Dilmun - Suche nach dem ewigen Leben - Robin Gates - E-Book

Dilmun - Suche nach dem ewigen Leben E-Book

Robin Gates

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Beschreibung

Colin Rendall traut seinen Augen nicht: Das neue Bild in seiner Wohnung ist keine einfache Fotografie. Bei näherer Betrachtung entpuppt es sich als Fenster zu einem magischen Ort.

Gemeinsam mit seiner Studentin Annika gerät der Geschichtsprofessor immer weiter in den Sog einer uralten Auseinandersetzung: Der geheime Garten Dilmun wird seit Jahrtausenden von mythischen Wesen bewacht. Ihre verstoßenen Verwandten suchen jedoch einen Weg, um die Kontrolle über diesen magischen Ort an sich zu reißen. Aber sie sind nicht die einzigen, die Dilmun für sich beanspruchen. Eine wilde Jagd nach dem Schlüssel zum Paradies beginnt ...

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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Seitenzahl: 583

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Hinter dem Vorhang

Über dieses Buch

Colin Rendall traut seinen Augen nicht: Das neue Bild in seiner Wohnung ist keine einfache Fotografie. Bei näherer Betrachtung entpuppt es sich als Fenster zu einem magischen Ort.

Gemeinsam mit seiner Studentin Annika gerät der Geschichtsprofessor immer weiter in den Sog einer uralten Auseinandersetzung: Der geheime Garten Dilmun wird seit Jahrtausenden von mythischen Wesen bewacht. Ihre verstoßenen Verwandten suchen jedoch einen Weg, um die Kontrolle über diesen magischen Ort an sich zu reißen. Aber sie sind nicht die einzigen, die Dilmun für sich beanspruchen. Eine wilde Jagd nach dem Schlüssel zum Paradies beginnt …

Über den Autor

Robin Gates, geboren 1967, sieht sich in der Tradition des klassischen mündlichen Geschichtenerzählers. Er veröffentlichte Essays zu mythologischen Themen in Zeitschriften wie der AHA und beschäftigt sich mit Mythen und Sagen der verschiedensten Völker, um sich davon für seine Fantasyromane inspirieren zu lassen. Unter seinem bürgerlichen Namen Bernhard Stäber veröffentlichte er bereits mehrere Skandinavienthriller. Er lebt und arbeitet in Norwegen.

Robin Gates

DILMUN

SUCHE NACHDEM EWIGEN LEBEN

beBEYOND

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: formlaborunter Verwendung von Motiven © shutterstock: watchara | revers | caesart | naKornCreate

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5116-3

Bei diesem eBook handelt es sich um eine digitale Neuauflage des bereits unter dem Titel »Dilmun – Jäger des ewigen Lebens« bei Ueberreuter erschienenen Werks.

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

»Was uns an der sichtbaren Schönheit entzückt,ist ewig nur die unsichtbare.«

Kapitel 1

Warmes Abendlicht leuchtete über dem breiten Fluss, traf auf die Glasfassade des Hochhauses an dessen Ostufer und erfüllte die Luxuswohnungen dahinter mit orangefarbenem Schein. Das Appartement im obersten Stockwerk besaß keine Vorhänge an den Fenstern. Nach einem wolkenlosen Tag im Hochsommer hätte in seinen Räumen eine schier unerträgliche Hitze herrschen müssen, gemessen selbst an Englands gemäßigtem Inselklima. Aber die Luft war dank einer eingeschalteten Klimaanlage angenehm kühl.

Die Ausstattung im Inneren des Appartements passte zu seiner Temperatur. Die vorherrschenden Farben waren ein nüchternes, klares Weiß der beinahe schmucklosen Wände und ein Schwarz weniger Möbelstücke, die in so beträchtlichem Abstand voneinander standen, dass sie die Räume noch größer wirken ließen, als sie ohnehin schon waren.

Aus dem oberen Teil der Wohnung erklangen Schritte, zunächst gedämpft auf Teppichboden, dann hart und klirrend auf den eisernen Stufen der Treppe, die von Draht und dünnen Metallstreben gehalten wurde. Der Besitzer des Appartements stieg in den geräumigen Hauptraum hinab. Das Panoramafenster, dem er sich zuwandte, nahm den größten Teil der Westwand ein. Es ermöglichte dem Mann, der dicht vor der Scheibe stehenblieb, einen atemberaubend weiten Blick über die Stadt in der Tiefe, durch die der Fluss sich in lang gezogenen Windungen wälzte. Das Gegenlicht der untergehenden Sonne ließ die Silhouette des hochgewachsenen Mannes mit kurzgeschnittenen Haaren und breiten Schultern von hinten eigenartig unwirklich aussehen. Wer sie beobachtet hätte, wäre unwillkürlich versucht gewesen, sich nach dem aus Fleisch und Blut bestehenden Ursprung dieses reglosen Schattenrisses umzusehen.

Schweigend blickte der Mann auf die Stadt tief unter sich hinab. Er hatte die niedrigen Holzhäuser, die sich um die erste Brücke über den Fluss Tamesas drängten und innerhalb kürzester Zeit zu der Stadt Londinium angewachsen waren, niemals mit eigenen Augen gesehen – so viele Jahrhunderte lasteten nicht auf seinen Schultern. Aber dennoch wäre jeder, der in das glattrasierte, beinahe faltenlose Gesicht des Mannes geblickt und ihn auf etwa fünfundvierzig Jahre geschätzt hätte, verblüfft, ja hellauf entsetzt gewesen, wenn er dessen wahres Alter erfahren hätte.

Schon vor langer Zeit war er aus seiner eigenen Zeit herausgerissen worden, in einem Land fern von dieser kühlen, regnerischen Insel. Die Welt, in die er hineingeboren worden war existierte nur noch zwischen dem Inhalt von Museumsvitrinen und Historienfilmen. Doch kein noch so überzeugend schwitzender Schauspieler in mittelalterlicher Rüstung hätte die Lebendigkeit der Erinnerungen heraufbeschwören können, die dem Besitzer des Appartements hoch über dem Stadtteil Battersea im Westen Londons ins Gedächtnis eingebrannt waren.

Er war schon mehrere hundert Jahre alt gewesen, als er nach England gekommen war. Er hatte das letzte Wüten der Pest und den großen Brand der Stadt miterlebt. Der Aufstieg dieses kleinen Landes zu einer Weltmacht war für ihn schließlich eine willkommene Gelegenheit gewesen, in regelmäßigen Abständen seinen Besitz zu veräußern und weiterzuziehen, bevor die Menschen in seinem Umfeld angesichts seines unveränderten Alters misstrauisch wurden. Im Ausland war es einfacher, zu verschwinden und mit einer neuen Identität wieder aufzutauchen. Über die Jahrhunderte hinweg hatte er beinahe jede der englischen Kolonien bereist, bis er schließlich zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts wieder nach London zurückgekehrt war. Hier fiel es schwerer, sich einen neuen Namen und eine neue Biografie zuzulegen. Doch das nahm er inzwischen gern in Kauf. Er mochte diese Stadt mehr als alle anderen Städte, deren Gründung und Wachstum er in den Jahrhunderten erlebt hatte, seitdem das geschehen war, was ihn von den übrigen Menschen trennte. Vielleicht war das so, weil sie seinen Weg so lange begleitet hatte. Wenn er in den stilleren frühen Morgenstunden kurz vor Sonnenaufgang durch ihre Straßen wanderte, war es ihm fast, als atmete sie im selben Rhythmus mit ihm ein und aus. Sie war älter als er.

Die Sonne versank hinter den Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Eine Vielzahl von Lichtern entzündete sich an den Fassaden, die bis dicht an das Themseufer heranreichten, und glitzerten auf dem Wasser. Ein weiterer Tag wich der Nacht.

Die Gestalt am Fenster beobachtete reglos, wie der feurige Ball im Verschwinden den westlichen Himmel entflammte. Ein tief orangeroter Schein dicht über den Dächern lehnte sich noch eine ganze Weile gegen das kühlere Blau der einbrechenden Dunkelheit auf, bis schließlich auch diese letzte Erinnerung an Helligkeit und Wärme verblasste. Der Mann in dem dunklen Appartement atmete leise und schwer aus.

Etwas lag in der Luft. Er konnte es beinahe riechen, so als führte sie einen Duft von exotischen Gewürzen mit sich. So deutlich hatte er die Anwesenheit jenes Ortes, der ihn für immer verändert hatte, schon lange nicht mehr gefühlt. Es war ihm, als könnte er ihn jederzeit vor sich sehen, wenn er nur seine Augen schließen würde – nur ein Blinzeln, und er würde in dessen Mitte stehen. Er würde dem Flüstern des Windes in der riesigen Akazie über sich lauschen, die Farbenpracht der unterschiedlichen Blüten zu seinen Füssen in sich aufnehmen und sich rücklings ins Gras fallen lassen.

Die Dinge waren in Bewegung geraten. Seitdem er seine einsame Wache begonnen hatte, war so viel Zeit vergangen, dass ein Teil von ihm schon gar nicht mehr daran geglaubt hatte, dass es jemals anders sein würde. Doch dann hatten die Träume begonnen. Manjusri war ihm erschienen und hatte ihm bedeutet, dass es Zeit sei, einen Nachfolger zu finden. Der Gedanke erfüllte ihn gleichzeitig mit Erleichterung und mit Furcht. Er ahnte, worauf das Weiterreichen der Fackel hinauslief, und er scheute sich davor.

