wieder konnte.

Mit einiger Willensanstrengung schob Andrew dieses Pro­blem beiseite. Er war jung und stark und hatte nichts gegen die Mehrarbeit einzuwenden, die Pages Krankheit für ihn bedeuten mochte. In seinem Enthusiasmus sehnte er sich geradezu nach einer ganzen Lawine von Patienten.

„Sie haben Glück, Doktor!“, bemerkte Miss Page munter, als sie das Speisezimmer betrat. „Ergreifen Sie die Gelegenheit beim Schopf und nehmen heute Abend frei. Heute gibt‘s keine Abend­sprechstunde mehr. Dai Jenkins hat die Arbeit gemacht.“

„Dai Jenkins?“

„Das ist unser Apothekergehilfe“, warf Miss Page beiläufig hin. „Ein geschickter kleiner Kerl. Und willig obendrein. ‚Doktor Jenkins‘ nennen ihn manche Leute, obwohl man ihn natürlich nicht im selben Atemzug mit Doktor Page nennen darf. In den letzten zehn Tagen hat er die Sprechstunde erledigt und auch die Krankenbesuche gemacht.“

Andrew starrte sie mit neuer Besorgnis an. Alles, was man ihm von den fragwürdigen Heilmethoden in diesen entlegenen walisischen Tälern erzählt hatte, alle Warnungen, die ihm zuge­gangen waren, blitzten in seiner Erinnerung auf. Abermals kos­tete es ihn Anstrengung, den Mund zu halten.

Miss Page saß am oberen Ende des Tisches, den Rücken zum Kaminfeuer. Nachdem sie sich mit einem Kissen behaglich in ih­ren Sessel eingekeilt hatte, seufzte sie voll angenehmer Erwar­tung und klingelte mit der kleinen Kuhglocke, die vor ihr stand. Eine Magd in mittleren Jahren mit blassem, sauber geschrubbtem Gesicht trug das Essen auf. Beim Eintreten musterte sie Andrew mit einem verstohlenen Blick.

„Kommen Sie her, Annie!“, rief Miss Page, während sie eine Schnitte weiches Brot mit Butter bestrich und sich dann in den Mund stopfte. „Das ist Doktor Manson.“

Annie erwiderte nichts. Sie bediente Andrew zurückhaltend und lautlos mit einer Schnitte kalten Suppenfleisches. Für Miss Page gab es ein ähnliches Stück, dazu einen Krug mit frischer Milch. Als sie sich das harmlose Getränk ausschenkte und an die Lippen führte, erklärte sie mit einem Blick auf Andrew:

„Ich habe zu Mittag recht wenig gegessen, Doktor. Außer­dem soll ich Diät halten. Es hapert im Blut. Deswegen muss ich ab und zu ein Glas Milch trinken.“

Andrew kaute das geschmacklose Fleisch und trank ent­schlossen kaltes Wasser dazu. Nach einer flüchtigen Entrüstung hatte er am meisten gegen seine Belustigung anzukämpfen. Schließlich konnte er ja auf den Tischen dieser spartanischen Tä­ler hier keine üppigen Gastmähler erwarten.

Während der Mahlzeit sprach Miss Page nicht viel. Endlich bestrich sie die letzte Brotschnitte mit Butter, aß sie fertig, wischte nach dem letzten Schluck Milch ihre Lippen ab und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Ihr hagerer Körper entspannte sich, ihre Augen blickten vorsichtig forschend umher. Jetzt schien sie in der Stimmung, noch eine Zeitlang bei Tisch zu ver­weilen, zu Vertraulichkeiten aufgelegt und vielleicht den Versuch zu machen, einen Eindruck von Andrew zu bekommen.

Sie gewahrte vor sich einen hageren, schlaksigen jungen Mann, dunkelhaarig, interessante Züge, mit hohen Backen­knochen, schön geschwungener Kieferpartie und blauen Augen. Wenn er diese Augen hob, waren sie trotz der nervösen Anspan­nung der Brauen außerordentlich fest und forschend. Auch wenn Blodwen Page keine Ahnung davon hatte, sah sie hier einen kel­tischen Typ vor sich. Obwohl sie den Ausdruck von Kraft und aufgewecktem Verstand in Andrews Gesicht bemerkte, gefiel ihr doch am besten, dass er sich ohne Murren mit diesem mageren, drei Tage alten Fleischbrocken zufriedengegeben hatte. Sie über­legte, dass er vielleicht doch nicht so schwer durchzufüttern sei, obwohl er so hungrig aussehe.

„Wir werden ganz bestimmt prächtig miteinander auskom­men, Sie und ich!“, erklärte sie wieder mit pfiffiger Miene. „Wir könnten zur Abwechslung einmal ein bisschen Glück haben.“ Aufgekratzt erzählte sie ihm von ihren Schwierigkeiten und entwarf in undeutlichen Umrissen ein Bild von der Praxis und ihrer Bedeutung. „Es war schrecklich, mein Lieber! Sie können sich das nicht vorstellen. Doktor Page krank, die Hilfsärzte ein böses Pack, schier keine Einkünfte und eine Menge Ausgaben – na, Sie können sich das nicht vorstellen. Und welche Mühe es mich gekostet hat, den Direktor und die übrigen Bergwerksbeamten bei der Stange zu halten! Die machen nämlich die Praxis einträglich – soweit man davon überhaupt sprechen kann . . .“, fügte sie mit einem Achselzucken hinzu. „Sehen Sie, die Dinge liegen in Drineffy so: Die Grubengesellschaft beschäftigt drei Ärzte – freilich, Doktor Page ist bei weitem der tüchtigste, und außerdem, wie lange arbeitet er schon hier! Über dreißig Jahre, das will schon etwas heißen, möchte ich meinen! Nun also, diese Ärzte können sich beliebig viele Hilfskräfte halten. Doktor Page hat Sie, und Doktor Lewis hat einen Kerl namens Denny – aber die Hilfsärzte kommen nicht auf die Personalliste der Gesellschaft. Wie auch immer, wie ich schon sagte, zieht die Bergwerksleitung vom Lohn der Bergarbeiter einen bestimmten Betrag ab und zahlt davon die in den Listen geführten Ärzte je nach der Anzahl der Leute, die in deren Kartei sind.“ Sie hielt inne und sah ihn fragend an.

„Ich verstehe schon, wie das organisiert ist, Miss Page.“

„Nun also!“ Sie ließ ihr kurzes Lachen hören. „Sie brauchen sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Alles, was Sie wissen müssen, ist, dass Sie für Doktor Page arbeiten. Das ist die Hauptsache, Doktor. Denken Sie immer daran, dass Sie für Doktor Page arbeiten und Sie und ich werden blendend miteinander auskommen.“

Manson, der sie schweigend beobachtete, schien es, als habe sie jetzt das Gefühl, in ihrer Vertraulichkeit zu weit gegangen zu sein. Mit einem Blick auf die Uhr straffte sie sich und steckte ihre Serviette in den Ring aus Horn. Dann stand sie auf. Ihre Stimme klang nun anders, geschäftsmäßig.

„Nebenbei bemerkt, Doktor. Es gibt einen Hausbesuch im Glydar Place, Nummer sieben. Sie haben kurz nach fünf Uhr angerufen. Ich würde Ihnen empfehlen, gleich hinzugehen.“

2

Andrew machte sich unverzüglich auf den Weg; ihm war sonderbar zumute. Fast fühlte er Erleichterung. Er war froh über diese Gelegenheit, sich von den seltsamen, widerstreitenden Gefühlen freimachen zu können, die seine Ankunft in Bryngover in ihm aufgewühlt hatte. Schon dämmerte ihm, wie die Dinge hier in Wirklichkeit standen und wie Blodwen Page ihn auszunutzen gedachte, um die Praxis seines arbeitsunfähigen Brotgebers in Gang zu halten. Es war eine sonderbare Lage und ganz anders als jegliches romantische Bild, das seine Phantasie ihm vielleicht ausgemalt hatte. Aber dennoch – die Arbeit war die Hauptsache, und alles andere daneben bedeutungslos. Er sehnte sich danach, sie zu beginnen. Unmerklich beschleunigte er sein Tempo, straff vor Erwartung, frohlockend bei dem Gedanken, dass dies, dies sein erster Fall sein würde.

