Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen - Robert Rescue - E-Book

Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen E-Book

Robert Rescue

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Beschreibung

Lesebühnenautor Robert Rescue schlägt sich tapfer im Berliner Großstadtdschungel. Mit viel Selbstironie und trockenem Humor bewältigt er unerschütterlich seinen Alltag. Er überlebt waghalsige Aktionen wie das Ablesen des Stromzählers in einem dunklen Weddinger Keller, Genderfallen, Punkkonzerte und sogar den Physiotherapeuten.

33 neue satirische Texte des Brauseboys und charmanten Meisters der Prokrastination

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periplaneta

ROBERT RESCUE: „Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen“ 1. Auflage, Dezember 2023, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2023 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Marion A. Müller Cover: Marion A. Müller, unter Verwendung lizenzfreier Vektoren von vecteezy.com(citradesignpro258219, Yuliya Pauliukevich, hendri maulana und Elpremiumo Design)Autorenbild: bairbie.me/Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-270-4epub ISBN: 978-3-95996-271-1

Robert Rescue

periplaneta

Zur falschen Zeit am richtigen Ort

Was wären das für goldene Zeiten für mich gewesen, damals in West-Berlin. West-Berlin, jener Hort von Freiheit, diese Insel der Seligen, umzingelt von Horden freiheitsraubender Sozialisten, Marxisten, Kommunisten, Bolschewiken und anderen. Die West-Berliner gingen nicht arbeiten, weil sie ständig wehrhaft sein mussten angesichts der Attacken der Sozialisten, Marxisten, Kommunisten, Bolschewiken und anderen. Sie hingen den ganzen Tag in ihren Kleingärten herum, blickten in den Himmel und träumten von einem Leben wirklicher Freiheit ohne den Schutz der Alliierten vor den oben erwähnten. Oder sie hingen mit Günther Pfitzmann und den drei Damen vom Grill am Nollendorfplatz herum und stopften sich mit Bockwurst und Senf voll und abends war Halligalli auf dem Ku’damm mit Kotzen in die Rabatten.

Wir in West-Deutschland mussten ja Berlin-Steuer zahlen, und zwar ab der Geburt. Kaum entbunden, stand ein West-Berliner im Kreißsaal und fragte: „Haste mal ’ne Mark?“ So ging das viele Jahre und erst mit dem Fall der Mauer hatte jeder von uns endlich mal genug Geld, um sich was Eigenes zu kaufen.

Die Wiedervereinigung brachte mich jungen Menschen auf die Idee, an dem sagenhaften Reichtum und dem dekadenten Leben der West-Berliner teilhaben zu wollen, also zog ich 1993 dorthin. Meinen mangelhaften Ortskenntnissen war es zu verdanken, dass ich erstmal in Ost-Berlin gelandet bin, das ja an dem Geldsegen nie beteiligt war. Dementsprechend lebte ich zunächst mit Ofenheizung, armen Leuten in der Nachbarschaft und einer kaputten Haustür. Später siedelte ich um in den Wedding, immerhin West-Berlin, aber spätestens ab dem Zeitpunkt wusste ich, dass meine Vorstellung von der Frontstadt eine falsche gewesen ist.

Wäre ich 16 Jahre früher umgezogen, hätte sich mein Traum vom goldenen Berlin erfüllen können, wenn auch nur für vier Jahre. Allein schon die Wohnungssuche hätte sich noch einfacher gestaltet, als es Anfang der 90er-Jahre der Fall war. Jeder Vermieter, jede Wohnungsbaugesellschaft hätte mich 1977 mit Kusshand genommen, wenn ich am Telefon meinen Namen gesagt hätte – und das lag am damaligen Regierenden Bürgermeister, Dietrich Stobbe.

Häh, werden jetzt einige denken, Dietrich Stobbe und Robert Rescue?

Ja, mein Name trägt ein Geheimnis, denn es ist nicht mein richtiger. Aber ich heiße nicht Dietrich Stobbe, sondern so ähnlich. Ich hätte bei der Kontaktaufnahme mit einem Vermieter nur ein wenig nuscheln brauchen oder flüstern und schon hätte ich die Wohnung gehabt, auch wenn sich der Vermieter gewundert hätte, dass der vermeintliche Regierende Bürgermeister erst etwa sieben Jahre alt ist und zwei Zimmer mit Ofenheizung sucht.

