Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen (Leben Lernen, Bd. 283) - Ursula Gast - E-Book

Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen (Leben Lernen, Bd. 283) E-Book

Ursula Gast

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Beschreibung

Aktualisiert nach den neuen Kriterien der ICD-11 Vollständig überarbeitete Neuauflage Die »Dissoziative Identitätsstörung« (DIS, Multiple Persönlichkeitsstörung) wird in der Psychotherapie übereinstimmend auf schwere emotionale, körperliche und sexuelle Gewalterfahrung in der frühen Kindheit zurückgeführt. Psychotherapeut:innen fühlen sich bei diesem irritierenden Störungsbild, das mehrere Hunderttausend der Bevölkerung betrifft, oft unsicher in Diagnose und Therapie. Die Expertenempfehlungen im Buch repräsentieren den heute aktuellen Standard in der Behandlung der DIS.  Die Neuausgabe geht dabei auf alle Veränderungen ein, die das seit Januar 2022 in Kraft getretene neue Klassifizierungsinstrument ICD-11 mit sich gebracht hat. Die Autorin und der Autor formulieren Empfehlungen zur zuverlässigen Diagnostik, zu Behandlungszielen und geben Behandlungsempfehlungen. Ausführliche Praxisbeispiele sorgen für Anschaulichkeit und Praxisnähe.

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Seitenzahl: 252

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Cover for EPUB

Ursula Gast

Gustav Wirtz (Hrsg.)

Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen

Expertenempfehlungen und Praxisbeispiele

Klett-Cotta

Zu diesem Buch

Die »Dissoziative Identitätsstörung« (DIS, Multiple Persönlichkeitsstörung) wird in der Psychotherapie übereinstimmend auf schwere emotionale, körperliche und sexuelle Gewalterfahrung in der frühen Kindheit zurückgeführt. Psychotherapeuten fühlen sich bei diesem Störungsbild, das mehrere Hunderttausend der Bevölkerung betrifft, oft unsicher in Diagnose und Therapie. Die Expertenempfehlungen im Buch repräsentieren den heute aktuellen Standard in der Behandlung der DIS. Ausführliche Praxisbeispiele sorgen für Anschaulichkeit und Praxisnähe.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 342

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Jutta Herden, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Anton Petrus/Adobe Stock

Satz: Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89314-4

E-Book ISBN 978-3-608-12149-0

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20617-3

Zweite, vollständig überarbeitete Auflage, 2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort der deutschen Autoren

Vorbemerkung

Anmerkungen zur deutschen Übersetzung

Einleitung

Kapitel 1

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Diagnostische Kriterien für die Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

Dissoziation: Terminologie und Definitionen

Dissoziierte Persönlichkeitsanteile: konzeptuelle Fragen und physiologische Manifestation

Physiologische Unterschiede zwischen den Persönlichkeitsanteilen

Theorien der Entwicklung von

DIS

Das diagnostische Gespräch

Nicht näher bezeichnete dissoziative Störung (

NNBDS

; engl. dissociative disorder not otherwise specified,

DDNOS

)

Diagnostische Messinstrumente für

DIS

Strukturierte Interviews

Selbstbeurteilungsfragebögen

Screening-Instrumente

Weitere psychologische Tests

Differenzialdiagnose und Fehldiagnose von DIS

Somatoforme Komorbidität bei

DIS

Behandlungsüberlegungen

Kapitel 2

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Integriertes Funktionieren als Behandlungsziel

Behandlungsergebnis, Behandlungsverlauf und Kosteneffizienz für

DIS

KAPITEL

3

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Phase 1: Herstellung von Sicherheit, Stabilisierung und Symptomreduktion

Sicherheitsfragen und der Umgang mit Symptomen

Die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen

Vertrauen und das therapeutische Bündnis

Phase 2: Konfrontation, Durcharbeiten und Integration traumatischer Erinnerungen

Phase 3: Integration und Rehabilitation

Kapitel 4

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Ambulanter Behandlungsrahmen

Verfahren, Methoden und Techniken in der Behandlung von DIS

Stationäre Behandlung

Teilstationäre Behandlungen oder betreutes Wohnen

Gruppentherapie

Pharmakotherapie

Hypnose als Hilfsmittel zur Psychotherapie

Eye Movement Desensitization and Reprocessing (

EMDR

)

Expressive Therapien und rehabilitative Behandlungsmethoden

Sensumotorische Psychotherapie

Elektrokrampftherapie (EKT)

Pharmakologisch gestützte Gespräche

Kapitel 5

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Aufklärungsplicht und Einwilligung

Therapeutischer Rahmen und therapeutische Grenzsetzung bei

DIS

-Patient(inn)en

Behandlungsrahmen

Körperkontakt mit Patient(inn)en

Validität von Patientenerinnerungen an Kindesmissbrauch

Missbrauch durch organisierte Gruppen

Publikation und Interaktion mit den Medien

Spiritueller, religiöser und philosophischer Bezugsrahmen von Patient(inn)en

DIS-Patient(inn)en als Eltern

Schlussfolgerungen

Kapitel 6

Therapeutische Gratwanderung zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit bei der Dissoziativen Identitätsstörung

Klinisches Erscheinungsbild

Fallbeispiel Frau C., Erstgespräch

Fallbeispiel Frau B., 35 Jahre alt, Erstgespräch

Behandlung: Stabilisierungsphase

Fallbeispiel Frau C., Stabilisierungsphase

Fallbeispiel Frau B.