Es regnete noch immer, als er die schmierige Schwärze des verkommenden Grundstücks überquerte und durch die Chapel Street in die Richtung trottete, die ihm Miss Page recht vage gewiesen hatte. Während er die Stadt durchquerte, nahm sie dunkel vor ihm Gestalt an. Läden und Bethäuser – Zion, Chapel, Hebron, Bethel, Bethesda, an einem runden Dutzend solcher Kapellen kam er vorbei –, dann Läden einer großen Verbrauchergenossenschaft, eine Zweigstelle der Western Counties Bank, dies alles zu beiden Seiten der Hauptstraße, die längs der Talsohle hinführte. Das Gefühl, tief unten in einer Bergspalte begraben zu sein, war außerordentlich bedrückend. Nur wenige Leute waren unterwegs. Im rechten Winkel zur Chapel Street standen an beiden Seiten Reihen um Reihen von Arbeiterhäusern mit geringer Höhe und blauem Dach. Und dahinter, am Ende der Talenge, unter einem Feuerschein, der sich wie ein großer Fächer in den dunklen Himmel breitete, lagen die Hämatitgrube und die Erzbergwerke von Drineffy.

Er erreichte das Haus Nummer sieben am Glydar Place, klopfte außer Atem an und wurde sogleich in die Küche eingelassen, wo in einer Bettnische die Patientin lag. Sie war eine junge Frau, die Gattin eines Stahlpuddlers[3] namens Williams, und als er mit heftig pochendem Herzen zum Bett trat, überwältigte ihn das Gefühl der Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, der der eigentliche Ausgangspunkt seines Lebens war. Wie oft hatte er sich das ausgemalt, wenn er unter einer Studentenschar in Professor Lamploughs Abteilung einer Demonstration beiwohnte. Jetzt hatte er keinen Halt mehr an der Menge, keine leichte Erklärung des Falls. Er stand einem Fall allein gegenüber, ohne irgendeine Hilfe bei Diagnose oder Therapie. Sogleich wurde er sich mit einer jähen Angst seiner Nervosität bewusst, seiner Unerfahren­heit, des Umstandes, dass er auf eine solche Aufgabe gänzlich un­vorbereitet war.

Während der Mann der Patientin in dem engen, schlecht beleuchteten, mit Steinfliesen belegten Raum dabeistand, untersuchte Andrew mit gewissenhafter Sorgfalt die Frau. Sie war krank, das stand außer Frage. Sie klagte über unerträgliche Kopfschmerzen. Temperatur, Puls, Zungenbelag – alles wies auf ein Übel, ein ernstes Übel hin. Doch was war es? Andrew legte sich mit größter Eindringlichkeit diese Frage vor, während er die Frau neuerlich untersuchte. Sein erster Fall. Oh, er wusste, dass er überängstlich war. Aber angenommen, er irrte sich, beginge einen furchtbaren Fehler? Und schlimmer noch – angenommen, er fände sich unfähig, eine Diagnose zu stellen? Er hatte doch nichts übersehen? Nichts. Und doch rang er jetzt mühsam nach irgendeiner Lösung des Problems, eifrig darauf bedacht, die Symptome in die Rubrik einer bekannten Krankheit einzureihen. Schließlich wurde ihm bewusst, dass er seine Untersuchung nicht länger ausdehnen durfte. Er richtete sich langsam auf, legte das Stethoskop zusammen und suchte nach Worten.

„War sie erkältet?“, fragte er gesenkten Blickes.

„Ja, freilich“, antwortete Williams eifrig. Er hatte während der allzu langen Untersuchung schon beunruhigt ausgesehen. „Vor drei, vier Tagen. Es war ganz bestimmt eine Erkältung, Doktor.“

Andrew nickte und bemühte sich krampfhaft, ein Vertrauen zu erwecken, das er selber nicht fühlte. „Wir werden sie bald wieder gesund haben“, murmelte er. „Kommen Sie in einer halben Stunde in die Praxis! Dann geb ich Ihnen ein Medikament für sie.“

Er verabschiedete sich und trottete gesenkten Kopfes, verzweifelt grübelnd in die Praxis zurück, einen wackeligen Holzbau gleich vorn am Zufahrtsweg zum Hause von Page. Innen zündete er das Gas an und begann vor den blauen und grünen Flaschen, die auf den staubigen Regalen standen, auf und ab zu gehen, während er sich das Hirn zermarterte, da er mit dem Fall gänzlich im Dunkeln tappte. Er fand kein Merkmal einer besonderen Krankheit. Es musste die Folge der Erkältung sein; das musste es sein. Aber zutiefst im Herzen fühlte er, dass es doch keine Erkältung war. Verzweifelt stöhnte er auf, unglücklich und erbittert über seine Unfähigkeit. Wider Willen sah er sich gezwungen, Zeit zu gewinnen. Wenn sich Professor Lamplough in seiner Abteilung einem unklaren Fall gegenübergestellt sah, hatte er dafür ein nettes, kleines Etikett, das er taktvoll anzuwenden pflegte: P. U. U. – Pyrexia[4] unbekannten Ursprungs. Das stimm­te, das verpflichtete zu nichts und klang doch so wunderbar wissenschaftlich.

Tief unglücklich nahm Andrew eine Sechs-Unzen-Flasche aus dem Fach unter dem Ladentisch der Apotheke und begann, mit gedankenvollem Stirnrunzeln eine antipyretische[5] Mixtur zusammenzustellen. Salpetergeist, Natriumsalicylat[6], wo zum Teufel war denn dieses Natriumzeug nur? Aha, hier! Er versuchte, sich damit zu beruhigen, dass das lauter bewährte, ausgezeichnete Heilmittel waren, die unbedingt ein Sinken der Temperatur bewirken und bestimmt helfen mussten. Professor Lamplough hatte oft erklärt, es gebe kein zweites so allgemein verwendbares und wirksames Mittel wie Natriumsalicylat.

Er war eben erst mit dem Mischen fertig geworden und schrieb nun mit einem angenehmen Gefühl getaner Arbeit das Etikett, als die Türglocke der Praxis „ping“ machte, die Außentür aufging und ein kleiner, stark untersetzter, rot­gesichtiger Mann von dreißig Jahren, gefolgt von einem Hund, hereinspazierte. Während der schwarzgelb gefleckte Köter sich auf die schlammbespritzten Hinterbeine setzte und der Mann, der einen alten Samtanzug, Ledergamaschen, genagelte Stiefel und über den Schultern einen triefnassen Ölzeugüberwurf trug, Andrew vom Scheitel bis zur Sohle mit den Blicken maß, herrschte tiefes Schweigen. Als er dann sprach, klangen in seiner Stimme höfliche Ironie und aufreizende Wohlerzogenheit.

„Beim Vorbeikommen hab ich Licht in Ihrem Fenster gesehen. Da dachte ich mir, ich könnte hereinschauen und Sie begrüßen. Ich heiße Denny und bin Hilfsarzt bei dem hochverehrten Doktor Lewis. D. A. K. Diese Abkürzung bedeutet – falls sie Ihnen noch nicht untergekommen ist: Doktor der Apotheker­kunst, und ist der höchste bekannte Befähigungsausweis vor Gott und den Menschen.“

Andrew starrte den Fremden zweifelnd an. Philip Denny nahm aus einer zerknitterten Papierpackung eine Zigarette, zündete sie an, warf das Zündholz auf den Boden und stapfte unverschämt im Zimmer herum. Er hob die Arzneiflasche auf, las Adresse und Gebrauchsanweisung, entkorkte die Flasche und roch daran, verkorkte sie wieder und stellte sie zurück, wobei sein mürrisches rotes Gesicht einen schmeichelhaften Ausdruck annahm.

