Diversität im Kinderbuch -  - E-Book

Diversität im Kinderbuch E-Book

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Beschreibung

Bücher haben eine große Bedeutung für das Aufwachsen von Kindern, besonders auch in der frühen und mittleren Kindheit. Sie sind wichtig für die Sprach- und Leseentwicklung, ermöglichen Kindern Ausflüge in unbekannte und fantastische Welten, können emotionale Unterstützung sein und dienen der Wissensvermittlung. Dabei vermitteln sie immer auch soziales Wissen - Vorstellungen von gesellschaftlichen Ordnungen und Hierarchien. Auf diese Weise prägen sie maßgeblich die kindliche Sicht auf die Welt, auf sich selbst und auf andere. Aus einer diversitäts- und ungleichheitssensiblen Perspektive versammelt dieses Buch Beiträge, die Kinderbücher, aber auch Spielzeug und Kinderfernsehen daraufhin untersuchen, wie gesellschaftliche Diversität in ihnen repräsentiert und verhandelt wird. Diskutiert werden dabei u. a. die Themen Migration, Mehrsprachigkeit, Rassismus, soziale Klasse, Familiennormen, Geschlecht und Behinderung. Darüber hinaus wird gefragt, welche Bedeutung Diversität in Kindermedien für das Aufwachsen von Kindern hat.

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Inhalt

Cover

Titelei

1 Einleitung

Literaturverzeichnis

2 Woanders hingehen. Migration im Kinderbuch – Kinderbuch in der Migrationsgesellschaft

Einleitung

2.1 Migrationspädagogische Perspektive auf Kinderliteratur

2.2 Migration im Kinderbuch im historischen Verlauf

2.3 Migration im Kinderbuch verhandeln: Einsichten, Ansichten und Aussichten

2.4 Fazit: Kinderbücher zwischen Affirmation und Aufbruch

Literaturverzeichnis

3 Rassifizierung in der Kindheit – Rassismus in Kinder- und Jugendbüchern aufspüren?

Einleitung

3.1 Rassifizierung in der Kindheit und im Jugendalter

3.2 Rassismuskritische Analyse

3.2.1 Differenzlinien

3.2.2 Inhaltsanalyse von rassifizierenden Zuschreibungen und Darstellungen

3.2.3 »Die Gefahr einer einzigen Geschichte«

3.3 Jim Knopf – ein Klassiker?

3.4 Rassismuskritische Erziehung

Literaturverzeichnis

4 Von Ballettunterricht und plappernden Fernsehern. Soziale Lage, Klassenbias und Armut im Kinderbuch

Einleitung

4.1 Heterogene Lebenslagen von Kindern

4.2 Zum Forschungsstand

4.3 »upper/middle-class white girls, who are linguistically intelligent« – die Conni-Reihe

4.4 »Wir haben keinen Geldscheißer« – Zur Darstellung von Armut im Bilderbuch Schnipselgestrüpp

4.5 Schluss

Literaturverzeichnis

5 Familiennormen in Kinderbüchern. Eine heteronormativitätskritische Betrachtung

Einleitung

5.1 Wer ist Familie?

5.2 Familie und Heteronormativität

5.3 Forschungsstand zu Familiendarstellungen in Kinderbüchern

5.4 Sampling-Kriterien

5.5 Normkritische Kinderbuchbetrachtung

5.5.1 Ehe und Heterosexualität

5.5.2 Binarität und Cisgeschlechtlichkeit

5.5.3 (Care-)‌Arbeit und getrennte Gendersphären

5.5.4 (Genetische) Verwandtschaft

5.5.5 Reproduktion

5.6 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

6 Geschlechtersensible Kinderliteratur

Einleitung

6.1 Kinderliteratur und ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung

6.2 Geschlechtersozialisation − auch durch Kinderliteratur

6.3 Das heteronormative Paradigma in der Kinderliteratur

6.4 Was braucht geschlechtersensible Kinderliteratur?

6.4.1 Das thematisierende Buch

6.4.2 Das inklusive Buch

6.5 Vielfalt als Normalität vorleben – auch im Kinderbuch

6.5.1 Ein kritischer Diskurs zum Normalitätsbegriff

6.5.2 Vielfalt im Kinderbuch

6.6 Beispiele gendersensibler Kinderbücher

6.7 Vielfalt könnte so »normal« sein – auch in Kinderliteratur

Literaturverzeichnis

7 »Alle behindert!« Zur Konstruktion von Behinderung im Kinderbuch

Einleitung

7.1 Zum sozial- und kulturwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung

7.2 Zur Darstellung von Behinderung im Kinderbuch – eine Bestandsaufnahme

7.3 Alle behindert! – eine exemplarische Analyse

7.4 Fazit

Literaturverzeichnis

8 »... dann wäre das meine Familie«. Kindliche Perspektiven im Kontext diversitätsbewusster Kinderliteratur

Einleitung

8.1 Zum Projekt und methodischen Vorgehen

8.2 Vielfalt als Normalität (aushandeln)

8.3 Gebrochene Kategorisierungen

8.4 Kindliche (Re-)‌Konstruktionen

8.5 Zur Bedeutung der Bildebene

8.6 Fazit

Literaturverzeichnis

9 Spiegel, Fenster und die Glasschiebetür. Diskriminierungskritische Diversität im Kinderbuch

Einführung

9.1 Der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung

©

9.1.1 Alle Kinder in ihren Identitäten stärken (Ziel 1)

9.1.2 Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen (Ziel 2)

9.1.3 Kritisches Denken über Gerechtigkeit unterstützen (Ziel 3)

9.1.4 Aktiv werden gegen Unrecht und Diskriminierung (Ziel 4)

9.2 Kinder nehmen Unterschiede wahr

9.3 Spiegel, Fenster und die Glasschiebetür

9.4 Wirkung von diskriminierungskritischen Kinderbüchern

9.5 Vielfalt auf dem Kinderbuchmarkt

9.6 Vorurteilsbewusste Kinderbücher

9.6.1 Wie lassen sich vorurteilsbewusste Kinderbücher finden?

9.6.2 Kritisches Lesen

9.6.3 Was tun bei diskriminierenden Begriffen?

9.7 Fazit

Literaturverzeichnis

10 Mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur. Neue Perspektiven für Kinder mit der Zweitsprache Deutsch

10.1 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und ihre mehrkulturellen und -sprachigen Lebens- und Medienwelten in der Kinderliteratur

10.2 Einsatz von mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur in Bildungsinstitutionen

10.3 Eigene und fremde Lebens- und Medienwelten entdecken: Neue Perspektiven

10.4 Der Mehrwert von mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur für die Eltern

10.5 Ausblick

Literaturverzeichnis

11 Kinderspielzeug aus diversitätsbewusster Perspektive. Spielmaterialien rassismuskritisch reflektiert

Einleitung

11.1 Kindliche Identitätsbildung als pädagogischer Bildungsauftrag

11.2 Spielzeug zur Dekonstruktion von rassifizierenden Dominanzverhältnissen

11.3 Recht auf Diskriminierungsschutz im Spielzeug-Kontext

11.4 Impulse für die Praxis

Literaturverzeichnis

12 Diversität im Kinderfernsehen

Einleitung

12.1 Wie sieht das Kinderfernsehen in Deutschland aus?

12.2 Diversitätskategorie »Geschlecht«

12.2.1 Repräsentation im Kinderfernsehen

12.2.2 Stereotype Eigenschaften bei weiblichen und männlichen Figuren?

12.2.3 Diversität in der Körperrepräsentation?

12.3 Diversitätskategorie »natio-ethno-kultureller Hintergrund«

12.3.1 Vorkommen im Kinderfernsehen

12.3.2 Stereotype Eigenschaften bei Figuren mit diversem natio-ethno-kulturellem Hintergrund?

12.4 Darstellung von Menschen mit Behinderung im hiesigen Kinderfernsehen

12.4.1 Stereotype Darstellung von Menschen mit Behinderung?

12.5 Fazit: Diversität fehlt im Kinderfernsehen in vielen Bereichen

Literaturverzeichnis

Autor*innenverzeichnis

Glossar

Die Herausgeberin

Prof. Dr. Erika Schulze lehrt Kindheits- und Jugendsoziologie an der Fachhochschule Bielefeld.