Letztendlich führte jedoch kein Weg an dem vorbei, was getan werden musste. Er hatte mehr gesehen und erlebt, als es anderen vergönnt gewesen war. Der Preis dafür war die Einsamkeit gewesen, eine Grenze, die ihn seitdem von den restlichen Menschen getrennt hatte. Zu sterben bedeutete, am Ende wieder das Schicksal aller anderen zu teilen. Wenigstens dieser Trost blieb neben dem Wissen, dass er den Garten so lange erfolgreich beschützt hatte.

Er straffte sich. Alle nötigen Vorkehrungen für das Finden seines Nachfolgers waren getroffen. Nun blieb ihm nichts Anderes übrig, als abzuwarten und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Dennoch durfte er jetzt nicht nachlässig werden. Der Übergang war eine gefährliche Zeit, wie Manjusri ihm erklärt hatte. Mit der Suche nach dem nächsten Hüter war ein Stein in einen Teich geworfen worden und hatte dessen spiegelglatte, ruhige Oberfläche in Bewegung versetzt. Die Wellen, die jener Steinwurf ausgelöst hatte, würden sich in alle Richtungen ausbreiten und neugierige Blicke anziehen. Seine Wachsamkeit war nun noch stärker gefragt. Jene, vor denen er am meisten auf der Hut war, hatten zwar schon seit über zweihundert Jahren nichts mehr von sich hören lassen, aber das bedeutete nichts. Die Spanne eines Menschenlebens bedeutete für sie nicht mehr als für ihn.

Außerdem spürte er noch etwas Anderes, wie einen kühlen Windhauch auf seinem Gesicht. Als er bei Einbruch der Dämmerung die Tarotkarten befragt hatte, war zuletzt der Stern aufgetaucht. Er hatte lange die Karte in seiner Hand gehalten und die weibliche Gestalt mit dem abgewandten Gesicht betrachtet, die unter dem Feuer eines Sternenhimmels den Inhalt zweier Kelche aus Gold und Silber ausgoss. Etwas kündigte sich an, neu und unerwartet, und es hatte weder mit seinem Nachfolger noch mit seinen alten Feinden zu tun. Er fragte sich, was der Garten diesmal für ihn bereithalten würde.

Nun, was auch immer geschehen mochte, er musste darauf vorbereitet sein. Es wurde Zeit für seine abendliche Meditation. Und später wartete noch eine Nachtschicht in der Dunkelkammer auf ihn.

Abrupt wandte der Besitzer des Appartements sich von dem Panoramafenster ab und tauchte in die Finsternis seiner Wohnung hoch über der Themse ein.

Kapitel 2

Colin Rendall lief der Schweiß über die Stirn. An einem so schwülheißen Tag die alte Lederjacke anzuziehen, war wirklich eine Schnapsidee gewesen. Aber wer hätte auch damit rechnen können, dass dieser Juli nach zwei Wochen Kälte und Dauerregen doch noch sommerlich werden würde! Seufzend schälte er sich im Gehen aus dem schwarzen Relikt seiner Studienzeit, das inzwischen so ramponiert aussah, dass auch die zahllosen Ausbesserungsversuche mit Schuhcreme nicht mehr viel halfen. Beinahe wäre er dabei in einen Hundehaufen getreten, dem er gerade noch durch einen Blick zu Boden auswich, während er sich die Jacke über die linke Schulter hängte. Verdammt, langsam sollte er sich doch wirklich an den Berliner Gang gewöhnt haben: immer ein Auge auf das Straßenpflaster richten, um einer möglichen Tretmine zu entgehen!

Als er sich kurz vor dem Verlassen seiner Charlottenburger Wohnung beim Durchqueren des Flurs aus den Augenwinkeln im Spiegel betrachtet hatte, war ihm der Gedanke gekommen – und das nicht zum ersten Mal –, dass er so angezogen nicht gerade wie ein seriöser Dozent der Humboldt-Universität aussah. Mit dieser Einschätzung war er nicht der einzige. Von den neuen Studenten bekam er mit schöner Regelmäßigkeit dieselbe Reaktion. Manche seiner Erstsemester, die ihn noch nie zu Gesicht bekommen hatten, erwarteten offenbar von einem deutsch-britischen Althistoriker eine wirre Haarmähne, ein Jackett aus Harris-Tweed und dass er sich so exzentrisch wie englische Akademiker in Hollywoodfilmen benahm. Er konnte es ihren leicht überraschten Gesichtern ansehen, wenn er dann vor ihnen im Hörsaal stand. Colin Rendall wirkte alles andere als überdreht oder unberechenbar. Mit seiner schwarzen Lederjacke, einer ebenfalls schwarzen Jeanshose und den kurz geschnittenen dunkelblonden Haaren hätte dieser Mittdreißiger ebenso gut ein Streetworker aus Friedrichshain sein können. Aber er mochte sowohl die Farbe Schwarz als auch Jeans. Und bisher hatte er es nicht über sich bringen können, die verschlissene Jacke auszusortieren. Es wäre ihm wie das Wegwerfen eines alten Tagebuchs vorgekommen. Jahrelang hatte sie seine Studienzeit in Berlin begleitet, von der WG in der Nähe des Hermannplatzes bis zu seiner ersten eigenen Wohnung in Moabit.

Seufzend blieb er stehen und blinzelte in die Sonne, die bereits hoch über den Dächern stand und auf das Pflaster herabbrannte. Der Wetterbericht hatte für später ein Gewitter angekündigt. Colin mochte diese Jahreszeit. Aber auch nach über zwei Jahrzehnten in Deutschland hatte er sich nicht an die hohen Temperaturen des kontinentalen Hochsommers gewöhnt. Er schätzte ihn aus dem Schatten heraus. Vor allem aber mochte er an ihm die späten Abende, wenn es in der Stadt schließlich dunkel wurde, aber die Hitze des vergangenen Tages noch immer wie eine eindrückliche Erinnerung zwischen den Häuserfronten hing. Diese wenigen Wochen im Jahr, in denen selbst jemand wie er, der leicht fror, noch stundenlang in einem kurzärmligen T- Shirt herumlaufen konnte, ohne dass es ihm kalt wurde, genoss er über alle Maßen.

Doch obwohl Colin Rendall die pralle Sonne nicht gerade liebte, wollte er nicht umkehren und wieder nach Hause fahren. In seiner Wohnung fiel ihm die Decke auf den Kopf. Das vergangene Sommersemester war ziemlich anstrengend gewesen. Zusätzlich zu den Vorlesungen und dem Betreuen seiner Doktoranden hatte er mit der Arbeit an einem Buch begonnen. Das Thema war die Entwicklung von kulturellen Landschaften in den Reichen der Antike. Heute war der erste Samstag der vorlesungsfreien Zeit. Colin hatte sich vorgenommen, bis zum Beginn des Wintersemesters so weit wie möglich mit seinem Manuskript voranzukommen. Aber als er an diesem Morgen aufstand und sich an sein Notebook setzte, ertappte er sich irgendwann dabei, wie er stirnrunzelnd den beinahe leeren Bildschirm anstarrte, der die Seite 54 seines Textes anzeigte.

Seufzend hatte er schließlich den Deckel wieder zugeklappt. Es war sinnlos, sich Ideen aus dem Kopf prügeln zu wollen. Offenbar hatten seine Akkus nach der Arbeit der letzten Monate einfach keinen Saft mehr. Warum nicht einfach zur Abwechslung einmal einen Gang runterschalten und das Wochenende genießen? Bis zum Beginn des Wintersemesters war es noch lange hin. Mit ein wenig Abstand würden die Einfälle schon wieder fließen. Auch wenn draußen der Asphalt in der Sonne kochte, war es besser, sich ein wenig die Beine zu vertreten als auf das geschlossene Notebook auf seinem Schreibtisch zu schielen, wo gerade nichts voranging.

Nun schlenderte er durch die Straßen von Prenzlauer Berg. Er war nicht immer hier zu Hause gewesen. Die ersten sieben Jahre seines Lebens hatte er auf dem Land verbracht, genauer gesagt: auf The Mainland, der Größten der Orkneyinseln vor der Nordküste Schottlands. Ihm waren nur wenige Erinnerungen an jene Zeit verblieben, blasse Eindrücke von der grauen See, dem beständigen Rauschen des Windes, Nieselschauern und den Gesichtern seiner Verwandten, so verschwommen, als würde er sie durch eine Fensterscheibe mit einem Vorhang aus Regentropfen dahinter beobachten. Und obwohl er jene Erinnerungen an das Leben auf dem Land mochte, fühlte er sich in der Großstadt überaus wohl.