„Blendend! Sie haben schon gleich mit der richtigen Arbeit angefangen! Ein Esslöffel voll alle drei Stunden! Du allmächtiger Gott! Es beruhigt einen immer wieder, dem guten alten Humbug zu begegnen. Aber sagen Sie mir nur, lieber Kollege, warum nicht dreimal täglich? Wissen Sie denn nicht, Doktor, dass nach strenger Orthodoxie ein Esslöffel voll den Ösophagus[7] dreimal täglich passieren muss?“ Er machte eine Pause und wurde mit seiner anscheinend vertraulichen Miene noch unverhohlener beleidigend als zuvor. „Jetzt sagen Sie mir bloß, Doktor, was ist da drin? Salpetergeist, nach dem Geruch zu schließen. Ein herrliches Zeug, dieser liebliche Salpetergeist. Wunderbar! Wunderbar, verehrtester Doktor! Karminativ[8], stimulierend, diuretisch[9], und man kann es fässerweise saufen. Erinnern Sie sich noch, was in dem be­wussten roten Büchlein steht? Im Zweifelsfalle verordne man Salpetergeist, oder heißt es Kaliumjodid? Ach! Ach! Ich scheine einiges von meinen Elementarkenntnissen verschwitzt zu haben!“

Wieder herrschte in der kleinen Holzbaracke Schweigen, nur unterbrochen vom prasselnden Regen, der auf das Blechdach trommelte. Plötzlich lachte Denny, als er den verständnislosen Ausdruck in Andrews Gesicht gewahrte, höhnisch auf. Voll Spott sagte er: „Die Wissenschaft beiseite, Kollege, Sie könnten meine Neugier befriedigen. Warum sind Sie hergekommen?“

Inzwischen war Andrews Zorn zusehends gewachsen. Bissig antwortete er:

„Ich habe mir in den Kopf gesetzt, Drineffy zu einem Kurort zu machen – zu einer Art Heilbad, wissen Sie?“

Wieder lachte Denny. Sein Lachen war so unverschämt, dass es Andrew juckte, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Sehr witzig, sehr witzig, mein lieber Doktor! Der richtige schottische Dampfwalzenhumor. Leider kann ich das hiesige Wasser nicht als ideal geeignet für ein Heilbad empfehlen. Und was die Herren Ärzte betrifft, mein lieber Doktor, so sind sie in unserem Tal der Abschaum eines vornehmen, eines wahrhaft edlen Berufs.“

„Sie miteingeschlossen?“

„Sehr richtig!“ Denny nickte. Er schwieg einen Augenblick, während er unter den sandfarbenen Augenbrauen Andrew musterte. Dann ließ er von seinem ironischen Spötteln ab, sein hässliches Gesicht wurde wieder mürrisch und sein Tonfall war bei aller Bitterkeit ernst:

„Hören Sie einmal, Manson! Ich kann mir ja denken, dass Sie hier nur auf der Durchreise zu einer erstrangigen Praxis in der Herley Street in London sind, inzwischen aber könnte ich Ihnen ein paar Kleinigkeiten über Drineffy erzählen, die Sie wissen sollten. Sie werden merken, dass diese Dinge nicht gerade den besten Traditionen der romantischen Praxis ent­sprechen. Es gibt hier kein Krankenhaus, keine Ambulanz, keine Röntgeneinrichtung, nichts. Wenn Sie Operationen machen wollen, müssen Sie‘s auf dem Küchentisch tun. Nachher können Sie sich am Spülstein säubern. Die hygienischen Einrichtungen vertragen keine nähere Prüfung. In trockenen Sommern sterben die kleinen Kinder an Brechdurchfall und Cholera wie die Fliegen. Page, Ihr Chef, war ein sehr tüchtiger alter Arzt, aber jetzt ist er fertig, vollkommen fertig infolge Überarbeitung, und er wird nie wieder einen Handstreich tun. Nicholls, mein Oberherr, ist ein armseliger, geldgieriger Kurpfuscher. Bramwell, der Wichtigtuer, kennt nichts als ein paar sentimentale Rezitationen und die Sprüche Salomons. Und was mich betrifft ist es ratsam, wenn ich die frohe Botschaft gleich vorwegnehme – ich saufe wie ein Loch! Ach, und Jenkins, Ihr zahmer Pillendreher, betreibt nebenbei einen schwunghaften Handel mit kleinen Bleipillen gegen weibliche Beschwerden. Das dürfte so ziemlich alles sein. Auf, Hawkins, wir gehen!“ Er gab dem Hund einen leichten Stoß mit der Fußspitze und schritt schwerfällig zur Tür. Hier blieb er stehen, und wieder glitt sein Blick von der Flasche auf dem Tisch zu Manson. Sein Tonfall war klanglos und völlig gleichgültig. „Nebenbei bemerkt, ich an Ihrer Stelle würde den Fall am Glydar Place auf Enteritis[10] ansehen. Manche dieser Fälle sind nicht ganz typisch.“

„Ping“ machte die Tür abermals. Ehe Andrew antworten konnte, waren Philip Denny und Hawkins im nassen Dunkel verschwunden.

3

Nicht die bucklige Seegrasmatratze war daran schuld, dass Andrew in dieser Nacht schlecht schlief, sondern seine steigende Besorgnis wegen des Falles am Glydar Place. Handelte es sich wirklich um Enteritis? Dennys Abschiedsworte hatten seine Unschlüssigkeit vermehrt und neue Zweifel geweckt. Voll Furcht, er könnte ein wichtiges Symptom übersehen haben, konnte er sich nur mit Mühe davon abhalten, aufzustehen und den Fall in aller Herrgottsfrühe erneut in Augenschein zu nehmen. Ja, während er immer wieder auffuhr und sich hin und her wälzte in dieser langen schlaflosen Nacht, erschien es ihm sogar fraglich, ob er denn überhaupt etwas von Medizin verstehe.

Manson war von Natur außerordentlich heftig. Wahrscheinlich hatte er dies von seiner Mutter, einer Hochländerin, die als Kind im Vaterhaus in Ullapool das Nordlicht über den froststarren Himmel zucken sah. Sein Vater, John Manson, ein kleiner Landwirt in Fifeshire, war gesetzt, arbeitsam und beständig gewesen. Nie war es ihm gelungen, aus seinem Besitz etwas Richtiges zu machen, und als er im letzten Kriegsjahr in den Reihen der Yeomanry[11] fiel, hinterließ er den kleinen Hof in trostlosem Zustand. Zwölf Monate bemühte sich Jessie Manson verzweifelt, auf ihrem Anwesen eine Milchwirtschaft einzurichten. Sie kutschierte den Wagen mit den Kannen sogar selber, wenn sie meinte, dass Andrew von seinen Büchern zu sehr in Anspruch genommen war. Dann verschlimmerte sich der Husten, an dem sie, ohne Böses zu ahnen, einige Jahre gelitten hatte, und plötzlich erlag sie dem Lungenleiden, das diesen zarthäutigen, dunkelhaarigen Typ so oft befällt.

Mit achtzehn Jahren fand sich Andrew allein, im ersten Jahr seines Studiums an der St. Andrews University, im Genuss eines Stipendiums von vierzig Pfund jährlich, sonst aber mittellos. Sei­ne Rettung war das Glen Endowment gewesen, jene typisch schottische Stiftung, die in der naiven Ausdrucksweise des verewigten Sir Andrew Glen „würdige und bedürftige Studenten mit dem Taufnahmen Andrew einlud, sich um Darlehen mit dem Höchstbetrag von jährlich fünfzig Pfund auf die Dauer von fünf Jahren zu bewerben, die gewissenhafte Bereitwilligkeit vorausgesetzt, das so empfangene Darlehen nach erfolgter Promotion zurückzuerstatten“. Mit Hilfe der Glen-Stiftung und einigen frisch-fröhlichen Hungerzeiten war Andrew durch die restliche Studienzeit am St. Andrews und dann durch die medizinische Hochschule der Stadt Dundee hindurchgekommen. Nach der Promotion hatte ihn ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Stiftung und eine höchst überflüssige Ehrenhaftigkeit bewogen, Hals über Kopf nach Südwales zu eilen, denn dort konnten frisch graduierte Hilfsärzte auf die beste Bezahlung rechnen, und er sollte zweihundertfünfzig Pfund im Jahr beziehen – obwohl ihm im innersten Herzen für ein Honorar, das ein Zehntel dieses Bezuges ausmachte, eine Assistentenstelle im königlichen Spital von Edin­burgh lieber gewesen wäre.