Auch bei Kontrollen in der U-Bahn wäre ich schadlos davongekommen. Die Kontrolleure damals waren ja alle taub und halbblind, weil die BVG seit den 50er-Jahren Veteranen der Waffen-SS einsetzte, die zwar ehrfurchtgebietend auftreten konnten, aber beim näheren Kontakt waren sie der Aufgabe dann meist nicht gewachsen.

Termine beim Bürgeramt waren damals schon schwer zu bekommen, weil die Berliner Politik gemeinhin Jahrhunderte braucht, um Probleme zu lösen, aber für mich wäre das kein Problem gewesen. Und ich hätte dafür nicht die Handbewegung eines Jedi-Ritter gebraucht, um den Pförtner oder die Sachbearbeiterin davon zu überzeugen, dass ich der Regierende Bürgermeister bin. Möglich, dass es hier und da weiter Verwunderung gegeben hätte, denn wenn es in Berlin eine Person gibt, die nicht zum Bürgeramt muss, dann ist es der Regierende Bürgermeister. Ich hätte dann was von „Bürgernähe“ gemurmelt und auf mein Alter angesprochen geantwortet: „Das hat die Lügenpresse manipuliert!“

Und dann erst die Partys. Nicht die graue Maus in der Küchenecke zu sein, mit der niemand was zu tun haben will. Die Mädchen hätten sich mir an den Hals geworfen und die Jungs Visitenkarten getauscht oder mir Scheiße erzählt, wie toll sie sind und was sie Tolles vorhaben. Also vielleicht nur die Berliner. Zugezogene interessierten sich für Berliner Politik nicht, die konnten sich mit Mühe an ihren heimatlichen Häuptling, was weiß ich, Breckmar Wolfsklaue, der Hohlhodige erinnern und waren nur an Sex, Bier und persönlicher Entfaltung interessiert. Ist doch heute auch nicht anders, oder? Also ja, beides, aber ich meine die Erinnerung an frühere Politiker. Oder kann sich jemand noch an die Namen ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin erinnern? Klaus Diepgen, Eberhard Wowereit, die kennt doch niemand mehr.

[EXKURS: Den obigen Absatz habe ich geschrieben davon ausgehend, dass mein Alter 1977 das Gleiche sei wie 1993. Das ist natürlich blödsinnig. Genauso wie die Vorstellung, dass ich mit sieben Jahren auf Partys in der Küchenecke stehe und die Mädchen sich mir an den Hals geworfen hätten. Die hätten mich höchstens „süß“ gefunden und sich mit den Typen abgegeben, die Visitenkarten tauschten und Scheiße erzählten, wie toll sie sind und was sie Tolles vorhaben. Aber als Beinahe-Bürgermeister hätte ich keinen Kindergeburtstag besucht, außer es wäre Wahlkampf gewesen. EXKURS ENDE]

Spätestens 1981 wäre mein Höhenflug vorbeigewesen. Der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe stürzte über die sogenannte Garski-Affäre und trat am 15. Januar zurück. Das Datum ist übrigens ein weiteres Indiz für die Seelenverwandtschaft zwischen Dietrich Stobbe und mir, denn das ist mein Geburtstag.

Und mit Stobbe trat der ganze Senat zurück. Huch, steckten die alle mit drin oder geschah das aus einer Art – Moment, ich muss kurz lachen – „politischer Verantwortung“? Wäre heutzutage undenkbar. Da wird ein Staatssekretär geschasst oder die Senatoren ziehen Streichhölzer, wenn der Untergebene partout unschuldig ist. Aber ein ganzer Senat? West-Berlin war echt krass.

Auf jeden Fall war der Name danach verbrannt. Aus und vorbei mit Vermieter-Glück, Kontrolleuren in der U-Bahn, Terminen auf dem Bürgeramt.