Erika Schulze (Hrsg.)

Diversität im Kinderbuch

Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-037986-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-037987-9epub: ISBN 978-3-17-037988-6

1 Einleitung

Erika Schulze

Bücher nehmen einen zentralen Platz im Aufwachsen und im Alltag insbesondere jüngerer Kinder ein, denn sie eröffnen ihnen eigene Sinnwelten – ungeachtet der Entwicklung und des gestiegenen Einflusses elektronischer Medien. Sie ermöglichen Ausflüge in unbekannte und fantastische Welten, sind Begleiter von täglichen Ritualen (z. B. beim Zubettgehen) und können sowohl Trost spenden als auch Unterstützung bei der Bewältigung emotionaler Herausforderungen bieten. Diesen hohe Stellenwert von Büchern im Alltag von Kindern bestätigt auch die aktuelle miniKIM-Studie, in der die Mediennutzung von Kleinkindern mit einer Befragung von Haupterzieher*innen, d. h. zumeist von Müttern, untersucht wurde. Dort nimmt die Beschäftigung mit Büchern den dritten Platz der Alltagsaktivitäten von zwei- bis fünfjährigen Kindern ein – nach dem Spiel inner- oder außerhalb des Hauses. 70 % der befragten Bezugspersonen geben eine tägliche oder nahezu tägliche Beschäftigung mit Büchern für diese Altersgruppe an, was sowohl das eigene oder gemeinsame Anschauen, das Vorlesen oder auch Selbstlesen umfassen kann (Medienpädagogischer Forschungsverbund 2020a, S. 11). Dabei ist dieser Anteil seit der Vorläuferstudie sogar noch deutlich gestiegen, denn 2014 beschäftigten sich lediglich 43 % Kinder (nahezu) jeden Tag mit Büchern (ebd., S. 27). Mit steigendem Kindesalter sinkt jedoch die Bedeutung des Mediums Buch, wie die KIM-Studie zeigt: In der Altersgruppe der Sechs- bis 13-Jährigen lesen nur noch 16 % nahezu täglich in ihrer Freizeit, weitere 39 % noch ein- bis mehrmals wöchentlich, 45 % der Kinder dieser Altersgruppe lesen nur selten oder gar nicht (Medienpädagogischer Forschungsverbund 2020b, S. 27). Mit zunehmendem Alter nimmt die Lesehäufigkeit kontinuierlich ab und die geschlechtsspezifischen Unterschiede werden größer, da Mädchen häufiger zu Büchern greifen als Jungen (ebd.).

Auch aus pädagogischer und Bildungsperspektive sind Kinderbücher bedeutsam, weshalb sie auch als »Miterzieher von Kindern« zu begreifen sind (Fleischer & Hajok 2017, S. 2). Sie unterstützen die Sprach- und Leseentwicklung, vermitteln nicht nur Wissen auf unterhaltsame Weise, sondern auch Normen und Werte. Kinder erweitern über das Medium Buch ihren Erfahrungshorizont und sie erfahren Unterstützung in der Bewältigung der eigenen Lebenssituation.

Die jungen Leser*innen sind dabei unterschiedlich situiert: Ob sie aus ökonomisch abgesicherten bürgerlichen Verhältnissen kommen oder ihr Aufwachsen durch Armut geprägt ist bzw. in welcher Familienkonstellation sie zu Hause leben, ist genauso vielfältig wie der Umstand, ob sie ein- oder mehrsprachig aufwachsen bzw. in der Großstadt oder auf dem Land leben. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse hat diese Diversität kindlicher Lebenskonstellationen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen: Familienformen haben sich vervielfältigt, Deutschland ist immer stärker multilingual geprägt, immer mehr Kinder haben familiäre Bezüge und Beheimatungen in mehr als einem Land. Mit Blick auf die Literatur stellt sich damit auch die Frage, ob sich diese Heterogenität kindlichen Lebens dort auch entsprechend niederschlägt. Machen die vorhandenen Kinderbücher allen Kindern ein Identifikationsangebot und ermöglichen es ihnen, sich in den Geschichten wiederzufinden?

Bücher vermitteln immer auch soziales Wissen – über die Funktionsweise dieser Gesellschaft, über Normen und Selbstverständlichkeiten, über das Verständnis von Zugehörigkeiten und Hierarchien. Bücher können gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren, Stereotype fortschreiben, aber diese auch irritieren bzw. aufbrechen. Dabei vermitteln sie diese Botschaften oftmals bewusst, transportieren das gesellschaftliche Wissen aber manchmal auch eher beiläufig – über das Auslassen von bestimmten Lebensrealitäten, über die Auswahl der Held*innen und Hintergrundfiguren und über die Vorstellung und Einbettung verschiedener Lebensrealitäten. Nicht zuletzt werden diese Botschaften auch über die Illustrationen vermittelt, denen gerade in Bilderbüchern eine zentrale und eigenständige Bedeutung zukommt. Zudem können diese Illustrationen die Geschichte und Botschaften unterstreichen oder aber auch ergänzen und unterlaufen (Rendtorff 1999, S. 87).

Büchern und den in ihnen erzählten Geschichten kommt vor diesem Hintergrund eine nicht zu unterschätzende Relevanz für die Entwicklung der kindlichen »Welt-‍, Selbst- und Anderenverhältnisse« zu (Burghardt & Klenk 2016, S. 62). Dieses Thema wird in den verschiedenen Beiträgen dieses Sammelbandes aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Damit können sie einen wichtigen Beitrag zur »Diversity Education« leisten – einer Erziehung, die »vielfältige Zugänge zu Bildung eröffnet und möglichst umfassende Partizipation in allen Lebensbereichen ermöglicht« (Georgi 2017, S. 18). Sie zielt darauf ab, die Vielfalt und Individualität jedes einzelnen Kindes zu fördern und seine bestmögliche Entfaltung zu unterstützen.

Der Buchmarkt selbst ist – was die hier fokussierte Perspektive betrifft – ambivalent und zugleich hochdynamisch. Auf der einen Seite ist er in Bewegung geraten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund sozialer Bewegungen, die Teilhabe- und Demokratiedefizite ausgehend von der Diversität der heutigen pluralen Gesellschaft skandalisieren und dabei auch die Frage nach deren Repräsentation stellen. Gerade in den letzten zwei Jahren lässt sich hier eine gewachsene Selbstverständlichkeit finden, die gesellschaftliche Pluralisierung und Diversität in den Geschichten aufzugreifen, verschiedene Lebensweisen gleichberechtigt abzubilden und Stereotype abzubauen. Dieser Wandel lässt sich insbesondere in Bilderbüchern beobachten, die sich an jüngere Kinder richten.

Zugleich steht diesen Veröffentlichungen weiterhin ein umfassendes Segment von Kinderbüchern gegenüber, an denen die gesellschaftliche Diversität spurlos vorbeigegangen ist, in denen stereotype Geschlechterbilder oder aber koloniale, rassifizierende Narrative ungebrochen reproduziert werden. Dies offenbart bereits ein erster Blick in die Auslagen der großen Buchhandelsketten.