Und jetzt war er in Drineffy, stand auf, rasierte sich, kleidete sich an und war bei alldem völlig betäubt von der Sorge um seine erste Patientin. Hastig aß er sein Frühstück, dann lief er wieder in sein Zimmer hinauf. Hier öffnete er den Koffer und entnahm ihm eine kleine blaue Ledertasche. Er öffnete auch sie und betrachtete ernst die Medaille darin, die Goldene Hunter-Medaille, die an der Universität St. Andrews alljährlich dem Studenten verliehen wurde, der sich in klinischer[12] Medizin am meisten aus­ge­zeichnet hatte. Er, Andrew Manson, hatte diese Medaille errungen! Er schätzte sie über alles in der Welt und betrachtete sie nun schon als seinen Talisman, als seine Inspiration für die Zukunft. An diesem Morgen sah er sie aber weniger mit Stolz an, als vielmehr mit einem seltsamen heimlichen Flehen, als wollte er sein Selbstvertrauen wiedergewinnen. Dann eilte er fort zur Morgensprechstunde.

Dai Jenkins befand sich schon in dem hölzernen Schuppen, als Andrew hinkam, und ließ vom Leitungshahn in eine große irdene Flasche Wasser rinnen. Er war ein flinkes, quecksilbriges Männchen mit eingefallenen, von purpurroten Adern durchzogenen Wangen, mit Augen, die gleichzeitig überall hinblickten, und trug an den dünnen Beinen die engsten Hosen, die Andrew sein Lebtag gesehen hatte. Einschmeichelnd begrüßte er Manson:

„Sie brauchen nicht so zeitig zu kommen, Doktor. Die Rezepte und die Krankenscheine kann ich vor Ihrer Ankunft erledigen. Miss Page hat einen Gummistempel mit der Unterschrift des Doktors anfertigen lassen, als der Herr Doktor krank wurde.“

„Danke“, antwortete Andrew. „Ich schaue mir die Fälle lieber persönlich an.“ Er machte eine Pause und fragte dann, durch das geschäftige Treiben des Pharmaziegehilfen für den Augenblick aus seiner Besorgnis aufgerüttelt: „Was soll das?“

Jenkins zwinkerte. „Aus diesem Gefäß schmeckt es besser. Wir beide wissen ja, was das gute alte ‚Aqua‘[13] bedeutet, he, Doktor? Aber der Patient weiß es nicht. Ich würde wohl ein saudummes Gesicht machen, wenn die Leute dabeistünden und mir zusähen, wie ich ihnen die Arzneiflaschen an der Wasserleitung auffülle.“ Offenbar hatte der kleine Laborant Lust, gesprächig zu werden, aber in diesem Augenblick erklang eine laute Stimme aus der Hintertür des vierzig Yard[14] entfernten Hauses:

„Jenkins! Jen-kins! Kommen Sie! Aber flink!“

Jenkins sprang erschrocken auf, seine Nerven waren offenbar nicht die besten. Er stammelte: „Entschuldigen Sie, Doktor, Miss Page ruft mich. Ich . . . ich muss laufen.“

Zum Glück kamen an diesem Morgen nur wenig Leute in die Sprechstunde, die um halb elf zu Ende war, und Andrew, dem Jenkins eine Hausbesuchsliste überreicht hatte, fuhr sogleich mit Thomas im Gig los. In fast qualvoller Spannung befahl er dem alten Kutscher, unverzüglich zum Glydar Place Nummer sieben zu fahren.

Zwanzig Minuten später verließ er das Haus Nummer sieben, bleich, mit fest zusammengepressten Lippen und einem sonderbaren Gesichtsausdruck. Er trat dann in das zweitnächste Haus, Nummer elf, das ebenfalls auf seiner Liste stand. Von Nummer elf ging er quer über die Straße zu Nummer achtzehn. Von Nummer achtzehn bog er um die Ecke zum Radnor Place. Dort hatte Jenkins laut Vermerk auf seiner Liste am Tage vorher selbst zwei Visiten gemacht.

Alles in allem erledigte er binnen einer Stunde sieben solcher Besuche in der unmittelbaren Umgebung. Fünf dieser Fälle, darunter auch die Patientin vom Glydar Place Nummer sieben, die jetzt einen typischen Hautausschlag zeigte, waren unverkennbar Enteritis. Die letzten zehn Tage hatte Jenkins alle diese Leute mit Kalk und Opium behandelt. Und nun wurde sich Andrew, der am Abend vorher noch so stümperhaft herumgeraten hatte, mit einem Angstschauer darüber klar, dass er einer Typhusepidemie gegenüberstand.

Den Rest seiner Runde erledigte er, so rasch er nur konnte, in einem Zustand zunehmender Panik. Beim Mittagessen, für das Miss Page ein Gericht mit gekochtem Fisch ausgesucht hatte, erklärte sie stirnrunzelnd – „Ich hab ihn für Doktor Page bestellt, aber ich weiß nicht, er scheint ihm nicht zu schmecken!“ –, während er in eisigem Schweigen über das Problem nachbrütete. Er erkannte, dass bei Miss Page nur wenig Information und keinerlei Hilfe zu holen war. Er beschloss daher, unbedingt mit Dr. Page selbst zu sprechen.

Doch als er oben in das Zimmer des Arztes trat, fand er die Vorhänge zugezogen, und Edward lag mit Kopfschmerzen und hochroter, qualgefurchter Stirn lang ausgestreckt da. Obwohl er durch eine Handbewegung den Besucher zum Sitzen einlud, hielt es Andrew doch für eine Grausamkeit, ihn in diesem Zustand mit solchen Sorgen zu belasten. So blieb er ein paar Minuten beim Bett sitzen; als er sich dann erhob, musste er sich auf die Frage beschränken:

„Doktor Page, wie verhält man sich am klügsten, wenn man an einen infektiösen Fall gerät?“

Eine Pause trat ein. Dann antwortete Page mit geschlossenen Augen und völlig bewegungslos, als ob sich seine Kopfschmerzen schon durch das bloße Sprechen verschlimmerten: „Das war von jeher eine recht schwierige Sache. Wir haben nicht einmal ein Krankenhaus, geschweige denn eine Infektionsabteilung. Sollte Ihnen einmal etwas wirklich Unangenehmes unterkommen, müssen Sie Griffiths in Toniglan anrufen. Das liegt fünfzehn Meilen talabwärts. Er ist der beamtete Distriktarzt.“ Wieder schwieg er, länger als vorher. Dann sagte er: „Aber ich fürchte, er ist Ihnen keine große Hilfe.“

Gleichwohl war Andrew froh über die Auskunft, eilte in die Halle hinab und ließ sich mit Toniglan verbinden. Während er mit dem Hörer am Ohr dastand, bemerkte er, wie Annie, die Magd, ihn durch die offene Küchentür beobachtete.

„Hallo! Hallo! Spricht dort Doktor Griffiths in Toniglan?“ Endlich hatte er die Verbindung erhalten.

Eine Männerstimme antwortete sehr zurückhaltend: „Wer will ihn denn sprechen?“

„Hier Doktor Manson, Hilfsarzt bei Doktor Page in Drineffy.“ Andrews Stimme klang überreizt. „Ich habe hier fünf Typhus­fälle. Ich möchte, dass Doktor Griffiths sofort heraufkommt.“

Nach einer kaum merklichen Pause kam überstürzt, im Singsang des typisch walisischen Tonfalls und sehr verlegen die Antwort: „Es tut mir furchtbar leid, Doktor, wirklich ungemein leid, aber Doktor Griffiths ist nach Swansea gefahren. In wichtigen Amtsgeschäften.“

„Wann kommt er zurück?“, schrie Manson. Die Verbindung war erbärmlich.

„Ich kann es Ihnen wirklich nicht genau sagen, Doktor.“

„Aber hören Sie . . .“

Manson vernahm ein Knacken in der Muschel. In aller Seelenruhe hatte der andere aufgehängt. Manson fluchte laut: „Verdammt! Ich glaube, das war Griffiths selber!“

Er rief die Nummer noch einmal an, konnte aber keine Verbindung erlangen. Verbissen wollte er ein drittes Mal anrufen, als er bemerkte, dass Annie in die Halle getreten war. Sie hielt die Hände über der Schürze gefaltet, ihre Augen waren ruhig auf ihn gerichtet. Sie war eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren, sehr sauber und ordentlich, in ihrem ganzen Wesen drückte sich ernste, gelassene Ruhe aus.

