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Beschreibung

»Beim Reisen geht es nicht um Entfernungen, es geht um die Begegnung mit etwas anderem.« Orhan Pamuk Es gibt heute vielfältige Möglichkeiten des Reisens, die den geographischen Ausblick auf unsere Welt verändern und unmittelbare Auswirkungen auf die Zukunft unserer verschiedenen Lebenswelten haben. Wohin führt uns diese Reise?, fragten sich bedeutende Autoren und Intellektuelle unserer Zeit. Ihre Antworten über die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten zukünftigen Reisens sind genauso faszinierend und intelligent wie erhellend und provokativ. Seite für Seite erhalten wir ein umfassendes Gesamtbild eines noch fernen und doch so nahen Horizonts des Reisens. Mit Original-Beiträgen u.a. von Hans-Magnus Enzensberger, Peter Handke, Orhan Pamuk, Joseph Vogl und Roger Willemsen.

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Seitenzahl: 210

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Die Zukunft des Reisens

Herausgegeben von Thomas Steinfeld

Fischer e-books

Vorwort

Dieses Buch hat eine Geschichte, die mehrere Jahre zurückreicht. Sie beginnt in Venedig, wo der Philosoph Wolfgang Scheppe lebt, als er an der Fakultät für Kunst und Design der IUAV, der Architektur-Universität der Stadt, lehrte. Es war unvermeidlich, dass er, der sich zuvor mit Bild- und Zeichentheorie im Allgemeinen, insbesondere aber mit Marken und öffentlichen Symbolen beschäftigt hatte, in Venedig auf die ikonischen Qualitäten dieser Stadt stieß: Venedig ist, schon lange vor John Ruskins Versuch, die Stadt im Detail nachzuzeichnen, ein unendliches Reservoir von Bildern. Sie hat sich selbst als solches Reservoir gesehen und ist als solches in der Welt wahrgenommen worden. Dass Venedig eben auch das Reiseziel vor allen anderen ist, hängt eng damit zusammen: Die Stadt ist ein archetypischer Ort der Sehnsucht und ihrer Geschichte, und diese Sehnsucht vermittelt sich in Bildern.

An der IUAV Venedig beschäftigt sich Wolfgang Scheppe vor allem mit den beiden großen Wanderungsbewegungen unserer Zeit: mit den Reisen der Arbeitsmigranten und der Asylsuchenden auf der einen, mit den Reisen der Touristen auf der anderen Seite. Die Bildmonographie »Migropolis. Venice – Atlas of a Global Situation« (Hatje & Cantz Verlag, Stuttgart 2009) dokumentiert dabei nicht nur, wie eng diese beiden Bewegungen tatsächlich miteinander verflochten sind. Sie zeigt vielmehr auch, wie die Sehnsucht – und damit die Bilder – aus dem Tourismus in die Migration übergeht, wie Bilder als Katalysatoren und Identifikationspunkte dieser Sehnsucht fungieren und wie sich die beiden Bewegungsströme an Bildern und durch Bilder begegnen.

Es war auch das Projekt »Migropolis«, das Remo Masala, den Marketingverantwortlichen des Schweizer Touristikunternehmens Kuoni, auf den Gedanken brachte, die strategische Planung des Unternehmens um ein neues, zunächst völlig fremdes Element zu erweitern: um eine freie, intellektuelle, literarische Auseinandersetzung mit der Zukunft des Reisens. Der Zeitpunkt für eine solche Debatte schien richtig zu sein: Denn tatsächlich steht das Geschäft mit dem Tourismus vor großen Herausforderungen: dadurch, dass es sich, bedingt durch das Internet, in zunehmendem Maße individualisiert, dadurch, dass massenhaftes Reisen nicht nur die Infrastruktur ganzer Länder von Grund auf verändert, sondern auch (etwa im Stau) auf die Grenzen der eigenen Voraussetzungen stößt, und schließlich dadurch, dass sich mit der absehbaren deutlichen Verteuerung der Energiepreise auch die Bedingungen des Reisens grundlegend ändern.