Die fachwissenschaftliche Diskussion um Diversität und Kinderbuch, der kritische Blick auf die Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen und Stereotypen, aber auch die Frage nach ihrem kritischen Potenzial wird seit Langem geführt: Sie findet sowohl im Kontext inklusiver Pädagogik und vorurteilsbewusster Erziehung als auch in rassismuskritischen und geschlechterreflexiven Debatten statt. Sie erfolgt aus erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, aber auch in der Literaturwissenschaft, wobei die verschiedenen Diversitäts- und Ungleichheitsdimensionen unterschiedlich stark ausgearbeitet sind. So finden sich beispielsweise geschlechtsreflexive oder rassismuskritische Perspektiven auf Kinderbücher häufiger, während die Fragen nach der Repräsentation von sozialer Herkunft oder Behinderung deutlich weniger Thematisierung erfahren. Hinzu kommt, dass diese Thematisierungen immer auch zeitlichen Schwankungen unterworfen sind: So fand das Thema Geschlecht einen hohen Anklang in den 1990er bis zum Anfang der 2000er Jahre, in der Folgezeit ebbte die Zahl der Veröffentlichungen dann allerdings ab. Nicht zuletzt wird deutlich, dass der Fokus meist auf Jugendliteratur liegt, wohingegen eine kritische Analyse von Büchern für die Phase der mittleren und vor allem frühen Kindheit deutlich seltener Berücksichtigung in der Wissenschaft findet.

Der vorliegende Sammelband will hier ansetzen und versteht sich als Fortsetzung und Ergänzung der bisherigen Debatte. Mit einer Schwerpunktsetzung auf Kinderliteratur werden in diesem Buch verschiedene Perspektiven zusammengeführt – entlang der großen Ungleichheitsdimensionen race-class-gender-body (Winker & Degele 2010), die getrennt, wenn auch mit intersektionalen Einblicken ausbuchstabiert werden. Ergänzt wird dies durch einen Blick »über den Tellerrand« auf Spielmaterialien und Kinderfernsehen. Der Zugang der Autor*innen ist dabei unterschiedlich: Sie argumentieren aus pädagogischen, soziologischen, sprach- und medienwissenschaftlichen Perspektiven, kommen aus der Wissenschaft und aus der Praxis, weisen aber auch aktivistische Bezüge auf.

So beleuchten Viola B. Georgi, Janina M. Vernal Schmidt und Agata Wiezorek in ihrem Beitrag die vielfältigen Repräsentationen von Migration im Kinderbuch, ausgehend von einer migrationspädagogisch verorteten Perspektive (▶ Kap. 2). Dabei richten die Autorinnen einen kritischen Blick auf die Reise-‍, Abenteuer- und Kolonialliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts über Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Kinderbuchveröffentlichungen. Auf diese Weise arbeiten sie die Kontinuität von Stereotypisierungen, → Othering1- und Selfingprozessen sowie kolonialer und rassifizierender Narrative heraus. Darüber hinaus stellen sie exemplarisch aktuelle Bücher vor, die mit diesen Traditionen brechen und unaufgeregt gesellschaftliche Diversität in einer Migrationsgesellschaft selbstverständlich widerspiegeln – mit migrantischen Protagonist*innen, die in den Geschichten mit Handlungsmacht ausgestattet sind.

Vertiefend beschäftigt sich anschließend Jens Mätschke-Gabel mit dem Beitrag der Kinderliteratur im Prozess der Rassifizierung in der Kindheit, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit dem Erlernen rassistischer Wissensbestände im Kindesalter und den – auch nach Positionierung – unterschiedlichen Auswirkungen auf das Aufwachsen und die Identitätsentwicklung von Kindern (▶ Kap. 3). Der Autor verschränkt drei Analyseperspektiven: 1. das Auffinden von Differenzlinien, 2. die Inhaltsanalyse von rassifizierenden Ausprägungen und 3. die machtkritische Einordnung von »einseitigen Geschichten«, die er an zahlreichen Beispielen von aktuellen populären Kinderbüchern anwendet. Auf diese Weise gibt er ein Instrumentarium für eine rassismussensible Auswahl von Kinderbüchern im pädagogischen Alltag an die Hand, das durch abschließende Überlegungen für eine rassismuskritische Begleitung von Kindern ergänzt wird.

Der Kategorie class im Kinderbuch spüren Melanie Plößer und Erika Schulze in ihrem Beitrag nach – ein bislang in der deutschsprachigen Debatte wenig beleuchtetes Themenfeld (▶ Kap. 4). Sie fragen danach, ob und in welcher Weise unterschiedliche soziale Lagen, aber auch das Thema Armut im Kinderbuch repräsentiert werden. Anknüpfend an die Forschung aus dem angloamerikanischen Raum arbeiten sie auch für Deutschland eine Dominanz von Ober- und Mittelschichtsperspektiven im Kinderbuch heraus, beispielhaft wird dies an der populären Conny-Reihe veranschaulicht. Die Problematik einer solchen Thematisierung offenbart die exemplarische Analyse eines der wenigen Bücher für jüngere Kinder, welches das Leben unter Armutsbedingungen zum Inhalt hat. Zumeist geht damit die Dethematisierung struktureller Ungleichheit und der klassistischen Stereotypen einher.

Im Zentrum des Beitrags von Ulrike Becker und Marisa Beckmann stehen Kinderbücher in ihrer Bedeutung von Geschlechtersozialisation (▶ Kap. 6). Ihre Analyse zeigt das → heteronormative Paradigma und binär gedachte Geschlechterkonstruktionen und die hiermit verbundenen Geschlechterbilder in der bestehenden Kinderliteratur auf. Daran anknüpfend fragen sie, wie geschlechtersensible Kinderliteratur aussehen kann, die diese Normierungen und Kategorisierungen aufbricht. Dies wird anschließend an Beispielen diversitätsbewusster und gendersensibler Bücher verdeutlicht und vertieft.

An heteronormativen Mustern in der Kinderliteratur setzen auch Raphael Bak, Noelle O'Brien-Coker und Niki Vetter an, die sich dabei aber auf die Verhandlung des Themas Familie eingrenzen, was bislang als Thema ebenfalls noch wenig Beachtung in der Wissenschaft fand (▶ Kap. 5). Dabei gehen sie einerseits der Frage nach, wie das heteronormative Familienverständnis erzählerisch konstruiert und reproduziert wird, andererseits stellen sie dar, wie Kinderliteratur diese Muster auch infrage stellen kann. Im Zentrum stehen dabei sieben aktuelle und populäre Kinderbücher, die anhand zentraler Normkriterien von Familie kritisch untersucht werden. Zwar findet nach ihren Analysen vereinzelt ein Aufbrechen der Heteronormativität statt, gleichzeitig wird diese jedoch mit großer Selbstverständlichkeit in den Geschichten weitergetragen.

Einem weiteren, in der Diskussion bislang ebenfalls vernachlässigten Thema wendet sich Teresa Vielstädte in ihrem anschließenden Beitrag zu, in dem sie eine Bestandsaufnahme der Darstellung von Behinderung im Bilderbuch vornimmt (▶ Kap. 7). Ausgehend von der Perspektive der Disability Studies arbeitet sie verschiedene typische Repräsentationen des Themas sowie zentrale Topoi und Darstellungsweisen der Protagonist*innen in den Geschichten heraus. Dies wird beispielhaft durch die Analyse eines aktuellen Bilderbuches vertieft, das explizit das Thema Behinderung aufgreift und multiperspektivisch verhandelt. Über diesen Weg wird nicht nur die Herausforderung, sondern auch das Dilemma sichtbar, hierzu eine angemessene Sprache und Bilder zu finden, ohne dabei vorhandene Differenzkategorien mit der Thematisierung zu reproduzieren.

