Zum Glück hab ich wenigstens Pech - Robert Rescue - E-Book

Zum Glück hab ich wenigstens Pech E-Book

Robert Rescue

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Beschreibung

Ein wohlüberlegter Anmachspruch zieht nicht, die mühsam gesammelten Payback-Punkte reichen höchstens für einen Kugelschreiber und das Jobcenter stellt sich quer, weil die Berufsbezeichnung „Autor“ im System nicht existiert. Ein paar hartnäckige Zwangsneurosen machen Robert Rescue zudem das Leben schwer und selbst der eigene Klon nimmt ihn nicht ernst. Im Kampf mit diesen alltäglichen Miseren hat der Berliner Lesebühnenautor und Brauseboy jahrelang Erfahrung. Manchmal muss er kapitulieren, aber immer kontert er mit stoischer Gelassenheit und trockenem Humor. Denn das Problem an sich ist ja meistens nicht das Problem. In seinen 26 kurzen Texten erzählt er, wie man mit Kreativität, Phlegmatismus und Beharrlichkeit alles schaffen und selbst einen Bankräuber zum Weinen bringen kann. „Robert Rescues große Kraft liegt in dem beneidenswerten Talent, auch den alltäglichsten Begebenheiten eine ganz eigene Komik zu entlocken. Lesen Sie dieses Buch. Ich würde es immer wieder tun.“ Paul Bokowski

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Seitenzahl: 167

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periplaneta

ROBERT RESCUE: „Zum Glück hab ich wengistens Pech“

1. Auflage, November 2015, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2015 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat und Projektmanagement: Marion Alexa Müller Cover: Marion Alexa Müller Autorenbild: Marvin Ruppert Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-000-7 epub ISBN: 978-3-95996-001-4E-Book-Version: 1.2

Robert Rescue

Zum Glück hab ich wenigstens Pech

periplaneta

Brotlose Kunst versus Knochenjob

„Sehr geehrter Herr Rescue, Sie sind seit 2012 als Darsteller selbständig“, lese ich im Anschreiben des Jobcenters. Einige Angaben in diesem Satz stimmen, nämlich die Anrede, das Jahr und die Selbständigkeit. Aber bin ich ein Darsteller? Nicht, dass ich wüsste – obwohl, in gewisser Weise stimmt es. Ich stelle Robert Rescue dar, einen Mann mit Pseudonym, eine Kunstfigur womöglich, die sich allerdings nicht sonderlich von meinem sonstigen Ich unterscheidet.

Der Brief in meinen Händen ist die erste Nachricht meines persönlichen Sachbearbeiters seit zweieinhalb Jahren. Als meine damalige Sachbearbeiterin meine aufzustockende Selbständigkeit erlaubte, erklärte sie mir, dass ich künftig vom Team Z betreut würde, das aber würde sich, so meinte sie völlig ernst, bei mir sowieso nicht melden.

Nun also das Team 318, Herr Schwemmel und die Aufforderung zum Termin. Vorab soll ich erklären, was ich bisher erreicht habe und wie ich meine weitere Entwicklung einschätze. Das Erzielte zu beschreiben, wird kein Problem sein, aber vor der Einschätzung der weiteren Entwicklung graut es mir. Mein Plan ist, in der Hoffnung auf gutdotierte Auftritte, so weiter zu machen wie bisher und auf den Durchbruch als Bestsellerautor zu hoffen. Mit Hoffnungen aber kann das Jobcenter wenig anfangen.

Den Bericht – oder auch die Offenbarung – soll ich anschließend an die Mailadresse [email protected] schicken. Bei meiner Pingeligkeit werde ich eine Stunde brauchen, um diese Mailadresse korrekt einzutippen. Wäre [email protected] nicht viel einfacher?