So kam es zu einer erstaunlichen, aber sinnvollen Konstellation: Kuoni, ein global agierendes, großes, börsennotiertes Unternehmen, bat eine Handvoll Intellektuelle und Literaten, sich, unter der Voraussetzung unbedingter gedanklicher Freiheit, Gedanken zu machen über die Grundlagen des eigenen Geschäftsmodells. Nicht Akklamation war verlangt, nicht Parteilichkeit, nicht Schönschreiberei – sondern die ausschließliche Verpflichtung auf den eigenen Kopf. Umrissen wurde das Projekt im Herbst 2010, auf einer kleinen Konferenz in Venedig, und schnell wurde dabei deutlich, dass alle Beteiligten eine gewisse Breite des Unternehmens wünschten: also nicht nur Ableitung, Stringenz, Logik, sondern auch unterschiedliche Zugänge, Erzählformen, Genres, spielerische Ansätze, freiere Konzepte. Der Ort der kleinen Konferenz, also Venedig in seiner Vielgestalt, als gegenwärtiger und historischer Reiseort, machte sich dabei als Inspiration geltend. Nicht jeder der Beiträger konnte damals dabei sein: Es hätte aber das vorliegende Unternehmen ohne dieses Treffen, und ohne diesen Ort, nicht in dieser glücklichen Form gegeben.

In der Folge wurde dann eine Reihe von Menschen angesprochen, ob sie zur Diskussion dieses Gegenstands – wird das Reisen eine Zukunft haben und, wenn ja, welche? – etwas zu sagen hätten. Die Organisatoren des kleinen Kolloquiums erhielten keine Absage. Im Gegenteil, jeder Angesprochene schien von dieser Frage schon berührt worden zu sein und über sie nachgedacht zu haben: Das Reisen ist offensichtlich ein wesentlicher, aber intellektuell unterschätzter Moment in unser aller Leben. Und wenn die Organisatoren am Ende doch nicht mehr potentielle Beiträger ansprachen als die zwei Dutzend, die jetzt in diesem Buch versammelt sind, dann liegt das daran, dass die wichtigsten möglichen gedanklichen Motive alle zumindest einmal behandelt zu sein schienen.

Was am Ende aus diesem Versuch herausgekommen ist, ist eine Art von Feuilleton in Buchform, ein vielstimmiges »get together«, in dem jedoch Gegenstand, Richtung und Zweck der intellektuellen und ästhetischen Anstrengungen immer erkennbar sind. Was dabei des Bewahrens wert war, wird in diesem Buch dokumentiert – nachdem es, wie alle Beteiligten wissen, im Unternehmen gründlich diskutiert wurde.

Zu danken gibt es dabei vielen, zunächst Remo Masala und seinen Mitarbeitern bei Kuoni, dann jedem der Mitwirkenden und schließlich, und vor allem, Marie Letz, deren Aufgabe es war, die Ordnung der Papiere zu wahren. Ohne sie hätten wir uns alle auf Reisen in unendlichen Räumen verloren.

München, im April 2012

Thomas Steinfeld

Der Zweck des Reisens

Wolfgang Scheppe/Thomas Steinfeld

Die Wunschmaschine

Wohin die Reise geht: Eine Bedienungsanleitung

Der Tourismus ist ein intensiv bestelltes Feld von Trend- und Zukunftsforschern, Thesen und Prognosen, Manifesten und Proklamationen. Den nüchternen Versuch hingegen, sie zu verstehen, gab es lange nicht mehr. Nur aus korrektem Wissen aber kann man praktische Folgerungen ziehen. Aus Hoffen und Fordern folgt nämlich nichts.

Für all diese Bemühungen gilt: Es ist unergiebig, der Wirklichkeit ein Sollen entgegenzuhalten. Und das ist den Ferien als Denkgegenstand immer widerfahren: Man hielt ihnen den »sanften Tourismus« und »neuen Touristen« entgegen. Zu viele Abhandlungen, die den Tourismus erklären wollen, fordern nur, wie er zu sein und was er zu lassen habe. Aber wie alle Wirklichkeit richtet sich auch der Tourismus nicht nach dem, was man sich von ihm erhofft, sondern entwickelt sich nach eigenen Gesetzen in den Unvorhersehbarkeiten der Zeitgeschichte.

Urlaub liegt als etwas Unbekanntes, das man sich vorzustellen sucht, immerzu in weiter Ferne. Und zwar für die Urlauber und die Urlaubswirtschaft. So wie der Tourismus für seine Kunden mit einer entfernten Hoffnung zu tun hat, deren Verlauf man plant, aber nicht kennt, so bedürfen seine Veranstalter der Antizipation, um ihr Geschäft so betreiben zu können, wie es ihnen von einer schnell und chaotisch sich verändernden Gesellschaft und Umwelt abverlangt wird. Beide fragen sich: Wohin geht die Reise?