Und Berliner ließen sich auf Partys nicht mehr blicken, weil sie ausgestorben waren.

Zwölf Jahre später stieg ein junger Mann aus Rheinland-Pfalz mit Namen Dietrich Fobbe aus dem Zug am Bahnhof Zoo, atmete tief ein und aus, und beschloss, sich die Stadt untertan zu machen.

In den Fängen der Physiotherapie

„Möchten Sie von einer Frau oder von einem Mann behandelt werden?“

Ich glaubte zu spüren, dass die Antwort auf diese Frage für die Zukunft von großer Bedeutung sein konnte. Sie mochte den Beginn einer lebenslangen Beziehung darstellen, ein jeder Tag voller Freude und Liebe, ein rundum glückliches Leben bis an das Ende unserer Tage. Wäre es angebracht, alles auf eine Karte zu setzen und trotz der Schmerzen ein Lächeln zustandezubringen und zu hauchen: „Wie wäre es mit Ihnen?“

Aber vielleicht würde ich damit alles zunichtemachen, womöglich war es heutzutage nicht erlaubt, so direkt zu sein, vielleicht verscherzte ich es mit ihr, die ohnehin gebeutelt vom Leben war und gehofft hatte, heute einmal von der blöden Anmache eines weißen, alten Mannes verschont zu werden.

„Ein Mann“, krächzte ich und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Die Antwort widerstrebte mir, denn welcher Mann möchte bei einer Physiotherapie nicht die zarten Hände einer Frau auf seiner Haut spüren?

Sie verzog keine Miene. Was dachte sie über meine Antwort? War sie enttäuscht oder zufrieden?

„Die männlichen Therapeuten sind über Wochen hin ausgebucht. Es gibt nur einen, der noch Termine frei hat, doch den wählen die Patienten nur, wenn sie verzweifelt sind. Die sechs Termine bei ihm übersteht man in der Regel nur mit Folgeschäden. Die meisten wollen eine Frau als Therapeutin, weil sie sich von der zärtlichen Behandlung, von der Kreativität des Handwerks einer Physiotherapeutin Wohlgefühl und Heilung versprechen, was im Übrigen, wenn ich das so sagen darf, auch immer in Erfüllung geht, also zumindest bei mir.“

„Ich nehme diesen Mann.“

„Warum?“

„Gegenschmerz“, antwortete ich gepresst. „Schmerz mit Schmerz bekämpfen.“

Mag sein, dass das irgendwen auf dieser Welt imponieren mochte, was ich da blödsinnigerweise von mir gab, aber die Frau am Empfang der Physiotherapeuten-Praxis eindeutig nicht. Ihr Gesicht zeigte Enttäuschung.

„Nun gut, dann eben Brutalo Grobianovic. Sechs Termine, jede Woche einen. Ich wünsche Ihnen so etwas wie ... Reue.“

Bis zum ersten Termin hatte ich Zeit, den Therapeuten zu googeln. Er stammte aus Serbien, hatte vor seiner Umschulung zum Physiotherapeuten als Metzger in einer Firma gearbeitet, die sich auf die Zerlegung von Mammuts spezialisiert hatte – und zwar ohne jegliche Verwendung von Werkzeugen, wie sie ausdrücklich auf ihrer Website beschrieben. Man wolle damit den „Jäger und Beute Aspekt, der seit Menschengedenken den natürlichen Prozess zwischen Leben und Tod begleite“ darstellen und überdies sei das „so bearbeitete Fleisch natürlich und frei von ungesunden Behandlungsprozessen“.

Der Therapeut hatte 573 Rezensionen, die zusammen -5 Sterne ergaben. Meine Güte, das war die erste Minus-Sterne-Bewertung, die ich jemals bei Google gesehen hatte. Von den 573 Rezensionen wurden ihm in 534 ein baldiger Tod gewünscht, und zwar so grausam wie seine Behandlungsmethoden.

Mir wurde endgültig klar, dass ich am Empfang einen Fehler gemacht hatte.

