Dieses Haus ist nicht zu verkaufen - E.C. Osondu - E-Book

Dieses Haus ist nicht zu verkaufen E-Book

E.C. Osondu

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Beschreibung

Gelächter, Löffelklappern und Geschmatze dringen hinaus auf die Straße, Musik und Schüsse. Stimmen sind zu hören, die von Ndozo und Fanti und all den anderen Waisen, Witwen und Verwandten, die unter dem Dach des Großvaters Zuflucht gesucht und Arbeit gefunden haben. Es ist ein Haus, das in E.C. Osondus Romandebüt zur Hauptfigur avanciert, das zum Schauplatz wird und zum Symbol für das Vergehen der Zeit - aber alles andere als ein gewöhnliches. Begehbar wie separate Zimmer werden die einzelnen Schicksale seiner Bewohner und durch sie das Panorama eines Arbeiterviertels mit seinen Routinen und Bräuchen in einer namenlosen afrikanischen Großstadt aufgerollt. Es wird gehandelt und gefeilscht, gestritten und gekreischt, geheiratet und geliebt. Lebhaft geht es zu, zuweilen überschlagen sich die Ereignisse, doch durch die kindlich wache Erzählstimme bekommen auch Kindstötung, Totschlag und Diebstahl unverstellt ihren Platz, und die sich zahlreich zu Wort meldenden, aber namenlos bleibenden Nachbarn und Anwohner übernehmen die vermittelnde Rolle des Chors in der griechischen Tragödie.Voller Humor und traditionellem Liedgut, sowie Mythen, Fabelwesen und Magie atmet der Roman eine große Lebendigkeit.

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Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur

Herausgegeben von Indra Wussow

E. C. OSONDU

DIESES HAUS IST NICHT ZU VERKAUFEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHENVON MARIA HUMMITZSCH

Titel der Originalausgabe: This house is not for sale

Copyright © 2015, E. C. Osondu

All rights reserved

© 2017 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autorenfoto auf S. 2: © Victor Ekpuk

Gesamtgestaltung: sans serif, Berlin

ISBN 978-3-88423-551-5

In liebevoller Erinnerung an meine über alles geliebte Schwester Felicia Maria Ezediuno Nwanze

INHALT

WIE DAS MIT DEM HAUS ANFING

NDOZO

IBE

GRAMMOPHON

ONKEL AYA

ABULE

TATA

JULIUS

BABY

OLUKA

GABRIEL

CURRENCY

SOJA

FUEBI

TRUDY

AKWETE

IBE

WIE DAS MIT DEM HAUS ZU ENDE GING

DANKSAGUNG

WIE DAS MIT DEM HAUS ANFING

Wenn wir Großvater fragten, wie es zu dem Haus gekommen war, das wir alle das »Haus der Familie« nannten, erzählte er uns folgende Geschichte:

Vor langer Zeit, lange bevor wir Lebenden überhaupt geboren waren, erwachte eines Morgens einer unserer Vorfahren, ein mutiger, ein geachteter und gefürchteter Juju-Mann, und erzählte seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn von einem Traum. In dem Traum hatte man ihm eine Krone aufs Haupt gesetzt. Dieser Traum, so glaubte er, bedeutete, dass man ihn schon bald zum König krönen werde.

Der herrschende König musste den neuen krönen und ihm auch das Zepter überreichen, so war es damals üblich. So weit, so gut, hätte es nicht vor vielen, vielen Jahren, bevor selbst jene, die diese Geschichte erzählten, geboren waren, im Palast einen kleinen Zwischenfall gegeben. Ihr seht, unsere Vorfahren und der Palast haben eine bewegte Vergangenheit.

Es heißt, mein Volk habe in grauer Vorzeit unter einem tyrannischen König gelebt. Weil wir eine andere Sprache und zwei schräge Ziernarben auf den Wangen hatten, brachte man uns nicht viel Respekt entgegen. Man erwartete aber auch nicht viel von uns, abgesehen von den gelegentlichen Abgaben an den König. Wir lebten am Rande der Gesellschaft. Wir waren weder Leibeigene noch vollwertige Bürger.