Besonders schätzte er es, dass ihm Berlin auch nach Jahren noch nicht langweilig geworden war. Dazu änderte die Stadt sich einfach zu schnell. Ständig definierte sie sich neu. Bezirke änderten ihre Erscheinungsbilder mit den Menschen, die in ihnen lebten, alte Kiezbewohner wanderten allmählich ab, andere rückten nach und formten ihr Umfeld nach ihren Vorstellungen. Einerseits konnte einen dies wehmütig stimmen, weil es deutlich vor Augen führte, welch geringe Halbwertszeit diese Eindrücke menschlichen Wirkens auf Berlins verwittertem Angesicht hinterließen. Andererseits hatte die stets vorhandene Veränderlichkeit auch ihren ganz eigenen Reiz. Dank ihr hatte Colin nie die Lust verloren, einen Bezirk auch nach Jahren noch einmal neu zu entdecken. Manchmal setzte er sich einfach in einen Bus und fuhr eine Strecke, die er bisher noch nicht ausprobiert hatte, oder er nahm in einer ihm bekannten Straße einen bisher übersehenen Seitenweg, um herauszufinden, wohin dieser ihn führen würde. Dieselbe Neugier, die ihn auch dazu gebracht hatte, Alte Geschichte zu studieren, ließ ihn die Stadt erkunden, die inzwischen zu seiner Heimat geworden war.

Er befand sich am Osthang des Mauerparks, wo er die Stufen des Amphitheaters hinaufgestiegen war, um den weiten Ausblick unter dem sich immer mehr zusammenziehenden Sommerhimmel zu genießen, als ihm der Lärm auffiel. Ein Pulk von Menschen schob sich zur Greifswalder Straße hin. Transparente wurden hochgehalten. Eine verzerrte Stimme hallte aus einem Megafon, aus anderen Lautsprechern ertönte Technomusik. Parkbesucher erhoben sich von den steinernen Stufen des Halbrunds und schlossen sich den Demonstranten an.

Jetzt erinnerte sich Colin Rendall. Natürlich, heute sollte die Mauerparkdemo stattfinden! Er hatte davon in der Zeitung gelesen. Schon seit geraumer Zeit hatte der Bezirk Mitte vor, einen Teil des Parks mit Wohnungen bebauen zu lassen. Ein Aktionsbündnis von Anwohnern wehrte sich dagegen und trat dafür ein, den Park so weit wie möglich als Grünfläche zu erhalten. An diesem Samstag war eine Kundgebung geplant, die bis zum Roten Rathaus führen sollte.

Colin hatte das alles wieder vergessen, aber als sein Blick nun über die Menschenmenge unter ihm schweifte, fasste er den Entschluss, mitzugehen. Auch wenn das hier nicht seine unmittelbare Nachbarschaft war, so mochte er doch den Mauerpark. Außerdem hatte die Arbeit, die zu Hause liegengeblieben war, während seines Spaziergangs immer wieder in seinem Hinterkopf angeklopft. In einer lauten Menschenmenge würde er ihr Drängen vielleicht weniger deutlich vernehmen als bei einem Spaziergang für sich alleine.

Colin Rendall schritt die Stufen des Amphitheaters hinab und ging über die Wiese auf den lautstark skandierenden Pulk zu. Andere Besucher des Parks schlossen sich ihm an. Im Näherkommen fiel ihm nun das Polizeiaufgebot auf, das die Demonstration begleitete. Es war eine Menge behelmter Uniformierter in Schutzanzügen unterwegs, die den Zug genau beobachteten, wenn sie auch für den Moment Abstand hielten. Colin fragte sich, ob ein so massives Aufgebot für die Demonstration einer Bürgerinitiative normal war, oder ob die Polizei mit Krawallen aus dem autonomen Lager rechnete. Wie zur Antwort auf seine Überlegung ertönte etwas weiter hinter ihm ein Sprechgesang: »Keine Lofts im Mauerpark! Jagt die Yuppies aus der Stadt!«

Er drehte sich um. Es sah ganz so aus, als ob auch eine größere Gruppe von Linksautonomen beschlossen hatte, heute auf die Straße zu gehen. Etwa dreißig junge Leute, die meisten von ihnen mit aufgesetzten Sonnenbrillen, skandierten laut in die Richtung der Polizisten. Andere Demonstranten starrten zu ihnen hinüber. Einige grinsten zustimmend, andere blickten eher verärgert drein. Der Zug hatte inzwischen das Mauerparkgelände verlassen und war an der Ecke zur Eberswalder Straße angelangt. Der Himmel hatte sich zusammengezogen, und die feuchtschwüle Luft erschwerte das Atmen. Colin fuhr sich mit seinem nackten Arm über die schweißnasse Stirn. Gut, dass die pralle Sonne inzwischen hinter einer dunklen Wolkendecke verschwunden war! Er sehnte das erlösende Unwetter herbei, das sich über der Stadt zusammenbraute.

Auf einmal weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Das dünne Mädchen mit den kurzen rotbraunen Haaren dort inmitten des skandierenden Haufens von Autonomen hatte er schon einmal gesehen! Er kannte sie aus einem seiner Seminare. Wie hieß sie gleich noch mal? Natürlich: Annika Talbach – eine Studentin aus dem Umfeld der lesbisch-schwulen Hochschulgruppe der Universität. Im Juni hatte sie während des Christopher Street Days mit ein paar anderen die Regenbogenfahne über dem Haupteingang gehisst, eine Aktion, die seit Colins eigener Studentenzeit Tradition besaß. Heute trug Annika eine olivgrüne Cargohose, deren vollgestopfte Beintaschen sich stark ausbeulten, und ein schwarzes ärmelloses T-Shirt. Ihr linker Arm war hoch erhoben und zur Faust geballt, während sie den Sprechchor der anderen laut unterstützte.

Unwillkürlich musste er schmunzeln. Er kannte die Studenten, die in seine Vorlesungen kamen, beinahe nur von dort. Der größte Teil ihres Lebens außerhalb des Hörsaals war ihm fremd. Wenn er etwas über sie erfuhr, so waren es einzelne Schlaglichter in gemeinsamen Diskussionen, die kurz das Leben seiner Gesprächspartner beleuchteten. Noch hatte Annika Talbach ihn nicht gesehen. Er war gespannt, wie lange er sich wohl in ihrer Nähe aufhalten konnte, bevor sie ihn erkennen würde. Um den Abstand zu der Gruppe von Autonomen hinter sich zu verringern, begann er etwas langsamer zu gehen. Verstohlen blickte er über die Schulter zu der jungen Frau hinüber, während er sich daran erinnerte, wann sie ihm zum ersten Mal aufgefallen war.

Er erinnerte sich an die Vorlesung zu Beginn des Wintersemesters im letzten Oktober. Es war ein trüber Herbsttag gewesen, an dem er schon um die Mittagszeit im Hörsaal die Deckenleuchten hatte einschalten müssen, weil draußen ein Sturm an den Fenstern rüttelte und sich nur wenig trübes Tageslicht ins Innere des Gebäudes stahl. Das Thema seines Seminars war das Konzept des Paradieses in der Antike gewesen. Neue, unbekannte Gesichter sahen ihn an, als er vor sie trat, einige neugierig, zwei, drei ihren verquollenen Augenlidern nach zu urteilen noch übernächtigt von der Party zu Semesterbeginn, ein paar andere hellwach, aber gelangweilt und mit leerem Blick. Was diesem Haufen fehlte, war ein wenig Feuer. Er erinnerte sich, wie er keine Zeit verloren, sondern die Vorlesung sofort mit einer seiner bevorzugten Fragen eröffnet hatte.

»Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit den schriftlichen Zeugnissen alter Kulturen?«

Gespannt sieht Colin Rendall in die Runde. Sein Blick streift dabei auch ein blasses Mädchen mit rotbraunen Haaren und grünen Augen. Es blickt an ihm vorbei zum Fenster hinaus und sieht ein paar vereinzelten Studenten nach, die im Wüten des Unwetters zum Mensazelt im Innenhof hasten. Colin hält einen Moment inne, bevor er fortfährt. »Was ist so interessant an den Berichten darüber, wie sich unsere Vorfahren die Welt um sich herum erklärt haben? Wie kann dieses Wissen heute unserem Leben im 21. Jahrhundert nützen? Hilft es uns beim Wählen der richtigen Partei alle vier Jahre, oder dabei, nachzuvollziehen, was die Deutsche Bank mit unserem Geld anstellt? Unterstützt es uns, den richtigen Beruf oder den richtigen Partner zu finden? Wozu ist es eigentlich gut – oder anders ausgedrückt: Was versprechen Sie sich von diesem Seminar?«

Im Raum herrscht einen Moment Stille, bis auf das gedämpfte Heulen des Sturms, der an den Fenstern rüttelt.

»Einen Schein«, murmelt ein Witzbold weiter hinten. Lachen brandet unter den übrigen Studenten auf, das ein wenig nach Erleichterung darüber klingt, dass einer die Aufmerksamkeit des Dozenten auf sich gezogen hat. Sie kennen einander kaum. Wer redet schon gerne über persönliche Belange vor quasi Fremden.

Colin Rendall lacht ebenfalls, was dafür sorgt, dass sich ein junger Mann in der ersten Reihe aus der Deckung des Schweigens hervorwagt.

»Wenn wir alte Kulturen erforschen, lernen wir damit etwas über uns als Menschen.«

»Dafür könnten Sie auch Psychologie studieren«, kontert Colin.