Wie ich später erfahren sollte, landen tatsächlich alle Mails bei einem einzigen Mitarbeiter, der sie dann an den entsprechenden Sachbearbeiter weiterleitet, in meinem Fall vermutlich an [email protected]. Damit verbringt ein Jobcentermitarbeiter womöglich seine ganze Arbeitszeit.

„Darsteller sind Sie also? Steht hier zumindest im System“, sagt Herr Schwemmel, nachdem ich Platz genommen habe. „Ich hätte gedacht, damit seien Puppenspieler oder so was gemeint, aber danach sehen Sie mir nicht gerade aus.“

Ich sage nichts dazu. Eine Nachfrage könnte einen ersten Konflikt zwischen Kunde und Sachbearbeiter auslösen, und den will ich vermeiden.

„Also, Herr Rescue, das Ziel unseres heutigen Termins ist es, dass ich mehr darüber erfahre, was Sie eigentlich so machen. Wie würden Sie selbst Ihre Tätigkeit denn beschreiben?““

„Ich bin Schriftsteller.“

„Ich ändere das gleich mal. Schriftsteller also. Moment mal, das kennt das System nicht.“

„Autor?“

„Leider nein.“

„Vorleser?“

„Nein.“

„Publizist?“

„Negativ. Warten Sie, ich nehme Darsteller. Wie wäre das?“

Aus vielen Jahren Jobcenterbesuchen weiß ich, wie man sich nun zu verhalten hat. Aufbegehren ist nicht sinnvoll, das sorgt nur für Stress. Sich über Verwaltungspannen lustig zu machen, bringt auch nichts, weil man damit die Person hinter dem Schreibtisch treffen könnte. In einer solchen Situation ist also Diplomatie gefragt, absolutes Fingerspitzengefühl, das richtige Wort genau zur richtigen Zeit.

Also sage ich: „Okay.“

„Gut, Herr Rescue. Dann erzählen Sie mal, und wenn ich was nicht verstehe, dann stelle ich eine Frage.“

Also beginne ich freimütig zu berichten, wie das mit den Lesebühnen so ist, mit der Literatur und dem Schreiben, mit dem Leben als Künstler, mit den Schwierigkeiten der brotlosen Kunst.

Ungefähr zwei Stunden später komme ich an diese Stelle: „Wenn ich so vor dem Computer sitze, mache ich mir viele Gedanken, ob der Text kommt oder nicht. Wenn ich dann zu der Ansicht gelange, dass er kommt, weil ich gar nicht glauben kann, dass er nicht kommt, dann erlebe ich auf der Bühne, dass er nicht kommt. Meist kommt ein Text eines Kollegen, und der ist dann der Star des Abends. Ich stehe also auf der Bühne, lese vor und an der Zuschauerreaktion kann ich dann ablesen, dass der Text nicht kommt.“

„Ist denn schon mal ein Text, nun ... äh ... gekommen?“, fragt Herr Schwemmel zögerlich.

„Ja, das ist geschehen“, antworte ich. „Ich habe mir das notiert. Warten Sie, ich muss nachschauen ... ah hier ... 13.11.2010. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.“

Herr Schwemmel geht darauf nicht ein. Er schaut auf den Monitor, klickt hier und da was rum und sagt: „Das klingt ja alles schon recht ordentlich, Herr Rescue, auch wenn ich gestehen muss, dass ich das mit dem Text ‚kommen‘ noch nicht ganz verstanden habe.“

Ich denke darüber nach, dass Herr Schwemmel offenkundig überhaupt keine Ahnung hat, was ich mache. Das macht Künstler im Leistungsbezug beim Jobcenter so unberechenbar. Bei einem Dachdecker kann man sich vorstellen, was er so arbeitet, ebenso bei einem Bankkaufmann, aber bei Künstlern?

Die machen irgendwas mit Kunst, denkt sich Herr Schwemmel vermutlich, bauen Skulpturen mit Namen wie „Metamorphose III“, schreiben Gedichte über den Sonnenuntergang oder ein herrenloses Fahrrad, und ich muss die irgendwie betreuen.