Traumakonfrontation

Fallbeispiel Frau C., Traumakonfrontation

Fallbeispiel 2, Frau B., Traumakonfrontation

Kapitel 7

Eine schwierige, aber wichtige Differenzialdiagnose: Dissoziative Identitätsstörung und Erkrankungen aus dem Schizophreniespektrum – eine Fallvignette

Kapitel 8

Berichtbeispiel zum Erstantrag

Spontanangaben der Patientin

Kurze Darstellung der lebensgeschichtlichen Entwicklung

Familienanamnese

Körperliche und psychische Entwicklung

Soziale Entwicklung

Krankheitsanamnese

Psychischer Befund

Somatischer Befund

Psychodynamik

Neurosenpsychologische Diagnosen

Behandlungsplan und Zielsetzung

Prognose der Psychotherapie

Literatur (Originalversion)

Literatur (deutsche Bearbeitung)

Kontaktadressen

Vorwort der deutschen Autoren

Liebe Leserinnen und Leser,

die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) bzw. Multiple Persönlichkeitsstörung gilt als Traumafolgestörung aufgrund schwerer Kindesmisshandlung. Mit Prävalenzschätzungen von – 1,5 % in der Bevölkerung1 ist sie zudem eine häufige Erkrankung. Bislang wird die Diagnose nur selten gestellt, zumal ihr immer noch der Makel von Unseriosität und Modediagnose anhaftet2. Die Akzeptanz des Störungsbildes ist jedoch Voraussetzung dafür, dass die betroffenen Patientinnen und Patienten von den vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten profitieren können. Die vorliegende Expertenempfehlung will hierzu einen Beitrag leisten. Sie zielt darauf ab, die Diagnostik und Behandlung der DIS zu verbessern und Klinikern hierbei eine umfassende Orientierung anzubieten. Darüber hinaus möchten wir mit diesem Buch einen Impuls zum fundierten wissenschaftlichen Diskurs über die DIS geben und die Entwicklung entsprechender Leitlinien als bewährtes Mittel der Qualitätssicherung anregen.

Die Expertenempfehlung wurde 1994 erstmals von der ISSTD (International Society for the Study of Trauma and Dissociation) erstellt und mehrfach überarbeitet. Die aktuelle, bereits 3. Version der Guidelines, an der die Erstautorin (U. G.) mitwirkte, erschien 2011 im Journal of Trauma and Dissociation. Sie fokussiert besonders auf die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) und ihrerSubformen, die der DIS ähnlich sind (»Fast DIS«; engl. »Almost-DID«)3. Bei dieser Subform ist die Dissoziation zwar weniger schwer, doch profitiert sie in gleicher Weise von den störungsspezfischen Interventionen. Dies gilt auch für die ICD-11 -Diagnosen: Neben dem Vollbild der DIS ist zusätzlich die Diagnose der Partiellen DIS vorgesehen, deren Kriterien der »Fast-DIS« sehr nahekommen4.

Die deutsche Übersetzung und Überarbeitung der Guidelines als Expertenempfehlung erfolgte in der Arbeitsgruppe »Dissoziative Störungen« der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DEGPT). Allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben (Uta Blome-Hennig, Ute Bluhm-Dietsche, Christian Firus, Ingrid Fuchs, Astrid Lampe, Reka Markus, Helmut Rießbeck, Frauke Rodewald, Martina Rudolph, Julia Schellong, Thomas Starzinski, Cornelia Sturz, Claudia Wilhelm-Gößling, Matthias Vogel und Wiebke Voigt), sei dafür ganz herzlich gedankt, ebenso dem Vorstand der DEGPT für die Unterstützung der Arbeitsgruppe. Wir danken auch der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD), die die Übersetzung der 2. Version der Guidelines von Michaela Huber et al. von 2006 zur Verfügung stellte.

Im Februar 2014 wurde die Übersetzung der Expertenempfehlung im Rahmen eines entsprechenden Themenheftes im Journal Trauma & Gewalt publiziert. Aufgrund der großen Nachfrage war dieses Themenheft rasch vergriffen. Umso mehr freuen wir uns, dass der Klett-Cotta Verlag die Expertenempfehlung nun – ergänzt um Kapitel 6 bis 8 – auch als Buch herausgibt und damit einem größeren Leserkreis zur Verfügung stellt. Dafür danken wir Herrn Kleffner und vor allem Frau Christine Treml-Begemann für die verlegerische Betreuung.

Wie können Sie dieses Buch nutzen und lesen?

Die Expertenempfehlungen enthalten sehr kompakte Informationen. Jedes Kapitel steht für sich und kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Die Kapitel sind in thematische Abschnitte untergliedert, deren Inhalte aus den Überschriften ersichtlich werden – so können Sie sich auch Stichworte herausgreifen und bestimmte Abschnitte gründlicher lesen. Wenn Sie eher an klinischen Fällen interessiert sind, können Sie Kapitel 6–8 vorziehen und bestimmte Themen in den vorhergehenden Kapiteln der Expertenempfehlung vertiefen.