Statt sich erneut auf das Verfertigen schöner Ideale oder auf das frei schwebende Erspüren von Trends zu werfen, hat die Diskussion, die in diesem Buch dokumentiert ist, sich vorgenommen, alle Einsichten in die Kultur des Reisens und ihrer möglichen Entwicklung abzuleiten – aus seinem Begriff und seiner Geschichte, vor dem Hintergrund des »massive change« und seiner Konflikte, die von der Gesellschaft in der Beschleunigungsphase zu einer globalisierten Weltgesellschaft ausgehalten werden müssen.

Der Tourismus erweist sich nicht nur als die vermutlich größte und bedeutendste Branche im weltweiten Wirtschaften. Er stellt auch das räumlich zerstreuteste und am tiefsten in der Psychologie seiner Kunden verankerte Geschäftsfeld dar. Das heißt nichts weniger, als dass er auch der verletzlichste und den Entwicklungen der Geschichte am stärksten ausgesetzte Betrieb ist. Natürliche und soziale Entwicklungen aller Art, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Seuchen, kriegerische Konflikte, religiöse Spannungen, diplomatische Auseinandersetzungen, Volksaufstände, Veränderungen im Einkommensniveau und im Arbeitsrecht, das Wiederaufkommen der Piraterie, Musik (Lambada), Mode (Tanga aus Brasilien), Hollywoodfilme (The Blue Lagoon) und Bestseller (Eat Pray Love) – eben alles, was man in der Zeitung liest –, wird sogleich und auf Tagesbasis zu einem Faktor des Vergnügungsreisens und Sinnsuchens. Das Reiseverhalten ist ein einziger Seismograph, der die Labilität der Welt und der Kultur in ihr beschreibt. Es ist ein Betätigungsfeld der Industrie, das in seinem kurzfristigen Zittern wie in seinen langfristigen Wellen kaum eine Berechnung erlaubt.

Da aber nur Wissen über die eigene Handelsware dazu führen kann, dass man als Unternehmen auf den Zusammenhang von Bedürfnis und Nutzen im konkreten Leben derer sinnt, mit denen man kommunizieren will, wird hier ein anderer Versuch zu einer Phänomenologie der Ferienreise unternommen. Die Frage lautet also: Welche Umrisse zeichnen sich ab für Figuren des Reisenden der Zukunft, Gestalten, die auch Denkfiguren der Komplikationen und Sehnsüchte sind, von denen sie bewegt werden.

 

1. Drei Wochen sind eine Ewigkeit. Die Sehnsucht nach einem Leben, das anders ist als das gewöhnliche, das Bedürfnis nach einem Leben mitten im Alltag und aus diesem zugleich herausbrechend, hört nicht auf. Denn der Alltag hört auch nicht auf. Ganz im Gegenteil: Er wird nicht leichter werden, und deshalb steigt auch der Wert, der dem anderen zugemessen wird, das dem eigenen Leben die Sphäre der Selbstbestimmtheit bewahrt. Mit zunehmendem Wohlstand in den neuen Industrieländern wird sich die Zahl derer, die dieser Kompensation bedürfen, ausweiten.

 

2. Man kommt nicht mehr voran. Je mehr Menschen reisen, je mehr Transportgeräte gleichzeitig unterwegs sind, desto eher stößt die kollektive Bewegung auf ihr eigenes hartes Material. Es schlägt sich nieder in Wartehallen, in Transitzonen, in Staus, verpassten Anschlüssen, Umleitungen und verlorengegangenen Gepäckstücken. Je kostbarer die Ferien sind, desto mehr werden solche Zeit- und Energieverluste zu einer unerträglichen Erschwernis. Wer den Luxus des Reisens genießen will, aber auch, wer die Not kürzerer Urlaubszeiten erfährt, wird darauf bestehen, solche Verluste zu vermeiden.

 

3. Die Liegenden und die Gehenden. Den traditionellen Aufenthalt am Strand, wo der Tourist nach allen Richtungen hin abgesichert und umsorgt ist, um sich dem Müßiggang hingeben zu können, wird es weiter geben. Aber davon wird sich zunehmend ein freieres, luxuriöseres Reisen abheben, dem es auf das Konkrete eines Ziels oder auf das Reisen als Lebensform ankommt. Die Trennung der in pauschaler Obhut verbrachten Ferien von einer Kultur der Reise im weiteren Sinn wird sich fortsetzen. Neue Gestalten des dauernden Unterwegsseins werden entstehen.