Vielleicht sollte ich Herrn Schwemmel bei unserem nächsten Termin einladen und auf die Gästeliste setzen. Er könnte einen unterhaltsamen Abend erleben und würde womöglich Zeuge, dass einer meiner Texte mal kommt.

Herr Schwemmel schaut auf die Uhr und beginnt, hastig zu werden. „Ach herrje“, kommentiert er, „unser Termin hat ganz schön lange gedauert. Draußen warten Lutz Seiler, Judith Herrmann, Sybille Lewitscharoff und Peter Handke auf ihren Termin. Kann ich abschließend noch etwas für Sie tun, Herr Rescue?“

„Nein“, antworte ich und stehe auf. Wir geben uns die Hand.

„In zwei Monaten lade ich Sie zum nächsten Termin“, klärt mich mein Gegenüber auf. „Dann sprechen wir über Ihre Zahlen als Eckdaten Ihrer Selbständigkeit.“

„Soll ich Ausdrucke mitbringen?“

„Ist das viel?“

„Ja. Ich betreibe Buchhaltung nach der DIN-Norm 2614b, der härtesten Buchhaltungsnorm der Welt. Außerdem mag ich Excel.“

„Dann … äh … vielleicht nur drei, vier Zahlen. Damit ich einen Überblick bekomme.“

Ich nicke und verlasse das Zimmer.

Auf dem Weg nach Hause überlege ich, was ich geantwortet hätte, wenn er gefragt hätte, ob ich auch Texte über das Jobcenter und ihn schreibe. Vermutlich hätte ich das verneint, und das müsste mir leichtfallen. Schließlich bin ich ja ein Darsteller.

Der Wahn der Punkte

Lange Zeit konnte ich mich gegen diese Treueherzen, Treuepunkte oder sonstige Bonusprogramme erwehren. Für mich war es Tradition, dass man in einen Laden ging, Dinge in den Wagen legte, an der Kasse zahlte und dafür, auf Verlangen, einen Kassenbon erhielt. Auf dem stand, was man eingekauft hatte, welchen Preis die einzelnen Waren hatten und wie viel man insgesamt zahlen musste. Mehr nicht.

So kannte ich das seit anno dazumal und ich sah keine Notwendigkeit, das durch irgendwelche Anreize zu ändern. Wenn man mir an der Kasse irgendwelche Aufkleber überreichen wollte, lehnte ich dankend ab und je öfter man mir das anbot, desto unfreundlicher wurde ich.

Aber seit einigen Monaten mache ich wieder für meinen Kulturverein den wöchentlichen Einkauf in einem Großmarkt und nach einiger Zeit fand ich das öde. Einmal die Woche ging ich die gleichen Wege und kaufte das Gleiche ein. Das kannte ich von meinem Einkauf privat und das nervte mich bereits. Ohnehin war die Logistik dieses Einkaufs schwierig. Anfangs ging ich erst zum Kulturverein, schrieb einen Einkaufszettel und latschte dann zum Großmarkt, kaufte ein und brachte das Zeug zurück in den Laden. Ich brauchte dafür in der Regel zwei bis drei Stunden. Erträglicher wurde es, als ich begann, den Einkaufszettel zu schreiben, wenn ich ohnehin am Tresen stand und später von mir zuhause aus zum Einkaufen ging.

Meine Unzufriedenheit hatte wahrscheinlich mit dem Eindruck zu tun, den die Kassiererinnen von mir bekommen mussten, wenn sie meine Einkäufe über den Scanner zogen. Sie mussten glauben, dass ich ein vereinsamter, versoffener Weddinger war, der nur Snacks aß, ordentlich mit Hart-Alk nachspülte, aber andererseits großen Wert auf Sauberkeit in der Wohnung legte. In der Regel legte ich auf das Kassenband: einen Beutel Zitronen, einen Beutel Limetten, Klopapier, Badreiniger, Bodenreiniger, fünf Tüten Erdnüsse, zwei Tüten Salzstangen, zwei Flaschen Ballantine‘s Whisky, zwei Flaschen Grasovka Wodka, zwei Flaschen Gin, eine Flasche Jägermeister, zwei Flaschen Tomatensaft.