Im Vorwort der Originalausgabe wird die Entstehungsgeschichte der internationalen Expertenempfehlung (und der deutschen Übersetzungen) dargestellt. Die Einleitung beschreibt den »State-of-the-Art«-Charakter der Empfehlung, die als Ergänzung zu den sonst allgemein akzeptierten Prinzipien der Psychotherapie und Pharmakotherapie komplexer Traumafolgeerkrankungen verfasst wurde. In Kapitel 1(Epidemiologie, klinische Diagnose und diagnostische Verfahren) wird die verbreitete Fehlannahme korrigiert, die DIS sei eine seltene Erkrankung mit dramatischem und floridem Erscheinungsbild. Sie zeigt stattdessen ein psychopathologisches Syndrom aus dissoziativen, posttraumatischen und unspezifischen Symptomen. Kapitel 2(Behandlungsziele und -ergebnisse) betont das integrierte Funktionieren als zentrales Behandlungsziel und die Notwendigkeit, dissoziierte Persönlichkeitsanteile aktiv in die Therapie einzubeziehen. Kapitel 3 beschreibt den Phasenorientierten Behandlungsansatz mit Errichten von Sicherheit, Stabilisierung und Reduktion der Symptome in der ersten Phase vor Konfrontation und Integration. Kapitel 4(Behandlungsmodalitäten) benennt – neben anderen Settings – die ambulante Einzeltherapie als wichtigstes Element in der DIS-Behandlung. Es wird zudem auf die pharmakologische Behandlung eingegangen, ebenso auf Hypnose, EMDR und Expressive Verfahren. In Kapitel 5(Spezielle Behandlungsfragen) wird auf die Notwendigkeit eines stabilen Rahmens sowie das erhöhte Risiko für Grenzverletzungen aufmerksam gemacht. Es wird auch auf Validitätsfragen bei Trauma-Erinnerungen sowie auf Probleme bei Missbrauch durch organisierte Gruppen eingegangen. Das originale, umfassende Literaturverzeichnis wurde durch deutschsprachige Publikationen ergänzt.

Kapitel 6 (U. G.) fasst die Kernaussagen zur Behandlung der DIS und »Fast-DIS« bzw. Partiellen DIS nochmals zusammen und veranschaulicht sie mit Fall-Vignetten. Kapitel 7 (G. W.) beschreibt einen vermutlich nicht ganz untypischen klinischen Verlaufsbericht im stationären Setting einer Patientin, bei dem wichtige Weichenstellungen zur Dissoziationsdiagnostik und Behandlung zunächst versäumt wurden, um darzustellen, wo die Fallstricke in der Diagnostik liegen und wie wichtige Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden können. In Kapitel 8 (U. G.) finden Sie einen Beispiel-Bericht, der im Rahmen eines Richtlinien-Psychotherapie-Verfahrens erstellt wurde. Oft sprengen die notwendigen Behandlungskontingente die Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinien. Im Abschlussbericht des »Runden Tisches sexueller Kindesmissbrauch« werden Therapeuten dazu aufgefordert, Verlängerungen über die Höchstgrenzen hinaus konsequenter zu nutzen (Abschlussbericht 2011, Anlage 01). Gleichwohl bleibt dies ein mühsamer und wenig lukrativer Weg.

Wir hoffen, dass wir Sie als Therapeutinnen und Therapeuten davon überzeugen können, dass die Behandlung der DIS-Patientinnen und -Patienten auf solidem wissenschaftlichen Boden steht. Darüber hinaus möchten wir Sie gewinnen, sich dafür einzusetzen, bestehende Barrieren bei der Behandlung der DIS-Patientinnen und -Patienten gemeinsam abzubauen. Und schließlich möchten wir Sie dazu ermutigen, sich auf die befriedigende und persönlich bereichernde Aufgabe einzulassen, dissoziierte Patientinnen und Patienten auf ihrem Genesungsweg zu begleiten. Unsere Hochachtung vor dem Mut der Patientinnen und Patienten, unser Staunen und unser Beschenktsein dadurch, dass sie sich trotz schwerer vorhergehender Vertrauensbrüche unserer Begleitung anvertrauen, ist die Triebfeder zu diesem Buch.

Ursula Gast

Gustav Wirtz

Vorbemerkung

Die in Kapitel 1 bis 5 dargestellten »Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen« folgen als deutsche Übersetzung der 3. Bearbeitung den Ausführungen der »International Society for the Study of Trauma and Dissociation«5

1994 übernahm die International Society for the Study of Dissociation (ISSD, vorherige Bezeichnung der ISSTD) die Erarbeitung von Expertenempfehlungen zur Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung) von Erwachsenen. Diese Empfehlungen müssen allerdings auf aktuelle Entwicklungen reagieren können und bedürfen deshalb der ständigen Überarbeitung. Eine erste Überarbeitung der Expertenempfehlung wurde vom ISSD Standards of Practice Committee vorgeschlagen und 1997 nach vielen Kommentaren der ISSD Mitgliedschaft vom ISSD Executive Council angenommen. Die zweite Überarbeitung wurde unter Einbeziehung von Expertenwissen einer Task-Force – bestehend aus Therapeuten und Forschern – in Auftrag gegeben und 2005 bewilligt. Die aktuelle Überarbeitung wurde 2009 und 2010 nach einer offenen Umfrage unter der Mitgliedschaft von einer neuen Arbeitsgruppe angefertigt.6

Die jetzige Version der Expertenempfehlung fokussiert besonders auf die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) und derjenigen Formen Nicht näher bezeichneter Dissoziativer Störungen (NNBDS), die der DIS ähnlich sind. Sie versteht sich als praktischer Leitfaden im Umgang mit erwachsenen Patienten und stellt eine Synthese des derzeitigen Forschungsstands und umfassender klinischer Erfahrung dar.

Expertenempfehlungen für die Diagnostik und Behandlung von dissoziativen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen (Guidelines for the Evaluation and Treatment of Dissociative Symptoms in Children and Adolescents; ISSD, 2004) sind über die ISSTD erhältlich und wurden ebenfalls veröffentlicht (Journal of Trauma & Dissociation. 2005, 119–150)7. Die American Psychiatric Association hat zudem praktische Empfehlungen für die Behandlung von Patienten mit Akuter Belastungsstörung (ABS) und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) veröffentlicht. Auch diese sollten für die Behandlung von DIS zu Rate gezogen werden.8

Anmerkungen zur deutschen Übersetzung9

Hinsichtlich der Übersetzung verschiedener Fachbegriffe wurden folgende Lösungen gewählt: In der amerikanischen Originalversion wird zumeist der Begriff »clinician« verwendet, der unterschiedliche Berufsbezeichnungen umfasst, so z. B. Arzt bzw. Ärztin, Diplompsychologe bzw. Diplompsychologin, Facharzt bzw. -ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt bzw. -ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychologische(r) Psychotherapeut(in) etc. In der deutschen Übersetzung wird hier der einheitliche Begriff »Psychotherapeut(in)« oder »Therapeut(in)« gewählt.