 

4. Das andere ist niemals da. Die Ferien sind ein ferner Horizont, seine Realität ist eine Stimmung, und erreichen kann man sie nicht. Wann immer der Reisende ein Ziel erreicht, stellt er fest, dass sein Verlangen darüber hinausgeht. Solchen Erwartungen kann Werbung nicht entsprechen. Je mehr sich das Reisen, als praktische Lehre von der unerreichbaren Ferne, nach innen wendet, desto wichtiger wird aber die Erzählung sein. Einer jeden Destination gebührt ihre Geschichte. Das Bedürfnis richtet sich nicht auf einen physischen Ort, sondern auf eine erzählte Vorstellung.

 

5. Einer reist, andere reisen nicht. Im selben Maße, wie sich das Reisen verteuert – und das wird es tun, wenn sich die Preise für Treibstoffe erhöhen –, erhält es Elemente des Elitären zurück. In den vergangenen Jahren ist es dagegen, weil man zu jeder Zeit für relativ wenig Geld an fast jeden Ort reisen konnte, zunehmend entwertet worden. Würde es sich wieder in ein knappes Gut verwandeln, investierten die prospektiven Reisenden mit der größeren Geldsumme auch mehr planerische Energie, mehr Aufwand und größere Erwartungen in jede einzelne Reise.

 

6. Niemals abschalten. Die Arbeitswelt verändert sich. Für die neue Figur des globalen Pendlers wird die klare Trennung von Ferien und Arbeit aufgehoben sein. Dafür sorgen schon die Geräte der digitalen Kommunikation, vor allem aber die Mobilitätserwartungen in den Arbeitsverhältnissen einer globalisierten Weltgesellschaft. Für diese Klientel wird die Heimat im Transitorischen und der Ort des Rückzugs inmitten von Unstetigkeit eine große Rolle spielen. Ihr größter Luxus wird die Unerreichbarkeit sein.

 

7. Das Gute liegt so nah. Urlaubmachen und Reisen hat in seinem Innersten mit der Suche nach dem Unberührten zu tun, nach einem verloren gewussten Naturzustand. Dieser Ausgangspunkt der Natursensibilität kollidiert heftig mit dem Wissen, dass ausgerechnet der Tourismus und seine Massenhaftigkeit auch Umweltprobleme verursachen. Dies wird für eine neue Gestalt des Reisenden zu einem erneuerten Interesse an Ferienzielen in geringer Entfernung und durchschreitbarer Distanz führen. Die Ferien in benachbarten Regionen werden wieder als besonders wertvoll erscheinen. Nahegelegene Sehnsuchtsorte der Vergangenheit werden zum Inbegriff eines neuen Luxus werden, aber auch neue emissionsfreie Transportmittel ein Ziel reizvoll erscheinen lassen.

 

8. Wer reist, muss den Weg kennenlernen. Das ist eine Strapaze. Die relative Verbilligung des Reisens, vor allem der Flugreisen, hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber den auf einer Reise zurückzulegenden Wegen geführt. Alle Ferienorte erscheinen so als tendenziell gleich weit vom Heimatort entfernt – und, auch dies eine Folge der Globalisierung, strukturell einander zumindest ähnlich. Auf eine entsprechende Entwertung der Ziele wird für eine neue Figur der Weg wieder ein wesentlicher Teil der Reise sein. Das Unterwegssein selbst wird für ihn zum Inhalt.

 

9. Ganz für mich allein. Während die Touristenströme aus den neu entstehenden starken Ökonomien des Fernen Ostens sich den Zentralstätten des alten Tourismus der westlichen Welt zuwenden werden, wird die zukünftige Figur des Reisenden aus der alten Welt immer mehr erkennen müssen, dass die Hyperkultur der Globalisierung den Globus vereinheitlicht und seine Plätze immer austauschbarer macht. Er wird nach Exklaven der Besonderheit begehren und nach einer Ferne, die eine allseitige Erschlossenheit der Welt verdrängt hat. Diese Inselsituationen müssen gefunden oder konstruiert werden. Sie werden die Sehnsuchtsorte der Zukunft sein.