Manchmal blickte ich verschämt zu Boden oder schaute neidisch auf den Einkauf der vor mir befindlichen Person, der ein ganz anderes Bild vermittelte. Ich brauchte eine Motivation, weiterhin diesen Job zu machen und ich fand sie, als ich wieder einmal auf den Kassenbon schaute und die eindringliche Mahnung las: „Ihnen entgehen mit diesem Einkauf 30 Payback-Punkte.“

Bald darauf setzte folgender Gedankengang ein: Wenn ich wöchentlich einen Einkauf im Wert von 80 bis 120 Euro machte, dann könnte ich mir dafür doch diese Punkte gutschreiben lassen, um irgendwann etwas dafür zu bekommen, was entweder für mich oder den Verein nützlich wäre. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, meldete ich mich bei PAYBACK an. Schon der erste Einkauf war ein Erlebnis. Ich spürte in mir ein zuvor unbekanntes Verlangen.

Ich wollte Punkte sammeln, ich wollte tolle Prämien erhalten, ich wollte shoppen gehen. Tage später bekam ich einen Newsletter, der mir mitteilte, was ich mir von den bereits gesammelten Punkten leisten konnte. Ein „Kugelschreiber plus 2,50 Euro Zuzahlung“ löste natürlich noch keine Glücksgefühle aus, aber ein Anfang war gemacht.

Ich überlegte, wie ich die wöchentliche Punktezahl maximieren könnte. Mir fiel meine Drogerie ein, die auch an dem Bonusprogramm teilnahm. Sofort beschloss ich, dort einen Großeinkauf zu machen. Waschmittel, Deo, neuer Rasierer, Rasierschaum und, und, und. Als ich schließlich mit einer Tüte voller Waren, von denen ich die Hälfte eigentlich nicht brauchte, meine Wohnung erreichte, stand mir ein anderer Gedanke im Kopf: die Sachen baldmöglichst verbrauchen und neu kaufen.

Was für eine blöde Idee, dachte ich kurz darauf. Ich hatte für knapp 25 Euro eingekauft, aber nur 14 Payback-Punkte bekommen. Das war enttäuschend. Ich musste künftig für 50 Euro, ach was, für 80 Euro in der Drogerie einkaufen, um auf die Punkte zu kommen, die ich im Großmarkt bekam. Für 80 Euro in der Drogerie einkaufen, meldete sich ein mahnender Gedanke. Was willst du dafür kaufen? Bio-Dinkelkekse? Wenn es sein muss. Windeln? Kann nicht schaden. Vielleicht einen Vorrat anlegen oder die Sachen an Bedürftige verschenken. Alle Sorten Duschgels? Ja, wenn es sein muss. Das sorgt doch für Abwechslung.

Ich schüttelte den Kopf. Irgendwas stimmte mit mir nicht.

Was den Großmarkt anging, hatte ich keine Zweifel. Kein Wunder, als Schatzmeister des Kulturvereins war ich der Herr über das Geld. Bislang war es für mich das Ziel gewesen, von dem Hart-Alk zwei Flaschen auf Vorrat im Laden zu haben. Aber warum nicht drei, vielleicht vier? Es konnte doch Tage mit einer großen Nachfrage geben und es war ja mein Job, für genügend Stoff zu sorgen. Zu anderen Gelegenheiten sicherlich ein guter Gedanke, doch zurzeit lief es schlecht mit dem Hart-Alk. Oft stand ich am Tresen und schaute aufmerksam zu, wenn die Leute bestellten. Meist Bier oder Wein, verdammt. Vielleicht sollte ich anregen, dass eine „Happy Hour“ eingeführt wird? Oder ich bot den Leuten Whisky-Cola im großen Glas mit viel Whisky und wenig Cola für einen Euro an? Das konnte ich nicht machen, denn damit machte der Verein keinen Gewinn.