Im Plural wird statt der Schreibweise Patienten/Patientinnen, Klienten/Klientinnen usw. die Schreibweise »Patient(inn)en« bevorzugt. Da die meisten DIS-Patient(inn)en weiblich sind – ebenso die meisten Therapeut(inn)en –, wurde im Singular stets die weibliche Form gewählt.

In der amerikanischen Originalversion wird bei der DIS/DDNOS Typ I in Anlehnung an das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der Begriff »alternate identities« verwendet. In der Übersetzung wird hierfür der Ausdruck »dissoziierte Persönlichkeitsanteile«10 benutzt. Außerdem wurden die amerikanischen Quellenangaben z. T. in Fußnoten durch wichtige deutsche Veröffentlichungen und Angaben ergänzt. Dies betrifft beispielsweise verfügbare Behandlungsempfehlungen für verschiedene Störungsbilder sowie Bezugsquellen für die Diagnoseinstrumente.

Einleitung

Während der letzten 30 Jahre wurden große Fortschritte bei der Diagnostik, Erfassung und Behandlung dissoziativer Störungen gemacht. Dies drückt sich u. a. in der wachsenden klinischen Anerkennung dissoziativer Zustände, in der Veröffentlichung zahlreicher empirischer und klinischer Facharbeiten zum Thema und in der Entwicklung spezifischer Diagnoseinstrumente aus. In der internationalen Fachliteratur erschienen Peer-reviewed-Veröffentlichungen von Therapeut(inn)en und Forscher(inne)n aus mehr als 26 Ländern, einschließlich der USA, Kanada, Puerto Rico, Argentinien, Niederlande, Norwegen, Schweiz, Nordirland, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden, Spanien, Türkei, Israel, Oman, Iran, Indien, Australien, Neuseeland, Philippinen, Uganda, China und Japan. Bei den Veröffentlichungen handelte es sich u. a. um Fallberichte, klinische Fallreihen, Studien zur Psychophysiologie, Neurobiologie und Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, Entwicklung diagnostischer Instrumente, naturalistische Studien und Behandlungsstudien, Beschreibungen von Behandlungen, Behandlungsmodalitäten und Behandlungsschwierigkeiten. Diese Publikationen zeigen übereinstimmend, dass es sich bei DIS um eine valide und kulturübergreifende Diagnose handelt, deren Validität sich ebenso gut oder gar besser belegen lässt als bei andereren anerkannten psychiatrischen Diagnosen (Gleaves et al., 2001). Dabei ist zu beachten, dass sich pathologische Identitätsveränderungen in anderen Kulturen als Besessenheit von Geistern oder in Form von anderen kulturell bedingten Erscheinungsformen äußern können (Cardena et al., 2009).

Die Behandlungsempfehlungen stellen die Hauptergebnisse und allgemein akzeptierten Prinzipien vor, die als aktueller Stand der Wissenschaft und der klinischen Erfahrung in Bezug auf die Diagnostik und Behandlung der DIS und der ihr ähnlichen Formen der NNBDS gelten. Sie verstehen sich als Ergänzung zu allgemein akzeptierten Prinzipien der Psychotherapie11 und Pharmakotherapie – sie ersetzen diese jedoch nicht. An den Grundprinzipien der Psychotherapie und psychiatrisch-medikamentösen Behandlung sollte in der Behandlung von DIS als Basis festgehalten werden, während spezifische Techniken nur dann zum Einsatz kommen, wenn entsprechende dissoziative Symptome zu bearbeiten sind.

Die Expertenempfehlungen sind nicht als Behandlungsstandards im Sinne »unmittelbarer Handlungsanweisungen« gedacht. Die klinischen Empfehlungen spiegeln eher den aktuellen »State of the Art« in diesem Feld wider. Sie haben nicht den Anspruch, alle sinnvollen Behandlungsmethoden oder akzeptablen Interventionstechniken vollständig zu erfassen. Die Berücksichtigung der Behandlungsempfehlungen garantiert auch nicht in jedem Falle einen Behandlungserfolg.

Die Behandlung sollte immer individuell abgestimmt sein. Therapeut(inn)en müssen sich bei jeder Patientin und jedem Patienten unter Berücksichtigung des klinischen Bildes und der in dem spezifischen Einzelfall verfügbaren Behandlungsoptionen ihr eigenes Urteil darüber bilden, inwiefern ein bestimmtes Vorgehen bei dem jeweiligen Patienten angemessen ist.

Kapitel 1

Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen

Epidemiologie, klinische Diagnose und diagnostische Verfahren

Die DIS und andere dissoziative Störungen sind keineswegs selten. In Studien zur Prävalenz dissoziativer Störungen in der Allgemeinbevölkerung wurden Prävalenzraten von 1–3 % für die DIS ermittelt (Murphy, 1994; Johnson et al., 2006; Ross, 1991; Şar et al., 1997). Klinische Studien aus Nordamerika, Europa und der Türkei zeigen, dass ca. 1–5 % der Patienten in allgemein- und jugendpsychiatrischen Stationen sowie auf Spezialstationen für Sucht-, Ess- und Zwangsstörungen die diagnostischen Kriterien des DSM-IV-TR (Textrevision der 4. Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen) erfüllen. Dies gilt insbesondere dann, wenn zur Erhebung strukturierte diagnostische Instrumente zum Einsatz kamen (Bliss & Jeppsen, 1985; Foote et al., 2006; Goff et al., 1992; Johnson et al., 2006; Karadag et al., 2005; Latz et al., 1995; McCallum et al., 1992; Ross et al., 1991; Ross et al., 1992; Modestin et al., 1995; Şar, Akyüz & Dogan, 2007; Saxe et al., 1993; Tutkun et al., 1998)12. Bei vielen dieser Patient(inn)en war die klinische Diagnose einer dissoziativen Störung zuvor nicht gestellt worden.