Die Perspektive der Kinder steht im Mittelpunkt des Beitrages von Erika Schulze (▶ Kap. 8). Ausgangspunkt bildet ein exploratives Forschungsprojekt, in dem bei und nach der Lektüre diversitätssensibler Bücher mit Kindern zwischen vier und sechs Jahren das Gespräch mit ihnen gesucht wurde. Der Fokus liegt dabei auf der Rekonstruktion der aktiven und facettenreichen Auseinandersetzung der Kinder mit den Büchern und der damit verbundenen kindlichen Konstruktion gesellschaftlichen Wissens. Sichtbar wird ein ambivalentes Feld: Während sich auf der einen Seite die Reproduktion gesellschaftlicher Normalitätskonstruktionen und die Bedeutung von Kategorisierungen abzeichnet, zeigt sich auf der anderen Seite auch, wie diese Konstruktionen von den Kindern entlang den Geschichten aktiv ausgehandelt werden. Sichtbar wird, wie diversitätssensible Literatur Möglichkeitsräume für die Positionierung mit der je eigenen Lebenswelt eröffnen kann und wie diese von den Kindern aktiv aufgegriffen werden.

Im Anschluss an die Beiträge zu den verschiedenen Diversitäts- und Differenzkategorien in der aktuellen Kinderliteratur nähert sich der Beitrag von Paula Humborg und Gabriele Koné dem Thema aus einer übergreifenden pädagogischen Perspektive (▶ Kap. 9). Vor dem Hintergrund des Ansatzes vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung wird dabei die Bedeutung von (vorurteilsbewussten) Kinderbüchern für das Aufwachsen von Kindern, für ihre Identitätsentwicklung und ihre Bildungschancen verdeutlicht. Daran anknüpfend gibt der Beitrag Anregungen für die diskriminierungssensible Auswahl und die kritische Analyse von Kinderbüchern sowie für den Umgang mit stereotypen oder diskriminierenden Inhalten im pädagogischern Alltag.

Eine weitere pädagogische Perspektive nimmt Yüksel Ekinci ein, die sich in ihrem Beitrag auf das Thema Mehrsprachigkeit fokussiert (▶ Kap. 10). Die Autorin arbeitet die Bildungspotenziale mehrsprachiger Kinderliteratur heraus, denn das Aufgreifen der verschiedenen Herkunftssprachen in Kinderbüchern vermittelt nicht nur eine gesellschaftliche Anerkennung dieser Sprachen. Vielmehr kommt dem auch eine zentrale Bedeutung für die Sprachentwicklung insbesondere von mehrsprachig aufwachsenden Kindern zu, wie die Autorin vor dem Hintergrund auch eigener Forschungen herausarbeitet.

Eine andere Perspektiverweiterung wählt Yasmina Gandouz-Touati in ihrem Beitrag, der sich mit Kinderspielzeug aus einer diversitätsbewussten und rassismuskritischen Perspektive befasst (▶ Kap. 11). Aufgrund der hohen Bedeutung des Spiels im kindlichen Alltag und für Prozesse der Identitätsentwicklung und der Beschäftigung mit der Welt betont sie die Wichtigkeit, dass sich alle Kinder mit ihren heterogenen Lebenswelten in Spielmaterialien wiederfinden können. Dabei kommt sie in ihrer kritischen Analyse anhand von zahlreichen Beispielen zu dem Schluss, dass stattdessen oftmals eine Reproduktion des ›Weißseins‹ durch Spielmaterialen stattfindet, wenngleich sich auch hier eine langsame Veränderung zu mehr Diversität abzeichnet. In ihren Schlussfolgerungen entwickelt sie zahlreiche Impulse für die kindheitspädagogische Praxis.

Einem weiteren bedeutsamen Medium im kindlichen Alltag widmet sich Maya Götz in ihrem Beitrag, in dem sie der Frage nachgeht, wie divers Kinderfernsehen im deutschen Fernsehprogramm tatsächlich ist (▶ Kap. 12). Entlang der Kategorien → Gender, natio-ethno-kultureller Hintergrund und Behinderung analysiert sie, welche Figuren in Kindersendungen vorkommen, wie diese repräsentiert sind und welche Stereotype und Rassifizierungen dabei sichtbar werden. Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand und anhand von zahlreichen Kinderfernsehsendungen zeigt sie auf, dass die real existierende gesellschaftliche Vielfalt keine adäquate Repräsentation findet, wenngleich es einige wenige gelungene Ausnahmen gibt.

Literaturverzeichnis

Burghardt, L. & Klenk, F. C. (2016): Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern – eine empirische Analyse. GENDER, 3, 61 – 80. Online verfügbar unter: https://www.budrich-journals.de/index.php/gender/article/view/25306/22122, Zugriff am 30. 12. 2021.

Fleischer, S. & Hajok, D. (2017): Medienbildungsprozesse. Entwicklung von medienbezogenen Kompetenzen in Kindheit und Jugend als Ansatzpunkt. In: B. Kracke & P. Noack (Hrsg.), Handbuch Entwicklungs- und Erziehungspsychologie. Springer Reference Psychologie (S. 1−25). Berlin: Springer.

Georgi, V. (2017): Diversity Education im Fokus Kultureller Bildung. Diskurse vernetzen und Synergien nutzen. In: A. Eitzeroth & W. Schneider (Hrsg.), Partizipation als Programm. Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche (S. 15 – 26). Bielefeld: transcript.

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2020a): miniKIM-Studie 2020. Kleinkinder und Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang von Kleinkindern in Deutschland. Online verfügbar unter: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/miniKIM/2020/lfk_miniKIM_ 2020_211020_WEB_barrierefrei.pdf, Zugriff am 30. 12. 2021.

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2020b): KIM-Studie 2020. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger. Online verfügbar unter: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2020/KIM-Studie2020_WEB_final.pdf, Zugriff am 22. 02. 2022.

Rendtorff, B. (1999): Geschlechtstypisierende Aspekte in Kinderbüchern. In: B. Rendtorff & V. Moser (Hrsg.), Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung (S. 85−102). Opladen: Leske + Budrich.

Winker, G. & Degele, N. (2010): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. (2., unveränderte Auflage). Bielefeld: transcript.

Endnoten

1Begriffe, die mit → versehen sind, werden im Glossar erläutert.

2 Woanders hingehen. Migration im Kinderbuch – Kinderbuch in der Migrationsgesellschaft

Viola B. Georgi, Janina M. Vernal Schmidt, Agata Wiezorek

Einleitung

»Immer wieder gehen Menschen woanders hin. Manche sind einfach reiselustig. Sie wollen ein fremdes Land und neue Leute kennenlernen. Oder sie wollen woanders arbeiten. Aus Abenteuerlust oder weil sie dort mehr Geld verdienen. Manche verlieben sich und bleiben fort. Manche gehen in ein anderes Land, weil sie etwas können, was dort gebraucht wird. Manche Menschen flüchten aus ihrer Heimat, weil die Regierung alle bedroht, die ihr nicht passen. [...] Manche gehen weg, weil sie arm sind und das ändern wollen. Und weil sie wollen, dass ihre Kinder in die Schule gehen können.« (Tuckermann & Schulz 2014, S. 8)

Alle da! Unser kunterbuntes Leben ist eines der ersten deutschsprachigen Sachbilderbücher, in dem das Woanders-Hingehen in seinen vielfältigen Facetten für Kinder aufgearbeitet ist. Migration wird hier nicht auf wenige Einzelphänomene reduziert, sondern als ein konstitutives Merkmal von Gesellschaften porträtiert. Damit wird Deutschland als Migrationsgesellschaft beschrieben (Mecheril 2016).