Wenn ein Jäger aus dem Kreis unserer Vorfahren ein Wildschwein erlegte, wurde von ihm verlangt, den allerfeinsten Teil der Jagdbeute an den König abzugeben.

Wenn unter meinen Vorfahren ein Mädchen geboren wurde, das schön war und eine Augenweide für jedermann, so sprach man von ihr als künftige Frau des Königs. Wenn sie alt genug war, brachte man sie zum Palast, damit der König sie durch eine Luke betrachten konnte. Gefiel dem König, was er sah, dann wurde sie eine seiner Frauen. Gefiel sie ihm nicht, konnte sie mit einem anderen verheiratet werden. Es heißt, manche der Schwangeren hätten damals Bitterspinat gegessen, bittere Kolanüsse gekaut und bittere Säfte getrunken, sich schmerzhaften und bitteren Qualen ausgesetzt, um hässliche Töchter zu gebären.

Zudem hatte der König angeordnet, die Männer der Familie hätten sich am Bau eines riesigen Grabens zu beteiligen, der das Königreich umgeben sollte wie die Chinesische Mauer. Der Bau war als Symbol des Königs gedacht. Als König muss man etwas bauen, womit man in Erinnerung bleibt. So würden Geschichtenerzähler bei Hofe später einmal hervorheben, König Soundso habe, um seine Untertanen vor Angriffen zu schützen, in der Zeit seiner Herrschaft einen großen Graben um sein Königreich bauen lassen. Für den Bau dieses Grabens brauchte man Lehm, und dieser Lehm musste geknetet werden. Das war harte Arbeit – den Lehm aus einem großen, tiefen Loch ausgraben, Wasser holen, um ihn zu kneten, und den Lehm in Körben auf dem Kopf tragen. Ein rebellischer Vorfahre beklagte sich über diese erniedrigende Arbeit des Lehmknetens und Grabenbauens und schlug vor, den Lehm mit Palmöl statt Wasser zu kneten. So geschah es.

Am Morgen darauf wurde der Palast des Königs von Treiberameisen überrannt.

Ein König, das war wichtig, musste von seinen Untertanen gefürchtet sein, jede Form von Aufstand, auch die kleinste Andeutung, musste bestraft und im Keim erstickt werden. Dieser König war da nicht anders, die Regeln königlicher Herrschaft waren ihm vertraut, und er beschloss, meinen Vorfahren eine Lektion zu erteilen, die sie nie vergessen sollten.

Der König war entschlossen, meine Vorfahren zu töten. Sie flohen zu Fuß und wollten sich in einer Kleinstadt niederlassen, nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie sich letztlich niederließen, ergriffen jedoch beim Anblick schwangerer Männer die Flucht. Dieses Rätsel wurde später aufgeklärt. Die Männer waren nicht wirklich schwanger. Ihre stark gewölbten Bäuche waren das Ergebnis heftigen Palmweinkonsums.

Zu diesem Palast nun wollte der Vorfahre zurückkehren, damit man ihn zum König krönte und ihm das Zepter überreichte. Als der Vorfahre sich bereit machte für die Reise, bat er einige seiner Brüder und Nachbarn, ihn zu begleiten, doch sie lehnten ab. Sie alle wussten, dass der Ameiseneklat nicht vergeben und vergessen war. Paläste haben in der Regel ein gutes Gedächtnis. Trotzdem bestand der Vorfahre darauf, von ein paar seiner Leute begleitet zu werden. Er musste im Beisein von Zeugen gekrönt werden, das wusste er. Schließlich überredete er zwei seiner Freunde, mit ihm zu kommen, indem er ihnen, wenn er erst König war, Positionen in öffentlichen Ämtern versprach.