 

10. Der wahre Luxus ist ein guter Rat. Je mehr eine universale Ökonomie sich durchsetzt, je mehr sie die Welt mit ihrem immer gleichen Inventar vollstellt, desto mehr steigt der Wunsch nach einem Außen, nach einem nicht erfassten anderen. Die Seltenheit und die schwere Erreichbarkeit dieser Besonderheit macht eine Art vertraulichen Wissens erforderlich, den persönlichen Kontakt zu einem Agenten, der über das Seltene und schwer Erreichbare verfügt. Aus der Natur dieser Winkel wird der Figur des Reisenden, der seiner bedarf, eine ganz neue Art Touristikunternehmer entstehen: ein Erzähler, ein Kunsthandwerker der Reisevorbereitung, ein Wissender, der ein kostbares Gut kennt.

Wolfgang Scheppe

Reisen als Lebensentwurf

Vom Reisenden der Zukunft und der Kunst, Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln

I.

Früher war der Urlaub der Tod.

Alle Erholung, alles Ausruhen, alle Heilserwartungen waren verschoben auf ein Nachleben im Jenseits des irdischen Daseins. Der christlichen Arbeitsethik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verhieß erst die Ewigkeit eine Form der Kompensation. Urlaub gab es nur als himmlischen Lohn. Die lebenslange, spirituell durchglühte Knechtsexistenz voller emsigen Verschleißes im Dienste der Ehrfurcht, des Gehorsams und der Pflicht richtete ihre Bedürfnisse nach Erfüllung auf ein Paradies außerhalb dieser Welt und dieser Zeit. Die Perspektive war transzendental: Das Selbstsein war in der Zuversicht auf Ein-Andermal aufgehoben. Transzendenz erwies sich als Bedürfnisaufschub.

Erst sehr spät in der Moderne, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde diese Erlösungsphantasie säkularisiert. Sie wurde weltlich eingelöst als kulturelle Errungenschaft eines Rechts auf Ferien. Der bezahlte Erholungsurlaub fiel zwar kürzer aus als die einst versprochene Ewigkeit. Er blieb aber im Kern profanierte Transzendenz, eine idealistische Praxis also, die sich mehr in einem Hoffen und Harren im Feld der Imagination und Vorstellung als in physischer Bedürfnisbefriedigung betätigt.

Die Beschränkung der »kostbarsten Wochen des Jahres« liegt wie ehedem darin, ein durch hohe Erwartungen gerechtfertigter Bedürfnisaufschub zu sein. Sein Ort ist ein idealer Gegenentwurf und nicht von dieser Welt.

Ihre Natur als Unendlichkeitsversprechen verrät die riesige Wunschmaschine des gesellschaftlichen Guts Urlaub immer noch. Es ist sowohl seinen prägnantesten Metaphern anzumerken – etwa der Rede vom Urlaubsparadies oder dem Titel des amerikanischen Surf-Films Endless Summer, der 1966 die Blaupause für die Typologie der Sun- & Fun-Ferien formulierte – als auch der Morphologie seiner genuinen Sphären: Gebirge und Meer. Das klassisch bürgerliche Ferienregime der Gebirgslandschaft evoziert den Ethos des Aufstiegs, das Purgatorium der reinen Luft und die moralische Läuterung, die in der Erhabenheit der Gipfel liegt. Der Philosoph Roland Barthes erklärte die »Rangerhöhung des Gebirges« durch die reisende Bourgeoisie als Verquickung von Naturismus und Puritanismus. Und das proletarische Pendant der Bergferien, der Strandurlaub, besteht aus dem deiktischen Ausrichten lichtexponierter Körper auf eine leere Horizontlinie, die dort im Anblick eines ewigen Aufschäumens und Abfließens verharren. Es verdankt seine Validität offenbar dem tief läuternden und unausschöpflichen Anblick schlechter Unendlichkeit. Georg Simmel sah deshalb in diesen beiden verschiedenen Weltanschauungen angehörenden Zonen ein Versöhnung und Erlösung verheißendes »peinlich getreues Bild des eigenen Innern«. Die eine Zone entspricht einer Leistungsethik, die andere einem erschöpften Regenerationsbedürfnis.

II.

Urlaub ist der Ausläufer einer idealistischen Praxis, eines Anspruchs auf Entschädigung für die im Alltag erlittenen Zumutungen, der in seiner Absolutheit jeder Erfüllung zunächst entgegenzustehen scheint.

Dass Herkunft und Fluchtpunkt der Ferienphantasien im Reich der Einbildung und nicht dem der Geographie liegen, ist all ihren Variablen anzusehen. Schon die Namen der Orte sind, wie Proust sagte, »mit innerer Anschauung getränkt«, ihr bloßes Aussprechen evoziert einen Katalog von Gefühlsregungen.