Nach jüngeren Studien beruhen Bildungsmedien, zu denen sowohl das Kinderbuch als auch das Schulbuch gehören, häufig auf eindimensionalen Erzählungen: In ihnen wird Migration vornehmlich problematisiert, auf Flucht- und Arbeitsmigration reduziert sowie auf individuelle Schicksale begrenzt (Grabbert 2010, S. 16; BMFI 2015, S. 67). Das Buch Alle da! steht deshalb exemplarisch für eine neue Generation von Kinderbüchern, deren Inhalte sich nicht zuletzt aufgrund der folgenden Überzeugung im Wandel befinden: »All reading is political« (Botelho & Rudman 2009, S. 9). Dies verändert auch den einst ausnahmslos problematisierenden Blick auf Migration in Kinderbüchern.

Die Fülle an Neuerscheinungen im Kinderbuchsektor zu diesem Thema verdeutlicht das in den letzten Jahren gewachsene Interesse an Migration und ihren Folgen für Individuen und Gesellschaften (Rösch 2018). Politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten über den Umgang mit Migrationsphänomenen halten ebenso Einzug in die Welt der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) wie das wachsende Selbstverständnis als Einwanderungsland. Dabei ist es keineswegs eine neue Erkenntnis, dass Migration die deutsche Gesellschaft grundlegend prägt (Treibel 2015, S. 50 ff.). Abgelegt hat Deutschland das politische Bekenntnis als Einwanderungsland allerdings erst nach der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahr 1999 und dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2004. Die bis heute andauernde Aushandlung der Migrationsrealität vollzog sich auf politischer Ebene u. a. im Kontext des sog. Integrationsgipfels (Foroutan 2019, S. 73).

Auf diese Entwicklungen und die verstärkte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Migration reagiert der Kinderbuchmarkt jedoch zeitlich versetzt. In den 2010er Jahren entsteht ein regelrechter ›Hype‹ um Vielfalt, der allerdings dazu tendierte, politische Anerkennungsfragen von marginalisierten Gruppen hintanzustellen (Eggers 2011). Durch das öffentliche Interesse an Fluchtmigration seit Mitte 2014 besteht auch eine erhöhte Nachfrage an (Kinder-)‌Buchveröffentlichungen, die von Flucht handeln. In den Kanon der KJL fließen zumeist solche Werke ein, in denen politische, historische, soziale und kulturelle Phänomene verarbeitet werden, die mit Migration einhergehen. Allerdings liegen gegenwärtig kaum Kinderbücher vor, in denen das Leben einer vielfältigen Migrationsgesellschaft so selbstverständlich beschrieben ist, dass es nicht problematisiert werden muss.

Für die literarische Auseinandersetzung mit Migration existieren zahlreiche Bezeichnungen mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Klassifizieren lässt sich diese neben der Autorenbiografie (z. B. Migrantenliteratur) nach dem Entstehungsort der Literatur (z. B. Exilliteratur) oder themenbezogen (z. B. Migrationsliteratur). An der Schnittstelle Literaturwissenschaft und -didaktik hat sich der text- und themenbezogene Begriff Migrationsliteratur durchgesetzt. Auch wenn dieser die thematische, (mehr)‌sprachige und ästhetische Gestaltung von Migration hervorhebt (Rösch 2000, S. 376), gelingt die Entkopplung des Werks von der Autor*innenbiografie de facto jedoch kaum: Zur Migrationsliteratur werden hauptsächlich Werke der seit 1955 eingewanderten Autor*innen und ihrer Nachfolgegenerationen gezählt (ebd., S. 338 f.). Ungeachtet dessen, dass die deutsche Literatur nie als »reine Monokultur« existiert hat (Chiellino 2007, S. 51), wird Migrationsliteratur häufig als ein Sonderbereich innerhalb des nationalen Literaturkanons aufgefasst (Esselborn 2015, S. 120). In letzter Zeit werfen migrationspädagogisch inspirierte Perspektiven wie jene von Heidi Rösch neues Licht auf die (Kinder-)‌Migrationsliteratur (Rösch 2019), denn sie wird als Teil der (neuen) Weltliteratur eingestuft. Charakterisieren lässt sich diese u. a. durch folgende Aspekte: Mehrsprachigkeit, Transgression (Grenzüberschreitungen), die Hinwendung zum Regionalen und Lokalen (Sturm-Trigonakis 2007, S. 108 f.) sowie die Abwendung von der »abendländischen Hegemonie« (Ivanovic 2018, S. 162).

Da Definitionen stets mit diskursiven Ausschlüssen verbunden sind (Ewers 2000, S. 2), hier jedoch keine Diskussion des Gattungsbegriffs beabsichtigt wird, verzichten wir auf weitere Versuche einer Begriffsbestimmung. Vielmehr möchten wir die vielfältigen und vielstimmigen Spielarten von Migration im Kinderbuch mit einer Doppelperspektive fassen: Zum einen beleuchten wir die Repräsentationen von Migration im Kinderbuch, zum anderen fragen wir nach dem Stellenwert des Kinderbuches in der Migrationsgesellschaft. Da am Paradigma der Migrationsgesellschaft ausgerichtete Analysen von KJL im deutschsprachigen Raum bisher weitestgehend fehlen, versteht sich dieser Artikel als migrationspädagogisch inspirierter Annäherungsversuch an das Kinderbuch.

2.1 Migrationspädagogische Perspektive auf Kinderliteratur

Kinderbücher sind Bildungsmedien, denn sie tragen zur Lesesozialisation, literarischen Bildung und zur Wissensvermittlung innerhalb von familiären und pädagogischen Bildungsinstitutionen bei. Lesen ist eine zentrale Kulturtechnik und grundlegend für das Verstehen, das Deuten und die Teilhabe an der sozialen Wirklichkeit (Auma 2018). Dies gilt insbesondere für Informationsgesellschaften. Literarische Kommunikation lässt sich unter den Aspekten der individuellen, sozialen und kulturellen Bedeutsamkeit von Literatur sowohl auf der Rezeptions- als auch auf der Produktionsebene betrachten (Abraham 2015, S. 7). Lesesozialisation und literarische Bildung berühren nicht nur das Lernen über Literatur, sondern auch das Lernen an und durch Literatur (ebd.). Letztere Funktion von Literatur beschreibt Ulf Abraham (2015, S. 11) wie folgt: »Als Teil des ›kulturellen Gedächtnisses‹ einer Großgruppe [...] wird Literatur zu einem Handlungsfeld, in dem immer wieder neu zu bestimmen ist, was erinnert werden soll und in welcher Perspektive es wert ist, bewahrt zu werden.«

Kinderliteratur hilft beim Erwerb von sog. Weltwissen und dient zugleich dem ethischen, moralischen und emotionalen Lernen (Scholz 2014, S. 222 ff.). Auch wenn der direkte Einfluss der Auswahl des Lesestoffs auf die Leser*innen in der Rezeptionsforschung noch nicht hinreichend empirisch nachgewiesen ist, so gehen Groeben und Christmann (2014, S. 349) dennoch von einer »potenziell persönlichkeitsverändernde‍[n] Kraft literarischer Lektüren« aus. Diesbezüglich ist zu beachten, dass zwischen der Rezeption und der Interpretation literarisch-ästhetischer Texte ein erheblicher Unterschied besteht. Dieser kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn erwachsene Forscher*innen Kinderbuchtexte und -illustrationen sichten und diese aus einer theoretischen Perspektive analysieren und interpretieren. Dennoch ist für Kinder die Rolle der Repräsentation, d. h. das Vorkommen, Sprechen und Handeln von (marginalisierten) Personengruppen in medialen Texten nicht zu unterschätzen. Auch Kinderbücher erzeugen ein spezifisches Wissen über die Welt und die Menschen in dieser Welt. Deswegen erforschen wir die literarischen Konzepte, Ideen und Bilder, die das Leben in der Migrationsgesellschaft darstellen, interpretieren und vermitteln, um diese Kindern verständlich zu machen (Hall 2000, S. 151 ff.).