Wie zu erwarten nahm man sie, kaum dass sie vorstellig geworden waren, unverzüglich fest und sperrte sie ein. Am Morgen darauf wurde einer der drei in den Hof des Königs geführt. Dem König war es wichtig, denen, die glaubten, sie könnten die königliche Autorität in Frage stellen, eine unvergessliche Lektion zu erteilen. Der Zorn des Königs hatte zwei Gründe. An den schrägen Ziernarben auf den Wangen dieser Männer, von denen einer zum König gekrönt werden wollte, erkannte er, dass sie zu dem Volk gehörten, das den Bau des Grabens verweigert und den Eklat mit den Treiberameisen heraufbeschworen hatte. Und jetzt wollten sie auch noch zum König gekrönt werden. Wer weiß, zu welcher anderen Form des Aufstands sie seine Untertanen anstacheln würden, wenn er nicht hart durchgriff. Alle Männer, Frauen und Kinder des Königreichs wurden zusammengerufen, um dem seltsamen Spektakel beizuwohnen. Der König befahl, die beiden Gefangenen zu fesseln. Er befahl, dem Ersten den Kopf abzuschlagen. So geschah es.

Am nächsten Tag wurde auch der Zweite enthauptet. Nun war mein Vorfahre an der Reihe. Die gesamte Haft hatte er mit roten Augen und gesenktem Kopf um seine beiden Freunde getrauert. Sein eigenes Überleben sorgte ihn nicht so sehr. Er hatte seine langjährigen Freunde überredet, ihn auf diese Reise zu begleiten. Nur aus diesem Grund verspürte er so etwas wie Reue.

Als er gefesselt war und das Schwert aus der Scheide gezogen wurde, um ihm den Kopf abzuschlagen, wie es der König befohlen hatte, krabbelte ihm am Hinterkopf ein Tausendfüßer aus der dichten Mähne. Er war dunkelbraun.

»Halt«, befahl der König seinem Henker.

Er war ein König, er hatte viel gesehen, kannte und respektierte aber auch starken Juju-Zauber. Das war kein gewöhnlicher Sterblicher. Dieser Mann, das bewies der Tausendfüßer, war ein starker Juju-Mann. Die Haltung des Königs änderte sich.

»Bindet den Mann los«, ordnete er an.

»Bereitet ihm ein gutes Mahl. Gebt ihm die besten Kleider und führt ihn morgen zu mir.«

So geschah es.

Als der Vorfahre am nächsten Tag vor den König geführt wurde, schickte der alle seine Höflinge fort und blieb allein mit meinem Vorfahren zurück. Mein Vorfahre sah dem König in die Augen und sagte, »ich weiß, was Euch nachts um den Schlaf bringt. Ihr habt Angst, jung zu sterben wie schon Euer Vater und Großvater und all Eure Vorgänger«.

Der König sah meinen Vorfahren an und nickte demütig.

»Ich mache Euch ein Amulett, mit dem Ihr ein hohes Alter erreichen werdet. Ihr müsst in den Wald gehen und mir wilden Wein bringen«, sagte mein Vorfahre zum König.

»Ich habe tausende Sklaven und Diener, die das für mich übernehmen, ich werde sofort einen oder gleich ein Dutzend von ihnen losschicken, den Wein für dich zu pflücken.«

»Ja, das habt Ihr, aber Ihr selbst müsst den wilden Wein einsammeln. Es ist wichtig, dass Ihr selbst es tut, denn nur Ihr könnt Euer Leben verlängern. Kein anderer kann das für Euch übernehmen.«

So ging der König in den Wald und kam mit dem wilden Wein zurück. Mein Vorfahre riss die Blätter ab, schlang die Ranken zu einem schlanken Kranz und hängte ihn zum Trocknen an einen Balken nahe der Feuerstelle. Drei Tage später rief er den König eilig zu sich und bat ihn, den schnell getrockneten Wein herunterzuholen. Das tat der König.

»Sieh, ob du die Ranke nicht nur biegen, sondern auch brechen kannst.«

Der König bog die Ranke und brach sie ohne große Mühe entzwei.

»Ihr müsst noch einmal in den Wald gehen und mir vom selben Wein bringen«, sagte er zum König. Der König klagte erneut, ging aber in den Wald und kehrte mit dem Wein zurück. Diesmal ordnete mein Vorfahre an, den Wein weit oben über die Balken zu hängen und sieben Tage lang ein kleines Feuer unter ihm brennen zu lassen. Nach sieben Tagen reichte er dem König die Ranke, um sie zu biegen und zu brechen, aber die Ranke brach nicht, sosehr er sich auch bemühte. Mein Vorfahre zerrieb den langsam getrockneten Wein in einem Mörser und machte daraus einen Langlebigkeits-Talisman für den König, den er um den Hals zu tragen hatte. Außerdem sprach er zum König:

»Verfügt, dass Ihr ab sofort, solltet Ihr oder einer Eurer Nachkommen sterben, in aufrechter Position auf Eurem königlichen Stuhl zu begraben seid. Nur das einfache Volk wird auf dem Rücken liegend begraben. Ihr werdet im Jenseits entdecken, dass es auch dort Hierarchien wie bei uns auf der Erde gibt, denn in der neuen Welt, müsst Ihr wissen, gibt es verschiedene Ebenen. Auch dort werdet Ihr zu den Mitgliedern des Königshauses zählen, und Euch werden die Ehre und der Respekt zuteil, die Ihr verdient.« Den König entzückte die Vorstellung, über die Lebenden und die Toten zu regieren, und er verfügte, von nun an seien alle Könige auf diese Weise zu beerdigen.

»Womit kann ich dich belohnen?«, fragte der König.

»Erfüllt mir meinen ursprünglichen Wunsch. Krönt mich zum König.«

»Es kann im Land nur einen König geben«, sagte der König. »Ich werde das Folgende tun. Ich gebe dir ein großes Stück Land am Rand der Stadt, dazu Geld und Gefolge, um ein neues Leben zu beginnen. Ich werde dir auch einen herrschaftlichen Wohnsitz errichten lassen. Ein Herrenhaus, das eines starken Juju-Mannes wie dir würdig ist.«

Und so kamen wir in den Besitz des Landes, auf dem das Haus der Familie errichtet wurde. Der König ließ diesem Vorfahren auch ein Herrenhaus errichten, aber eines aus Lehm. Viele Jahre später wurde der Sohn des Königs entsandt, den König Portugals zu besuchen. Als er zurückkehrte, beschrieb er die Häuser, die er in Portugal gesehen hatte. Der König, der nun ein hohes Alter erreicht hatte, beschloss, meinem Vorfahren ein letztes Geschenk zu machen und das Haus der Familie in der portugiesischen Bauart errichten zu lassen. Mein Vorfahre wusste jedoch nicht, dass der König ihm das Haus nur deshalb hatte errichten lassen, um ihn im Auge behalten zu können. Der König hatte, sollte er aus irgendeinem Grund kein hohes Alter erreichen, seine Soldaten angewiesen, meinen Vorfahren zu töten. Und auf diese Weise sind wir zum Haus der Familie gekommen.

NDOZO

Diebin! Diebin!, hallte es eines Morgens durchs Haus, wovon wir alle wach wurden. Wir sollten ins große Wohnzimmer kommen, den Salon. Eine der Frauen, die im Haus wohnten, kniete auf dem Boden und weinte. Es war Ndozo. Sie war eine der vielen Frauen, die für Großvater auf dem Markt Waren verkauften. Sie hatte einen kleinen Sohn, der hatte immer eine Rotznase und trug drei Aluminiumkruzifixe an einem Band um den Hals und einen Talisman um die Hüfte. Es hieß, sie habe Geld von den Markteinnahmen gestohlen. Sie war eine von den Vertrauenswürdigen. Eine von denen, die jeden Abend das Geld zählten. Es hieß, sie habe sich an dem Geld bedient.

»Seit wann stiehlst du die Einnahmen?«, fragte einer der älteren Männer aus dem Haus.

Der Mann, der sie da verhörte, hieß Sibe-Sibe. Er lebte schon so lange im Haus, dass keiner mehr wusste, was er eigentlich war. Er besetzte die Grauzone zwischen Bediensteten und Freigeborenen. Alle Bediensteten hatten Angst vor ihm. Großvater achtete ihn und vertraute ihm.

»Noch nicht so lange«, sagte sie.

»Einen Monat? Ein Jahr? Drei Monate? Wie lange genau?«

»Ich weiß nicht, wie lange«, sagte sie. »Das war der Teufel. Es kommt nie wieder vor, versprochen.«

»Wir zeigen dir, was wir im Haus der Familie mit Dieben machen.«

Jemand nahm eine Tiger-Rasierklinge aus der Packung und schabte Ndozo die Haare ab. Es sollte gar kein richtiger Haarschnitt werden, darum ging es nicht, je schlampiger, desto besser, es sollte eine Demütigung sein, keine Verschönerung. Bald lagen ihre Haare fast alle auf dem Boden, nur an manchen Stellen standen noch kleine Büschel ab. Wo die Rasierklinge ihr in die Kopfhaut geschnitten hatte, blutete es.

Sie zogen ihr alles aus, nur den Unterrock aus bunten Baumwollstoffen nicht. Sie machten eine Kette aus Schneckenhäusern und banden sie ihr um den Hals. Dann bekam sie zwei leere Milchkannen in die Hand, die sie wie Paarbecken aneinanderschlagen sollte. Als man sie halb nackt aus dem Haus jagte, sollten wir hinter ihr herlaufen.

»Ich stehle nie wieder. Das war der Teufel. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Ihr seid meine Familie. Eine andere habe ich nicht. Bitte, ich stehle nie wieder, versprochen.«

Aber Großvater war entschlossen, an ihr ein Exempel zu statuieren. Er sagte, wir sollten sehen, was mit Dieben geschah, damit wir nie in Versuchung kämen zu stehlen.

Auf der Treppe zur Straße hinunter befahlen die Männer Ndozo zu singen. Einer der Männer hatte eine lange kokobo-Pferdepeitsche in der Hand und tat spaßeshalber, als würde er sie auspeitschen, worauf sie in die Luft sprang und die Schneckenhäuser leise rasselten. Sie schlug die leeren Milchkannen aneinander und ging durch die Straße und wir hinter ihr her. Wir, die wir hinter ihr her gingen, sollten johlen und spotten. Kaum hatten wir das Haus verlassen, so früh am Morgen, kamen wir an Leuten vorbei, die ihre Waren hinaustrugen, und an Frauen, die akara frittierten. Sie unterbrachen ihre Morgengeschäfte und wandten sich uns zu, und jedes Mal musste Ndozo sich vor sie stellen und singend die leeren Milchkannen aneinander schlagen, während wir hinter ihr mit schnellem Zungenschlag unser Ululei-Geheul anstimmten.

»Was hast du gemacht?«, fragten die Leute, auch wenn sie es beim Blick auf ihren geschorenen Kopf und die Kette mit den Schneckenhäusern um ihren Hals bereits wussten.

»Ich habe gestohlen.«

»Was hast du gestohlen?«

»Ich habe Geld aus der Kasse gestohlen.«

»Was hast du mit dem Geld gemacht?«

»Der Teufel ist schuld.«

»Wirst du wieder stehlen?«, fragten sie.

»Nein, ich werde nie wieder stehlen«, antwortete sie.

»Jetzt sing dein Lied und tanz noch mal für uns. Es ist ein schönes Lied, es gefällt uns.«

Also schlug sie beim Tanzen die leeren Milchkannen aneinander und sang:

Diebin, Diebin, jankoriko

Ajibole ole

Vom Haus aus liefen wir durch verschiedene Straßen und ein Gewirr von Seitengassen. Irgendwann sagte sie, sie habe Durst, weil die Sonne so heiß am Himmel steht, da sagte man ihr gleich, halt den Mund. Sie sagte, sie muss mal, da sagte man ihr, mach doch in die Hose. Sie sagte, sie habe Halsweh und bald keine Stimme mehr, da wollten sie wissen, ob das Stehlen weitergegangen wäre, wenn man sie nicht erwischt hätte.

»Der Teufel ist schuld«, sagte sie.

Auch wir waren langsam müde, aber wir zogen weiter und weiter, und sie blieb stehen und sang, blieb stehen und sang, und die Leute fragten, was sie gemacht hatte.

Als wir nach Hause kamen, sollte sie sich in derselben Ecke hinknien, in der sie auch am Morgen gekniet hatte, als wir aufgewacht waren. Ihren Sohn durfte sie nicht anfassen.

»Seht ihr jetzt, was man im Haus der Familie mit Dieben macht?«, bekamen wir zu hören. »Genau das blüht allen, die in diesem Haus stehlen, auch meinen Kindern und Enkeln.«

Als wir am nächsten Morgen erwachten, war Ndozo verschwunden. Ihren kleinen Sohn hatte sie zurückgelassen.

Es gab viele Geschichten über ihr Verschwinden. Manche sagten, sie habe sich vor lauter Scham in die Lagune gestürzt. Andere sagten, sie habe sich bei ihren Eltern verkrochen. Keiner wusste mehr, wer ihre Eltern waren. Sie gehörte zu denen, die als Gegenleistung für einen kleinen, bei Großvater geliehenen Geldbetrag ins Haus kamen, bis das Geld zurückgezahlt war und sie wieder zu ihrer Familie zurück durften. Allerdings erzählte man sich, dass keiner, der sich von Großvater Geld lieh, es je zurückzahlen konnte, weil er die Leute verhexte, und viele blieben im Haus und bekamen Kinder, die irgendwann auch zum Haus der Familie gehörten, wo sie kleine Aufgaben übernahmen, bis sie alt genug waren, um im Laden auszuhelfen.

Es hieß, Ndozo habe das Haus vor ihrem Fortgehen mit einem Fluch belegt und früher oder später komme Demütigung und Schande über das Haus und alle Bewohner, so wie Schande auch über sie gekommen war.

Jemand sagte, Großvater habe gezischelt, keiner werde sie vermissen und sie hätte gut daran getan, ihren Sohn nicht mitzunehmen.

Jahre später hielt ein Wagen vor dem Haus der Familie, und eine füllige Frau stieg aus. Sie war teuer gekleidet. Als sie zum Haus schaute, beschirmte sie die Augen, als müsste sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich hierher wollte. Sie ging durchs Tor und betrat das Grundstück. Es war Ndozo. Sie grüßte und fragte nach Großvater. Dann entschuldigte sie sich kurz und ging zum Wagen zurück. Der Fahrer trug nach und nach lauter Dinge ins Haus. Kleidung und alle möglichen Behältnisse aus Plastik. Sie sagte, sie sei gekommen, um ihren Sohn zu sich zu holen. Sie handelte jetzt im Nachbarland erfolgreich mit Plastikwaren. War mit allem gesegnet, mit Glück und Reichtum, ihr Geschäft hatte sich gut entwickelt. Sie hatte klein angefangen und für einen großen Händler Plastikwaren verkauft, und weil das Geschäft gut lief, sie viele Kunden gewann und mit Gewinn verkaufte, alles Fähigkeiten, die sie im Haus der Familie erworben hatte, war das Geschäft ihres Chefs gewachsen. Was sie heute sei, habe sie der Zeit bei meinem Großvater zu verdanken. Ihr Chef hatte bald für sie einen neuen Laden eröffnet, und der war noch weiter gewachsen. Sie war jetzt eine bedeutende Händlerin von Plastikartikeln. Hatte sogar Leute, die für sie arbeiteten. Der Diebstahl vor langer Zeit tue ihr sehr leid, aber sie sei auch froh, dass er zu etwas Gutem geführt habe. Hier war sie nun, wohlhabend und unabhängig. Sie hatte Leute, die für sie arbeiteten, und sie wäre auch enttäuscht, wenn man sie bestehlen würde. Sie war gekommen, um Großvater zu entschädigen. Sie hatte sich verliebt, einen Mann kennengelernt, der sie liebte, sie hatten geheiratet, aber sie wurde nicht schwanger. Die Leute sagten, eine Frau müsse sich entscheiden zwischen dem Reichtum, den man zählen kann wie Geld und Ländereien und Autos, und dem, den man nicht zählen kann, denn sein Rind kann man zwar zählen, aber die Kinder nicht. Wo ist mein Sohn?, fragte sie. Sie wollte ihn sehen, und sie wollte ihn anfassen. Sein Gesicht und die Erinnerungen an ihn begleiteten sie seit damals.

Sie ließen das Gesagte wirken, dann stürzten sie sich auf sie wie wilde Wespen.

»Und das sollen wir dir abnehmen? Deine Geschichte ist zu schön, um wahr zu sein.«

»Du hast Geld aus der Ladenkasse gestohlen, bevor man dich erwischt hat.«

»Wahrscheinlich hast du deinen Partnern in den Nachbarländern das ganze Geld geschickt, und die haben es für dich angelegt.«

»Du hast Plastikwaren verkauft, schon klar. Haben wir hier nicht auch solche Verkäufer? Wenn es stimmt, was du sagst, dann nenn uns einen, der davon reich geworden ist.«

»Und du glaubst, du kannst einfach zurückkommen und deinen Sohn holen? Was, wenn wir dir sagen, er ist krank geworden und gestorben, was dann?«

Sie fing an zu weinen, und auf einmal war sie wieder die alte Ndozo. Ihre teuren Sachen sahen jetzt aus wie eine Verkleidung. Sie sagte, ich weiß, dass mein Sohn noch lebt. Sie sagte, sie sollten die Summe ausrechnen, die sie vor Jahren aus der Kasse gestohlen habe, und die Zinsen draufschlagen, sie werde das Geld zurückzahlen.

Sie sagte, sie sei bereit, ihre ganze Schuld zu begleichen, wenn sie nur ihren Sohn mitnehmen dürfe.

»Und das Salz, der Pfeffer, die Seife, die Medizin und all die Sachen, die der Junge in den Jahren gebraucht hat, bezahlst du die auch?«

Ndozo flehte sie an, ihr zu sagen, wie viel sie ihnen schuldete.

»Was, wenn wir dir sagen, dass der Junge tot ist. Dass er sich tagelang geweigert hat, etwas zu essen oder zu trinken, als du weg warst. Dass er immer wieder zur Straße gezeigt und nach seiner Mutter gefragt hat. Gefragt hat, wann sie zurückkommt und mit ihm kuschelt, wie sie sonst immer abends mit ihm gekuschelt hat. Wir haben ihm gesagt, seine Mutter kommt bald wieder. Er hat noch heftiger geweint, und sein Körper ist von dem vielen Weinen ganz heiß geworden, er hat Fieber bekommen, dann ist er ohnmächtig geworden. Er kam ganz schnell ins Krankenhaus, aber die Ärzte haben gesagt, es ist zu spät, sein Herz ist schon gebrochen; der Arzt hat gesagt, er hat in einem so jungen Menschen noch nie so ein gebrochenes Herz gesehen.«

»Mein Herz weiß, wie es nur eine Mutter wissen kann, dass mein Sohn noch lebt, ich höre sein Herz schlagen.«

»Wie kannst du sagen, dass du eine Mutter bist, wo du ihn allein gelassen hast, als er die Wärme einer Mutter am meisten brauchte, die Freude, dass du ihn beim Namen rufst und ihm sagst, das Abendessen ist fertig, und er seine Spielkameraden stehen lässt und zu dir rennt, Nase in die Luft, immer dem Duft fein gekochter Suppe hinterher.«

»In all den Jahren, seit ich fort bin, habe ich immer an ihn und an dieses Haus gedacht. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, darum bin ich gegangen. Ich wollte immer um Vergebung bitten für das, was ich getan habe, und meine Dankbarkeit zeigen. Und ich dachte, es wird ein Tag der Freude und Wiedervereinigung und Aussöhnung.«

»Was hast du erwartet? Dass wir die Trommeln schlagen für eine Diebin, die Geld aus der Kasse gestohlen hat und abgehauen ist, um damit ihren eigenen Laden aufzumachen?«

»Und als wäre das nicht schlimm genug, hast du deinen eigenen Sohn zurückgelassen, der dann in unseren Armen gestorben ist.«

Wie sie es auch wendete, sie wehrten ihr Flehen ab. Sie wendeten sich gegen sie. Drehten ihr die Worte im Munde um. Ihre Stimme war schon ganz heiser vom vielen Betteln. Ihre Knie wund vom harten Boden. Die Tränen auf ihrem Gesicht bildeten ein krustiges, salziges Rinnsal.

Schließlich stand sie auf und ging.

Später hörten wir Folgendes. Sie sammelte all die Dinge, die sie mitgebracht hatte, um sie unter den Leuten im Haus der Familie zu verteilen, wieder ein. Sie brachte sie in die Gasse der Bettler. Noch am selben Abend forderte der König der Bettler alle Bettlerinnen auf, ihr zum Haus der Familie zu folgen. Um Mitternacht streckten sie dem Haus ihre bloßen Hintern entgegen und ließen eine Flut von Flüchen los. Sie verfluchten uns und beteten, Unheil möge über uns kommen, und sie hörten erst auf, als die Dämmerung dem Morgengrauen sanft ins Ohr flüsterte, und da gingen sie fort.

Ndozo kehrte zurück zu ihrer Handelsstation an der Grenze und tauchte nie wieder auf. Ihr Sohn lebte noch, doch sollte er nie erfahren, wer seine Mutter war.

IBE

Auch mein Cousin Ibegbunemkaotitojialimchi, was so viel heißt wie »rette mich vor meinen Feinden, damit ich den Abend meiner Tage hier auf der schönen Erde verleben kann«, kurz Ibe genannt, verbrachte den Sommer im Haus der Familie. Anders als manche von uns, die nach den langen Sommerferien heimkehrten, bevor die Schule nach der Regenzeit wieder losging, wussten Ibe und seine Mutter nicht, wann sie in ihr Haus im Norden zurückkehren würden. Seine Mutter und er waren aus dem Norden zu uns gekommen, weil sein Vater eine zweite Frau geheiratet hatte. Ibe war so alt wie ich, schien aber viel mehr von der Welt zu wissen. Er kannte Geheimnisse. Verstand was von Magie. Sprach viele Sprachen, sogar ein paar Brocken Hindi und Chinesisch, außerdem etwas Arabisch.

Ibe sagte, wenn du beim Fußball das gegnerische Team besiegen willst, musst du losziehen und die größte Siedleragame fangen, die du finden kannst. Agamen gab es zu Hauf, sie sonnten sich unbekümmert auf den Betonblöcken der angrenzenden Bauruine. Du musst die Agame töten, sagte Ibe, ein kleines Stück roten Stoff um ihren Hals binden, ihren Kopf mit einer Nadel durchbohren und sie dann am Torpfosten deines Teams vergraben. Ibe meint, das lenkt den Gegner ab, und egal, wie sehr er sich anstrengt, er bekommt den Ball nie in deinen Torraum und erzielt auch keinen Treffer.

Ibe sagte, wenn du willst, dass dein Feind durch die Prüfung fällt, kannst du sein Gehirn verriegeln. Das geht so: Kauf ein Schloss von Yeti oder Tokoz, schließ es auf und flüstere sieben Mal den Namen deines Feindes und die magische Formel, lesen – vergessen, lesen – vergessen, während du das Schloss abschließt und den Schlüssel wegwirfst. Wenn dein Feind den Prüfungssaal betritt, ist alles Gelesene verschwunden, weil du sein Gehirn erfolgreich verriegelt hast.

Ibe sagte, die besten Fußballtrainer würden ihren Spielern Tee geben, den sie mit dem Pulver einer aufputschenden Kapsel