Nur eine sorgfältige klinische Diagnostik gewährleistet eine möglichst frühzeitige und angemessene Behandlung dissoziativer Störungen13. Das Diagnostizieren einer DIS wird allerdings dadurch erschwert, dass in der klinischen Ausbildung bislang nur unzureichend über Dissoziation, dissoziative Störungen und die Folgen von Psychotrauma gelehrt wurde und zudem eine Voreingenommenheit bezüglich des Störungsbildes besteht. Daraus resultieren eine gewisse klinische Skepsis sowie Fehlannahmen hinsichtlich des klinischen Erscheinungsbildes. Viele Psychotherapeuten haben gelernt (oder nehmen an), dass DIS eine seltene Störung mit dramatischem und floridem Erscheinungsbild ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr beschreibt Kluft, dass »nur 6 % aller DIS-Patient(inn)en ihre DIS beständig sichtbar machen« (R. P. Kluft, 2009, S. 600). In den meisten Fällen zeigen sich allenfalls begrenzte Momente der Sichtbarkeit, die Kluft als »Zeitfenster der Diagnostizierbarkeit« bezeichnet (wie auch bereits bei Loewenstein (1991a) diskutiert).

Anstelle eines beobachtbaren Wechsels verschiedener umschriebener Identitäten zeigt der/die typische DIS-Patient(in) eine polysymptomatische Mischung aus dissoziativen und posttraumatischen Symptomen, die in eine Matrix von eher unspezifischen, nicht primär traumabezogenen Symptomen eingebettet ist (wie z. B. Depression, Panikattacken, Drogenmissbrauch, psychosomatische Symptome, Essstörungen usw.). Das Vorherrschen dieser nachgeordneten, aber klinisch geläufigen Symptome führt häufig dazu, dass Therapeuten nur diese komorbiden Störungen diagnostizieren. Dies kann jedoch für nicht diagnostizierte DIS-Patient(inn)en zu langwierigen und oft erfolglosen Behandlungen führen.

Darüber hinaus wenden fast alle Therapeut(inn)en die in ihrer Ausbildung vermittelten Standardfragen zur Anamnese- und Befunderhebung an. Leider beinhalten diese jedoch meist keine Fragen zu Dissoziation, posttraumatischen Symptomen oder erlittenem psychischem Trauma.

Da DIS-Patient(inn)en nur selten von sich aus Angaben zu dissoziativen Symptomen machen, wird die Diagnosestellung verhindert, wenn gezielte Fragen danach fehlen. Und sogar dann, wenn Anzeichen und Symptome der DIS spontan auftreten, haben viele Ärzte und Therapeuten Schwierigkeiten, diese zu erkennen, da sie diesbezüglich wenig oder keine Ausbildung erhalten haben. Für die Diagnosestellung ist es unabdingbar, dass dissoziative Symptome aktiv erfragt werden. Die klinische Untersuchung sollte ggf. durch spezifische Screening-Instrumente und diagnostische Interviews, die dissoziative Symptome erfassen oder ausschließen können (s. u.), ergänzt werden.

Diagnostische Kriterien für die Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, 4. Ausgabe, Textrevision (DSM-IV-TR; American Psychiatric Association (APA), 2000a), gibt folgende diagnostische Kriterien für die Dissoziative Identitätsstörung an (300.14; S. 52914, 15): s. folgenden Kasten.

Die diagnostischen Kriterien für DIS wurden in den letzten Jahren immer wieder diskutiert. Dell (2001, 2009a) weist darauf hin, dass der hohe Abstraktionsgrad der aktuellen diagnostischen Kriterien sowie der damit einhergehende Mangel an konkreten klinischen Symptomen deren Anwendbarkeit für den klinischen Alltag erheblich einschränkt und dass eine Liste von häufig auftretenden dissoziativen Zeichen und Symptomen das typische Erscheinungsbild von DIS-Patienten besser erfassen würde. Andere verteidigen die aktuellen Kriterien als ausreichend (Spiegel, 2001). Wieder andere schlagen vor, dissoziative Störungen als zu einem Spektrum von traumabedingten Störungen gehörend zu konzeptualisieren und somit deren Zusammenhang mit überwältigenden und traumatischen Erfahrungen zu betonen (Davidson & Foa, 1993; Van der Hart et al., 2006).16