»Ja, schon. Aber was ich meine, ist die Art und Weise, wie wir uns über die Jahrtausende hinweg entwickelt haben – zu dem, was wir heute sind.«

»Jetzt kommen wir der Sache schon näher«, sagt Colin. »Aber warum sitzen Sie dann nicht in Dr. Schreiners Geschichtsseminar? Er hält in diesem Semester eine ziemlich gute Vorlesung über den Dreißigjährigen Krieg. Wenn Sie mehr darüber herausfinden wollen, was uns als Menschen in Westeuropa sowohl gesellschaftlich als auch ethisch-religiös über Jahrhunderte hinweg bis zum heutigen Tag geprägt hat, sollten Sie sich das nicht entgehen lassen.«

»Ich habe mich auch für Geschichte eingeschrieben«, meint eine dunkelhaarige Frau neben dem jungen Mann in der ersten Reihe, bevor dieser antworten kann. »Aber Alte Geschichte – das ist noch etwas Anderes.« Sie hat ihre Stirn in tiefe Falten gelegt, als sie ernst und nachdenklich ihre nächsten Sätze ausspricht.

»Althistorik geht so unvorstellbar weit zurück in der Zeit … Tausende von Jahren, bis zu den ersten schriftlichen Zeugnissen, als der Mensch allmählich aus dem Dunkel der Frühgeschichte auftaucht, die nur anhand archäologischer Funde rekonstruiert werden kann.« Sie lacht schüchtern. »Wir sind ja schon kaum noch in der Lage, uns in die Lebenswelten von Leuten hineinzuversetzen, die ohne Internetanschluss, Ebay und Mobiltelefone aufgewachsen sind. Umso mehr gilt das für die Menschen, die lange vor unserer Zeitrechnung lebten.« Sie scheint noch mehr sagen zu wollen, hebt dann hilflos ihre Hände und hält kurz inne, bevor sie weiterspricht. »Aber gerade das finde ich so spannend an diesem Studium. Es ist, als würde man eine völlig neuartige Spezies Mensch erforschen – und gleichzeitig trifft man trotzdem immer wieder auf die gleichen alten Themen, die uns heute im 21. Jahrhundert beschäftigen. Wir tragen dieselben Urbilder mit uns herum, dieselben Wünsche und Träume.«

»Das ist wahr«, bestätigt Colin Rendall. Er blickt von der Studentin, die gesprochen hat, zu den anderen im Hörsaal. Das Mädchen mit dem rotbraunen Haar hat aufgehört, aus dem Fenster zu starren. Aufmerksam betrachtet sie ihre Kommilitonin, die eben das Wort geführt hat.

»Wer zum Beispiel kennt nicht unseren Wunsch nach einem perfekten gesellschaftlichen Zustand – dem sogenannten Utopia? Es ist ein Begriff, der, obwohl er aus dem Reich der Fantasie stammt, als Initialzündung für diverse sehr reale soziale Bewegungen diente. Diesen Begriff kennen wir aber nicht erst, seitdem der englische Lordkanzler Thomas Morus im Sechzehnten Jahrhundert ein gleichnamiges Buch schrieb, das man übrigens mit Fug und Recht als den ersten Science-Fiction-Roman der Literaturgeschichte bezeichnen könnte. Das mythische Bild eines Zustandes oder Zeitalters, in dem die Lebensbedingungen für den Menschen perfekt waren, ist viel älter. Als Althistoriker graben wir nach solchen Mythen und ihren realen Widerspiegelungen wie der Archäologe Schliemann nach dem sagenhaften Troja. Wer von Ihnen kann mir sagen, von welchem Mythos ich spreche?«

Einen Moment lang herrscht nachdenkliche Stille im Raum.

»Das Goldene Zeitalter?« fragt dann ein untersetzter, pausbäckiger Mann mit schiefgelegtem Kopf in einer der letzten Reihen. Seine tiefe Stimme klingt vorsichtig tastend. Colin Rendall kennt ihn aus dem letzten Semester. Sein Name ist Alexander Breitfeldt.

»Genau«, bekräftigt Colin. »Das Goldene Zeitalter, das der römische Dichter Ovid zu Beginn seiner ›Metamorphosen‹ beschreibt.«

Alexander lehnt sich erfreut so hart zurück, dass die Rückenlehne seines Stuhls laut knarrend aufstöhnt. Colin zieht eine abgegriffene Ausgabe der ›Metamorphosen‹ aus der ledernen Aktentasche vor sich auf dem Tisch. Beinahe zärtlich streichen seine Finger über den mit Bleistiftgekritzel verzierten Einband, während er die Stelle sucht, um die es ihm geht. Der Junge, von dessen tödlicher Langeweile im Lateinunterricht diese Spuren deutlich Zeugnis ablegen, hätte sich wohl kaum träumen lassen, tatsächlich einmal Freude an dieser Sprache zu empfinden, sobald er nur nicht mehr dazu gezwungen wurde, sie zu lernen. Laut ertönt nun seine Stimme durch den Saal, als er die uralten Hexameter vorträgt, mit denen Ovid vor zweitausend Jahren sein Werk begann, das ihn und so viele andere Dichter überdauerte.

»Erst nun sprosste von Gold das Geschlecht, das ohne Bewachung willig und ohne Gesetz ausübte das Recht und die Treue. Strafe und Furcht waren fern, nicht lasen sie drohende Worte nicht an geheftetem Erz, noch stand ein flehender Haufe Bang vor des Richters Gesicht: Schutz hatten sie ohne den Richter.

Undienstbar und verschont von dem Karst und von schneidender Pflugschar nimmer verletzt gab alles von selbst die gesegnete Erde, und mit Speisen zufrieden, die zwanglos waren gewachsen.«

Er hält inne und blickt über das vergilbte Buch in die Runde.

»Ein wahres Hippieparadies, nicht wahr?« Leises Lachen breitet sich unter den Studenten aus. »Eine wahrhaft anarchische, also herrschaftslose Gesellschaft beschreibt Ovid hier in der Dämmerung der Geschichte, in der es der Sage nach noch keinen Wechsel der Jahreszeiten gibt. Leider hält sie jedoch nicht an. Als Saturn, der Herr der Zeit, entmachtet wird, beginnt ein allmählicher Niedergang. Verschiedene andere Äonen schließen sich an, die mit weniger edlen Metallen als Gold verglichen werden, bis wir schließlich von einem Zeitalter des Eisens erfahren, das mit dem Zustand der Welt zu vergleichen ist, wie Ovid und seine Zeitgenossen sie kannten.

Diesen Glauben daran, dass es einmal einen mythischen Zustand der Perfektion gab, den wir verloren haben, den wir aber wiederfinden können, war in der Antike weit verbreitet. Religionen haben die Geschichte der Welt aufgrund dieses festen Glaubens von Grund auf geprägt. Letztendlich drückt schon die lateinische Wurzel dieses Wortes das Programm jeder Religion aus: Re-ligio, Rückverbindung, zurück zu dem paradiesischen Zustand des immerwährenden Glücks.«

»Herr Rendall«, fragt Alexander, »geht es bei dem Buch über kulturelle Landschaften der Antike, an dem sie gerade schreiben, nicht auch um das mythologische Bild des Paradieses? Das Paradies wird doch immer wieder als ein Garten dargestellt. Können Sie uns nicht vielleicht mehr darüber erzählen?«

Colin lächelt. Ihm ist klar, dass sein Student ihn hinzuhalten versucht, damit er nicht schon in der ersten Stunde anfängt, Referate zu verteilen. Aber das Thema, das dieser angeschnitten hat, ist ihm so vertraut, dass es ihm schwerfällt, nicht der Verlockung eines Vortrags zu erliegen.

»Ganz recht, zwischen der kulturellen Landschaft eines Palastgartens wie den Gärten der Semiramis des antiken Babylon und dem Paradies, wie antike Kulturen es sich vorgestellt haben, gibt es sehr wohl Überschneidungen.

Die ersten Menschen, von denen wir wissen, dass sie Gärten anlegten und damit die Landschaft bewusst umgestalteten, lebten in Gegenden, in denen man der Natur alles abtrotzen musste – die harschen, trockenen Hochplateaus des heutigen Iran, sowie Ägypten, mit dem Nil als hauptsächlicher Lebensader zwischen der Lybischen und der Arabischen Wüste. An so rauen Orten mussten diese Gärten zwangsläufig etwas Ätherisches und Unwirkliches an sich haben. Wer sie zu Gesicht bekam, konnte glauben, gestorben und im Nachleben angekommen zu sein. Es ist also gar nicht verwunderlich, dass beispielsweise das biblische Paradies als ein Garten beschrieben wird.«

Colin hält inne und blickt in die Runde. Alexanders Gesicht weist eine Mischung aus Erleichterung und gespanntem Interesse auf. Die meisten anderen Studenten im Raum dagegen sehen noch immer nicht so aus, als ob sie für sein Thema Feuer gefangen hätten.

»Und ebenfalls wie in Ovids Goldenem Zeitalter der perfekten Harmonie hält im Mythos des Paradieses der Zustand des zeitlosen Glücks nicht an.«

»Sie meinen die Vertreibung aus dem Paradies wegen des Sündenfalls«, meldet sich eine Studentin in der vierten Reihe. Sie rückt nervös an dem Metallrand ihrer Brille mit den runden Gläsern, die ihr große Vogelaugen ins Gesicht malen. »Die Erzählung im Ersten Buch der Bibel, in der Gott die Menschen dafür bestraft, dass sie gegen sein Gebot verstoßen haben.«

Ein verächtliches Schnauben ertönt, bevor Colin Rendall zu einer Antwort ansetzen kann.