Mit einer Diversity-Perspektive ist die »Aufforderung verbunden, Differenz anzuerkennen, d. h. die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in der Gestaltung von Bildungsprozessen angemessen zu berücksichtigen« (Georgi 2017, S. 17). Zu den zentralen Anliegen einer solchen Sichtweise gehören, für Vielfalt zu sensibilisieren, potenzielle Konflikte vorzubeugen und konstruktive Lösungsansätze für vorhandene Konflikte anzubieten. Allerdings stehen diese Ansätze vor der Herausforderung, die Bildungsprozesse kontinuierlich selbst- und machtkritisch zu reflektieren (ebd., S. 18 f.).

Vor allem die sich immer stärker diversifizierenden Gesellschaften der wohlhabenderen westlichen Welt sind darauf angewiesen, die Migrationstatsache als gesellschaftliche Realität und ihre Relevanz für pädagogische Institutions- und Handlungsformen anzuerkennen, um dadurch emergierende Themen der Gesellschaft zu bearbeiten (Mecheril 2010, S. 7). Der Begriff Migration ruft generell das Bild der Überschreitung von Grenzen auf. Dieser Übertritt kann klandestin oder offen geschehen, wobei die Grenze sowohl imaginiert oder faktisch vorhanden sein kann. Sie markiert soziale und symbolische Räume, in denen sich Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen konstituieren und wandeln (ebd., S. 14 f.). Migration ist komplex, denn dazu zählen verschiedene irreguläre und reguläre Ein- und Auswanderungsphänomene, die Vermengung und Durchmischung von Sprachen sowie kulturelle Praktiken und die Hybridisierung von Identitäten (ebd., S. 11). In diesem Rahmen vollziehen sich auch mit Migration verbundene Fremdzuschreibungen, rassistische Strukturen und Alltagsrassismus, neue Formen von Ethnizität sowie migrationsgesellschaftliche Selbstthematisierungen.

Diese migrationspädagogische Betrachtungsweise gewinnt vor allem in Bezug auf die Darstellung migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse in der Kinderliteratur an Relevanz, denn in den Werken sind Normalitätserwartungen und damit verbundene Zugehörigkeits- und Differenzordnungen eingelassen, die soziale Situationen strukturieren und den Kindern hierin bestimmte Positionen zuweisen. Dies geschieht beispielsweise, wenn Personen mit Migrationserfahrung als nicht zum ›Wir‹ dazugehörige ›Andere‹ dargestellt sind, migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als problematisch bewertet wird oder die fiktiven Figuren ohne Handlungsmacht präsentiert werden. In all diesen Fällen sind den potenziellen Identifikationsfiguren von marginalisierten Kindern inferiore Positionen zugewiesen. Problematisch ist, dass solche diffamierenden und diskriminierenden Perspektiven nicht nur historische Überbleibsel aus einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit sind, sondern noch heute Eingang in Kinderbücher finden. Nolens volens avancieren sie dann zum heimlichen Lerngegenstand (Richter & Vogt 1974). Pejorative Narrative und stereotype Darstellungen über die ›Anderen‹ können die Gesundheit, das Befinden und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern aus Einwandererfamilien massiv beeinträchtigen (Velho 2011), wenn z. B. in der Vorlesesituation in der Kita oder in einer Buchbesprechung in der Schule eine differenzsensible und dominanzkritische Rahmung durch die pädagogische Fachkraft fehlt.

Bereits vor dreißig Jahren kritisiert Bishop (1990), dass sich in den Figuren US-amerikanischer Kinderbücher hauptsächlich Kinder aus der Mehrheitsgesellschaft widergespiegelt finden. Ihrer Meinung nach sollten Geschichten aber Fenster zu einer diversen Welt sein, weil dadurch erst die Mehrfachzugehörigkeiten der Kinder zu unterschiedlichen Gruppen und ihre Verbindungen untereinander erkannt werden. Damit könne einem »exaggerated sense of their own importance and value in the world« und einem gefährlichen Ethnozentrismus entgegengewirkt werden (ebd., S. 3).

Mit einer migrationspädagogisch informierten, kritischen Haltung gelingt es, den hier betrachteten Gegenstand Migration im Kinderbuch – Kinderbuch in der Migrationsgesellschaft auf angemessene Art und Weise zu erfassen. Vor diesem Horizont können soziale »Prozesse der Pluralisierung und der Vereinseitigung, der Differenzierung und der Entdifferenzierung, der Segregation und der Vermischung« (Mecheril 2010, S. 19) innerhalb der Werke thematisiert und der Analyse zugänglich gemacht werden. Selbstverständlich erscheinende, hierarchisierende Unterscheidungspraktiken, die auf vermeintlich ›kulturellen Differenzen‹ von Menschen‍(-gruppen) beruhen, können infrage gestellt und dekonstruiert werden. In der Kinderliteratur lässt sich dies auf der Makroebene dadurch fruchtbar machen, indem außerliterarische Fragen zur Produktion und Rezeption mit Bezug auf die individuellen, sozialen und kulturellen Bedeutsamkeiten von Literatur gestellt werden. Auf der textinternen Mikroebene verhilft diese Analyseeinstellung dazu, dies auf (fiktionale) Weltmodelle in Kinderbüchern zu übertragen, um Erzählungen über das Woanders-Hingehen kritisch zu analysieren.

2.2 Migration im Kinderbuch im historischen Verlauf

Migration ist kein neues Thema in der Kinderliteratur. Vielmehr gehört das Woanders-Hingehen zum wiederkehrenden Topos. Erfahrungen von Wanderung werden vielfältig literarisch ver- und bearbeitet. Doch nur selten wird Migration als literarisches Sujet von der (Kinder-)‌Literaturforschung erkannt und benannt. Vielmehr stoßen Migrationserzählungen auf thematische, historische und soziale Grenzen – auch im Kinderbuch.

Thematische Grenzen offenbaren sich dann, wenn Erzählungen Migration ausschließlich als Problem inszenieren oder lediglich auf Fluchterfahrung verkürzen. Andere Narrative und kollektive Erfahrungen einer Migrationsgesellschaft, wozu auch Auswanderungsgeschichte, Liebes-‍, Bildungswanderung, Gewaltmigration oder Erfahrungen im Exil und Diaspora gehören (Oltmer 2016, S. 19), bleiben außen vor. Historische Grenzen reduzieren Migration auf zeitgeschichtliche Phänomene und blenden frühere Migrationsprozesse weitgehend aus. Zumeist markiert in den literarischen Texten die Einwanderung in die 1949 neu gegründete Bundesrepublik den zeithistorischen Kontext. Migrationsprozesse z. B. während der deutschen Kolonialzeit, im Zusammenhang der Vertreibung und Deportation von Juden in der NS-Zeit oder der Binnenmigration zwischen DDR und BRD bleiben eher unterbeleuchtet. Soziale Grenzen manifestieren sich entlang des sog. Migrationshintergrunds, sodass in Deutschland lebende Menschen in eine Gruppe mit und eine Gruppe ohne Migrationshintergrund unterteilt werden. Dies fußt auf Vorstellungen des Kollektivs von einem »ethnisch-kulturell-einheitlichen-Wir« gegenüber einem Kollektiv der »Migrationsanderen« (Mecheril 2010, S. 17). Die symbolischen Grenzen zwischen einem ›Innen‹ und ›Außen‹, einem ›Wir‹ und ›Nicht-Wir‹ finden sich in vielen Kinderbüchern zu Migrationsthemen wieder.