Ich malte mir in Gedanken weitere Optimierungsmöglichkeiten aus. Manchmal reichten die Salzstangen länger als eine Woche, weil die Tresenschicht diese nicht rumreichte. Ließ sich das verbessern? In die Aufbewahrungsbox passten nur zwei Tüten Salzstangen und fünf Tüten Erdnüsse. Sollte ich eine größere Box kaufen? Wie viel Payback-Punkte brachten Salzstangen und Erdnüsse eigentlich? Was war mit den Reinigungsmitteln? Sollte ich da einfach mal unbeobachtet welche wegschütten? Brauchte der Laden neue Handtücher? Es konnte nicht schaden, genug Handtücher da zu haben. Zehn Handtücher zu je fünf Euro brachten mir vielleicht zehn bis fünfzehn Payback-Punkte.

Die schwerste Herausforderung erlebte ich, als mir die Kassiererin neulich einen Zettel in die Hand drückte, der darüber informierte, dass der Großmarkt am kommenden Sonntag geöffnet habe und es einen Zehnfach-Punktwert auf meinen Einkauf gebe.

Ich machte den Einkauf normalerweise während der Woche und privat ging ich dort nicht hin. Ich überlegte tatsächlich ein paar Tage lang, wie ich dieses Angebot wahrnehmen könnte. Zehnfach-Punktwert, das konnte ich mir eigentlich nicht entgehen lassen. Ich überlegte, ob ich einfach den Einkauf vorziehen und jeweils fünf, ach was, zehn Flaschen Whisky, Rum und Gin kaufen sollte und den Mitstreitern auf Nachfrage zu erzählen, das sei ein Sonderangebot gewesen.

Meine Scham über den Einkaufsvorgang hatte ich inzwischen abgelegt und glaubte, dass das Vorzeigen der Payback-Kundenkarte ohnehin deutlich machte, dass ich zum Punkte-sammelnden Einkaufsjunkie geworden war. Aber die Mitstreiter würden Fragen stellen. Es war eine Zwickmühle. Ich erzählte meiner Freundin von dem verkaufsoffenen Sonntag, in der Hoffnung, sie würde sich von dem Angebot ködern lassen und meine Punktekarte mitnehmen. Nein, sie wollte nicht und ich konnte ihr nicht von dem Punkte-Schnäppchen erzählen. Sie hätte mich dann schief angeschaut.

Mir wurde allmählich klar, in welche Marketingfalle ich getappt war und es gab nur einen Weg zurück. Ich musste mich meiner konservativen Grundhaltung bezüglich Einkaufen erinnern und eine Maxime dringend beherzigen: Früher wurde nicht am Sonntag eingekauft, basta.

Dennoch bleibe ich dran und sammle eifrig weiter Punkte. Ich werde dieses Jahr noch oft den Einkauf für den Kulturverein machen müssen und da wird einiges an Punkten zusammenkommen. Bislang kann ich mir eine Salatschüssel, einen Hängesessel oder eine Gartenliege leisten. Da die Karte übertragbar ist, könnte ich Freunde bitten, sie beim Einkauf mitzunehmen oder ich biete an, für sie den Einkauf zu übernehmen. Manchmal bekommt man Extrapunkte, wenn man eine bestimmte Schokolade, einen Multivitaminsaft oder einen Elektroartikel kauft. Ich könnte daraus eine Tagesbeschäftigung machen.

Irgendwann, wohl in ferner Zukunft, wird der Zeitpunkt kommen, an dem mich der Newsletter erreicht und mir eine Prämie anbietet wie diese: „Villa auf Rhodos plus 22,50 Euro Zuzahlung“. Das klingt gut, das will ich erreichen.