»Gegen sein Gebot verstoßen, pah! – Gott hat doch von Anfang an gelogen.«

Die Köpfe der Anwesenden drehen sich zu der Studentin mit dem kurzen rotbraunen Haar, die so grimmig zurückstarrt, als fühlte sie sich durch die Aufmerksamkeit, die sie so unvermittelt selbst auf sich gezogen hat, persönlich beleidigt. Jetzt erst hat Colin die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Auch im Sitzen scheint sie nicht besonders groß zu sein, jedenfalls wirkt sie eher wie ein Schulmädchen als wie eine erwachsene Frau. Ihr trotzig vorgeschobenes Kinn ist gespalten, was ihrem vollen Gesicht mit der kleinen Stupsnase eine eigenartige Mischung aus Härte und Weichheit verleiht.

Colin freut sich über ihren unerwarteten Einwurf, der diese etwas träge Gruppe ein wenig aufgeweckt hat, gründlicher, als er es mit seiner Begeisterung für jenen in Ungnade gefallenen und einsam im Exil gestorbenen einstigen Liebling des römischen Adels vermochte. Er weiß, worauf sie anspielt. Ein altes ethisches Dilemma. Das könnte interessant werden.

»Gelogen?«, fragt ein Student neben der jungen Frau. »Was meinst du denn damit? Wieso hat Gott im Buch Genesis gelogen? Er hat Adam und Eva verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und als sie gegen dieses Gebot verstießen, wurden sie aus dem Paradies geworfen, als Bestrafung.«

»Der sogenannte Sündenfall«, ergänzt Colin gutgelaunt. »Erklären Sie uns doch bitte, Frau …« Er hält inne.

»Talbach«, sagt das Mädchen, das ihn vorsichtig mustert, als wäre sie sich nicht sicher, was sie mit ihrem Einwand losgetreten hat. Mit fester Stimme fügt sie dann hinzu: »Annika Talbach.«

»Gut. Frau Talbach. Erklären sie Ihren Kommilitonen, was Sie damit meinen, dass Gott im biblischen Schöpfungsmythos gelogen hat. Sie sollten dabei vielleicht erwähnen, dass Ihre Argumentation etwas mit dem anderen der beiden Bäume im Paradies zu tun hat, der nicht ganz so bekannt ist wie der, an dem Evas Apfel hing.«

Er zwinkert ihr zu. Sie starrt ihn an, und der grimmige Ausdruck auf ihrem Gesicht löst sich ein wenig. Sie ist wirklich hübsch, schießt es ihm durch den Kopf.

»Im Buch Genesis steht etwas von zwei Bäumen, die das Herz des Gartens Eden ausmachten«, beginnt Annika, wobei sie ihre Mitstudenten wie eine geübte Geschichtenerzählerin mustert, die ständigen Augenkontakt zu ihrem Publikum hält. Colin überlegt sich, ob er da wohl eine zukünftige Dozentin sprechen hört. »Einer der beiden Bäume war der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse«, hört er Annika fortfahren, »der andere war der Baum des Ewigen Lebens. Wer von diesem Baum äße, der würde niemals sterben. Gott sagt nun zum Menschen: ›Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten,aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen, denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.‹

Dies erzählt die Frau der Schlange, die in dieser Geschichte die teuflische Verführerin ist. Die Schlange aber sagt: ›Ihr werdet mitnichten des Todes sterben, sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.‹

Eva entscheidet sich, der Schlange zu glauben, und isst von dem Baum der Erkenntnis.«

Herausfordernd blickt Annika Talbach in die Runde.

»Ist sie gestorben, wie Gott es behauptet hat? Nein.

Ist Adam gestorben, als er ebenfalls von derselben Frucht aß? Nein.

Stattdessen gehen ihnen die Augen auf, und sie können nun zwischen Gut und Böse unterscheiden – eine Fähigkeit, von der Gott niemals wollte, dass die Menschen sie erhalten. Denn es heißt weiter in der Bibel: Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!

Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er das Feld baute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus und lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen, hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens.«

Annika lehnt sich zurück. Die übrigen Studenten sehen sie halb ungläubig, halb fasziniert an. Colin Rendall fragt sich, ob sie wohl ein fotografisches Gedächtnis besitzt, das es ihr erlaubt, jene Zitate wörtlich wiederzugeben.

»Das ist doch alles Haarspalterei«, erwidert die Frau, mit den kreisrunden Brillengläsern. Sie runzelt die Stirn. »Worauf es in der Geschichte ankommt, ist: Gott hat seiner Schöpfung etwas verboten, und der Mensch hat gegen dieses Gebot verstoßen.«

»Es ist bei weitem nicht das einzig Interessante an diesem Mythos«, schaltet sich Colin Rendall ein. »In meinem Seminar werden Sie lernen, dass es für uns bei der Beschäftigung mit den Primärquellen kein Wort wie ›Haarspalterei‹ geben kann, sondern ausschließlich Begriffe wie ›Exaktheit‹.« Sein Blick schweift über die Gesichter der Anwesenden. »Ein guter Rat an sie alle: Bevor Sie die antiken Texte nur überfliegen, lesen Sie lieber einen historischen Roman. Aber dafür müssen Sie nicht mein Seminar besuchen. Ich fordere von meinen Studenten, genau hinzuschauen.«

Die Frau mit den Vogelaugen funkelt ihn empört an, erwidert aber nichts mehr.

»Man kann es drehen, wie man will«, lässt Annika Talbach sich leise vernehmen, »aber das Erste, was Gott im Paradies zu den Menschen sagt, ist eine Lüge. Die Schlange dagegen ist es, die nichts anderes als die volle Wahrheit spricht – und dafür wird sie von Gott verflucht.«

Ihre letzten Sätze fallen immer noch leise, aber trotzdem schwer wie Bleibarren in die Stille des Hörsaals. Erfreut blickt Colin in die Runde. Jetzt sind sie aufgewacht. Die Luft im Raum ist wie elektrisch geladen. Er sieht schon, mit Studenten wie dieser Annika Talbach wird es ein spannendes Semester werden. Einfach herrlich, wie sie die alte Geschichte gegen den Strich gebürstet hat. Es ist die Schlange, die die Wahrheit spricht.

Ein heftiger Donnerschlag riss ihn aus seinen Gedanken. Er übertönte das Skandieren der Sprechchöre, die wummernde Musik und die harsche Aufforderung einer Megafonstimme an die Autonomen, ihre Vermummung abzulegen. Über der Stadt hingen die bleigrauen Gewitterwolken inzwischen so tief, dass sie auf den Dächern und den Oberleitungskabeln der Hochbahn zu liegen schienen. Da spürte Colin schon einen ersten Tropfen auf seiner Wange, hart und so groß, als hätte ihm jemand ins Gesicht gespuckt. Sein Mund verzog sich zu einem breiten erleichterten Lächeln, während seine Arme wieder in die alte Lederjacke schlüpften. Es sah ganz so aus, als ob er seinen Heimweg in einem sommerlichen Platzregen antreten würde, bis auf die Haut durchweicht, aber dafür angenehm erfrischt. Noch mehr Tropfen klatschten ihm auf den Kopf und um ihn herum auf das staubige Pflaster und malten darauf ein Muster aus dunklen Flecken. Er blickte wieder geradeaus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Stimmung um einiges aggressiver geworden war, seitdem seine Gedanken zu jenem Nachmittag im letzten Herbst abgedriftet waren. Die Einsatzbeamten waren dabei, den Pulk der Autonomen von den übrigen Demonstranten zu trennen. Die jungen Leute stoben zurück, während sie wütende Schreie ausstießen.

Plötzlich segelte etwas Dunkles mit einem dumpfen Geräusch gegen den Schild eines Polizisten, der diesen gerade noch rechtzeitig hochgezogen hatte. Als wollte das Gewitter dem Werfer des Pflastersteins seinen Beifall bekunden, donnerte ein weiterer ohrenbetäubender Schlag über den Himmel. Erschrocken sah Colin, wie seine Studentin, die sich inzwischen ebenfalls eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, in die Beintasche ihrer Cargohose griff und einen zweiten Stein herauszog. Ein Lichtreflex blitzte auf den verspiegelten Gläsern in ihrem Gesicht, als sie mit einer schnellen Armbewegung ausholte und das Geschoss aus ihrer Hand entließ.

Wie auf ein unhörbares Signal hin geriet die erste Reihe der Polizisten in Bewegung und stürmte auf die Gruppe um Annika zu. Erschrockene Schreie mischten sich unter die immer noch weiter aus den Lautsprechern plärrende Musik. Die vorderen Teilnehmer der Kundgebung wichen in Panik zurück. Hinter Colin wirbelten die schwarz gekleideten Autonomen herum. Einige drängten sich zwischen die Demonstranten, um im Inneren des Zuges zu verschwinden. Andere rannten am Rand des Pulks, dessen hinterer Teil noch nicht an der Eberswalder Straße angelangt war, vorbei, verfolgt von der Polizeitruppe. Colin sah, wie die uniformierte Phalanx genau auf ihn zustürmte. Wie die Leute neben ihm versuchte er, ihnen Platz zu machen, aber der Trupp war trotz voller Uniform und mitgeführten Schilden überraschend schnell. Eine schwarze, behelmte Gestalt tauchte direkt vor ihm auf, noch bevor er auch nur den Versuch unternehmen konnte, ihr auszuweichen. Da stieß er auch schon mit ihr zusammen. Er flog gegen einen Demonstranten neben sich, einen hageren älteren Mann mit grauen Haaren, den er mit sich zu Boden riss. So musste es sich anfühlen, von einem fahrenden Bus gestreift zu werden. Heißer Schmerz flammte an der Innenseite seiner Hand auf, die über den Asphalt schrammte. Am Rand seiner Wahrnehmung drangen wütende und entsetzte Schreie zu ihm durch. Ein unvermittelt einsetzender Regenschauer prasselte hart zum Takt der wummernden Technobässe von den Lautsprechern der Wagen weiter hinten herab. Kalte Tropfen klatschten auf Colins Gesicht. Seine Brille lag vor ihm am Boden. Beschuhte Füße stampften dicht neben ihr auf das Pflaster. Er streckte die aufgeschürfte Hand aus und riss sie an sich, bevor jemand ihre Gläser zertrampeln konnte. Mühsam kam er wieder auf die Beine.