Dissoziation: Terminologie und Definitionen

Die American Psychiatric Association (APA, 2000a) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1992) beschreiben zwar die dissoziativen Störungen, haben jedoch das Wesen von Dissoziation noch nicht genau in Worte gefasst. Somit gibt das DSM-IV-TR als Beschreibung an, dass »das entscheidende Merkmal der dissoziativen Störungen [ist] eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität oder Wahrnehmung« (APA, 2000a, S. 519) ist. Wie weit gefasst oder eng diese Definition sein sollte, bleibt Bestandteil von Diskussionen. Putnam (1989) beschrieb den Dissoziationsprozess als »einen normalen Prozess, der von Menschen zunächst defensiv benutzt wird, um mit traumatischen Erfahrungen fertig zu werden, und der sich erst im Laufe der Zeit zu einem dysfunktionalen oder pathologischen Prozess entwickelt« (Putnam, 1989/2013, S. 29)17. Andere Autoren (z. B. Cardena, 1994; Holmes et al., 2005) meinen mit Dissoziation das Versagen von Integration normalerweise zusammengehöriger Informationen sowie Bewusstseinsveränderungen, die durch ein Gefühl der Abspaltung vom Selbst und/oder der Umwelt charakterisiert sind. Eine weitere Unterteilung ist auf Pierre Janets Unterscheidung von negativen (d. h. Abnahme oder Verlust eines psychologischen Vorgangs) und positiven dissoziativen Symptomen (d. h. Hervorbringen oder Zunahme eines psychologischen Vorgangs) zurückzuführen. Die Definition von Dell und O’Neil (2009) erweitert das zentrale Konzept der Unterbrechung (engl. disruption) aus dem DSM-IV-TR: »Pathologische Dissoziation manifestiert sich im Wesentlichen in einer teilweisen oder kompletten Unterbrechung der Integration von psychologischen Vorgängen. […] Dissoziation kann das Bewusstsein und das Erleben des eigenen Körpers, der Welt, der Psyche, Eigenständigkeit, Absichten, des Denkens, Glaubens, Wissens, Erkennens, Erinnerns, Fühlens, Wollens, Sprechens, Ausführens, Hörens, Sehens, Riechens, Schmeckens, Erfühlens usw. auf unerwartete Weise unterbrechen, verändern oder darin einbrechen. […] Diese Unterbrechung wird normalerweise von der Person als erschreckende, autonome Intrusion in sonst gewohntes Reagieren oder Funktionieren erlebt. Die am häufigsten vorkommenden dissoziativen Erlebnisse sind u. a. das Stimmen-Hören, Depersonalisation, Derealisation sowie Gedanken-Eingeben, »gemachte« Impulse, Wünsche, Emotionen und Handlungen« (s. Kapitel 7).

Dissoziative Prozesse zeigen sich auf verschiedene Weise (Howell, 2005), oft sind sie nicht pathologisch. Insbesondere argumentiert Dell (2009b), dass die spontane, auf das eigene Überleben bezogene Dissoziation Teil einer normalen, evolutionsbedingten, speziesspezifischen Reaktion ist. Diese Art von Dissoziation ist automatisch und reflexhaft und gehört zu einer kurzen, zeitbegrenzten, normalen biologischen Reaktion, die sich legt, sobald die Gefahr vorüber ist. Die Beziehung zwischen dieser dissoziativen Reaktion sowie der Stärke und Art bzw. Ausprägung von Dissoziation, wie sie bei dissoziativen Störungen beobachtet wird, ist noch nicht ausreichend verstanden.

Dissoziierte Persönlichkeitsanteile: konzeptuelle Fragen und physiologische Manifestation

Die DIS-Patientin ist eine einzelne Person, die in sich selbst verschiedene, wechselnde, psychologisch relativ autonome Anteile der Gesamtpersönlichkeit erlebt. Diese subjektiv erlebten »Identitäten« übernehmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Kontrolle über den Körper und das Verhalten der Person und beeinflussen deren Erleben und Verhalten von »innen«. Alle Persönlichkeitsanteile zusammengenommen ergeben die Identität oder Gesamtpersönlichkeit des Individuums mit DIS. 

Dissoziierte Persönlichkeitsanteile (engl. alternate identities) wurden auf unterschiedliche Art und Weise definiert. Putnam (1989) beispielsweise beschreibt diese als »stark abgegrenzte Bewusstseinszustände, die um einen vorherrschenden Affekt oder ein Selbstempfinden (engl. sense of self) (einschließlich eines eigenen Körperbilds), mit einem eingeschränkten Repertoire an Verhaltensweisen und einer Reihe zustandsabhängiger Erinnerungen, organisiert sind« (S. 103). R. P. Kluft (1988a) stellt fest, dass ein dissoziierter Anteil der Persönlichkeit (engl. disaggregate self-state) die »mentale Repräsentation eines relativ stabilen und zeitlich andauernden Musters der selektiven Aktivierung von mentalen Inhalten und Funktionen [ist], die auf der Verhaltensebene durch auffallende Rollenübernahme und Rollenspiel ausgedrückt werden und durch intrapsychische, zwischenmenschliche oder Stimuli in der Umwelt beeinflussbar sind. Jeder Persönlichkeitsanteil ist durch ein relativ stabiles […] Muster neuropsychophysiologischer Aktivierung organisiert und mit diesem assoziiert, das auch wichtige psychodynamische Inhalte besitzt. Er fungiert sowohl als Empfänger, Prozessor als auch als Speicher für Wahrnehmungen, Erfahrungen und das Verarbeiten dieser im Zusammenhang mit früheren und/oder auch mit aktuellen und erwarteten Ereignissen und Gedanken. Er besitzt ein Gefühl der eigenen Identität und Vorstellungen und eine Fähigkeit, eigene Denkprozesse und Aktionen in Gang zu setzen« (R. P. Kluft, 1988, S. 55 f.).