Mit diesem Artikel wird beabsichtigt, die skizzierten Grenzen zu erweitern, um so Migration als vielschichtiges, andauerndes und schon immer dagewesenes Sujet der Kinderliteratur zu begreifen. Vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert ist das geografische Gebiet des heutigen Deutschlands von vielfältigen Aus- und Einwanderungsbewegungen geprägt. Der krisenhafte Übergang von einer Agrar- zur Industriegesellschaft, Hungersnöte und religiöse Verfolgungen führten zu einer transatlantischen Massenauswanderung nach Amerika (Bade & Oltmer 2004). Auch die koloniale Inbesitznahme von Gebieten in Übersee am Ende des 19. Jahrhundert zog temporäre und auch dauerhafte Einwanderung nach sich: Kaufleute, Arbeiter*innen, Siedler*innen, Kolonialbeamt*innen oder Missionar*innen (Terkessidis 2019, S. 19). Da die historische Migrationsforschung und die Kolonialgeschichte lange getrennte Forschungsfelder waren, bleiben auch in migrationshistorischen Arbeiten koloniale Bewegungen häufig ausgespart (Fischer-Tiné 2016). Diese Tendenz setzt sich in der wissenschaftlichen Erforschung der KJL fort.1

Parallel zur globalen Verflechtung im Laufe des 18. und 19 Jahrhundert entwickelt sich das, was heute als intentionale KJL bezeichnet wird. Die weltumspannenden Migrationsphänomene, ethno- und geografischen Forschungen sowie technologischen Entwicklungen − gekoppelt mit westlichen Dominanzansprüchen − schlugen sich thematisch und ästhetisch in Werken der KJL nieder. Wenig überraschend gehört deshalb die Abenteuer- und Reiseliteratur zu den populärsten und lukrativsten Genres im 19. Jahrhundert, wobei quantitativ und qualitativ Seeabenteuer, Expeditions-‍, Eroberungserzählungen und sog. Indianergeschichten noch bis in die 1960er Jahre einen wesentlichen Teil der KJL ausmachen (Weinkauff 2000, S. 767; Pellatz-Graf 2008, S. 616). Ein Beispiel ist das Kinderbuch Reisen in die Ferne oder Vater Reinholdʼs Mittheilungen über die Erde und ihre Bewohner von Heinrich E. Maukisch (1836). Dort erzählt Vater Reinhold Kindern aus der Nachbarschaft Reise- und Seefahrtsgeschichten, so beispielsweise von Kaufleuten und Matrosen, die von Hamburg aus in See stechen: »Die Mannschaft dieses Schiffes bestand aus lauter Deutschen. Es befanden sich darunter mehrere junge Männer, welche die erste Seereise unternahmen und voller Begierde waren, die sogenannte neue Welt jenseits des großen Weltmeeres kennen zu lernen« (ebd., S. 78).

Bereits in diesem kurzen Zitat ist das Woanders-Hingehen als dauerhaftes oder zeitlich begrenztes Auswanderungsphänomen mit wirtschaftlichen Bestrebungen, der Abenteuerlust einer Seereise und der westlichen ›Begierde‹ nach Wissen und Entdeckung verknüpft. Auch in der Fremdbezeichnung ›Neue Welt‹ werden die imperialistischen Verhältnisse deutlich – die Inbesitznahme von Amerika durch die ›Alte‹, europäische Welt.

Der Schauplatz von vielen dieser historischen Reise- und Abenteuergeschichten liegt in fernen Ländern, womit gleichzeitig landeskundliches Wissen über andersartige Lebensweisen und bestimmte Menschengruppen vermittelt wird. Vor einer exotisierten Kulisse beziehen sich Kinderbücher auf christlich-abendländische Moralvorstellungen, in denen weiße Helden als Vorbild fungieren, deren nachahmungswürdige Taten stets im Kontrast zu den rassifizierten Anderen stehen (Schär 2000, S. 783; Wild 2008, S. 75). So stehen auch bei Vater Reinholdʼs Mittheilungen neben den heroischen Erzählungen von Seefahrern und Kaufleuten die Verschiedenheit und Hierarchie der ›Menschenrassen‹ auf dem Lehrplan (Maukisch 1836, S. 13). Dabei wird die Vorherrschaft des Westens mal implizit, mal explizit legitimiert (Wollrad 2011b, S. 380). Mechanismen des → Othering (Said 1978) sind für Kinderbücher charakteristisch, die Migration thematisch aufgreifen. Das Fremdmachen, die Rassifizierung und die Exotisierung von Menschen und Regionen werden dort selbstverständlich praktiziert. Zugleich geht es aber auch um das Selfing, d. h. die Konstruktion eines Selbstbilds, das sich auf die Vermittlung von christlich-abendländischen Moralvorstellungen2 stützt.

Aus der Abenteuer- und Reiseliteratur entwickelt sich Ende des 19. Jahrhundert die klassische Kolonialliteratur (Schär 2000, S. 784). Sie steht im Dienst der Kolonialpolitik und fungiert auch im Kinderzimmer als Propagandainstrument zur Legitimierung von Kriegen und Ausbeutung im Zeichen des deutschen Imperialismus (ebd., S. 785). Ihre zweite Hochphase erlebte die Kolonialliteratur während des Nationalsozialismus. Die faschistische Kinderliteratur preist die Rückgewinnung der ehemaligen Kolonien an. Gleichzeitig propagiert die Kolonialliteratur den »für das NS-System konstitutiven Zwang der Erziehung zu ›heroischer Lebenshaltung‹« (Hopster 2005, S. 314).

Wenngleich der Friedensgedanke und die Idee der Völkerverständigung die Kinderliteratur der deutschen Nachkriegszeit bestimmt, ändert sich nur wenig an den Darstellungsweisen von Menschen aus fernen Ländern. Die Werke der ausschließlich weißen Autor*innen offenbaren weiterhin ein dichotomes und hierarchisches Verständnis von Welt: Dort stehen sich »der Westen und der Rest« zumeist diametral gegenüber (Hall 1994). Erst in den 1970er Jahren beginnt die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Darstellungsformen von Menschen in anderen Ländern aufgrund einer erhöhten Sensibilisierung durch die internationalen Solidaritätsbewegungen mit der sog. ›Dritten Welt‹. Dadurch wird die bis dato ›unpolitische‹ KJL-Forschung kritisiert und eine Medienanalyse verlangt, »in der die Literatur konstituierenden gesellschaftlichen Bedingungen selbst zum konstitutiven Teil von Medienanalyse werden« (Becker & Oberfeld 1977, S. 8). Die KJL-Forschung jener Zeit bemüht sich um eine ideologiekritische Perspektive, indem sie ethnozentrische Darstellungen beanstandet und eine adäquate Repräsentation von Menschen insbesondere aus den Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas fordert. Das Engagement von Literaturschaffenden der 1980er Jahre ermöglicht schließlich, dass mehr Bücher außereuropäischer Autor*innen veröffentlicht werden (Schär 2000, S. 788 ff.; Haas 2003, S. 158). Diese Entwicklung ist zugleich eng mit der Migrations- und Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik verknüpft, »sodass das Thema ›Dritte Welt‹ an vielen Stellen das Thema Gastarbeiter und Gastarbeiterkinder bzw. Asylbewerber in Deutschland mitberührte« (Haas 2003, S. 159).