Der Polizist hatte sich indessen weder zu ihm umgedreht, noch seine Geschwindigkeit verringert. Er hatte einen der Demonstranten eingeholt und ihn zu Boden geschleudert. Zwei Kollegen unterstützten ihn bei der Festnahme, während weitere Einsatzbeamte an ihnen vorbeirannten, um die anderen zu erwischen. Der junge Mann, der auf den Asphalt gedrückt wurde, wehrte sich ebenso vehement wie erfolglos. Gegen die drei besaß er keine Chance.

Colin sah sich an den Regentropfen auf seiner Brille vorbeiblinzelnd um, während er dem älteren Mann, der mit ihm hingefallen war, auf die Füße half. Der Zug war in Bewegung geraten. Ein Teil der Polizeibeamten hatte sich nicht an der Verfolgung beteiligt, sondern hielt sich in unmittelbarer Nähe der Demonstranten auf, die auf die Eberswalder Straße strömten. Colins Augen suchten Annika Talbach, aber es war schwierig geworden, in dem dichten Regenschauer etwas Anderes zu erkennen als die Umrisse von hin und her rennenden Menschen. Das grelle Leuchten eines weiteren Blitzes erhellte das Südende des Mauerparks. Beinahe gleichzeitig folgte ein Donnerschlag, als würde direkt über ihm ein ganzer Häuserblock von einer Abrissbirne getroffen und in sich zusammenstürzen. In dem hellen Aufflackern sah Colin seine Studentin endlich wieder. Sie sprang auf die Polizisten zu, die ihren Kameraden am Boden festhielten, und packte einen von ihnen an der Schulter.

»Lass ihn los! Du brichst ihm ja den Arm!«

Der Polizist kam auf die Beine, eine gesichtslose Gestalt, das Visier des schwarz glänzenden Helms heruntergeschoben. Mit einem blitzschnellen Tritt rammte der Einsatzbeamte Annika seinen rechten Stiefel mitten in den Schritt. Ein deutlich vernehmbares Keuchen entkam ihr, gleichzeitig ging sie in die Knie und klappte zusammen. Die Sonnenbrille rutschte ihr aus dem Gesicht und fiel zu Boden, als sie den Kopf auf die Brust fallen ließ. Sie schrie nicht einmal. Alle Luft schien ihr aus den Lungen gewichen zu sein. Der Polizist drehte ihr mit der ungerührten Sicherheit, dass von ihr keine weitere Einmischung mehr zu erwarten war, den Rücken zu. Er hielt dem Demonstranten, der von seinen beiden Kollegen am Boden gehalten wurde, die Arme fest, um ihn mit Kabelbindern zu fesseln. Da wanderte Annikas Hand erneut in eine Tasche ihrer Cargohose.

Colin wurde es eiskalt. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, wozu die Mischung aus atemlosem Schmerz und unbändiger Wut, die sich auf dem bleichen, regennassen Gesicht abzeichnete, führen konnte. Mit einem weiten Satz sprang er auf das Mädchen und die Polizisten zu. Die Beamten rissen eben gemeinsam den gefesselten Demonstranten hoch. Im selben Moment hatte der Historiker seine Studentin erreicht. Er packte sie hart am Arm und schlug ihr den Pflasterstein aus der Hand. Der schwarz glänzende Helm eines der Polizisten ruckte in ihre Richtung.

»Bist du verrückt?«, zischte Colin Annika an. »Los, weg hier!«

Er war sich nicht sicher, ob sie ihn erkannt hatte. Er riss sie mit sich. Ein hastiger Blick über die Schulter ließ ihn erkennen, dass die Polizisten den festgenommenen Demonstranten noch immer festhielten, aber sie gaben zwei Kollegen, die ein paar Meter weiter am Rand des Zuges in ihre Richtung rannten, Handzeichen. Sofort kamen die beiden Einsatzbeamten auf sie zugesprintet.

»Nicht so schnell, verdammt!«, vernahm er Annikas atemlose Stimme an seinem Ohr. Er antwortete nicht, sondern hielt sie weiter fest am Arm und zog sie tiefer in den Pulk der auf die Eberswalder Straße eilenden Demonstranten hinein. Wütende Stimmen schimpften hinter ihnen her, als sie sich im Slalom an den Teilnehmern der Kundgebung vorbeidrängten. Colins Herz schlug einen harten Trommelwirbel. Ein neuer Donnerschlag des Gewitters dröhnte ihm so erschreckend laut in den Ohren, dass ihm unvermittelt ein Bild ihrer schwarz gekleideten Verfolger durch den Kopf schoss, die eine Panzerfaust auf sie abfeuerten. Es war lächerlich, sich so etwas überhaupt vorzustellen. Sie befanden sich schließlich in Deutschland und nicht in Afghanistan. Aber dennoch: Er rannte gerade mit jemandem vor der Polizei davon. Er hatte dieses Mädchen davon abhalten wollen, eine Riesendummheit zu begehen. Aber was hatte er sich bloß dabei gedacht, sie einer Festnahme zu entziehen – denn genau das tat er gerade!

Nach Atem ringend kam er auf der anderen Seite des langgezogenen Pulks wieder heraus, seine Studentin im Schlepptau. Sie befanden sich auf der südlichen Seite der Eberswalder Straße. Einzelne Demonstranten, die entweder aufgrund des Unwetters oder des plötzlichen Polizeieinsatzes die Lust verloren hatten, für die Zukunft des Mauerparks zu kämpfen, eilten mit eingezogenen Köpfen an ihnen vorbei. Hektisch sah Colin sich um. Osten oder Westen. Welche Richtung war die bessere?

»Lassen Sie mich los, Herr Rendall!«, keuchte Annika neben ihm. Ihr Mund stand offen, die Haare klebten ihr klatschnass und dunkel auf der Stirn.

Sie hatte ihn also doch erkannt. Seine Hand löste sich von ihrem Arm, den sie mit schmerzverzerrter Miene vorsichtig zu betasten begann. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie hart er in seiner Aufregung zugedrückt hatte. Er deutete auf einen schmalen Eingang zwischen zwei Altbauten vor sich.

»Schnell, da rein!«

Sie setzte sich schneller als er sofort wieder in Bewegung. Erst jetzt fiel ihm auf, wie stark sie hinkte. Er musste an den bösartigen Tritt denken, den sie abbekommen hatte.

Ein weiterer schneller Blick über die Schulter. Etwas Schwarzes bahnte sich zielstrebig seinen Weg durch die Masse der Demonstranten, die zurückwichen wie Wellen am Strand. Colin rannte los, seiner Studentin hinterher, vorbei an einem Fahrradständer und den verlassenen Plastikstühlen eines Straßencafés, von denen er einen im Vorüberkommen umriss. Im Laufen durchzuckte ihn der absurde Gedanke, dass dies nun wirklich nicht dem Berliner Gang entsprach. Vielleicht klebte inzwischen ein saftiger Hundehaufen an seinen Sohlen, und die Polizisten brauchten nur dem Gestank zu folgen. Trotz seiner Aufregung musste er sich ein überreiztes Auflachen verbeißen. Er konnte nicht anders – er hatte einfach zu viel Fantasie. Einfälle wie dieser überfielen ihn so unvermittelt wie Wegelagerer.

Dicht hinter Annika, die nicht so schnell vorankam wie er, tauchte er ins Dunkel des Hinterhofs ein. Mit etwas Glück hatten ihre Verfolger nicht gesehen, wo genau sie die Eberswalder Straße verlassen hatten. Wenn er allerdings nicht schnell genug verschwunden war, dann hatten sie sich jetzt in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der sie nicht mehr unentdeckt herauskommen würden. Sein Blick schweifte über einen verlassenen Spielplatz mit einem Sandkasten, in den der Gewitterschauer tiefe Löcher bohrte. Die Fenster des Hinterhauses starrten schmutzig und blind in das Unwetter. Zu ihrer Linken leuchtete ein dunkelblaues Schild über einem langgezogenen Fenster, hinter dessen Scheibe Licht brannte. Eine Treppe führte in den Raum im Souterrain hinab. Auf dem Schild stand in goldenen geschwungenen Buchstaben: »Galerie Artemjew«.