Ein gutes Alter für eine gute Geschichte

„Hey, du Arsch!“

Der Mann vor mir ging ins Fitnesscenter. Nicht einmal im Monat, nicht einmal die Woche, nein, täglich. Er drehte sich um und seine Miene war eindeutig. Mein Ruf war bewusst gewählt, denn sonst bekam ich seine Aufmerksamkeit nicht. Ein bloßes „Hey“ oder „Hey, du“ hätte als Eröffnung für mein Spiel nicht gereicht. Es hätte ihn nicht gereizt. Er wäre kopfschüttelnd weitergegangen oder hätte sich kurz angehört, was ich zu sagen habe, um dann seinen Weg fortzusetzen. Der Mann war ungefähr in meinem Alter, etwa 40 bis 45 Jahre alt. Ein gutes Alter für eine gute Geschichte. Ich musste jetzt die Nerven behalten, sonst bekäme ich in Kürze die Dresche meines Lebens. Ich breitete die Arme aus und lächelte, ein Lächeln des Wiedersehens und der Deeskalation.

„Erinnerst du dich an mich? Ich bin es, Robert.“

Sein Gesicht zeigte jetzt Verwirrung. Ich war auf einem guten Weg. Aber erst musste er seinen, zu erwartenden Zug machen. „Nein, ich kenne dich nicht, Typ. Hast du irgendein Problem?“

„Hey, hey, warte“, rief ich aus. „Ich meine, ich sehe diese imposante Gestalt vor mir, diesen wohlproportionierten Muskelberg, die Glatze mit der markanten Beule und denke mir, meine Güte, das muss doch, das muss doch Ralf sein.“

Mein Gegenüber trat einen Schritt auf mich zu. Er musterte mich und überlegte, wie er mit der Situation umgehen sollte. Dann sagte er: „Ich heiße Rayk.“

„Ja, natürlich, Rayk!“, rief ich aus. „Ich wusste doch, es war was mit R und A am Anfang. Rayk, das hätte ich wissen müssen. Niemand hatte damals einen so ungewöhnlichen Vornamen wie du. Wie kam ich bloß auf so etwas Gewöhnliches wie Ralf?“

Er schlug nicht zu. Der erste Schritt war gemacht, ich wusste seinen Namen und lag mit meiner Vermutung fast richtig, was seine Aggression zu dämpfen schien.

„Was willst du von mir?“

„Ähm, nichts, also nichts direkt. Ich habe dich gesehen und wiedererkannt und wollte dich grüßen. Wir haben uns so lange nicht gesehen und ich war so überrascht nach all den Jahren, deshalb war ich in meiner Wortwahl unpassend. Ich musste auch gleich an unsere Kindheit denken, als wir gemeinsam die Grundschule, die, ähm ... ach verdammt ...“

„Eduard-Mörike-Schule?“, ergänzte mein Gegenüber.

„Ja, genau. Eduard-Mörike-Schule. Meine Güte, ich hatte den Namen total vergessen. Das ist doch bestimmt dreißig Jahre oder länger her.“

„Fünfunddreißig, um genau zu sein“, sagte Rayk. „Aber ich kann mich trotzdem nicht an dich erinnern.“

Es lief alles nach Plan. Selbstverständlich konnte er sich nicht an mich erinnern. Aber es gab jemanden in seiner Nähe und ich musste herausfinden, wer das gewesen sein könnte.

„Aber doch bestimmt an Hassan?“ Wir standen mitten auf der Müllerstraße im Wedding. Jeder zweite Türke hieß Hassan. Es gab also eine gute Chance, dass ich zufällig richtig lag.

„Ja, an einen Hassan erinnere ich mich“, sagte Rayk langsam.

„Und mit ihm warst du oft am Leopoldplatz, nicht wahr?“, fachte ich seine Erinnerung an. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ich ihn so weit hatte, dass er mich zu kennen glaubte. Dann hatte ich sein Vertrauen erlangt und konnte endlich mein Anliegen vorbringen.