„Ich habe, ohne zu wollen, zuhören müssen, Doktor“, sagte sie. „Zu dieser Tagesstunde können Sie Doktor Griffiths nie in Toniglan antreffen. Er fährt nachmittags meistens nach Swansea zum Golfspielen.“

Er antwortete zornig und schluckte dabei, denn ihm war, als sei ihm die Kehle zugeschnürt:

„Aber mir kommt es so vor, als hätte ich mit ihm persönlich gesprochen!“

„Kann schon sein.“ Sie lächelte flüchtig. „Wenn er nicht nach Swansea fährt, soll er manchmal am Telefon sagen, er sei fort­gefahren.“ Sie musterte Andrew mit ruhiger Freundlichkeit, während sie sich zum Gehen wandte. „Ich würde an Ihrer Stelle meine Zeit nicht an den vergeuden!“

Mit einem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit und Entrüstung hängte Andrew den Hörer wieder ein. Fluchend verließ er das Haus und begab sich abermals auf seine Besuchsrunde. Als er zurückkam, war es Zeit für die Abendsprechstunde. Andert­halb Stunden saß er in der hinten gelegenen kleinen Kammer, die als Sprechzimmer diente, und rackerte sich mit dem Haufen Patienten ab, bis vom Dampf der feuchten Leiber die Wände schwitzten und die Luft zum Schneiden dick war. Bergleute mit zerschlagenen Knien, mit verletzten Fingern, mit Nystagmus[15], mit chronischer Arthritis. Dazu ihre Frauen und Kinder mit Husten, Erkältungen, Zerrungen – kurz, mit all den geringfügigen Gebrechen der Menschheit. Unter anderen Umständen wäre er darüber froh gewesen und hätte sich mit Freuden den ruhig forschenden, anerkennenden Blicken dieser dunkelhaarigen Leute von gelblicher Hautfarbe ausgesetzt, vor denen er nun offensichtlich seine Probe zu bestehen hatte.

Jetzt aber war er ganz von jener wichtigeren Angelegenheit in Anspruch genommen, und der Kopf wirbelte ihm unter dem Ansturm so alltäglicher Beschwerden. Dennoch trachtete er die ganze Zeit, zu einem Entschluss zu kommen, und während er Rezepte schrieb, Brustkörbe abhorchte und Patienten beriet, dachte er in einem fort über seine Typhusfälle nach: „Er war es, der mich auf die Spur gebracht hat. Ein widerlicher Kerl! Ja, er geht mir verteufelt gegen den Strich, der überhebliche Satan! Aber ich kann‘s nicht ändern, ich muss zu ihm!“

Als um halb zehn der letzte Patient fortgegangen war, trat Andrew mit entschlossener Miene aus seinem Verschlag.

„Jenkins, wo wohnt Doktor Denny?“

Der kleine Laborant verriegelte aus Angst, es könnte noch ein Nachzügler kommen, eilig die Tür. Dann wandte er sich mit einem fast komischen Ausdruck des Entsetzens um.

„Sie werden sich doch mit diesem Menschen nicht einlassen, Doktor? Miss Page – sie mag ihn nämlich nicht.“

Andrew antwortete grollend: „Warum mag sie ihn nicht?“

„Aus demselben Grund, warum ihn niemand mag. Er war so schauderhaft grob zu ihr.“ Jenkins machte eine Pause, dann bemerkte er Andrews Miene und fügte widerstrebend hinzu: „Nun, wenn Sie‘s wissen müssen, er wohnt bei Mrs. Seager. Chapel Street neunundvierzig.“

Wieder aus dem Haus! Den ganzen Tag war er unterwegs gewesen, aber jede Müdigkeit, die er sonst vielleicht verspürt hätte, war aufgrund seines Verantwortungsgefühls, angesichts der Fälle, die so unendlich schwer auf seinen Schultern lasteten, verschwunden. Er atmete erleichtert auf, als er in der Chapel Street erfuhr, dass Denny daheim war. Die Wirtin führte ihn ins Zimmer.

Wenn Denny über den Besuch überrascht war, so wusste er, das zu verbergen. Nachdem er ihn aufreizend lange gemustert hatte, fragte er: „Nun? Haben Sie schon wen um die Ecke gebracht?“

Andrew stand noch immer auf der Schwelle des warmen, unordentlichen Wohnzimmers. Er wurde rot. Doch mit großer Anstrengung bemeisterte er Zorn und Stolz. Er sagte unvermittelt:

„Sie hatten recht. Es war Enteritis. Ich gehöre erschossen dafür, dass ich das nicht gleich erkannt habe. Fünf Fälle! Es ist mir nicht allzu angenehm, dass ich zu Ihnen kommen muss. Aber ich weiß hier nicht Bescheid. Ich habe den Distriktarzt angerufen, konnte aber nicht das Geringste erreichen. Ich möchte Sie um Rat fragen!“

Denny drehte sich in seinem Sessel am Kaminfeuer halb um, hörte, die Pfeife im Mund, flüchtig hin und sagte schließlich mit einer Gebärde des Unwillens: „So kommen Sie doch endlich herein!“ und dann plötzlich gereizt: „Oh! Mensch Gottes, nehmen Sie sich doch einen Stuhl! Stehen Sie nicht da wie ein presby­terianischer Pastor, der gegen ein Heiratsaufgebot Einspruch einlegt. Was zu trinken? Nein! Na, das hätt' ich mir denken können.“

Obwohl Andrew der Aufforderung, sich zu setzen, nur hölzern nachkam und sich eher widerstrebend eine Zigarette anzündete, schien Denny es ganz und gar nicht eilig zu haben. Er saß da und stupste seinen Hund Hawkins mit der großen Zehe, die aus dem zerrissenen Pantoffel hervorsah. Doch als Manson die Zigarette zu Ende geraucht hatte, sagte er mit einem Kopfnicken:

„Schauen Sie sich das an, wenn Sie wollen!“

Auf dem Tisch, zu dem Denny gewiesen hatte, stand ein Mi­kroskop, ein schöner Zeiss-Apparat und mehrere Objektträger. Andrew stellte ein Plättchen ein und entdeckte sofort die stäbchenförmigen Bakterienhaufen.

„Natürlich ist es ein recht schäbiges Präparat“, sagte Denny rasch und zynisch, als wollte er einer Kritik zuvorkommen. „Genaugenommen, eine Stümperarbeit. Ich bin kein Laborspezialist. Wenn ich überhaupt etwas bin, dann vielleicht Chirurg. Doch bei unserem lausigen System muss man ja Hansdampf in allen Gassen sein. Immerhin, hier ist kein Irrtum möglich. Das sieht man schon auf den ersten Blick. Ich hab sie auf Agar-Agar[16] angezüchtet.“

„Haben auch Sie Fälle?“, fragte Andrew mit angespanntem Interesse.

„Vier! Alle in derselben Gegend wie die Ihren.“ Er machte eine Pause. „Und diese Tierchen stammen aus dem Brunnen am Glydar Place.“

Andrew sah ihn aufmerksam an und hätte am liebsten ein Dutzend Fragen auf einmal gestellt. Die saubere Arbeit seines Kollegen machte starken Eindruck auf ihn, vor allem aber freute er sich, dass er ihm den Herd der Seuche bekanntgegeben hatte.

„Wissen Sie“, fuhr Denny mit demselben kalten, bitteren Hohn in seiner Stimme fort, „typhöse Erkrankungen sind hier mehr oder minder endemisch. Aber eines Tages, und zwar sehr bald, werden wir eine hübsche kleine Epidemie erleben. Der Hauptkanal der Abwasseranlage ist an der Schweinerei schuld. Er ist verteufelt durchlässig, und der Dreck versickert in die Hälfte der tiefer gelegenen Brunnen in der unteren Stadt. Ich habe Griffiths den Kopf damit vollgesummt, bis mir der Mund in Fransen hing. Er ist ein träges, aalglattes, unfähiges, frömmelndes Schwein. Als ich das letzte Mal mit ihm telefonierte, drohte ich ihm, ich würde ihm bei der nächsten Begegnung den Schädel eindreschen. Wahrscheinlich hat er sich deshalb heute vor Ihnen gedrückt.“

„Es ist eine Schande und eine Schmach!“, brach Andrew los, der sich von einer plötzlichen Entrüstung hinreißen ließ.