Annika war seinem Blick gefolgt. »Wir müssen vom offenen Gelände runter«, murmelte sie atemlos. Ohne auf eine Erwiderung von ihm zu warten, begann sie auf die Treppe zuzuhinken. Colin folgte ihr. Gemeinsam hasteten sie die Stufen zu einer Tür hinab, in deren Rahmen im oberen Drittel gefärbtes Glas von demselben dunklen Blau eingesetzt war, wie es auch das Schild aufwies. Annika öffnete sie. Ein leises helles Klingeln ertönte, als die Tür gegen ein von der Decke hängendes Windspiel stieß. Schnell schlüpften sie nacheinander hinein. Hatten die Einsatzbeamten sie gesehen? Nun, es war zu spät, darüber nachzugrübeln. Sie würden gleich herausfinden, ob ihre Flucht geglückt war.

Kapitel 3

Der ältere Herr hinter dem wuchtigen Holztresen am anderen Ende des Kellerladens beäugte neugierig über die Gläser seiner randlosen Brille hinweg die beiden Kunden. Sie waren klatschnass und hinterließen eine tropfende Spur auf dem Boden, als sie sich ihm mit eiligen Schritten näherten.

»Na, da haben Sie es ja gerade noch ins Trockene geschafft!«, strahlte er sie mit einem freundlichen Lächeln an. Er hatte einen leichten russischen Akzent.

Colin Rendall fand, dass der Mann wie ein Dackel auf zwei Beinen aussah. Ein kleiner, hellbrauner Dackel in einer ebenfalls braunen Strickjacke und mit mindestens vier Reihen Falten auf seiner hohen Stirn. Einen Moment lang wunderte er sich, wieso in aller Welt jemand bei dieser Hitzewelle freiwillig ein dickeres Kleidungsstück als ein dünnes T- Shirt am Leib trug, aber dann fiel ihm auf, dass es hier drinnen angenehm kühl war. Der Segen von Berliner Altbauten aus der Gründerzeit.

»Wir brauchen Ihre Hilfe!«, platzte Annika Talbach neben ihm ohne zu zögern heraus. »Heute hat doch die Mauerparkdemo stattgefunden, das haben Sie bestimmt mitgekriegt.« Sie zauberte ein hilfloses Lächeln auf ihr Gesicht, das sie sofort noch etwas jünger aussehen ließ. »Da ist alles etwas aus dem Ruder gelaufen, und jetzt rennt uns die Polizei hinterher, dabei haben wir überhaupt nichts getan!«

Colin Rendall senkte den Kopf und sah auf seine nassen Schuhe, so peinlich war ihm die Vorstellung, die Annika da gab. Was sollte das denn? Der Ladenbesitzer würde ihnen ganz bestimmt nicht helfen – falls doch, riskierte er eine Anzeige.

Der kleine Mann mit dem Aussehen eines Dackels straffte sich, was ihn allerdings kaum größer erscheinen ließ. Colin rechnete damit, dass sie nun die freundliche, aber höfliche Aufforderung hören würden, seinen Laden zu verlassen. Doch der Mann wies auf die halb offene Tür hinter sich, die in einen dunklen Gang führte.

»Gehen Sie da hinein«, sagte er leise. Seine Miene war ernst. »In den Heizungskeller. Die Tür hinten rechts. Ich schließe inzwischen den Laden ab.«

Ohne auf eine Reaktion der beiden zu warten, trat er hinter dem Tresen hervor und ging mit einem hörbaren Schlurfen seiner Sandalen zur Tür. Gleichzeitig eilte Annika, deren freundlich-hilfloses Gesicht bereits wieder dem starren Ausdruck einer Person auf der Flucht Platz gemacht hatte, an ihm vorbei und auf die Tür zum Keller zu. Colin kam sich inzwischen vor, als befände er sich in einem angestaubten Agentenfilm. Jetzt fehlte nur noch, dass Paul Newman in den Laden hereingestürmt kam, verfolgt von bewaffneten Mitarbeitern der Stasi. Kopfschüttelnd folgte er Annika in den dunklen Gang.

Der kleine Mann hatte gerade die Tür erreicht, als die Klinke heruntergedrückt wurde. Das Windspiel klingelte erneut, aber statt eines ostdeutschen Spions aus dem Kalten Krieg trat ein Polizist über die Schwelle und in den Laden. Er überragte dessen Besitzer um mindestens zwei Köpfe. Seine dunkle Uniform war regennass, und auch von seinem Helm, den er abgenommen hatte, rannen Tropfen herab und auf den Boden. Der Blick des Ladenbesitzers wanderte unauffällig an dem Beamten hinab und registrierte, dass dieser mit seinen tropfenden Stiefeln mitten in den nassen Spuren der beiden Leute stand, die er eben nach hinten geschickt hatte.

Der hochgewachsene Polizist wandte sich dem Ladenbesitzer zu. »Haben Sie eben einen Mann und eine Frau in den Hinterhof laufen sehen?« Er hörte sich etwas außer Atem an.

Die Stirn des Alten brachte mehrere beeindruckende Reihen von Falten hervor, als er ihn aus großen Augen ansah. Er stand so dicht vor dem Polizisten, dass er tatsächlich seinen Kopf in den Nacken legen musste. »Tut mir leid«, sagte er, »das habe ich nicht. Er wies über seine Schulter auf die halb offen stehende Tür hinter dem Tresen, wo Colin Rendall und Annika Talbach im Dunkel des Gangs zum Heizungskeller standen und angespannt lauschten. »Ich war hinten im Lager. Wenn jemand in den Hof gelaufen ist, habe ich das nicht mitbekommen. Ich wollte gerade die Galerie für heute schließen. Bei dem Wetter verirrt sich sowieso niemand mehr hier herein.«

Neugierig blitzte er den Polizisten über seine heruntergerutschte Brille hinweg an. »Was haben die beiden denn angestellt, um Himmels willen? Sind sie gefährlich?«

Der Beamte antwortete nicht auf seine Frage. Stattdessen sah er sich im Laden um. Sein Blick schweifte über die Fotografien an den Wänden. »Galerie, was? Dachte, Galerien nennt man nur Läden, die gemalte Bilder ausstellen.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Oh nein, das sind bei weitem nicht die einzigen Galerien.« Er griff hinter sich auf den Tresen und entnahm ihm ein gefaltetes Stück Papier. »Möchten Sie vielleicht einen Flyer mitnehmen? Claude Morlots Fotografien hängen hier noch bis Ende nächster Woche.«

»Danke«, wehrte der Polizeibeamte ab, »aber Fotografien sind nicht mein Fall.« Er wandte sich zum Gehen, hielt aber inne, als sein Blick unvermittelt zu Boden und auf die Pfütze fiel, in der er stand. Das Lächeln des Ladenbesitzers fror einen Lidschlag lang ein.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Dreck hereingetragen habe«, sagte der Beamte in dem geschäftigen Ton eines Mannes, dem es eigentlich gar nicht leid tat und der schon längst wieder an etwas völlig anderes dachte. »Ich muss mal wieder.«

Er blickte, schon auf den Treppenstufen, angespannt in den Hinterhof, als zerbräche er sich den Kopf, in welchen Hauseingang die beiden, die er verfolgte, wohl gerannt sein konnten. Das Gewitter wütete noch immer, und der Regen hämmerte ihm hart auf Kopf und Schultern. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Annika nahm das Geräusch zum Anlass, vorsichtig um die Kellertür herumzuspähen und in den Laden zu treten, als sie sah, dass die Luft rein war.

Der ältere Herr mit dem Dackelgesicht war wieder hinter den Tresen geschlurft und hatte aus dessen Tiefen ein Schnapsglas und eine unbedruckte Flasche hervorgezaubert. Aufatmend goss er sich etwas ein und schluckte den Inhalt herunter, ohne sein Gesicht zu verziehen.

»Danke!«, sagte Annika. »Sie haben uns sehr geholfen.«

»Schon gut«, wehrte der Ladenbesitzer mit beinahe verächtlicher Miene ab. Er goss das benutzte Glas ein zweites Mal voll. »Wodka?«

Annika nickte mit breitem Grinsen. Der Gedanke, aus dem gleichen Glas zu trinken wie der unbekannte ältere Herr, hatte offenbar überhaupt nichts Unangenehmes für sie. Er hatte ihnen beigestanden. Er war ein Mitverschwörer.

»Ich hätte niemals gedacht, dass sie uns helfen würden«, ließ Colin Rendall sich hinter Annika vernehmen. »Sie hätten sich eben ganz schön Ärger einhandeln können.«

Der ältere Herr zuckte die Achseln, während er Annika das Glas reichte, die es herunterstürzte und dabei ihr Gesicht verzog. »Es wäre nicht das erste Mal. Eine Demonstration, sagte die junge Dame. In Moskau habe ich an Demonstrationen teilgenommen, als ich noch jünger war. Ein raues Geschäft war das, damals wie heute. Mein rechtes Bein schmerzt mich noch immer jedes Jahr im Winter, wenn es kalt und nass wird.«

Colin erinnerte sich an den Namen der Galerie auf dem Schild über dem Eingang.

»Sie sind Herr Artemjew?«

»Der bin ich.« Der Ladenbesitzer hielt ihm ebenfalls das Glas hin, das er erneut gefüllt hatte. Colin zögerte einen Moment, dann nahm er es und trank. Der Wodka hatte Zimmertemperatur und brannte nicht schlecht.

»Hat es sich gelohnt?«, wollte Annika von Herrn Artemjew wissen. »Ich meine: die Demonstrationen. Den Kopf hinzuhalten für die Dinge, an die man glaubt.«

Versonnen blickte der ältere Mann sie an, ohne sie wirklich zu betrachten. Er schien durch sie hindurchzuschauen, an einen Ort weit weg von Berlin und diesem Sommertag, den ein heftiger Wolkenbruch verdunkelte. Ein flüchtiger Ausdruck von Schmerz huschte über sein braunes, faltiges Gesicht.