Mit dem Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhundert wird in Deutschland Migrationsgeschichte explizit zum (literarischen) Thema gemacht. Es entstehen Bücher, die das »Fremde im eigenen Land« (ebd.) behandeln. Die eigentliche Zäsur in der Migrationsliteratur markiert die »Wahrnehmung der neuen Minderheiten« (ebd.), die sich aus der Mitte der 1950er Jahre angeworbenen Arbeitsmigrant*innen sowie den Geflüchteten und Spätaussiedelnden zusammensetzen. Von hier aus greift die Literaturwissenschaft auf migrationspolitische Termini zurück, die sowohl die Ausländer-‍, Gastarbeiter-‍, Migranten-‍, interkulturelle bis hin zur Migrationsliteratur umspannt (Rösch 2019). ›Gastarbeiter‹ und ›Gastarbeiterkinder‹ finden ab den 1970er Jahren und innerhalb der problemorientierten Bücher der KJL ihre Entsprechung (Weinkauff 2000, S. 769). Wie Dahrendorf (1974) moniert, bleiben dabei jedoch die ökonomische Situation der Arbeiter*innen in Deutschland oder die wirtschaftliche Lage der Herkunftsländer weitestgehend außen vor. Zehn Jahre später liegt der Fokus weiterhin auf der Problematisierung der Migrationsverhältnisse in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Der Topos der kulturell begründeten Identitätskrisen junger Migrant*innen der zweiten und dritten Generation ist dabei äußerst populär (Weinkauff 2000, S. 773). Im Laufe der 1980er Jahre werden schließlich immer mehr Bücher veröffentlicht, in denen auch Migrant*innen selbst für Kinder und Jugendliche schreiben. Während deutsche Autor*innen jener Zeit von Identitätskonflikten, Orientierungsproblemen und von Diskriminierungserfahrungen der Protagonist*innen berichten, neigen migrantische Autor*innen »eher zur Gestaltung positiver Modelle multikulturellen Zusammenlebens« (ebd., S. 776).

Die Tendenz der Diversifizierung natio-ethno-kultureller Räume in der deutschsprachigen KJL wird in den 1990er Jahren fortgeführt, denn die Zeit ist reif »für solche literarischen Impressionen einer widerspruchsvollen, komplexen und kulturell hybriden Welt, die erkennbar Parallelen zu den Verhältnissen im eigenen Land aufweist« (Weinkauff 2013, S. 45 f.). Kinderbücher von heute zeichnen somit ein Bild von Deutschland als Migrationsgesellschaft, das sich der Darstellung abgeschlossener, in sich homogener und differenter Kulturen, Nationen und Ethnien verweigert. Doch neben der Thematisierung von hybriden Lebensformen sind Stereotypisierungen und Rassifizierungen in Kinderbüchern weiterhin verbreitet. Nach wie vor reproduzieren literarische Lektüren für Kinder ein asymmetrisch-hierarchisches Gesellschaftsverhältnis und koloniale Bilderwelten (Hodaie 2014, S. 143 f.; Wiezorek 2017). Ein Beispiel ist der immer wieder neu aufgelegte Kinderbuchklassiker Hexe Lilli entdeckt Amerika (Knister & Rieger 2011). Noch in der aktuellen Schulausgabe stoßen die Leser*innen auf folgenden Satz: »Ich kämpfe gegen wilde Menschen [...] Christoph Columnuss [sic!] ist auf sie getroffen, als er Amerika entdeckt hat« (ebd. S. 3). Kinderbücher wie dieses bedienen sich der eurozentristischen Sichtweise und des kolonialhistorischen Narrativs, womit der Mythos einer abenteuerlich-lustigen Expedition des Christoph Kolumbus ins Ungewisse aufrechterhalten wird.

Dass noch heute Kinderbücher das Eroberer- und Entdecker-Narrativ unreflektiert verbreiten, ist mitunter der Tatsache geschuldet, dass das wissenschaftliche Interesse an der Auseinandersetzung mit Rassismus und Stereotypen in der deutschsprachigen KJL-Forschung mit dem Ende der Forschungsarbeiten der 1980er Jahre stark zurückgegangen ist (Schär 2000, S. 788; Eggers 2011; Wollrad 2011a, S. 165). Erst nachdem die Entscheidung des Stuttgarter Thienemann Verlags bekannt wurde, das N-Wort in den Neuausgaben Otfried Preußlers Die kleine Hexe zu streichen, entzündet sich 2012 eine kontroverse Kinderbuchdebatte, in der die Verwendung rassistischer Begriffe in Kinderbüchern beanstandet wird.

Ab 2010 lässt sich dies auch in der Literaturforschung beobachten, da die Anzahl an wissenschaftlichen Beiträgen wächst, die sich Kinderbüchern aus einer diskriminierungskritischen Perspektive widmen (Kübler 2013). Zweifelsohne ist dies auch der Verdienst von migrantischen und rassistisch marginalisierten Kinderbuchschaffenden und Multiplikator*innen, die neue Impulse für das Kinderbuch in der Migrationsgesellschaft setzen. Solche Own-Voices-Erzählungen ermöglichen ein diverses Storytelling, indem Kinderbücher vielschichtiger, sensibler und authentischer von marginalisierten Menschen erzählen (Sandjon 2020). Gerade über soziale Medien können migrantische und → BIPoC-Gruppen heute breite Netzwerke knüpfen, sich Gehör verschaffen und auch Einfluss auf die kinderliterarischen Produktions- und Distributionskontexte nehmen, obgleich weiße Perspektiven immer noch die (Bild-)‌Sprache dominieren.

2.3 Migration im Kinderbuch verhandeln: Einsichten, Ansichten und Aussichten

Es gibt eine Vielzahl an Kinderbüchern, die sich dem Woanders-Hingehen widmen (Rösch 2018). Allerdings beschränkt sich die Perspektive auf Migration häufig auf die Einwanderung in die 1949 neu gegründete Bundesrepublik. Gegenwärtig dominiert thematisch die Fluchtmigration 2014/15. Einige aktuelle Werke spiegeln die gesellschaftliche »Superdiversität« (Vertovec 2007) wider, mit der eine kontingente Vielfalt kindlicher Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft einhergeht. Dennoch stößt das Lesepublikum immer wieder auf historische, thematische und soziale Grenzen in der Kinderbuchliteratur, die nicht nur die vielfältigen Facetten der deutschen Migrationsgesellschaft ausblendet, sondern auch unkritisch an rassifizierende Darstellungsweisen von Menschen und kolonialhistorische Wissensbestände anknüpft und diese reproduziert. Insofern erscheint es naheliegend, die Frage nach der Repräsentation von Migration im Kinderbuch anhand seiner Imaginationen zu stellen, indem das Sinnstiftungs- und Veränderungspotenzial von Migrationsliteratur für Kinder aufgezeigt wird.

In vielen Erzählungen werden die Figuren der neu zugewanderten Kinder und Familien mit nur wenig Handlungsmacht ausgestattet, während die alteingesessenen Figuren mehr Agency besitzen. Dies ist auch der Fall im deutsch-arabischen Bilderbuch Bestimmt wird alles gut