Venedig ist ein Paradigma ohnegleichen und doch sehr normal für die bilderreiche Literarizität solcher Stätten der Andacht, die mit ihrer Empirie nicht unbedingt etwas zu tun haben. Das Morbide an Venedig ist ein Missverständnis Byrons, das ein Missverständnis Thomas Manns befruchtete, und beide wussten nichts von der Herkunft des Verdikts aus Napoleons ideologischer Siegerjustiz, die dem unterworfenen Staat seine Dekadenz als Grund der Unterwerfung andichtete. Der Besucher, habe er Mann gelesen oder nicht, erwartet, von Melancholie erfasst zu sein und ist es also. Er verwechselt die Stadt mit einer Atmosphäre, die er als Vorurteil mit sich brachte.

Nicht nach physischen Orten sehnt man sich, sondern nach den Stimmungen, die sie auszulösen versprechen. Der Sehnsuchtsort teilt diese Eigenschaft, Atmosphäre zu sein, mit der Landschaft und ihrem Begriff: Auch die Landschaft gibt es nicht, ohne dass man sie sich vorstellt. Denn die Natur erzeugt aus sich keine Grenzen, Ausschnitte und harmonischen Zusammengehörigkeiten. Erst das, was als Stimmung einer Landschaft erlebt wird, macht ihre Einheit aus. Deshalb besteht die Provence aus einer dumpfen Erinnerung zweiter Ordnung an Pagnols Kindheitserinnerungen und die Toskana aus einem geistigen Bild: der Klitterung von Hügellinien, Pinien und Dachkulisse.

Landschaft ist also kein Stück Objektivität, sondern ein ästhetisches Verhältnis, das die Subjektivität zur Objektivität einnimmt. Ein Erzeugnis des theoretischen Geistes also, der eine Korrespondenz von Welt und Seele in die Natur hineinkonstruiert. Die Phantasmagorie der Landschaft hob in jenem historischen Moment an, da die industrielle Besitznahme der Welt über die Mittel zu verfügen begann, die es ihr gestatteten, die Natur als Rohstoff zu verschlingen und sich anzuverwandeln, sie produktiv zu konsumieren und als kontaminierten Abfall wieder auszuscheiden. Naturaneignung und Naturideal gehören zusammen wie Verlust und Trost. Versöhnen-Wollen kann man nur, was bereits auseinandergebrochen ist. Ohne diesen geschichtlichen Grund für eine Versöhnung im Feld der Wertschätzung des Naturschönen hätte auch die profane Naturreligion, die den Hauptteil des Großbetriebs der Ferienreisen ausmacht, nicht ins Leben gefunden. Sie ist die Triebfeder für die ebenso vergebliche wie nicht zu enttäuschende Suche nach den Kulissen der Unberührtheit.

Das Pendant zur Chimäre des unberührten Raums als Motivation der Bewegung des Reisens ist die Suche nach der unberührten Zeit: Sie entspricht der anderen Entzweiung, die in der Entstehung der industriellen Gesellschaft gründet, jene von Arbeitsalltag und Selbstbestimmung. Dass der Verlust an individueller Freiheit vage in ökonomischen Verhältnissen als Ursache aufzufinden sei, lässt die Richtung der Suche nach dem Sehnsuchtsort vermuten. Der Urlauber aus dem Reich der entwickelten Industrienationen trachtete ihn vor allem im Süden aufzufinden. Der vergleichsweise primitive Süden eines Italien, Griechenland oder Spanien war für die Europäer das, was den nordamerikanischen Touristen Mexiko und Südamerika bedeutete. Innerhalb dieser nationalen Grenzen unterlegener und nicht wettbewerbsfähiger Ökonomien, die freilich zur ahistorischen Sphäre verklärt wurden, ließ sich wahres Menschsein vermuten. Man vermeinte es in der Ursprünglichkeit des Fischers, des Weinbauern und Landmannes auffinden zu können. Dass im Früher auch das verlorene Eigentliche liege, ist der Schluss, den jede solche Robinsonade zieht, die unter dem Fehler leidet, ein vergangenes goldenes Zeitalter am Ort dessen, was die Gegenwart »unterentwickelt« nennt, lokalisieren zu wollen.