„Das ist richtig“, gab Rayk zu und wiederholte: „Aber ich kann mich trotzdem nicht an dich erinnern.“

„Das ist auch schwierig“, gab ich zu. „Denn wir haben uns nur ein einziges Mal getroffen. Das war im Karstadt gewesen.“

Damit konnte ich nicht falsch liegen. Der Karstadt am Leopoldplatz hatte 1978 eröffnet, also musste Rayk sich vor 35 Jahren in seiner Freizeit dort herumgetrieben haben. Die Geschichte wurde immer besser. Ich war richtig gut drauf heute. „Du warst damals mit Hassan und ein paar anderen unterwegs. Ihr habt was geklaut und einer der Verkäufer hat es bemerkt. Ihr seid durch die Abteilung gelaufen und auf mich zugekommen. Du hast das Zeug, ich weiß nicht mehr, was es war, auf den Boden geworfen und mit einem Fußtritt zu mir befördert. Der Verkäufer hat euch gestellt, aber konnte nichts finden. Ich habe die Ware unauffällig nach draußen gebracht. Eine Weile später habe ich euch auf dem Leopoldplatz bemerkt und bin zu dir hin und habe dir die Sache gegeben. Du warst damals schon muskulös und hattest die Beule auf dem Kopf. Ich war der Nachbar von Hassan und der hatte mir viel von dir erzählt. Ich hatte Angst vor dir, deshalb habe ich, bis auf den einen Tag, nie die Nähe zu dir gesucht.“

Rayk nickte zustimmend. „Daran kann ich mich erinnern. Wir haben eine Menge Sachen aus dem Karstadt geklaut, aber die Aktion war was Besonderes gewesen. Du bist damals gleich abgehauen und ich habe Hassan gefragt, wer du bist. Aber irgendwie habe ich dich wieder vergessen. Hassan ist ja dann auch weggezogen nach Moabit.“

Ich wurde aufmerksam. Irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise verhielt sich mein Gegenüber passiv, bestätigte meine erfundenen Erzählungen und brachte aber selbst keine Details ein. „Ja, stimmt“, rief ich mit überraschter Stimme, um keine Pause entstehen zu lassen. „Oh Mann, das hatte ich ganz vergessen.“

„Er ist jetzt Lehrer an einer berufsbildenden Schule in Wilmersdorf. Wir treffen uns zweimal im Jahr. Ich kann ihn das nächste Mal von dir grüßen, Ronald.“

„Robert“, korrigierte ich. „Ja, mach das mal. Vielleicht sehe ich ihn mal wieder.“

„Okay, ich muss weiter, Robert. War schön, dich mal wieder getroffen zu haben“, sagte Rayk und hielt die Hand hin.

„Eine Sache hätte ich da noch. Das ist mir jetzt ein bisschen peinlich, aber weil ich dich jetzt wiedergetroffen habe … Kannst du mir vielleicht einen Zehner borgen?“

„Borgen?“, fragte Rayk zurück. „Ich bin mir nicht sicher, wann wir uns wiedersehen werden. Womöglich gar nicht mehr.“

„Dann schenk mir den Zehner doch einfach“, platzte ich heraus. „Der alten Zeiten wegen. Ehrlich gesagt, ich bin gerade etwas knapp bei Kasse und kann jeden Euro gebrauchen.“

Rayk nickte und zückte seine Brieftasche. Ich steckte den Schein in die Hosentasche.

„Übrigens“, begann Rayk und klopfte mir auf die Schulter. „Ich heiße gar nicht Rayk, sondern Thomas. Und ich komme nicht aus dem Wedding, sondern aus Eberswalde. Ich besuche gerade meine Tochter, die an der Beuth-Hochschule studiert. War eine schöne Geschichte, die du mir da erzählt hast.“