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich so leise und nachdenklich, als spräche er mit sich selbst. »Ich würde gern sagen, dass es so ist, aber ich glaube nicht, dass wir viel verändert haben. Wenn es sich gelohnt hat, dann für uns, die wir dabei waren – einfach, weil wir uns selbst treu geblieben sind. Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich nicht auf die Straße gegangen wäre.«

Fasziniert musterte Annika Herrn Artemjew. Mit einem Ruck löste sich dieser aus seiner Starre und hielt den beiden Besuchern seines Ladens die Flasche hin.

»Noch einen Wodka?«

Colin wehrte ab. Annika dagegen nickte.

»Herr Rendall, ich hab mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt«, sagte sie, während Herr Artemjew ihr einschenkte. Sie holte tief Luft, wie für eine feierliche Ansprache. »Danke, dass sie mir geholfen haben.«

»War das wirklich notwendig?« brummte Colin ihr zu. Sein Blick glitt über die gerahmten Fotografien an den Wänden der Galerie, die ihm erst jetzt, mit dem Nachlassen seiner Aufregung, genauer ins Auge fielen. Sie alle waren ziemlich groß, Colin schätzte sie auf etwa einen Meter im Quadrat. Merkwürdige Fotografien von menschenleeren Stadtlandschaften.

Neben ihm hieb Annika das leere Glas auf den Tresen. Sie drehte sich zu ihm, die Stirn gerunzelt. Ihre Wangen hatten sich gerötet.

»Was meinen Sie? War es notwendig, sich dagegen zu wehren, dass die Politiker mit dieser Stadt machen, was sie wollen, ohne die Menschen einzubeziehen, die hier leben?«

»Kommen Sie mir nicht so!«, entgegnete Colin scharf. »Sie wissen genau, worum es mir geht. Sie hätten dem Polizisten mit Ihrem Pflasterstein den Schädel einschlagen können.«

»Ach was!«, wehrte Annika ab. Sie rümpfte unwillig die Nase. »Der Bulle hatte noch immer seinen Helm auf. Ziemlich praktisch übrigens für die. Kein Gesicht, kein Namensschild. Wenn Ihnen jemand wie der seinen Knüppel ins Kreuz drischt, haben Sie kaum eine Chance, ihn hinterher zu belangen.«

In Colins Gedächtnis flammte ein unangenehmes Bild auf: der Einsatzbeamte, der ihn umgerannt hatte.

Er schüttelte den Kopf, wie um es zu vertreiben. »Schläger in Uniform wie der von eben, die sich absichtlich zu Demonstrationen einteilen lassen, weil sie wissen, dass sie dann auf Autonome treffen. Linksradikale, die aus ganz Deutschland anreisen, egal, wofür, Hauptsache Randale. Da treffen sich zwei Gruppen, die einander verdient haben. Ist das für euch so was wie ein Kick?« Er blickte auf eine fiktive Armbanduhr an seinem Handgelenk – eine tatsächliche Uhr trug er schon seit Jahren nicht mehr. »Oh, heute ist Samstag und Demo: Prügeln wir uns mit Bullen und zünden Autos an, das ist doch ein Fest für uns Adrenalinjunkies!«

In Colin Rendalls Seminaren brannte nicht umsonst die Luft. Er wusste, wie man provozierte. Wütend funkelte Annika ihn an. Der dackelgesichtige Ladenbesitzer betrachtete seine beiden Gäste so interessiert, als würde er sich einen spannenden Krimi im Kino ansehen.

»Sie meinen, ich wär ein Adrenalinjunkie? Deswegen mache ich das nicht, verdammt! Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir geholfen haben, aber ich will Ihnen mal was sagen: Wenn Sie nicht dagewesen wären, dann wäre ich vielleicht verhaftet worden, aber wenigstens hätte ich einem dieser Dreckskerle das heimgezahlt, was die mit uns schon seit Jahren machen! Seit Jahren!«

»Wovon reden Sie eigentlich?«, fragte Colin, nun ebenfalls verärgert.

»Ich bin im Wendland groß geworden. Castor-Zwischenlager, sagt Ihnen sicher etwas. Mag ja sein, dass Sie in England mit dem Bild vom Polizisten aufgewachsen sind, der so was wie ein Freund und Helfer ist. Der Bobby, der alten Damen über die Straße hilft und so. Aber bei uns in Lüchow-Dannenberg war das anders. Sie denken vielleicht, Polizisten würden nur junge Steinewerfer grob behandeln. Von wegen. Das waren völlig normale Bürger, sogar alte Leute, die da wie Verbrecher behandelt wurden, einfach nur, weil sie gegen etwas protestiert haben, und das im Gegensatz zu mir völlig gewaltlos. Damit bin ich aufgewachsen. Man muss sich wehren, mit allem, was einem zur Verfügung steht, denn auf Gewaltlosigkeit pellen die sich ein Ei!«

Annika holte tief Luft. Sie stand mit dicht an ihrem Körper herabhängenden Armen vor Colin, die geballten Fäuste bebten. Ein leises Lachen ertönte. Verwirrt drehten sich beide um.

»Du liebe Güte!«, sagte Herr Artemjew schmunzelnd zu der jungen Studentin. »So viel leidenschaftliche Wut im Angesicht von Unrecht … Sind Sie sicher, dass Sie nicht vielleicht am Ende russische Verwandte haben?«

Der zornige Ausdruck in Annikas Gesicht löste sich ein wenig. Herr Artemjew legte sanft eine faltige Hand auf ihren Arm. Sie blinzelte, zog ihn aber nicht weg. »Bewahren Sie sich das. Der Ärger, den Sie verspüren, wenn anderen Unrecht widerfährt, das ist ihr …« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen hielt er inne. »Wie nennt man die Geräte, mit denen man Erdbeben messen kann?«

»Seismograf«, kam Colin ihm zu Hilfe.

»Richtig. Das ist Ihr Seismograf. Er zeigt Ihnen an, dass etwas getan werden muss. Das ist ihre Verbindung zu der Kraft in ihrem Inneren. Und in Ihnen schlummert eine gewaltige Kraft.«

»Was meinen sie damit?«, fragte Annika. Sie blickte den kleinen älteren Herrn so vorsichtig an, wie man verwirrte Leute in der U- Bahn ansehen mochte, die sich zu einem setzten und unvermittelt Gespräche anfingen.

»Ich meine damit, dass Sie andere Menschen erreichen können«, erklärte Herr Artemjew. »Sie sind jemand, der etwas verändern kann. Aber lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben: Richten Sie Ihre Kraft nicht gänzlich auf die Politik aus. Einer der berühmtesten Dichter Ihres Landes schrieb einmal, was das für Zeiten seien, in der ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen sei, weil es ein Schweigen über so viele Untaten mit einschließe. Er war ein großer Mann, aber da hatte er unrecht. Schämen Sie sich nicht, auch über Bäume zu sprechen. Ziehen Sie Ihre Kraft aus allem, was Sie anspricht: Kunst, Dichtung, die Natur, von mir aus auch Religion, wenn Sie ein religiöser Mensch sind. Und dann gehen Sie und verändern Sie die Welt, denn jede Veränderung ist besser als gar nichts zu tun.«

Colin Rendall deutete auf die Fotografien an den Wänden des Galerieraumes.

»Ist es das, woraus Sie Ihre Kraft bezogen haben? Bilder – Fotografien?«

Der kleine Ladenbesitzer lächelte. »Oh ja. Ich selbst bin kein besonders künstlerisch veranlagter Mensch, aber ich hatte immer Freude daran, das bekannt zu machen, was ich für bewegende Kunst hielt.«

Colin trat näher an die Bilder heran. Bisher hatte er nur oberflächliche Blicke auf sie geworfen, aber nun betrachtete er sie genauer. Es waren neun Stück, die in schlichten dünnen Rahmen aus weißem Holz an den Wänden des Ladens hingen. Sie alle besaßen dasselbe quadratische Format, groß wie Fenster zu anderen Orten als diesem sommerlichen Keller in Prenzlauer Berg. Das erste Bild an der Wand links vom Eingang zeigte eine unbebaute Lücke zwischen zwei alten Häusern, deren Fassaden wie riesige graue Gesichter mit dicken Tränensäcken unter den Augen aussahen. Weit hinten im Gras lag das Skelett eines Fahrrads, dessen rostiges Metallgestänge im warmen Licht einer niedrig stehenden Sonne leuchtete. Sie war allerdings nicht selbst auf der Fotografie zu sehen.

Colin wandte sich dem nächsten Bild zu, das rechts davon hing. Auch auf dieser Fotografie strahlte das warme Licht eines Sonnenuntergangs, diesmal allerdings auf einen Abenteuerspielplatz, der so dicht mit Brennnesseln überwuchert war, dass bestimmt schon lange kein Kind mehr barfuss über das Gelände gelaufen war.

Er drehte sich zu Herrn Artemjew um. »Wie heißt die Serie eigentlich?«

»Zwischenräume«, sagte der Ladenbesitzer, »von Claude Morlot.«

»Der Name sagt mir gar nichts«, meinte Annika. »Wer ist das?«