Zur Beschreibung der subjektiven Wahrnehmung der dissoziierten Persönlichkeitsanteile von DIS-Patienten wurden viele verschiedene Termini benutzt. Dazu gehören u. a.: Persönlichkeit, Persönlichkeitszustand, Selbstzustand, abgespaltener Selbstzustand, »Alter (Ego)«, »Alter«-Persönlichkeit, wechselnde Identität, Anteil, »Bewusstseinsanteil«, Selbstanteil, dissoziierter Anteil der Persönlichkeit und Einheit (engl. Begriffe: personality, personality state, self-state, disaggregate self-state, alter, alter personality, alternate identity, part, part of the mind, part of the self, dissociative part of the personality and entity; vgl. Van der Hart & Dorahy, 2009). Da das DSM-IV-TR (APA, 2000a) den Ausdruck »wechselnde Identitäten« (»alternate identities«) verwendet, wird dieser in den Guidelines der ISSTD übernommen.18

Therapeut(inn)en sollten auf die individuelle Ausdrucksweise achten, mit der DIS-Patienten ihre dissoziierten Persönlichkeitsanteile charakterisieren. Patienten sagen über sich selbst oft, sie hätten Teile, innere Teile, Aspekte, Facetten, Modi (engl. ways of being), Stimmen, Viele, Ichs, Lebensalter der Ichs (z. B. »die Zweijährige«), Leute, Innenpersonen, Individuen, Seelen, Dämonen, Schichten, Schatten, Andere usw. Es kann hilfreich sein, die eigenen Begriffe des Patienten bzw. der Patientin zu benutzen, es sei denn, es widerspricht den therapeutischen Empfehlungen und/oder der/die Therapeut(in) erlebt den Begriff als überwertig in dem Sinne, dass damit die dissoziierten Persönlichkeitsanteile als verschiedene Individuen überhöht und somit nicht als subjektiv erlebte und abgespaltene Aspekte der Gesamtpersönlichkeit des Individuums wahrgenommen werden.

In der Therapie sollte auf die individuellen Ausdrucksweisen geachtet werden, mit denen DIS-Patienten ihre dissoziierten Persönlichkeitsanteile charakterisieren.

Physiologische Unterschiede zwischen den Persönlichkeitsanteilen

Fallberichte und -studien mit kleinen Fallzahlen von DIS-Patient(inn)en und Kontrollpersonen, die verschiedene »Persönlichkeitsanteile« simulieren, haben signifikante physiologische Unterschiede zwischen DIS-Patienten und Kontrollpersonen festgestellt, die mit verschiedenen Verhaltensweisen einhergehen.

Dazu gehören u. a. Sehschärfe, Reaktionen auf Medikamente, Allergien, Hautleitfähigkeit, Blutzuckerspiegel bei Diabetes, Herzfrequenz, Blutdruck, galvanische Hautleitfähigkeit, Muskeltonus, Händigkeit, Immunreaktionen, EEG und Muster evozierter Potenziale, funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), Hirnaktivität sowie regionaler Blutfluss, der mit SPECT (single photon emission computed tomography) und PET (positron emission tomography) erfasst wurde (u. a. Loewenstein & Putnam, 2004; Putnam, 1984, 1991a; Şar, Ünal, Kiziltan, Kundakci & Öztürk, 2001; Reinders et al., 2006; Vermetten et al., 2006). Insgesamt zeigen DIS-Patienten eher größere physiologische Variabilität zwischen ihren Persönlichkeitsanteilen im Vergleich zu den simulierten Anteilen in den Kontrollgruppen. Diese Unterschiede sind sogar größer als die gefundenen interindividuellen Unterschiede. Aktuelle Studien haben signifikante psychobiologische Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Persönlichkeitsanteilen bei DIS entdeckt, wenn jeder Persönlichkeitsanteil wechselweise ein Traumaskript anhörte, das jeweils nur ein Anteil subjektiv als eine »persönliche« Erinnerung empfand (Reinders et al., 2003, 2006). Diese Unterschiede beinhalteten sowohl subjektive sensumotorische und emotionale sowie psychophysiologische Reaktionen, wie Puls und Blutdruck, als auch Muster regionalen zerebralen Blutflusses – gemessen mit Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Diese psychobiologischen Unterschiede wurden nicht festgestellt, wenn jeder der beiden unterschiedlichen Typen von Persönlichkeitsanteilen abwechselnd ein neutrales, nichttraumatisches, autobiografisches Erinnerungsskript anhörte.

Theorien der Entwicklung von DIS

Im Rahmen dieser Empfehlungen kann nur eine begrenzte Diskussion der aktuellen Theorien über die Entstehung der Persönlichkeitsanteile bei DIS erfolgen (vgl. Loewenstein & Putnam, 2004, sowie Putnam, 1997, für eine vollständige Diskussion). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass viele Experten ein Entwicklungsmodell vorschlagen und die Hypothese aufstellen, dass wechselnd auftretende Persönlichkeitsanteile dadurch entstehen, dass viele traumatisierte Kinder nicht in der Lage sind, ein einheitliches Selbstempfinden zu entwickeln, das über verschiedene Verhaltenszustände hinweg aufrechterhalten wird – vor allem, wenn das traumatische Ereignis erstmals vor dem fünften Lebensjahr stattfindet. Diese Schwierigkeiten treten häufig im Zusammenhang mit Beziehungs- oder Bindungsabbrüchen auf, die dem Missbrauch vorangehen und diesem und der Entwicklung eines dissoziativen Verarbeitungsmodus Vorschub leisten können (Barach, 1991; Liotti, 1992, 1999). Freyds Theorie zum »Trauma des Verrats« (engl. betrayal trauma) vertritt den Standpunkt, dass gestörte Bindungen zu Eltern und anderen Bezugspersonen die Fähigkeiten des Kindes, seine Erlebnisse zu integrieren, zusätzlich stören (Freyd, 1996; Freyd et al., 2001). Die Fragmentierung und Abkapselung von traumatischen Erlebnissen kann dann dem Schutz von Beziehungen zu wichtigen (obwohl unzulänglichen und missbrauchenden) Bezugpersonen dienen und ermöglicht eine angemessenere Reifung in anderen Entwicklungsbereichen wie intellektuellen, zwischenmenschlichen und kreativen Fähigkeiten. So könnten frühe Dissoziationen als eine Art Resilienzfaktor in der Entwicklung dienen – trotz der schweren psychischen Störung, die DIS-Patienten charakterisiert (Brand, Armstrong, Loewenstein & McNary, 2009).