Der Mann vor mir war bullig vom Erscheinen. Also „bullig“ nicht im Sinne, wie ich es mir bisher vorgestellt hatte, sondern es musste eine neue Kategorie her. Am ehesten konnte man Brutalo Grobianovic mit dem „Hulk“ vergleichen, nur ohne grüne Haut. Sein Blick war herausfordernd, so als hätte man sämtliche Munition der Welt auf ihn abgefeuert, ein Dutzend Atombomben gleichzeitig auf ihn geworfen, ihn mit 1.000 LKWs überfahren, so als hätte ihm Dieter Bohlen a cappella einen alten Hit von Modern Talking vorgesungen – und er würde dastehen und lässig fragen, ob das alles wäre, was man aufzubieten hätte.

Ich war sicher, dass die 534 Personen, die ihm auf Google einen baldigen Tod gewünscht hatten, etwas unternommen hatten, um diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen und ich war mir ebenso sicher, dass keiner von ihnen jemals wieder eine Rezension auf Google schreiben würde.

„Steigen Sie mal in den Kasten da“, forderte er mich auf.

„Der sieht aus wie eine Eiserne Jungfrau“, wagte ich den Hinweis.

„Richtig“, kam es zurück. „Ich will herausfinden, wie es mit Ihrer Durchblutung bestellt ist. Los jetzt!“

Ich gehorchte und hoffte, dass das nur ein Scherz war, dass er es nicht wagen würde, die Klappe mit den fingerlangen Nägeln zu ...

... RUMMS

„Wie geht es Ihnen?“

„Es hat wehgetan, sehr wehgetan.“

„Ach, Sie vertragen einfach nichts. In meiner Heimat steigen alle einmal die Woche in den Kasten, um die Durchblutung zu fördern. Da tut nichts weh. Warum sind Sie hier?“

„Ich habe Schmerzen im Rücken, die in das rechte Bein ausstrahlen.“

„Was sind Sie von Beruf?“

„Büroarbeit. So etwas wie Journalist.“

Brutalo Grobianovic winkte ab. „Das dachte ich mir schon. So wie Sie sich bewegen, kein Wunder. Bewegen Sie sich?“

„Einkaufen, manchmal eine Runde Fahrrad fahren.“

„Pah, aber nichts, was Sie an den Rand Ihrer Leistungsfähigkeit bringt? Wo Sie fühlen, wie sich die Menschen in der Steinzeit gefühlt haben müssen, als sie vor einem Säbelzahntiger weggelaufen sind?“

Ich antwortete nicht, aber ich erkannte, worauf er hinauswollte. Viele waren so wie ich. Verweichlichte Büroarbeiter, die acht bis zwölf Stunden am Tag vor dem Computer saßen, Excel-Tabellen mit Daten füllten, die keinen interessierten, die auf Facebook sinnfreien Quatsch posteten und das „Meinungsäußerung“ nannten und dabei nicht merkten, wie Beine und Rücken allmählich zu Matsch wurden, bis sie sich an den Lehnen abstützen mussten, um überhaupt noch aus dem Bürostuhl hochzukommen.

Ich erkannte, dass ich vor diesem Tag alles hätte unternehmen müssen, um nicht in den Fängen dieses Mannes zu landen. Joggen in den Rehbergen, Situps in der Küche, mit dem Rad bis an den Rand der Welt fahren und zurück – eine akzeptable Mischung aus Sitzen und Bewegung. Ich hätte sogar überlegen müssen, und dieser Gedanke war für mich bislang fürchterlich gewesen, ja, ich hätte mir einen Ruck geben müssen, eine Mitgliedschaft in einem Fitness-Club auf der Müller-Straße zu beantragen, um mit Jackeline und Murat, die sich auf dem Laufband neben mir einen Proteinshake nach dem anderen in den Hals kippten, in den Wettbewerb zu treten.

Ich hätte alles anders machen müssen. Jetzt war es zu spät. Jetzt war ich geliefert.

Nach der ersten Sitzung war ich nach Hause gekrochen und im Flur zusammengebrochen, wo ich drei Tage lang liegenblieb und den Rauchmelder an der Decke anstarrte, weil das das Einzige war, was ich tun konnte.