Denny zuckte die Achseln. „Er hat Angst, den Distriktrat um etwas zu bitten, man könnte ja sein armseliges Gehalt kürzen, wenn die Ausgaben für die Gesundheitspflege zu sehr ansteigen.“ Nun schwiegen sie beide. Andrew hätte sich zwar brennend gewünscht, die Unterhaltung fortzusetzen. Ungeachtet seiner feindseligen Stimmung gegen Denny fühlte er sich durch den Pessimismus, die Skepsis und die zynische Gelassenheit des anderen seltsam angespornt. Aber er hatte jetzt keinen Vorwand mehr, länger zu bleiben. Deshalb stand er von seinem Platz am Tisch auf und schritt zur Tür. Er verbarg seine Gefühle und bemühte sich vielmehr nur, für die ihm zuteil gewordene Hilfe rein förmlich zu danken.

„Ich bin Ihnen für die Mitteilung sehr verbunden. Sie haben mir gezeigt, woran ich bin. Ich habe mir den Kopf über den Ursprung der Seuche zerbrochen und geglaubt, ich hätte es vielleicht mit einem Bazillenträger zu tun, aber da Sie den Brunnen als Seuchenherd festgestellt haben, liegt die Sache viel einfacher. Von nun an wird jeder Tropfen Wasser vom Glydar Place gekocht werden.“

Auch Denny erhob sich. Er knurrte: „Griffiths sollte gekocht werden.“ Dann sagte er wieder in der alten spöttischen Laune: „Nun, Doktor, keine rührenden Danksagungen, wenn ich bitten darf. Wir werden einander wahrscheinlich noch öfters ertragen müssen, solange diese Geschichte andauert. Besuchen Sie mich jederzeit, wenn Sie‘s über sich bringen. In unserer Gegend hier gibt‘s nicht viel gesellschaftlichen Verkehr.“ Er sah den Hund an und schloss grob: „Sogar ein schottischer Doktor ist willkommen, nicht wahr, Sir John?“

Sir John Hawkins peitschte mit dem Schwanz den Teppich und streckte seine rosafarbene Zunge heraus, als wollte er sich über Manson lustig machen.

Und doch – als Andrew über den Glydar Place heimging, wo er seinen Patienten noch rasch strenge Weisungen bezüglich des Trinkwassers gab, erkannte er, dass er Denny keineswegs so sehr verabscheute, wie er geglaubt hatte.

4

Andrew stürzte sich mit dem ganzen Feuer seines stürmischen und leidenschaftlichen Wesens in den Feldzug gegen die Enteritis. Er liebte seinen Beruf und schätzte sich glücklich, dass ihm so früh in seiner Laufbahn eine solche Gelegenheit untergekommen war. Während dieser ersten Wochen rackerte er sich freudig ab. Er hatte die ganze Routinearbeit der Praxis zu verrichten und wenn er damit durch war, widmete er sich mit Wonne seinen Typhusfällen.

Vielleicht hatte er bei diesem, seinem ersten Kampf gegen den Sensenmann Glück. Gegen Monatsende ging es allen seinen Enteritispatienten besser, und es schien, als hätte er die Seuche eingedämmt. Als er jetzt an seine so streng erzwungenen Vorsichtsmaßregeln dachte – das Kochen des Wassers, die Des­infektion und Isolierung, das karbolgetränkte[17] Laken an jeder Tür, die vielen Pfund Chlorkalk, die er auf Doktor Pages Rechnung gekauft und persönlich in die Kanäle am Glydar Place geschüttet hatte –, rief er begeistert aus: „Es funktioniert! Ich habe das nicht verdient. Aber, bei Gott, ich schaffe es!“ Es machte ihm heimlich Vergnügen, so verwerflich es war, dass seine Patienten rascher genasen als die von Denny. Denny gab ihm noch immer Rätsel auf und oft war er über ihn maßlos erbittert. Naturgemäß sahen sie einander oft, weil ihre Fälle in derselben Gegend waren. Denny gefiel sich darin, mit ganzen Kübeln an Sarkasmus über die Arbeit, die sie beide leisteten, herzufallen. Manson und sich selber nannte er „grimmige Kämpfer gegen das Seuchengespenst“ und kostete diese Phrase mit bösartigem Behagen aus. Doch ungeachtet des Hohns und der ironischen Aufforderung: „Vergessen Sie nicht, Doktor, dass wir die Fahne dieses wahrhaft ruhmvollen Berufes hochhalten müssen!“, ging er zu seinen Patienten, setzte sich an ihre Betten, legte ihnen die Hand auf und verbrachte Stunden in den Krankenzimmern.

Gelegentlich gewann ihn Andrew wegen einer plötzlich hervortretenden scheuen und doch selbstbewussten Schlichtheit beinahe lieb, dann wurde das Ganze durch eine mürrische, höhnische Bemerkung wieder zerstört. Verletzt und verblüfft griff Andrew eines Tages zum Ärzteregister, von dem er sich Aufklärung erhoffte. Es war ein fünf Jahre altes Exemplar in Doktor Pages Regal, aber es enthielt unerwartete Informationen. Man ersah daraus, dass Philip Denny in Cambridge mit Auszeichnung absolviert hatte, Ehrenmitglied der Medizinischen Gesellschaft von England war und – damals – eine Praxis und Anstellung als Chirurg in der Herzogstadt Leeborough gehabt hatte.

Auf einmal, am zehnten November, rief ihn Denny unerwartet an: „Manson, ich würde Sie gern sprechen. Können Sie um drei Uhr zu mir kommen? Es ist wichtig.“

„Sehr schön. Ich komme.“

Nachdenklich ging Andrew zum Mittagstisch. Während er die ihm heute vorgesetzte Fleischpastete aß, fühlte er, wie Blodwen Pages Blick forschend auf ihm ruhte.

„Wer war das vorher am Telefon? Also Denny, wie? Sie haben sich mit diesem Kerl nicht abzugeben. Er taugt nichts.“

Manson sah ihr trotzig ins Gesicht. „Im Gegenteil, ich habe gefunden, dass er sehr viel taugt.“

„Also so was, Doktor!“ Miss Page schien durch seine Antwort verstimmt zu sein. „Er ist richtig verrückt. Meistens verschreibt er überhaupt keine Medikamente. Stellen Sie sich vor, als Megan Rhys Morgan, die ihr Lebtag Medikamente brauchte, zu ihm kam, sagte er ihr, sie solle täglich zwei Meilen bergauf steigen und aufhören, sich mit Schweinefutter vollzustopfen. Das waren seine eigenen Worte. Nachher kam sie zu uns – sag ich Ihnen – und seither hat ihr Jenkins schon viele, viele Flaschen mit ausgezeichneten Mixturen zukommen lassen. Oh, er ist ein spöttischer Teufel. Übrigens heißt es, er habe irgendwo eine Frau. Die lebt aber nicht mit ihm. Sehen Sie! Außerdem ist er meistens betrunken. Lassen Sie die Finger von ihm, Doktor, und denken Sie daran, dass Sie für Doktor Page arbeiten!“

Als sie ihm diese wohlbekannte Meinung an den Kopf warf, fühlte Andrew, wie ihn jäher Zorn überkam. Er bemühte sich aufs äußerste, mit ihr auszukommen, doch schienen ihre Ansprüche keine Grenzen zu kennen. Ihr Betragen war, mochte sie sich nun geschäftsmäßig nüchtern oder liebenswürdig geben, offenbar immer darauf berechnet, das letzte Gramm aus ihm herauszupressen.

Eine plötzliche Wut stieg in ihm auf und er erinnerte sich daran, dass sein erstes Monatsgehalt schon seit drei Tagen fällig war; vielleicht handelte es sich dabei um ein Versehen ihrerseits, jedenfalls hatte er sich wegen der Sache schon weidlich geärgert.

Wie er sie nun so dreist und selbstgerecht über Denny zu Gericht sitzen sah, konnte er sich nicht länger beherrschen. Hitzig schleuderte er ihr die Worte ins Gesicht:

„Ich würde mich besser daran erinnern, dass ich für Doktor Page arbeite, wenn ich mein Gehalt bekäme, Miss Page!“

Sie errötete vor Unwillen. Nun war er davon überzeugt, dass sie die Sache völlig vergessen hatte. Sie warf den Kopf zurück: „Sie werden es kriegen! Eine solche Idee!“

Bis zum Schluss der Mahlzeit saß sie erzürnt da und würdigte Andrew keines Blickes, als ob er sie beleidigt hätte. Aber auch Manson ärgerte sich – über sich selbst. Er hatte gedankenlos dahergeredet und gar nicht die Absicht gehabt, sie zu kränken. Sein ungezügeltes Temperament hatte ihm wieder einmal einen Streich gespielt.

Während er den Rest seiner Mahlzeit verzehrte, musste er unwillkürlich an sein Verhältnis zu Miss Page denken. Vom ersten Augenblick an, wo er in Bryngover eingetroffen war, hatte er das Gefühl gehabt, dass sie einander nicht leiden konnten. Vielleicht lag die Schuld daran auf seiner Seite – der Gedanke machte ihn noch verdrießlicher –, er war, wie er wohl wusste, steif und nicht leicht zu behandeln.

Andererseits war Blodwen Page zweifellos eine höchst achtbare Frau, eine gute, sparsame Wirtschafterin, die jeden Augenblick zu nutzen verstand. In ihrer unbedingten Ergebenheit gegenüber ihrem Bruder und in der schrankenlosen Wahrung seiner Interessen war sie geradezu vorbildlich. Gleichwohl sah Andrew in ihr nur die unfruchtbare, hagere alte Jungfer, deren Lächeln jede Herzenswärme vermissen ließ. Als verheiratete Frau, im Kreise sich balgender Kinder, hätte sie ihm bestimmt besser gefallen.

Nach dem Mittagessen erhob sie sich und rief ihn einen Augenblick darauf ins Wohnzimmer. Sie gab sich würdig, fast streng. „Hier haben Sie also Ihr Geld, Doktor. Ich habe die Er­fahrung gemacht, dass meine Assistenten Barzahlung lieber haben. Nehmen Sie Platz, ich zähle Ihnen den Betrag vor.“

Sie saß in dem grünen Plüschsessel; in ihrem Schoß lagen eine Anzahl Pfundnoten und ihre schwarze Lederbörse. Sie nahm die Banknoten und zählte sie sorgsam in Mansons Hand. „Eins – zwei – drei – vier –.“

Als sie ihm zwanzig Noten gegeben hatte, öffnete sie ihre Börse und zahlte ihm mit der gleichen Genauigkeit sechzehn Schillinge acht Pence[18] aus. Dann bemerkte sie: „Mir scheint, so geht es für einen Monat in Ordnung, Doktor. Wir haben ein Jahresgehalt von zweihundertfünfzig Pfund vereinbart.“

„Gewiss“, antwortete er linkisch, „es ist völlig in Ordnung.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu: „So, jetzt wissen Sie, dass ich Sie nicht betrügen will, Doktor.“

Andrew verließ das Haus in dumpfer Erbitterung. Ihre Zurechtweisung zwickte ihn umso heftiger, als sie offenbar gerechtfertigt war.

Erst als er zum Postamt kam, um eine Geldsendung mit zwanzig Pfund – das Silber behielt er als Taschengeld zurück – an das Glen Endowment zu veranlassen, besserte sich seine Laune. Als er Doktor Bramwell kommen sah, hellte sich seine Miene noch mehr auf. Bramwell ging langsam einher; er setzte seine großen Füße majestätisch auf das Pflaster auf, die schäbig gekleidete, dunkle Gestalt war hoch aufgerichtet, ungeschnittenes Silberhaar flatterte hinten über den schmutzigen Kragen und die Augen blickten unverwandt in ein Buch, das er in Armlänge vor sich hielt. Bei Andrew angekommen, den er schon von halber Höhe der Straße gesehen hatte, spielte er den Überraschten, als ob er ihn erst jetzt bemerkt hätte.

„Ah, Manson, lieber Junge! Ich war so vertieft, dass ich beinahe an Ihnen vorbeigegangen wäre.“

Andrew lächelte. Er stand auf gutem Fuß mit Doktor Bramwell, der ihn, im Gegensatz zu Nicholls, dem anderen „eingetragenen“ Arzt, bei der Ankunft herzlich willkommen geheißen hatte. Bramwells Praxis war nicht sehr ausgedehnt, er konnte sich daher nicht den Luxus eines eigenen Hilfsarztes leisten, aber er trat großspurig auf und verstand es, sich in mancher Hinsicht wie ein berühmter Heilkünstler zu geben.

Jetzt klappte er sein Buch zu, nachdem er mit dem schmutzigen Finger sorgfältig die Stelle bezeichnet hatte, wo er beim Lesen stehengeblieben war, dann steckte er die freie Hand malerisch vorn in den zerschlissenen Rock. Er benahm sich so sehr wie eine Opernfigur, dass er kaum wirklich zu sein schien. Aber da stand er nun, auf der Hauptstraße von Drineffy. Kein Wunder, dass Denny ihn den Wichtigtuer genannt hatte.

„Und wie gefällt Ihnen unser kleines Gemeinwesen, mein Junge? Ich habe es Ihnen ja schon gesagt, als Sie meine liebe Frau und mich in unserem Schlupfwinkel besucht haben: Es ist gar nicht so übel, wie es auf den ersten Blick aussieht. Wir haben auch hier Begabung und Kultur. Meine liebe Frau und ich tun unser Bestes, das zu fördern. Wir halten die Fackel hoch, Manson, sogar in der Einöde. Sie müssen einmal einen Abend zu uns kommen. Singen Sie?“

Andrew hatte das höchst unbehagliche Gefühl, loslachen zu müssen. Bramwell aber redete salbungsvoll weiter.

„Natürlich haben wir schon von Ihren Leistungen bei den Enteritisfällen gehört. Drineffy ist stolz auf Sie, mein lieber Junge. Wenn nur ich diese Gelegenheit gehabt hätte! Sollten Sie einmal in eine schwierige Lage kommen, wo ich Ihnen von Nutzen sein kann, müssen Sie bestimmt zu mir kommen!“

Von einem Gefühl der Zerknirschung erfasst – wer war er denn, dass er sich über den älteren Mann lustig machen durfte? –, erwiderte Andrew rasch:

„Ja, wirklich, Doktor Bramwell, ich habe bei einem meiner Patienten in der Tat einen interessanten Fall von sekundärer Mediastinitis[19], etwas höchst Seltenes. Vielleicht wollen Sie mit mir hingehen, wenn Sie frei sind?“

„Ja?“, fragte Bramwell, bedeutend weniger begeistert. „Ich möchte Ihnen aber nicht zur Last fallen.“

„Es ist gleich um die Ecke“, sagte Andrew einladend. „Und ich habe eine halbe Stunde zur Verfügung, ehe ich mit Doktor Denny zusammentreffe. Wir sind in einer Sekunde da.“

Bramwell zögerte; eine Minute lang hatte es den Anschein, als wollte er ablehnen, dann stimmte er durch eine schwache Geste zu. Sie gingen zum Glydar Place hinunter und betraten die Wohnung des Kranken.

Der Fall war, wie Manson erklärt hatte, ungewöhnlich interessant, denn er zeigte ein ziemlich seltenes Beispiel von Persistenz der Thymusdrüse[20]. Andrew war ehrlich stolz auf diese Diagnose, eifrig schilderte er den Verlauf der Krankheit und bemühte sich, Bramwell an seiner Entdeckerfreude teilnehmen zu lassen.

Aber Doktor Bramwell schien trotz seiner Beteuerungen von der ihm gebotenen Gelegenheit nicht allzu entzückt. Zaudernd folgte er Andrew ins Zimmer und näherte sich, durch die Nase atmend, in einer damenhaften Art dem Bett. Hier blieb er steif wie eine Schildwache stehen und sah sich aus sicherer Ent­fernung den Patienten flüchtig an. Er zeigte auch gar keine Lust, länger zu verweilen. Erst nachdem sie das Haus verlassen und er in der reinen frischen Luft einen tiefen Atemzug getan hatte, fand er seine gewohnte Beredsamkeit wieder. Er strahlte Andrew an.

„Ich freue mich, mein lieber Junge, dass ich diesen Fall mit Ihnen gesehen habe, erstens, weil ich es für die Pflicht eines Arztes halte, nie und nimmer vor der Gefahr einer Infektion zurückzuschrecken, und zweitens, weil ich mich über jede Gelegenheit zu wissenschaftlicher Vervollkommnung freue. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe noch nie einen schöneren Fall von Pankreasentzündung[21] gesehen!“

Er schüttelte ihm die Hand und eilte weg; Andrew blieb völlig verdattert zurück. Pankreas! dachte er betäubt. Es war nicht etwa nur ein falscher Zungenschlag Bramwells gewesen, sondern ein ganz krasser Irrtum. Sein ganzes Betragen während des Kranken­besuches hatte Unwissenheit verraten. Er wusste es einfach nicht. Andrew rieb sich die Stirn. Welche Vorstellung: Ein approbierter praktischer Arzt, in dessen Hand das Leben Hunderter menschlicher Wesen lag, kannte den Unterschied zwischen dem Pankreas und dem Thymus nicht, obwohl die eine dieser Drüsen in der Bauchhöhle und die andere im Brustkorb lag – aber, das war doch geradezu erschütternd!

Langsam ging er die Straße zu Dennys Wohnung hinauf und erkannte von neuem, wie seine ganze wohlgeordnete Auffassung von ärztlicher Berufsausübung rings um ihn in die Brüche ging. Er wusste wohl, dass er selber noch unfertig, unzulänglich geschult und seiner Unerfahrenheit wegen manchen Irrtümern ausgesetzt war. Aber Bramwell war nicht unerfahren, und deshalb gab es für seine Ignoranz keine Entschuldigung. Unwillkürlich kehrten Andrews Gedanken zu Denny zurück, der es nie an bitterem Spott über ihren Ärzteberuf fehlen ließ. Anfangs hatte er sich durch Dennys resignierte Behauptung, in ganz England gebe es Tausende unfähiger Ärzte, die es nur durch reine Dummheit und die allmählich erworbene Fähigkeit, die Patienten zu bluffen, zu etwas gebracht hätten, aufs tiefste verletzt gefühlt. Jetzt begann er sich zu fragen, ob nicht doch etwas Wahres an Dennys Worten sei. Er beschloss, noch bei seinem heutigen Besuch das Thema wieder anzuschneiden.

Doch sobald er Dennys Zimmer betreten hatte, sah er, dass die Gelegenheit für akademische Debatten keineswegs günstig war. Philip empfing ihn in mürrischem Schweigen mit düsterer Miene und finsterer Stirn. Nach einem Augenblick sagte er dann:

„Um sieben Uhr morgens ist der junge Jones gestorben. Perforation[22].“ Er sprach ruhig, in stiller, kalter Wut. „Und ich habe zwei neue Enteritisfälle in der Ystrad Row.“

Andrew senkte mitfühlend den Blick, wusste aber nicht recht, was er sagen sollte.

„Schauen Sie nicht so selbstgefällig drein!“, fuhr Denny erbittert fort. „Sie sind natürlich höchst zufrieden, wenn‘s mit meinen Patienten schiefgeht und die Ihren gesund werden. Aber das sähe anders aus, wenn der verdammte Kanal einmal in Ihrer Gegend undicht würde.“

„Nein! Nein! Auf Ehre, mir tut‘s leid!“, rief Andrew impulsiv. „Wir müssen da etwas unternehmen. Schicken wir doch dem Gesundheitsministerium einen Bericht!“

„Wir könnten ein Dutzend Berichte schmieren“, antwortete Philip mit verhaltenem Groll. „Im besten Fall würden wir erreichen, dass in einem halben Jahr so ein Tatterich von Kommissar herkäme! Nein! Ich hab mir‘s genau überlegt. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, die Kerle zum Bau eines neuen Kanals zu zwingen.“

„Und zwar?“

„Den alten in die Luft sprengen!“

Eine Sekunde lang fragte sich Andrew, ob Denny am Ende nicht gar den Verstand verloren habe. Dann dämmerte ihm eine Ahnung von der harten Entschlossenheit dieses Mannes. Er starrte ihn bestürzt an. So sehr sich Andrew auch bemühte, seine Überzeugungen, die dem Leben nicht standhielten, immer wieder neu zu sortieren, schien es Dennys Bestimmung zu sein, sie zu zertrümmern. Andrew murmelte: „Es kann böse Scherereien geben, wenn es rauskommt!“ Anmaßend hob Denny den Blick.

„Sie brauchen nicht mitzutun, wenn es Ihnen nicht passt!“

„Natürlich bin ich dabei“, antwortete Andrew langsam. „Aber Gott allein weiß, warum.“

Den ganzen Nachmittag ging Andrew seiner Arbeit nach und bedauerte schmerzlich, sein Versprechen gegeben zu haben. Der Mann, dieser Denny, war ja irrsinnig und brachte ihn gewiss früher oder später furchtbar in die Klemme. Sein Vorschlag konnte einem Angst machen – das war eine Gesetzwidrigkeit, die sie beide, wenn die Sache aufflog, vor den Polizeirichter bringen musste, ja sogar ihre Streichung aus dem Ärzteregister zur Folge haben konnte. Schreckensschauer schüttelten Andrew, wenn er daran dachte, dass seine herrliche Laufbahn, die sich so glanzvoll vor ihm auftat, der Gefahr ausgesetzt war, plötzlich abzubrechen und zu Ende zu sein. Ungestüm verwünschte er Philip und schwor insgeheim ein gutes Dutzend Eide, nicht mitzumachen.

Und dennoch – aus einem seltsamen, schwer erklärlichen Grunde würde er nicht, konnte er nicht zurückrudern.

Um elf Uhr abends machten sich Denny und er in Gesellschaft des Köters Hawkins auf den Weg zum Ende der Chapel Street. Es war sehr dunkel, mit Windböen und Nieselregen, der ihnen an den Straßenecken ins Gesicht geblasen wurde. Denny hatte seinen Plan sorgfältig entworfen und die Zeit genau bemessen. Die Nachtschicht war vor einer Stunde ins Bergwerk eingefahren. Ein paar junge Burschen lungerten vorn am Hause des alten Thomas umher, sonst war die Straße menschenleer.

Die beiden Männer und der Hund bewegten sich leise weiter. In der Tasche seines dicken Mantels hatte Denny sechs Dynamit­patronen, die Tom Seager, der Sohn seiner Hauswirtin, am Nachmittag eigens für ihn aus dem Sprengstofflager der Grube gestohlen hatte. Andrew trug sechs Kakaobüchsen, jede mit einem in den Deckel gebohrten Loch, ferner eine elektrische Taschenlampe und eine Rolle Zündschnur. So trottete er, den Mantelkragen hochgeschlagen, mit einem Auge manchmal über die Schulter linsend in einem Wirbel widerstreitender Gefühle dahin. Dennys kurze Bemerkungen erwiderte er nur ganz wortkarg. Grimmig fragte er sich, was Lamplough – dieser brave Lehrmeister der reinen Wissenschaft – wohl von ihm dächte, wüsste er von diesem haarsträubenden nächtlichen Abenteuer.

Unmittelbar oberhalb des Glydar Place gelangten sie an den Haupteinstieg in den Kanal, welcher unter einem rostigen Eisendeckel auf abbröckelnder Betonfassung verborgen war. Dort machten sie sich ans Werk. Der halbverrostete Deckel war Jahre nicht in seiner Ruhe gestört worden, aber nach einigem Kampf konn­ten sie ihn wegreißen. Dann leuchtete Andrew vorsichtig mit der Taschenlampe in die stinkige Tiefe, wo über das zerfallene Mauerwerk ein dreckiger Bach schleimig dahinfloss.

„Hübsch, nicht wahr?“, schnarrte Denny. „Schauen Sie sich nur die Risse in der Mauer an. Schauen Sie sich‘s zum letzten Mal an, Manson!“

Sonst wurde weiter kein Wort gesprochen. Ohne dass Andrew es hätte erklären können, hatte sich seine Stimmung verändert, und er fühlte eine wild emporsteigende Freude, eine Entschlossenheit, die nicht geringer als die Dennys war. Menschen mussten dieses verseuchten Pfuhls wegen sterben, und ein schäbiges kleines Beamtentum hatte nichts dagegen unternommen. Dieses Übel ließ sich nicht dadurch heilen, dass man sich brav an ein Krankenbett setzte und Arzneiflaschen vollkritzelte!