Auf diese doppelte Unberührtheit von Landschaft und Geschichte als Konstituenten des touristischen Trachtens hat Hans Magnus Enzensberger in seiner »Theorie des Tourismus« schon 1958 hingewiesen, ohne dass dieser Begriff je ins Bewusstsein der Veranstalter und Konsumenten des Gewerbes gedrungen wäre. Die Recherche des Urlaubers gilt in beiden Aspekten der Zivilisationsferne, und der romantische Topos der Ferne kommt dabei einem Eingeständnis gleich: dass die gewünschte Abwesenheit der Erscheinungen eines weltumspannenden Wirtschaftens sich doch nur über deren Errungenschaften, über eine gleichermaßen weltumspannende Infrastruktur erreichen lässt und mithin die Verklärung einer deterritorialisierten, rein defensiv gedachten Freiheit diese in den Horizont eines prinzipiell Unerreichbaren verschiebt. Ferne ist etwas, dem zu nähern man sich bemüht, an dem man aber niemals ankommen kann. Ihrer Ungewissheit halber kommt sie als Projektionsfläche für Hoffnungen zustatten. »Das Ideal setzt das Gesicht der Reise auf.« So beschrieb George Sand diese leere Erwartung. Unbestimmtheit als Eigenschaft erweist sich als Bestimmung von beidem: von Transzendenz wie von Ferne.

Im Angesicht dieser Manier der Einbildungskraft mag es wenig überraschen, dass ganze Geschäftsfelder der Tourismusindustrie aus Fiktionalisierungen entstanden sind: Es gab keine Kreuzfahrflotten, bevor die amerikanische Fernseh-Soap-Opera Love Boat – die Vorlage zum europäischen Traumschiff – ein Begehren nach ihrer Existenz in die Welt setzte. Deren Klientel waren amerikanische Rentner, bis der Welterfolg der Romanze im Film Titanic auch Teenager mit der Illusion versorgte, sie könnten in den Schauplatz und damit in das Hochgefühl von dessen Epos aufgenommen werden. Ein älteres Beispiel der Nachrangigkeit der touristischen Destination gegenüber ihrer mediatisierten Chiffre ist der plötzliche Ansturm auf alpine Regionen in Reaktion auf Arnold Fancks ersten Skifilm Der weiße Rausch aus dem Jahr 1931. Kein Sehnsuchtsort ohne ein ihm vorausgesetztes Wunschbild, ohne den Glauben an seine Atmosphäre, und beide sind nur als Resultat kultureller Fiktionalisierung zu haben. Man begehrt, in sie einzutreten, von ihnen umfangen und verändert zu werden, und sie sind doch selbstgemacht. Das Moment, das Urlauber wie Reisende an den Sehnsuchtsort zieht, ist die Erwartung eines Effekts, den eine Umgebung auf die Innerlichkeit haben soll. Das Ziel ist keine örtliche Gegebenheit. Es ist ein territorial inspirierter Seelenzustand. Oder umgekehrt: Ein beseelter Ort. Es ist allein die Vorstellung, die bereist wird.

Aus der instrumentellen Sicht eines Reiseveranstalters müsste man folgern: Weil touristisches Verlangen eine idealistische Praxis darstellt, die anders als das Reisen der Vormoderne nicht mehr auf das Gewinnen von Einsichten in die wirkliche Welt aus ist, sondern sich als Gnosis von Sinn und Selbst nach innen richtet, ist das angemessene Verfahren auch nicht das der Werbung, sondern das der Erzählung, das längere Gedankenspiel, das die affektive und suggestive Qualität eines Raumgefühls ausbreitet. Die Entscheidung für ein Urlaubsziel kann mithin auch keine sein, die in einer Wahl zwischen konkreten Plätzen bestehen könnte. Sie stellt sich als Entschluss zu einem Selbstbild dar, als ein Sich-Ausmalen des Glücks im anderen Ich, das in der Distanz zustande kommen soll, im Bezirk einer Seelenlandschaft, die ein Pedant zur eigenen Psychologie bildet.

III.