Zu Beginn des zweiten Termins hielt Grobianovic eine Pump-Gun in den Händen und fordert mich auf, mich mit dem Rücken zu ihm zu stellen. Kurz darauf hörte ich einen Knall und spürte einen leichten Schmerz in den Schultern.

„Es ist, wie ich gedacht habe“, hörte ich es kurz darauf von ihm. „Die nächste Baustelle bei Ihnen sind die Schultern. Die Munition ist regelrecht abgeprallt, so verhärtet sind die Muskeln. Wir werden das später angehen, wenn wir mit dem Rücken durch sind.“

Da hörte ich es schon wieder. Schon beim ersten Termin war andauernd die Rede davon, „etwas später anzugehen“. Wusste er nicht, dass wir nur sechs Termine gemeinsam hatten und ich ihn danach nie wiedersehen wollte? Grobianovic klang danach, als würden wir uns die nächsten Jahre wöchentlich treffen.

Bei Ärzten hörte ich das auch ständig. Der Zahnarzt hatte so viele „Baustellen“ gefunden, dass er sich für Jahre Arbeit verschaffte. Früher ist man einmal zu Ärzten gegangen und dann war für lange Zeit Schluss damit. Patientenbindung nennt man das wohl heutzutage. Die verabschiedeten sich auch immer mit „Bis bald“ und meinten das auch so.

Als ich lag und die Hände von Grobianovic sich tief in mein Fleisch wühlten, erzählte er: „Ihnen ist sicherlich aufgefallen, dass Sie nach dem Aufstehen Schmerzen in den Beinen haben, die nach einer Weile der Bewegung nachlassen, richtig?“

Ich versuchte, ein „Ja“ herauszubringen, aber es wurde nur ein Wimmern.

„Es gibt zwischen den Gelenken so eine Art Schmierstoff, der dafür sorgt, dass der Bewegungsapparat flüssig funktioniert. Mit steigendem Alter wird dieser aber durch die Nachtruhe, also dem Liegen, verfestigt und braucht dann seine Zeit, bis er wieder seinen Normalzustand erreicht hat.“

Ich versuchte zu fragen, ob man dies mit Motoröl in Autos vergleichen könne, aber ich bekam nur ein Wimmern zustande.

„Ja, in gewisser Weise verhält es sich gleich.“

Ob man nicht das menschliche Schmiermittel wechseln könne so wie Motoröl, wollte ich fragen, aber es wurde nur ein Wimmern.

Brutalo Grobianovic lachte auf. „Noch ist das nicht möglich, aber der Forscherdrang könnte das irgendwann möglich machen. Aber das werden wir verhindern, denn wie Sie sich denken können, würde das uns Physiotherapeuten überflüssig machen. Und das darf natürlich nicht sein.“

Nach einer Viertelstunde der Folter stellte der Therapeut die Eieruhr wieder auf 20 Minuten ein. Er holte das Wärmegerät heran und richtete es auf meinen Rücken. Andere Physiotherapeuten würden das Gerät auf eine akzeptable Temperatur einstellen, die dem Patienten das Gefühl gab, von der Wärme gehe eine heilende Wirkung aus. Grobianovic dagegen meinte zu mir, dass es für den Heilungserfolg besser sei, wenn sich der Patient fühle wie ein Hähnchen auf dem Drehspieß eines Dönerladens. Es mussten 500 oder 1.000 Grad sein, die er an dem Gerät einstellte.

Dann verließ er den Raum und widmete sich einem anderen Opfer.

Nach kurzer Zeit merkte ich, wie die Haut am Rücken verbrannte.

Es wäre wohl das Beste gewesen, von der Liege zu hüpfen, zum Empfang zu rennen und sich über die Methoden dieses Unmenschen zu beschweren. Aber ich war sicher, Grobianovic besuchte dann die Leute zuhause und das stellte ich mir schrecklich vor.

Außerdem müsste ich dann gegenüber der Frau am Empfang zugeben, dass ich mich in der Wahl des Therapeuten geirrt hatte. Diese Schmach hielt mich ebenfalls davon ab, aufzugeben.