Schwere und lang andauernde traumatische Erlebnisse können zur Entwicklung von abgegrenzten, personifizierten Verhaltenszuständen bei einem Kind führen, die dann eine Abkapselung nicht zu ertragender traumatischer Erinnerungen, Affekte, Sinneswahrnehmungen, Überzeugungen oder Verhaltensweisen zur Folge haben.

Schwere und lang andauernde traumatische Erlebnisse können zur Entwicklung von abgegrenzten, personifizierten Verhaltenszuständen (d. h. rudimentären Persönlichkeitsanteilen) bei einem Kind führen, die dann eine Abkapselung nicht zu ertragender traumatischer Erinnerungen, Affekte, Sinneswahrnehmungen, Überzeugungen oder Verhaltensweisen zur Folge haben und so deren Einfluss auf die Gesamtentwicklung des Kindes mildern. Eine sekundäre Strukturierung dieser abgegrenzten Verhaltenszustände findet im Laufe der Zeit durch verschiedene Entwicklungs- und symbolische Mechanismen statt und führt schließlich zu den Charakterzügen der spezifischen Persönlichkeitsanteile. Diese Anteile können sich in Bezug auf Anzahl, Komplexität und das Gefühl der Getrenntheit noch weiterentwickeln, während das Individuum seine Kindheit, Jugend und das Erwachsenenalter durchläuft (R. P. Kluft, 1984; Putnam, 1997). Die DIS entwickelt sich während der Kindheit; Therapeuten berichten selten von Fällen, die aus Traumata im Erwachsenenalter entstanden sind (es sei denn, diese überlagern Kindheitstraumata).

Ein weiteres ätiologisches Modell besagt, dass vier Faktoren für die Entwicklung von DIS erforderlich sind: (1) die Fähigkeit zur Dissoziation; (2) Erfahrungen, die die nichtdissoziative Bewältigungskapazität des Kindes übersteigen; (3) sekundäre Strukturierung der DIS-Persönlichkeitsanteile mit individualisierten Charakterzügen, wie Namen, Alter, Geschlecht; (4) Fehlen von Trost und Unterstützung, wodurch das Kind isoliert oder verlassen und vor die Notwendigkeit gestellt ist, seinen eigenen Weg der Stressbewältigung zu finden (R. P. Kluft, 1984). Die sekundäre Strukturierung der dissoziierten Persönlichkeitsanteile kann von Patient zu Patient stark variieren. Die folgenden Faktoren können (unter anderem) die Entwicklung von hochdifferenzierten Identitäts- bzw. Persönlichkeitssystemen begünstigen: multiple Traumata, mehrere Täter, ausgeprägtes narzisstisches Ausgestalten des Wesens und der Eigenschaften verschiedener Persönlichkeitsanteile, hohe Intelligenz und Kreativität sowie extremer Rückzug in Phantasiewelten. Dementsprechend beachten Therapeuten, die über Erfahrung in der Behandlung von DIS verfügen, nur begrenzt die nach außen präsentierte Darstellung der verschiedenen, wechselnd auftretenden Persönlichkeitsanteile. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die kognitiven, affektiven und psychodynamischen Charakteristika, die von jedem der verschiedenen Persönlichkeitsanteile verkörpert werden, während sie diese gleichzeitig zusammen als ein System von unterschiedlichen Repräsentationen, Symbolisierungen und Bedeutungen betrachten.

Die Theorie der »strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit«, ein anderes ätiologisches Modell, basiert auf den Ideen von Janet und versucht, eine vereinheitlichende Theorie der Dissoziation einschließlich der DIS zu schaffen (Van der Hart et al., 2006). Diese Theorie geht davon aus, dass Dissoziation das Ergebnis eines grundlegenden Fehlschlagens der Integration unterschiedlicher Systeme von Vorstellungen und Funktionen der Persönlichkeit ist. Nach potenziell traumatisierenden Ereignissen kann die Persönlichkeit als Ganzes in einen »anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil« (engl. apparently normal part of the personality, ANP), zuständig für Alltagsfunktionen, und einen »emotionalen Persönlichkeitsanteil« (engl. emotional part of the personality, EP), zuständig für die Verteidigung (engl. defense), aufgeteilt werden. Verteidigung ist in diesem Zusammenhang verbunden mit psychobiologischen Funktionen des Überlebens als Antwort auf Lebensbedrohung, wie Kampf oder Flucht. Die Bedeutung des Begriffes »defense« ist nicht gleichzusetzen mit dem psychodynamischen Begriff »Abwehr«. Es wird angenommen, dass chronische Traumatisierung und/oder Vernachlässigung zu sekundärer struktureller Dissoziation und dem Auftreten von zusätzlichen EPs führen kann.

Zusammenfassend besagen diese Entwicklungsmodelle, dass DIS nicht aus einer vorher ausgereiften und kongruenten Persönlichkeit oder »Kernpersönlichkeit« entsteht, die zerborsten oder zersplittert wird. DIS ergibt sich vielmehr durch das Versagen der entwicklungsgemäßen normalen Integration. Dieses Versagen wird durch überwältigende Erfahrungen und eine gestörte Interaktion zwischen Kind und Bezugspersonen (einschließlich Vernachlässigung und fehlendem Reagieren/Eingehen auf das Kind) während früher kritischer Entwicklungsperioden bedingt. Dies führt dann wieder dazu, dass manche Kinder relativ abgegrenzte, personifizierte Verhaltenszustände herausbilden, die sich schließlich zu dissoziierten Persönlichkeitsanteilen entwickeln.

Manche Autoren behaupten, DIS