Alles Nachdenken über Tourismus, das sich die falschen Platitüden sparen will, muss sich einer Pointe bewusst sein, die den Kern der Sache trifft. Dieser Sphäre von Kultur und Geschäft liegt ein bemerkenswerter, aber konstitutiver Widerspruch zugrunde. Die Reiseindustrie verspricht die Fremde und die Ferne. Sie erschließt sie und macht sie zu ihrem Produkt. Indem sie diese idealen Orte verfügbar macht – und dem Reisenden der Moderne die körperlichen Mühen, die Unbill an Unvorhersehbarkeiten, ja die beständigen Lebensgefahren des mittelalterlichen Reisenden in einer straßenlosen Welt pauschal erspart –, nimmt sie freilich Zug um Zug auch das weg, was die Fremde fremd und die Ferne fern macht. Weil das, was den Warencharakter des Orts touristischer Erwartung erst herstellt, darin gründet, dass er für jeden immerzu erreichbar ist, ist die Touristik ein Geschäft, das im Vertrautmachen mit der Fremde seine eigenen Voraussetzungen beseitigt. Sie hebt ihren Grund in ihrem Vollzug auf. Die Hoffnung, es gebe die Erlösung vom Alltäglichen als Produkt einer Industrie, muss auch dem ersehnten Ausnahmezustand das Moment des Gewöhnlichen geben. Industrieprodukte sind wohlfeil. Jemand will sie verkaufen, und also sind sie für jeden zu haben, der für sie bezahlt. Zu diesem Zweck müssen sie standardisiert und seriengefertigt sein.

Dass man von einem Bahnhof aus niemals in die Freiheit fahren könne, sagt ein Aphorismus Otto Weinigers, den Hans Magnus Enzensberger entdeckte. Infrastrukturelle Anbindung und exotische Abgelegenheit schließen einander aus. Aircondition, die Gruppe der Gruppenreise und die Corporate Identity der Interieurs von Hotelketten sind Verfahren, sich das Fremde vom Leib zu halten. »Man hat das tröstliche Gefühl, gar nicht dort zu sein«, hat der amerikanische Historiker Daniel J. Boorstin 1961 dem Reiseverhalten seiner amerikanischen Landsleute vorgehalten. Das Berühren unberührter Landschaft lässt diese nicht ungeschoren. Dessen ungeachtet ist der gewöhnliche Tourist einer, der – obgleich er sich nur unter Seinesgleichen aufgehoben fühlt – eben die Gegenden zu wünschen meint, an denen er keinem Touristen mehr begegnen müsse. Und das, obgleich ihm dünkt, die Pauschalreise beschere ihm Schutz vor eben der Fremde, die er doch zu begehren glaubt. Er hat eine Ahnung davon, dass das Ziel erst in Relation zu den Schwierigkeiten, dorthin zu gelangen, als Ankunft in der Ferne erlebt wird. Man sieht: Das Domestizieren der Abstandnahme von zu Hause bleibt in sich widersprüchlich.

Da das Verreisen aber weiter als Geschäftsfeld existiert und prosperiert wie kaum ein zweites, ist offenkundig, dass dieser Widerspruch eine gesellschaftliche Verlaufsform erhalten muss. Als Kultur nimmt der Tourismus ihn in sich auf. Er wird zur konstitutiven Kontradiktion. Die Kritik am Tourismus besteht daher genauso lange wie er selbst. Liest man Theodor Fontanes hellsichtige Klage aus dem Jahr 1873 über das Massenreisen und seinen Schluss, das gewerbsmäßige Geschäft mit dem Reisenden bringe die Gastfreundschaft zum Verschwinden, regt sich der Verdacht, die Klage sei geradezu älter als ihr Gegenstand. Über diese historische Koinzidenz der Reisebranche mit ihrer skeptischen Beurteilung hinaus hat das Touristik-Geschäft die Topoi ihrer Denunziation in Grundkategorien ihres Selbstverständnisses verwandelt. Es ist nicht nur so, dass sich der Tourismus seine Oppositionen aneignet und als Warenangebot mitproduziert, er bringt seine Gegenbegrifflichkeiten – also »Echtheit«, »Eigentlichkeit«, »Individualität« – erst hervor. Ohne die Kopie kann man das Original schwerlich vermissen; ohne die Inszenierung nicht das Authentische, den Lieblingsfetisch allen wandernden Suchens und Trachtens. Der Soziologe Niklas Luhmann erklärte daher die Floskel vom Ruin des Echten durch den Tourismus zur rhetorischen Schutzbehauptung, die selbst nur für die Anerkennung eines Ursprünglichen werbe, das doch notwendig nicht anders denn in kommerziell arrangierten Faksimiles zu haben sei. Authentizität ist die vornehmliche Handelsware touristischen Konsums und zum Leitmotiv seiner Reklame geworden. Anders ist sie nicht zu haben.

IV.