Beim nächsten Mal wollte ich die 36,14 € Zuzahlung begleichen. Da ich keine Kreditkarte besaß, musste ich bar zahlen. Paypal hätte ich gern benutzt, aber die Praxis kannte kein Paypal. Mein Urologe kannte auch kein Paypal, aber der wusste nicht mal, was eine E-Mail ist. Der kannte nur Fax. Bei der Steuererklärung konnte man keine Anhänge hochladen und die BVG kannte auch kein Paypal, zumindest nicht auf ihrer Website. Mit der Digitalisierung sah es in Deutschland echt beschissen aus. Es gab Länder, da erledigt man alles ruckzuck mit einer ID-Nummer, vom Arztbesuch bis zur Ummeldung eines Autos.

Die Frau am Empfang der Praxis erklärte mir, dass man montags nicht bar bezahlen könne. Es war natürlich Montag. Warum konnte man montags nicht bar bezahlen? Hatte das medizinische oder religiöse Gründe? Gab es einen Mitarbeiter, der den Schlüssel zur Geldkasse verwahrte und der montags nie da war? Ich hatte den Betrag abgezählt dabei, weil ich instinktiv mit Problemen wie fehlendes Wechselgeld gerechnet hatte, aber nicht damit, dass man am Montag nicht bar bezahlen konnte.

Ich solle beim nächsten Termin zahlen, sagte mir die Frau am Empfang.

Ich war nahe dran, mich zu entschuldigen, dass ich nicht sie als Therapeutin gewählt hatte.

Ich erzählte Grobianovic, dass mir hin und wieder auch die Füße schmerzten. Er schaute sich den Fuß an. „Der Mittelfuß hat so gut wie kein Profil mehr“, sagte er dann. „Der ist hin.“

„Soll ich mir Einlagen besorgen?“

„Können Sie machen, aber das hilft nichts. Sie sollten zum Balkangebirge reisen, in Bulgarien und Serbien. Das sollten Sie vier Wochen lang durchqueren, und zwar barfuß. Und viel beten sollten Sie, und zwar zur Jungfrau Maria. Dann haben Sie wieder Profil auf dem Fuß und fühlen sich wie neugeboren.“

Ich überlegte, zu fragen, ob die Rehberge auch reichten und nur eine Stunde lang. Mehr hielt ich nicht aus. Aber ich ahnte, dass er mich dann wieder in die eiserne Jungfrau stecken würde und von der träumte ich inzwischen schlecht. Stattdessen sagte ich: „Vielleicht sollten die Körperteile austauschbar sein wie bei Maschinen. Wenn sie mit Schrauben oder Ähnliches befestigt wären, müsste das doch einfach sein.“

Grobianovic schaute mich kurz irritiert an und schüttelte dann den Kopf.

Am letzten Sitzungstag ließ er mich wissen: „Glückwunsch, Herr Rescue. Sie haben die sechs Termine bei mir überstanden, das schafft kaum einer. Jetzt sind Sie bereit für die nächste Herausforderung. Ihre Verspannungen sind gelöst, aber nicht verschwunden. Jetzt müssen Therapeuten ran, die über jahrtausendealtes Geheimwissen verfügen und Ihre Probleme mit einem Ausbruch von Gewalt lösen können, den ich nicht aufbringen kann.“ Er drückte mir eine Visitenkarte in die Hand.

Als ich sie gelesen hatte, fragte ich: „Muss ich da Sex haben?“

„Nein“, sagte Grobianovic. „Das ist ein richtiger Laden, ohne den Schweinkram. Räucherstäbchen, Entspannungsmusik und ein kleiner Tisch-Wasserfall. Konzentrieren Sie sich auf den Tisch-Wasserfall, er wird der Rettungsanker sein, damit Sie nicht wahnsinnig werden.“

Thai-Massage. Ich kenne einen, der das regelmäßig macht und der ist komisch. Vermutlich hat er sich nicht auf den Tisch-Wasserfall konzentriert.

Ich ahnte, dass mich ein großes Abenteuer erwartete.

Ich hatte Grobianovic überstanden, dann würde ich das auch schaffen.

Das Grauen lauert überall

Manchmal packt mich die Lust, die Kiezgeschichten in den Boulevardblättern zu lesen. Da findet sich so einiges, was ich in meinem tristen Alltag nie erleben werde. Sei es der Betrunkene in Marzahn, der, bewaffnet mit einem Messer, einen Dönerladen betrat und siebzig Döner zum Mitnehmen forderte. Der Besitzer verjagte den „Kunden“ mit einem Dönerspieß. Warum wollte der Dönerwirt den Mann nicht als Kundschaft? Vielleicht überstieg die Bestellung die vom Dönerladen angesetzte Abgabe in haushaltsüblichen Mengen? Oder war er überzeugt, der Betrunkene könne die etwa 210 € nicht bezahlen?

Da wäre dann noch die Geschichte der zwei Jugendfreundinnen, die vierzig Jahre Tür an Tür gelebt und sich erst letzte Woche wiedererkannt haben. Oder der betrunkene Autofahrer, der seinen Wagen im Gleisbett der Straßenbahn versenkte, keinen Weg rausfand und sich entschloss, nach Hause zu laufen und eine Runde zu pennen, bis ihn die Polizei unsanft weckte.

Auch die folgende Geschichte wird mir lange im Gedächtnis bleiben, weil sie zeigt, dass die Widrigkeiten Berlins manche Menschen zur Verzweiflung bringen können.

Zwei Schwestern und eine Freundin, alle drei aus dem Wedding und 41, 27 und 26 Jahre alt, wollen in der Vorweihnachtszeit Plätzchen backen. Von Beruf sind sie Fußpflegerin, Friseuse und Spielhallen-Aufsicht. Das klingt nach typischen Berufen im Wedding und wie Jobs, in denen man keine Karriere machen kann. Handelt es sich um Lebensentwürfe, die von Geburt an durch schwierige Familienverhältnisse und miserable soziale Einbindung zum Scheitern verurteilt sind? Wie hat sich der Leser die drei Frauen vorzustellen, wenn das Boulevard-Blatt sie als Personen, die sich „nicht die Butter vom Brot nehmen lassen“ bezeichnet?

In einem Supermarkt stoßen die drei eiskalten Amazonen auf den Kaufmann (53) und den Techniker (50). Der Kaufmann und der Techniker gegen die Fußpflegerin, die Friseuse und die Spielhallen-Aufsicht. Das riecht meilenweit nach Stunk. Zugezogene, die auf der Welle von Aufstieg und Wohlstand surfen gegen gebeutelte Ureinwohner, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen und vermutlich ein ganzes Jahr auf die Zutaten für das Plätzchenbacken gespart haben. Ist das so etwas Ähnliches wie der Clash of Cultures?

Der Techniker erzählt dem Boulevardblatt: „Zwei Damen machten sich an den Tiefkühltruhen laut über eine große Geflügelkeule lustig.“

Die beiden Männer haben wohl noch kein Gespür dafür entwickelt, in welchen Situationen es angebracht ist, seinen Wagen weiterzuschieben und das Gesehene schnell zu verdrängen. Sie wissen nicht, dass es Berliner gibt, die an Tiefkühltruhen über die dort gelagerten Produkte Witze machen und es sind nicht wenige. Es ist wichtig für diese Personen, das zu tun. Es bewahrt sie vermutlich davor, Amok zu laufen.

Vielleicht waren die Freundinnen vor dem Einkauf noch einen zwitschern, um sich in Stimmung zu bringen? Einige Berliner machen das, bevor sie ihren Einkauf erledigen. Manche auch währenddessen und danach. Was ist mit der dritten „Dame“? Hat sie beobachtet, dass die beiden Männer mit empörtem Gesichtsausdruck dem Treiben ihrer Freundinnen zugeschaut haben? Erweckte das ihren Zorn? Bahnte sich in diesem Moment der Verdruss über einen schlechten Tag bei den Automaten, den Füßen oder den Haaren seinen Weg?

Der Techniker berichtet: