Dmitri / Die Übergangsgesellschaft / Nibelungen / Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn - Volker Braun - E-Book

Dmitri / Die Übergangsgesellschaft / Nibelungen / Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn E-Book

Volker Braun

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Beschreibung

Dieser Band versammelt eine Auswahl von sechs Theaterstücken von Volker Braun, die seit Beginn der achtziger Jahre entstanden sind. Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, Lyriker, Dramatiker und Prosaautor, Büchner-Preisträger des Jahres 2000, zeigt sich in seinen Stücken als gleichermaßen scharfsinniger wie sprachmächtiger Analytiker von gesellschaftlichen Verhältnissen. Brauns Stoffe und Szenerien sind welthistorisch, die Problemstellungen seiner Stücke sind heutig und von globaler Brisanz.

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»Am Berliner Ensemble, an das mich Helene Weigel holte, der Versuch eines philosophischen Volkstheaters: in unphilosophischer Zeit, in der das Volk eine unbegriffene große Rolle spielte. Was lag näher und ferner, als die Möglichkeiten geschichtlichen Handelns zu untersuchen. Ich schrieb ein paar Dramen mit Personen und Unpersonen, deren Gedanken und Leiber zermahlen werden von der Macht. Ich sah die Geschichte marschieren, stillestehn und auseinanderlaufen; sah sie wiederum siegen und, wie es hieß, enden. Aus den Knochen des Einzelnen war sie nicht zu erklären, aber nach dem Los des Letzten zu beurteilen. Die Antwort, warum ich mitten in den Katastrophen blieb, war die Frage nach einem anderen Globus der Chancengleichheit.« (Volker Braun)

Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, Lyriker, Dramatiker und Prosaautor, Büchner-Preisträger des Jahres 2000, zeigt sich in seinen Stücken als gleichermaßen scharfsinniger wie sprachmächtiger Analytiker von gesellschaftlichen Verhältnissen. Brauns Stoffe und Szenerien sind welthistorisch, die Problemstellungen seiner Stücke sind heutig und von globaler Brisanz.

VolkerBraun

Dmitri / Die Übergangsgesellschaft / Nibelungen / Transit Europa /

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte.

Rechteanfragen sind an den Suhrkamp Verlag, Pappelallee 78-79, 10437 Berlin, zu richten.

Aufführungsrechte: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag, Berlin.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Dmitri

Die Übergangsgesellschaft

Nibelungen

Transit Europa

Limes. Mark Aurel

Was wollt ihr denn

Personen

Gnesen, Lemberg, Krakau – Bischöfe · Mnischek, Sapieha – Woiwoden · König von Polen · Reichstag · Dmitri, Knecht, Zar von Rußland · Ein Priester · Palatin · Marina, Mnischeks Tochter, Zarin von Rußland · Drei junge Russen · Gesinde · Drei hungernde Bauern · Polnische Soldaten · Marfa, Mutter des Demetrius · Metropolit von Moskau · Nonnen · Basmanow, Generalfeldherr · Soltikow, Golizyn – Bojaren · Russischer Soldat · Boris, Zar von Rußland · Schuiski, Bojar, Zar von Rußland · Volk · Ksenja, Zarewna · Bojaren · Ein Mörder · Drei Bolschewiki · Räte · Popen · Damen · Zwei Mägde · Koch · Priester · Vier Individuen

Nach den Entwürfen Friedrich Schillers.

1

Reichstag in Polen. Die Großen laufen über die Bühne und präparieren simultan ihre Rollen, der König seine stumme.

GNESEN

SO IST DENN DIESER STÜRMEVOLLE REICHSTAG

ZUM GUTEN ENDE GLÜCKLICH EINGELEITET

KÖNIG UND STÄNDE SCHEIDEN WOHLGESINNT

DER ADEL WILLIGT EIN SICH ZU ENTWAFFNEN

DER WIDERSPENSTIGE ROKOSZ SICH ZU LÖSEN

Rokosz sich zu lösen

DER KÖNIG ABER GIBT SEIN HEILIG WORT

ABHÜLF ZU LEISTEN DEN GERECHTEN KLAGEN

und nicht seinen Sohn auf den Thron zu hieven, nicht wahr, weil wir eine Republik sind

MNISCHEKauswendig:

HIER IST NICHT MOSKAU NICHT DESPOTENFURCHT

SCHNÜRT HIER DIE FREIE SEELE ZU HIER DARF

DIE WAHRHEIT WANDELN MIT ERHABNEM HAUPT

ICH WILLS NICHT HOFFEN EDLE HERRN DASS HIER

ZU KRAKAU AUF DEM REICHSTAG SELBST DER POLEN

DER CZAR VON MOSKAU FEILE SKLAVEN HABE

LEMBERG

WER ABER SOLL GERECHT SEIN AUF DER ERDE

WENN ES EIN GROSSES TAPFRES VOLK NICHT IST

DAS FREI IN HÖCHSTER MACHTVOLLKOMMENHEIT

NUR SICH ALLEIN BRAUCHT RECHENSCHAFT ZU GEBEN

UND UNBESCHRÄNKT VON hier gehts nicht weiter VON den blöden Rücksichten auf Sitten und die Anmaßung der Spitze und der verrotteten Völker, mit denen wir Frieden halten, wenn sich kein Vorwand findet, sie rechtens anzugreifen,

DER SCHÖNEN MENSCHLICHKEIT GEHORCHEN KANN

KRAKAU

ES IST DIE GROSSE SACHE ALLER STAATEN

UND THRONEN DASS GESCHEH WAS RECHTENS IST

DA FREUT SICH JEDER SICHER SEINES ERBS

UND ÜBER JEDEM HAUSE JEDEM THRON

SCHWEBT DER VERTRAG WIE EINE CHERUBSWACHE

DOCH WO

SICH STRAFLOS FEST SETZT IN DEM FREMDEN ERBE

DA WANKT DER STAATEN FESTER FELSENGRUND

SAPIEHA

DIE MEHRHEIT

WAS IST DIE MEHRHEIT MEHRHEIT IST DER UNSINN

VERSTAND IST STETS BEI WENGEN NUR GEWESEN

BEKÜMMERT SICH UMS GANZE WER NICHTS HAT

HAT DER BETTLER EINE FREIHEIT EINE WAHL

ER MUSS DEM MÄCHTIGEN DER IHN BEZAHLT

UM BROD UND STIEFEL SEINE STIMM VERKAUFEN

MAN SOLL DIE STIMMEN WÄGEN UND NICHT ZÄHLEN

DER STAAT MUSS UNTERGEHN FRÜH ODER SPÄT

WO MEHRHEIT SIEGT UND UNVERSTAND ENTSCHEIDET

GNESENunterbricht den Lärm:

UND NUN IM INNERN FRIED IST KÖNNEN WIR

aber wohin mit den Truppen, die noch im Feld stehn?

DIE AUGEN AUF DAS AUSLAND RICHTEN –

Kronbeamte, Woiwoden, Landboten stürzen auf die Bühne.

DER REICHSTAG Während man hört, daß gewisse Herren schon den Angriff auf Rußland machinieren. / Gewisse Herren schon den Angriff machinieren. / Es gibt keinen Anlaß für einen Krieg./SAPIEHA Ich hab mit Moskau Frieden abgeschlossen. / Rußland ist schwach. / Am Boden. / Noch nie war die Gelegenheit so günstig. / Die Beute der Tataren. / Rußland bricht den Frieden. / Rußland ist reich. / SAPIEHA Frieden abgeschlossen, und ich bin Mann dafür, daß man ihn halte. / Es gibt keinen Anlaß für einen Krieg.

Man verharrt in Schweigen.

Es heißt, der Zarewitsch von Moskau lebt. / Wer lebt. / Der Zarewitsch von Moskau lebt. / Wer sagt das. / Wer sagt das. Gelächter. Dmitri ist nicht ermordet? / Er wurde in Uglitsch erstochen dermalen vor vierzehn Jahren im Alter von sieben von Boris Godunow weiland dem Thronverwalter jetzt Zar in Moskau. / Er lebt. Gelächter.MNISCHEK Ein entlaufner Russe, jetzt mein Knecht, wurde erkannt bei Gelegenheit eines Tractaments, das er empfing. / Eines Tractaments? / MNISCHEKbeiläufig: Weil er das Handtuch nicht in die Badstube bringt sondern auf Pferden reitet, ich erzürne mich und gebe ihm eins aufs Maul und nenne ihn einen Hurensohn, er stellt sich, als wenn ihm das zu Herzen ginge, fängt in der Badstube an zu weinen und spricht: wenn du wüßtest wer ich bin, du würdest mich nicht einen Hurensohn nennen, und vielweniger um so geringer Ursache wegen an Hals schlagen. Mein baldiger Schwiegersohn, und Palatin, faßt ihn an und sagt mir: du drischst wohl den Zar von Rußland. Der Knecht wirft ihn in Dreck. Sapieha lacht. Mnischek lacht mit. Wenn er der Zarewitsch ist / Hat er Beweise? / Wer sagt das. Stille. Alle sagens! / Der Sohn Iwans, des Großen. / Gerüchte! / Dann hat er Anspruch auf den Thron. / Dann muß ihm Polen auf seinen Thron helfen! / MNISCHEK Hier ist nicht Moskau. Nicht Despotenfurcht schnürt hier die freie Seele zu. Hier darf die Wahrheit wandeln mit erhabnem Haupt. / Tumultuarisch: Demetrius. / KRAKAU Es ist die große Sache aller Staaten und Thronen, daß gescheh was rechtens ist. / Krieg mit Rußland! / Es ist nichts bewiesen. / LEMBERG Wer aber soll gerecht sein, wenn es ein großes tapfres Volk nicht ist, das frei und unbeschränkt etc. der schönen Menschlichkeit gehorchen kann. / Krieg Krieg mit Rußland! / Die Mehrheit will es. / SAPIEHA Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. / Die Mehrheit! / SAPIEHA Verstand ist stets bei Wengen nur gewesen. / Sammelt die Stimmen. Truppen für Dmitri! / SAPIEHA Man soll die Stimmen wägen und nicht / Hier ist nicht Moskau / Was rechtens ist / Der schönen Menschlichkeit / Krieg Krieg!Großes Getöse. Alles rennt hinaus.

KÖNIG Viel Worte liebch ni. Das Ganze sieht mir noch zu roh aus. Ich werd ni wegen eines ungewissen Glicks einen gewissen Krieg anfang. Den Fehler mach ich ni und zieh mir vom schwedschen Kenig gefährliche Würkungen aufs Haupt. Aber derwegen werd ichs ni hindern, wenn die Woiwoden Lust haben, auf ihre Unkosten Demetrium beizuspring und ihm in Moskau zu führen, was sei Recht is.

2

Dmitri blass und starr auf einem Stuhl. Um ihn im Halbkreis sitzen Mnischek, Gnesen, Lemberg, Krakau, ein Priester, sehn ihn erwartungsvoll / streng / grinsend an. Hinter Mnischek stehnd der Palatin, im Arm die füllige Marina. Langes Schweigen.

MNISCHEK Es geht ein wenig schnell. Er kannte sich nicht.

Die Großen hüsteln geduldig.

Du bist in Rußland geboren. Zum Palatin: Es stimmt alles. – Als welches ein finstres Land. Deine Mutter eine schöne Frau, mit Brüsten wie Schnee, vor der man sich verbeugte. – Die Zarin. – Der Mörder kam mit einem Messer in das Schloß. Das Feuer. Ihr seid gerannt. Der Himmel glutrot.

Dmitri schweigt gehetzt.

Gerettet, genau. Verwechselt mit dem Balg der Amme, das im Blut lag. Ins Kloster geflüchtet. Hat sich nicht mehr gekannt.

PRIESTER Eine Tragödie.

Dmitri wieder versunken.

MNISCHEK Er spricht drei Sprachen. Zu Pferd eine gesengte Sau. Er hat bei meinen Reitern allen Krieg gelernt.

Die Großen raunzen erfreut.

Ließ sich nicht an Hals schlagen. Manieren, wie ein Fürst.

PALATIN Angeboren.

MNISCHEK Seht ihn an!

Dmitri hebt aufgeregt den Kopf.

Wenn mans nicht wüßte, seine Fähigkeiten würden ihn entdecken. Wo ist einer so qualifiziert? Er hat alle Eigenschaften eines Zaren.

Dmitri vor Hoffnung von stummem Lachen geschüttelt.

PRIESTER Er glaubt sich nicht.

MNISCHEK Er schläft bei mir im Stall! Springt auf: Verzeiht mir, Herr. – Holt die Bojaren. – Bojarenkinder, Flüchtlinge aus Moskau. Sag ihnen, wer du bist.

Palatin bringt drei junge Russen. Sehn Dmitri erstaunt an.

Was gibts?

RUSSEN Die Ähnlichkeit. Herr, wie Ihr sagt.

MNISCHEK Was sag ich.

RUSSEN Die Warze unterm Auge.

Dmitri faßt sich ans Auge.

Der Arm. Sein Arm ist kurz. Er zeigt seinen Arm.

MNISCHEK Hatte der Zarewitsch einen kurzen Arm?

Russen treten erregt zurück, rudern mit den Armen.

Dann ist ers.

RUSSEN Die helle Haut. Sein zarter Körper. Sein Alter. Er ist da!

Fallen auf den Boden. Die Großen stehn überrascht auf. Mnischeks Gesinde in den Türen. Dmitri erhebt sich halb.

MNISCHEK Du hasts geahnt. Gefühlt. Du bist kein Knecht.

Dmitri reißt mechanisch seinen Knechtsrock entzwei.

PALATINbetreten: Ich hatte einen Scherz gemacht: feixt er sei der Zar –

MNISCHEK Wie, so einen Gast hast du nicht erwartet bei deiner Hochzeit morgen im Haus des Woiwoden Mnischek.

Marina klammert sich fröhlich an den Palatin. Russen kriechen zu Dmitri.

RUSSEN Herr, nimm uns auf. Wir bleiben bei dir. Führ uns heim nach Rußland.

DIE GROSSENsteigen brutal über die Russen weg: Hol dir den Thron, Iwan. Angle dir dein Reich. Polen bestimmt den Zar.

MNISCHEK Herr, meine Kasse. Mein Ansehn Eure Trommel. Mein Heer ist Euer Thron. Nimmt Dmitri auf die Schultern.

PALATIN Während der Ernte, Mnischek?

MNISCHEK Unsre Ernte ist Rußland.

MARINAverächtlich: Sie wollen den Krieg.

MNISCHEKkalt: Was hat Herr Palatin? Zur Tochter: Ja, daß du mich erinnerst. Fast hätte ich dich einem Knecht gegeben.

Palatin auf Mnischek zu.

Marina, meine Tochter, kriegt nur einer. Läßt Dmitri auf Marina fallen. Der Zar von Rußland.

PALATIN Das Kind? Der abgebrochne Mönch? Der Schweinepriester?

Lachkrampf. Marina geht zuboden. Dmitri hebt sie höflich auf.

DMITRIplötzlich sicher: Verzeiht die Eile. Fräulein, Ihr habt mein Wort.

MARINAempört: Was heißt das nun –

PALATINim Lachen: Er verschachert dich.

DMITRIgroß: Wo ist mein Reich.

Alles weicht vor ihm zurück. Auf dem leeren Boden:

Der erste Schritt ist zu Marina Euch: Pskow und Nowgorod.

DIE GROSSEN Pskow und Nowgorod!

DMITRI Der zweite Schritt für Polen. Sewerien, Smolensk.

DIE GROSSEN Smolensk!

MNISCHEKin Feuer: Ihr steht in Moskau, Herr.

DMITRI Im Kreml, Kamerad. Das ist doch seltsam, ich hab es gewußt. Ich bin ein Herr. Ich kann mir trauen. Meine Mutter sagte: du bist was Beßres. Sie nannte mich: mein Prinz. Auch auf dem Spielplatz: lauf, Zarewitsch. Die Rotzjungen. Man lebt, sich selber fremd. Bis man sich an die Stirn schlägt: Ich bin einwer. Ich bin der Zar. Schreitet durch sein Reich.

LAUTSPRECHERgreisenhaft schnarrende Stimme:ZÄUMT EURE SCHNELLEN ROSSE SITZET AUFEUCH ÖFFNEN SICH DES GLÜCKES GOLDNE THOREMIT EUCH WILL ICH DEN RAUB DES FEINDES THEILENMOSKAU IST REICH AN GÜTERN UNERMESSLICH AN GOLD UND EDELN STEINENDEM EDELN WOIWOD ZAHL ICH ZUM ERSATZ FÜR SEINE RÜSTUNG EINE MILLIONWENN ICH ALS CZAR EINZIEHE AUF DEM KREMEL DANN ICH SCHWÖRS SOLL SICH DER ÄRMSTE UNTER EUCH DER MIR DAHIN GEFOLGT IN SAMT UND ZOBEL KLEIDEN MIT REICHEN PERLEN SEIN GESCHIRR BEDECKEN UND SILBER SEI DAS SCHLECHTESTE METALL UM SEINER PFERDE HUFE ZU BESCHLAGEN

Freudengeheul der Großen.

RUSSEN Rußland wird frei.

Palatin hört zu lachen auf. Marina starrt Dmitri an. Mnischek gibt dem Gesinde einen Wink, es wirft den Palatin rasant aus dem Saal. Mnischek hält währenddessen Marina an der Hand und verneigt sich prustend vor Dmitri bis zum Boden.

3

Sturmglocken. Drei hungernde Bauern, mit Äxten und Knütteln.

ERSTER Was tut ihr hier.

ZWEITER Ich steh im Krieg für den Zaren Boris.

ERSTER Du stehst, das sehe ich. Und wo ist der Krieg.

Zweiter sieht sich um.

DRITTER Er wird schon kommen, Freund.

ZWEITER Wir werden das Väterchen retten.

DRITTERschwankend: Wir stehen fest zu unserem Zar als seine aufrechten Kinder.

ERSTERstellt sich zu ihnen: Wenn ich ein wenig zittere, so weil ich nichts Besonderes im Magen hab aus allgemeinem Mangel auf der Erde.

DRITTER Macht nichts, Bruder, wir haben auch nichts Allgemeines im Magen als besonderen Hunger.

Warten.

ZWEITER Wenn es lang dauert, steh ich es nicht durch.

ERSTER Wir sollten ein wenig näher zum Krieg hingehn.

DRITTER Halt, halt. Teufel. Das geht nicht. Es ist verboten, das Land zu verlassen.

ZWEITER Das ist ein dummes Gesetz.

DRITTER Erlaube, Timofej, es ist des Zaren Gesetz.

ZWEITER Ja, dann ist es ein kluges Gesetz.

DRITTER Aber wir können nicht zu ihm kommen.

ERSTER Dmitri, heißt es, der Zarewitsch, bringt die Freiheit.

ZWEITERbeeindruckt: Das ist ein Ding. Er bringt sie uns. Dann können wir zu unserem Zaren Boris eilen.

DRITTERverblüfft: Dummkopf. Was erzählst du mir. Dann muß er Boris schlagen.

ZWEITER Nun, dann schlägt er ihn erst, dann sind wir frei, dann können wir zu unserem Zaren eilen.

ERSTER Sag das nicht. Ich war frei. Zittert. Du kommst nicht von der Stelle.

DRITTER Jetzt folge ich dir nicht.

ERSTER Ich habe mich freiwillig in die Knechtschaft begeben, um ökonomischer Erwägungen willen. Ich bin ein Eigentum meines Herrn, aber steuerfrei und werde ernährt wie das Vieh.

ZWEITER  In diesen Fragen sollte man jeden Standpunkt gelten lassen.

DRITTERfällt hintenüber, federt sich hoch: Die Frage ist, wie wir unser Väterchen retten.

ERSTERsinkt auf die Knie: Was ich sage. Einerseits und andererseits ist er der Zar, aber auch Dmitri ist ein Zar, und wer ist, folglich, der richtige?

ZWEITER Ich stehe auf dem Standpunkt, daß wir nach dem Essen fortfahren sollten.

Kauen mit leerem Mund.

ERSTERschreit: Es muß ein guter Zar sein! Der gute Zar! Es muß ein guter sein, ein guter sein!

DRITTER Halt ihn, halt ihn fest, den Verräter!

ZWEITER Erschlag ihn. Schlag ihn tot, Kirill.

Sie sind zu schwach.

DRITTER Warten wirs ab.

Stehn eine Weile, brechen dann zusammen. Dmitri, Mnischek, polnische Soldaten waten durch den Schlamm, gleiten aus, schlagen immer wieder hin.

MNISCHEKfröhlich: Rußland.

DMITRIsieht die Bauern: Warum fallen sie nicht?

EIN SOLDAT Sie liegen auf den Knien.

Dmitri streckt ihnen die Arme entgegen.

4

Marfa auf einem Katafalk. Metropolit, von Nonnen zu ihr geführt, macht mit einer Hand das Kreuz, schickt mit der andern energisch die Nonnen hinaus. Sieht verwirrt Marfas unbewegtes Gesicht.

METROPOLIT Madame, die Sache wie folgt – Hält sich die Augen zu. Das war die Zarin. Iwans Frau, gewiß, die sechste, ein blühendes Reis. Mich schickt Zar Boris, unser gnädiger Herrscher, legt umständlich die Pelze ab in dieses Polargebiet, in das er Sie verbannte, vor zwanzig Jahren, wir kannten die Gegend nicht! Der Zar erwartet eine Geste Ihrerseits. Ein Lump aus Polen, ein entlaufener Mönch, gibt an, Ihr Sohn zu sein, und sagt: Ich lebe. Er sagt ICH LEBE – der weiß Gott ermordet wurde vor der Zeit, in Uglitsch, wir haben das Blut an den Händen. Wozu noch leugnen, es ist ein Fakt, es war der Anfang, die neue Zeit, wir sind alle ruhiger geworden. Madame, wir dulden nicht, daß man Sie beleidigt. Ein Lügner, ein Dissident mißbraucht den edlen Namen Ihres Sohnes. Er sammelt Truppen in der Hungersteppe. Leichtgläubige Leute! Zieht die triefenden Stiefel aus. Pardon, die Sauerei. Nicht einmal Straßen hat das Nest. Hier ist der Hund begraben. Hält Marfa ein Papier hin: Eine Formalität, erklären Sie den »Sohn« für nichtig.

Marfa reglos.

Ihr »Sohn«, Verehrteste. HOLLA, HIER IST DMITRI. MUTTER DA BIN ICH. Der Zar erwartet es. Verstehen Sie, er ist dem Ihren ähnlich. Man sagt, wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit einem Messer, wie. Nach vierzehn Jahren. Laut: Er hat Beweise. Ein Kreuz mit neun Smaragden, wie es Dmitri trug um seinen Hals, bis man ihn durchschnitt. Sie kennen es. Der ist nicht auf den Kopf gefallen. In einem Manifest macht er bekannt, wie er sich rettete: aus Glück. Es ist infam. Glück, das begreift man. Glück möchte jeder haben. DEM GLÜCKLICHEN SCHLÄGT kein Stündchen, wie. Ein Lebenslauf, der ihm den Posten sichert. Mit Ihrer Bürgschaft wär sein Glück gemacht. Entkleidet sich schwitzend. Es ist nicht so, daß das ein Klacks ist. Den Leuten ist es ernst. Das klettert aus den Sümpfen, ganze Heere, und Donkosaken, mit wahnsinnigen Pferden. Das Volk? Liebe Frau. Es liebt Veränderung. Es springt aus seiner Haut für ein frisches Hemd. Es kann nur besser kommen, komme was will. Ihm ist nichts heilig. Es glaubt an ihn! Begeistert: Stellen Sie sich das vor. Ihr begrabner Sohn verlangt nach seinem Thron. Er streckt die Fäustchen aus dem Loch und will sein Reich. Wir sitzen in der Scheiße. Der Zar geht in seinem Kleid wie ein Gespenst, Sie sollten ihn sehn, und wartet auf das andre, das übers Feld kommt. Ich selbst, Metropolit, und federführend bei seinem Aufstieg, stehe nackt da, wenn der Spülicht siegt, und kann mich einsargen im sibirischen Eisschrank. Der Abschaum kürt sich zum Strom. Lacht Tränen, dann: Rußlands Flüsse entspringen aus Pfützen, heißt es. Madame, Sie können nicht wollen, daß der Staat gekränkt wird. Sie vermögen noch als Zarin zu empfinden. Sie denken noch groß von sich. Sieht sich im Hemd: Verzeihn Sie. Das Desaster. Schließlich nennt er sich Ihr Kind. Sie sind die Mutter, sozusagen. Sie sind zuerst betroffen! Der Zar baut auf Ihren Schmerz.

MARFAruhig: Der »Zar«?

METROPOLIT Wie, Madame!

MARFArichtet sich rasch auf, reibt sich die Wangen rot, wird lebendig: Eigentlich war ich fertig. Das Leben war schon weggegangen. Ich war übrig. Streift das Nonnenkleid ab. Was habe ich angezogen, Euer Ehren? Steht auf. Jetzt sieht das alles anders aus. Ohne Schmus, jetzt sehe ich gut aus. Rennt durch den Raum, bleibt stehn. Ich hoffe, er ists. Ich habe seine Asche nicht gesehn.

METROPOLITempört: Ich selber habe sie in den Wind gestreut!

MARFAtriumphierend: Jetzt trägt sie der Wind her. Sie hat viel zu zeigen: die irrwitzige Freude über ihre Rehabilitierung, das Erstaunen, wieviel Volk diesem Retter zuläuft, die Ungeduld, ihm ihre Sehnsucht zuzutragen. Sie halte sich an Schillers Marfa-Monolog, der natürlich stumm noch größer ist. Sieht den Metropoliten starr an: Jetzt erkenne ich ihn: an deiner Furcht. Du machst mich ihn glauben, Mensch. Dir geht der Arsch auf Grundeis. Wirft sich auf ihn: Ich, die Eniedrigte, soll euch aus dem Dreck ziehn? Das wünscht ihr euerm schlimmsten Feind. – Und wenn er nicht das Kind meines Leibes ist, dann ist er das Kind meiner Rache.

METROPOLIT Die Rache ist bei Gott.

MARFA Ja. Den schickt mir der Himmel. Ich nehme ihn an. Drückt den Metropoliten auf den Katafalk. Soll ich ihn verstoßen? Ihn verleugnen? Wenn ich es will, rückt er in Moskau ein, ich wohne in Palästen.

METROPOLIT Das ist der Krieg.

MARFA Das ist das Leben.

Freudentaumel. Metropolit wie eine Ratte hinaus. Marfa hält inne.

Schon siegt er für mich. Jetzt will ich es glauben.

5

Nebliges Feld. Basmanow. Soltikow. Golizyn.

GOLIZYNheiser vor Wut: Wir werden auf einen Schelmen anderthalbe setzen.

SOLTIKOWim Diskant: Er ist von unten, beschäftigen wir ihn mit Mist.

BASMANOW Er soll arbeiten.

Laufen ab. Krieg / Gelächter Soltikows, Golizyns, Basmanows. Danach Dmitri auf die leere Bühne, vor Entsetzen gekrümmt. Basmanow von der andern Seite, auf ihn zu. Dmitri läßt sich entwaffnen. Basmanow, verblüfft, stößt ihn mit einem Finger um.

DMITRI Mein Land. Sieht erschüttert auf seine blutigen Hände.

LAUTSPRECHERfröhliche Kinderstimme:HA WELCH EIN ANBLICKDU SIEHST DEIN REICH VOR DIR GEÖFNETWELCHE SCHÖNE AUENDER LENZ HAT SIE MIT SEINEM SCHMUCK BEDECKTDER BLICK SCHWEIFT HIN IM UNERMESSLICHENDOCH ISTS EIN KLEINER ANFANG NURUND KEINE GRENZEN HAT ESES IST DAS LAND DAS MIR DAS LEBEN GABDERGLEICHEN HERR BEDENKT MAN HINTERDREIN

BASMANOW Na was. Bindet einen Strick an Dmitris Fuß.

DMITRItonlos: Ich bin der Zar.

BASMANOW Da kann jeder kommen.

SOLDATaus dem Dunst: Ein Brief des Zaren. Dem Generalfeldherrn Basmanow.

BASMANOW Dem Generalfeldherrn Basmanow. Liest: Ernennen Wir dich zum Obersten Feldherrn –

Soldat salutiert.

setzen Wir auf Gefangennahme des falschen Dmitri die Summe – die Summe – hält den Strick fest: Du bist dem Zaren ein Reich wert. Zieht Dmitri am Strick: Jetzt bist du auf dem Docht, großes Licht. Liest: Das ist Unser Wille. Zu Dmitri: Unser Wille, verstehst du. Schnürt Dmitri zusammen. Sieht den Soldaten noch grüßen, nimmt wieder das Blatt. Was bietest d u mir? Du bist Dreck. Was hat der Dreck gesagt? Er will aus Sklaven Menschen machen. Höhnisch: Du willst aus Sklaven Menschen machen. Liest angestrengt. Was verstehst du. Generalfeldherr. Unser Wille. Höher gehts nicht, mit mir. Ich habs geschafft. Zurrt den Strick fester. Sein Wille. Sein Wille. Und meiner? Mehr kann ich nicht wollen – und hab ich einen? Du willst aus Sklaven … es ist seiner. Ich bin kein Mensch! Wenn ich dich fang, ich bin wieder gefangen. Ich hol meinen Lohn. Verneigt sich wie vor dem Zaren, verharrt plötzlich so: Man muß es einmal merken, daß man die Wahl hat, ob man Sklave ist oder. Auf den Soldaten: Der kapierts nimmer. Ich kann einen Toten machen, und leb ich dann. Ich kann dich freilassen, und bin es selber. Schleift Dmitri rasend über das Feld, bleibt keuchend stehn. Das ist der Augenblick.

Soldat springt aufgeregt auf der Stelle.

Ich werde mir einen Menschen verbinden. Ich muß ihn nur losbinden. Tut es. Verbindlichsten Dank. Zum Soldaten: Er ist mein Freund. Er ist mein Zar.

DMITRIsofort, zum Soldaten: Auf auf, meld es dem Heer.

Soldat davon. Dmitri wickelt geschäftig den Strick zusammen, beiläufig:

Binden wir Rußland los.

BASMANOWgreift ihm in den Schopf, herzlich: Freund.

Beide ab. Soltikow, Golizyn.

GOLIZYNheiser vor Wut: Boris hat Basmanow zum Generalfeldherrn befördert.

SOLTIKOW Ungeheuerlich.

GOLIZYN Den Niedrigsten von uns. Entgegen der Dienstrangordnung.

SOLZIKOW Skrupellos.

GOLIZYN Er steht nicht im Geschlechtsregister.

SOLTIKOW Dem folgen wir nicht.

GOLIZYN Niemals, nitschewo.

SOLTIKOWim Diskant: Und Basmanow ist von Boris abgefallen.

GOLIZYN Ungeheuerlich.

SOLTIKOW Als Generalfeldherr. Das ist der Dank.

GOLIZYN Skrupellos.

SOLTIKOW Der Dank, den Boris verdient. Dem dien ich nicht mehr.

GOLIZYN Nie mehr, nitschewo.

SOLTIKOWzähneknirschend: Dann gehn wir mit Basmanow.

GOLIZYN Mit Basmanow.

6

Boris auf dem Thron. Schuiski.

BORIS Er siegt? Lächelt verzweifelt. Ich kann nicht gegen einen Niedrigen kämpfen. Kann der Zar gegen einen Betrüger ins Feld? Es ist unmöglich.

SCHUISKI Ja, Herr und Fürst. Steht gebückt, sieht in dieser Stellung die Leiche des kleinen Demetrius unter dem Thron.

BORIS Du zitterst ja, Schuiski, du schwitzt. Du verschweigst mir etwas.

SCHUIKI Nichts, Herr.

BORISlacht: Du hast Angst vor mir, gibs zu. Es war nicht schön im Elend. Fern von Moskau.

Schuiski kann ein Zittern aus Scham nicht unterdrücken. Boris faßt ihn.

Ich weiß warum. Du willst mich auch verlassen. Ihr Bojaren alle; weil ich euch vom Brot helf, ihr müßt hinterm Netz fischen. Ich bin euch über, ein Tatar. Ein Stallmeister. Ich steh zu hoch auf der Leiter. – Ich könnte euch verlassen!

Steigt vom Thron, eilt zum Fenster: das zu hoch ist. Schuiski sieht unter den Thron, zerrt die blutige Leiche halb hervor.

SCHUIKI Mein Gott, der Zarewitsch.

Es gelingt nicht, die Leiche zurückzustopfen. Boris wendet sich rasch um.

BORIS Ha. Bist du erschrocken. Du planst etwas. Wenn ich euch den Rücken drehte, ihr wäret gleich bei Demetrius, der aber tot ist, wirklich. Kriegst du die Zähne nicht auf, Wassili.

Schuiski wischt sich den Schweiß ab.

Das schreckt mich nicht, solange ich das Volk hab. Eilt wieder zum Fenster. Gegen die Wand: Ich sehe seinen Hunger. Ich sehe die Toten auf den Gassen, ich lasse sie in weißes Leinen tun und rote Schuh. Selbstbewußt: Nur die Toten verlassen mich, und laufen zu dem Toten, der sich von dem Hunger nährt. Ruft plötzlich in den Saal: Ich lasse die Kornhäuser öffnen.

Lauscht. Geht strahlend auf und ab. Schuiski nickt überrumpelt, schüttelt dann energisch den Kopf, applaudiert. Großer Lärm. Boris eilt zum Fenster. Das Volk strömt über die Bühne. Rufe: Dmitri! Er kommt. Er steht in Tula. Entgegen! Schuiski springt aus dem Weg. Metropolit, tritt hinter Boris.

METROPOLIT Mein Fürst! Spricht ihm ins Ohr.

BORIS Was? Heiliger Vater – Zu Schuiski: Das Volk verläßt Moskau. Setzt sich auf den Thron: ein greiser, gebrochener Mann. Ich habe sie nicht. Sie lassen mich nicht machen. Lacht: Ich kann ihnen nicht helfen. Groß: Halt.

Die Menge stockt.

Wir haben gesagt, daß Wir Unser letztes Hemd mit euch teilen werden in der Not.

Die Menge will weiter.

Ich werde mich selber teilen. Wer ist ein Fleischer unter euch.

Fleischer tritt unsicher vor.

Gib ihm dein Messer, Schuiski. Zerhacke mich. Zerteile mich, verarbeite mein Fleisch. Ich hab viel Fleisch. In die Piroggen, in die Piroggen!

Fleischer flieht. Das Volk strömt hinaus. Rufe: Dmitri! Lange Stille.

METROPOLIT Er hat zarteres Fleisch, Godunow. Ihn werden sie schlachten.

BORISsehr ruhig zum Metropoliten: Kommen Sie, ich benötige Sie.

Metropolit bleibt erschrocken stehn.

Sie sehen verfroren aus. War es kalt bei der Nonne Marfa?

Ab. Metropolit folgt ihm bleich. Schuiski nimmt Demetrius an der Hand.

SCHUISKI Wir hätten ihn retten können, Junge. Ich habe es nicht gewagt. Weiß ich, ob er bei Laune ist? Nimmt die Leiche auf den Arm, wiegt sie: Sei ruhig. Der kommt nicht mehr. Erlaube mal. Läßt die Leiche fallen, setzt sich auf den Thron. Man soll nichts Schlechtes über Tote sagen, aber Boris war der Beste auf dem Stuhl. Beugt sich zur Leiche hinab: Aber es ist unerträglich, in der Angst zu leben. Es ist gemein. Naß bis aufs Hemd. Wringt seinen Kragen aus. Blut und Wasser. Ich bin kein Kind mehr, das sich schlachten läßt. Ich habe schlechte Nerven, ich hör das Gras wachsen. Ich seh Gespenster. Gegen das Leiden, was kann ich tun. Es ist mächtiger als ich. Dann brauch ich alle Macht. Dann kann ich nur der Erste sein, im Staat. Lehnt sich zurück, die Füße gegen die Leiche. Du wirst mich nicht dran hindern, junger Freund. Du wirst mir helfen. Der Erste, oder der Letzte in der Angst. Die Leiche unter den Thron. Geruhe hier zu warten, Herr, bis dein Zwilling Platz nimmt, der Betrüger, du wirst ihm aufwarten an meiner Hand. Das wird die letzte Angst sein. Und er sich doppelt sieht in seinem Blut.

7

Gräber. Dmitri. Mnischek. Basmanow. Die drei jungen Russen.

RUSSEN Es ist eine Sitte, Herr, auf den Gräbern zu fressen. In Rußland, Herr und Fürst. Sowie zu trinken.

MNISCHEK Es ist gut, sich an die Sitten zu halten, deines Lands. Aus Pietät.

BASMANOW Ja, die Russen halten aufs Protokoll.

DMITRI Es sind frische Gräber.

RUSSEN Das will ich meinen. Wie Ihr es bestellt habt, Herr. Ein Familiengrab sozusagen. Vater Mutter Bruder – Nein, das Schwesterchen lebt. Wir bringen dir das Schwesterchen, Herr. Pfeifen.

DMITRI Die Godunows.

MNISCHEK Man hat sie aus Moskau expediert.

RUSSEN Auf Mistwägen, Herr. Damit Ihr nicht pikiert seid. Die Feinde sind vertilgt. Schnaps. Vertilgen wir einen.

BASMANOW Sa sdarowje. Das Wässerchen. Du mußt austrinken.

Dmitri speit.

MNISCHEK Du verdirbst es mit deinem Volk. Was sage ich dir? Du sollst die Sitten respektieren. Es bricht dir den Hals.

RUSSENlachen: Es bricht dir den Hals.

Soldaten liefern Ksenja.

Das Schwesterchen. Aufgespart für Euch, wie es Sitte ist. Als Eure Beiwohnung. Die falsche Zarewna. Der richtige Zarewitsch. Begrüße ihn.

Dmitri tritt vor ihrer Schönheit zurück, blickt zu Mnischek, der wegsieht, dann zu den Soldaten, sieht ihre unmenschlichen Gesichter. Ksenja wirft sich auf die Gräber.

DMITRIvoll Mitgefühl, legt sich neben Ksenja, Kopf an Kopf: Hab keine Angst. Ich tu dir nichts. Du kannst weggehn. Ich will dich nicht. Dir geschieht nichts. Sie traun sich nicht. Weil du mir gehörst. Du gehörst dir selbst. Mach die Mücke. Zisch ab. Mach, was du willst. Warum weinst du noch. Es war einmal ein Mädchen, das wollte der Teufel holen. Aber es wusch sich rein, da konnte er es nicht holen. Aber der Vater fürchtete sich und schnitt dem Mädchen die Hände ab. Da weinte es so sehr, daß es doch reingewaschen war, und der Teufel hatte sein Recht verloren. Aber es wollte nicht zuhaus bleiben, es ließ sich die Hände auf den Rücken binden und ging in die Welt.

SOLDATEN, RUSSENentblößen Ksenjas Hintern, rufen quasseln schreien Obszönitäten:

Aber sie sagte zu dem jungen Mann: halt mir mein Kind an die Brust, daß ich ihm zu trinken geb. Darauf sagte er zu ihr: dort steht ein dicker Baum, schlinge die Arme dreimal um ihn, und als sie es getan hatte, wuchsen die Hände wieder an.

Heizen Ksenja an. Kringeln sich vor Lachen über die Zoten, beißen sich in die Hände vor Lust, usw.

Ksenja wirft sich auf den Rücken, zieht Dmitri zu sich.

DMITRIlacht, ruft laut: Ich habe ihr gesagt, daß sie frei ist.

BASMANOW Wir haben ihr gesagt, daß sie eine Fotze ist.

MNISCHEK Sie hat sich gesagt, daß er der Zar ist.

8

Bojaren überreichen Dmitri die Schlüssel der Städte. Polnische Adlige fläzen sich am Boden, spielen mit einem Hund auf dem Thron.

BOJARENmit tiefer Verbeugung: Wladimir. / Nowgorod. / Kasan. / Smolensk. / Twer. / Das andere Nowgorod.

Dmitri zusehends freudiger und erregter.

Kaluga. / Rjasan. / Rostow. / Tschernigow. / SCHUISKIbesonders tief gebückt: Moskau.

DMITRIunterbricht übermütig: Was hat der Mann? Was ist mit Euch? Ist Euch nicht wohl?

Schuiski verharrt irritiert. Dmitri sieht ihm von unten ins Gesicht.

Ja, seid Ihr krank? Könnt Ihr nicht gut stehn?

Schuiski vermag sich nicht aufzurichten, tritt mit verdrehtem Kreuz zurück. Polen lachen.

Also, her.

Die andern Bojaren werfen die Schlüssel rasch und erleichtert in Dmitris Hände.

Wir dulden um Uns keine Knechte.

Polen pfeifen.

SOLTIKOW Er ist der rechte Erbe. Gott hat ihn in seinem Busen verwahrt und uns wieder zugeschanzt.

GOLIZYN Die wahre Sonne ist aufgegangen über Rußland. Er stellt das alte Recht wieder her.

SOLTIKOW Er ist der einzige wahre und rechtmäßige Zar.

GOLIZYN Er hat das Mandat Gottes und des Volkes.

SCHUISKIwieder obenauf: Morgen zieht Ihr durch Moskau als Zar. Heute dürfen wir Euch noch umarmen.

Bojaren umarmen Dmitri; Schuiski besonders ausführlich. Basmanow steht bei den Polen, krault den Hund. Bojaren sehn es mißbilligend. Dmitri auf Basmanow zu, umarmt ihn. Erstaunen.

DMITRI Ich will nicht euer Herr sein sondern euer Vater. Jubelnd: Man bringe meine Mutter nach Moskau.

MNISCHEK Man hole ihm seine Braut!

Mit den Polen ab. Mörder.

SCHUISKI Wie kommt der Mensch herein.

DMITRI Es kann Uns jeder sprechen. Wir empfangen. Herzlich: Er ist der Erste, der vor Dmitri tritt.

MÖRDERkönigsberger Tonfall: Du kannst dich ruhig so nennen. Es wird dir kein Mensch nich bestreiten. Läuft geschäftig umher. Ne schöne Villa. Mein Sejen haste.

DMITRI Ein Narr.

MÖRDER So sieht er also aus. Ne Warz am Kopf. Ein Arm zu kurz. Und blond. Allet verdreht! Du traust dir wat. Jar keine Ähnlichkeit. Du bist mir der Richtje.

DMITRI Was denn Ähnlichkeit?

MÖRDER Mit Jott. Ich hab ihn umjebracht. In Uglitsch, Herr. Ich hab ihn versucht, er hat den Kürzern jezogen. Zieht einen Dolch. Der Mensch nämlich macht de Jeschichte.

DMITRIgreift den Dolch: Was redest du von Uglitsch?

MÖRDER Ihr wißt es nich? Dort hat Jott jewohnt. Im Alter von sieben. Er war fromm, aber er hatte kein Messer nich. Es hat ihm nich jeholfen. Nur der Mensch hilft sich. Holt verschiedene Messer hervor. Dem Menschen is nuscht unmöglich.

Dmitri lächelt verständnislos.

Der Mensch hat sein Jlück in Händen. Sein Jeschick. Jongliert mit den Messern. Du bist nich Demetrius, der war schwart und kein Krüppel nich.

Dmitri steht erstarrt.

Du kannst dich auf mich verlassen. Der Mensch is allmächtig. Er is der Schöpfer. Er kann de Welt bewejen. Ich weiß es.

DMITRIfassungslos: Wer weiß es außer dir?

MÖRDER Dat weiß doch jeder. Gibt jedem Bojar ein Messer. Sie machen alle ihren Schnitt. Sie kennen Euch. Diese hier jewiß.

Dmitri sieht mit verwandeltem, kalt grinsendem Gesicht die Versammlung an. Bojaren, außer Schuiski, lassen die Messer fallen.

DMITRI Mörder. Stößt dem Mörder den Dolch in den Mund.

GOLIZYNentsetzt: Der Geist Iwans des Schrecklichen ist in ihn gefahren.

BASMANOWsofort, scharf: Dieser Mann redete viel. Es ist uns lästig.

Bojaren hasten hinaus. Basmanow zieht die Leiche des Demetrius unter dem Thron vor. Dmitri fährt zurück.

Das bist du halt.

DMITRIhebt Demetrius hoch, bricht zusammen: Ich, und die Wahrheit, das sind zwei. Die trag ich nicht.

BASMANOW Die blutige Wahrheit, Herr.

DMITRIbeugt sich über Demetrius: Ich bin zerfallen, mit mir selbst. Wir sind geschiedene Leute.

BASMANOW Jetzt seid ihr zusammen. Tote. Legt die drei Toten nebeneinander. Jetzt sag ich Ihr und Euch.

DMITRI Wer bin ich nun. Mit dir bin ich nichts. Umarmt Demetrius: Du hast das Recht, und ich habe kein Recht. Dein ist die Macht, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, amen. Schluchzt.

BASMANOW Alles was recht ist, wir können sie nicht liegenlassen.

DMITRI Woher nehme ich jetzt das Recht?

BASMANOW Von den Lebenden, Freund. Woher nehmen und nicht stehlen. Einer muß es haben. Warum nicht du? Nimm dir die Freiheit. Ich hab sie auch genommen. Ich geb sie dir.

Fällt vor ihm auf den Boden. Dmitri richtet sich auf.

DMITRI Das ists: ich bin ein Dieb. Ich darf mich nicht blicken lassen. Nimmt Demetrius an den Füßen.

BASMANOW Ja, alles blickt auf Euch. Ihr bringt die Freiheit. Er muß verschwinden. Vorwärts, Herr.

Schleift den Mörder, Dmitri den Demetrius rückwärts hinaus.

9

Heller Tag. Alle Glocken läuten. Pompöser Zug des Zaren Dmitri über die schwebende Brücke in Moskau. Jubel des Volks. Nach einer Weile verdunkelt sich der Himmel, es erhebt sich ein ungeheurer Sturm. Lachen und Kreischen des Volks. Als es wieder heller wird, sind die Fahnen entrollt und unter den flatternden Gewändern blinken Harnische.

EINE STIMME Polnische Fahnen!

ANDERE STIMME Soldaten!

Das Volk hält den Atem an. Eisiges Schweigen. Die Glocken verstummen. Der Zug ruckt fluchtartig an und wird zum Überfall.

Auf die Szene treten drei Bolschewiki, sehn belustigt / interessiert / angewidert dem Schauspiel hinterher. Während ihres Disputs wird ein Glockenspiel umgestellt: vonGOTT ERHALTE DEN ZARENaufWACHT AUF,VERDAMMTE DIESER.

ERSTERICHTRAF IN MOSKAU AM TAG NACH MEINER ERNENNUNG ZUM KRIEGSKOMMISSAR EIN. MIT SEINER MITTELALTERLICHEN MAUER UND SEINEN ZAHLLOSEN GOLDENEN KUPPELN SCHIEN DER KREML ALS EINE FESTUNG DER REVOLUTIONÄREN DIKTATUR EIN VÖLLIGES PARADOXON. ALLERDINGS WAR AUCH DER SMOLNY, FRÜHER INSTITUT FÜR VORNEHME MÄDCHEN, NICHT GERADE FÜR ARBEITER-, SOLDATEN- UND BAUERNDEPUTIERTE GESCHAFFEN. BIS ZUM MÄRZ 1918 WAR ICH NIEMALS IM KREML GEWESEN, ICH KANNTE VON MOSKAU EIN EINZIGES GEBÄUDE: DAS BUTYRKI-GEFÄNGNIS. DIE ENGE ALLTÄGLICHE BERÜHRUNG ZWEIER HISTORISCHER POLE, ZWEIER UNVERSÖHNLICHER KULTUREN WAR ERSTAUNLICH UND BELUSTIGEND. AUF DEM HOLZPFLASTER AM NIKOLAISCHEN PALAST VORBEIFAHREND, HABE ICH MEHR ALS EINMAL ZUR »ZARENGLOCKE« UND ZUR »ZARKANONE« HINÜBERGESCHIELT. DAS SCHWERE MOSKAUER BARBARENTUM BLICKTE AUS DEM LOCH DER GLOCKE UND DER MÜNDUNG DER KANONE. HIER MUSSTEN WIR UNS FÜR LANGE EINRICHTEN. ABER SELBST BEI BESPRECHUNGEN WICHTIGERER FRAGEN GEWÄHRTE UNS LENIN NICHT SELTEN NUR ZWEI MINUTEN. DAS GLOCKENSPIEL AUF DEM ERLÖSERTURM WURDE UMGEÄNDERT. MAN ASS DAMALS IM KREML UNTER JEDER KRITIK SCHLECHT. ES GAB NUR SALZFLEISCH. IM MEHL UND IN DEN GRAUPEN WAR SAND. NUR ROTER KAVIAR WAR IM ÜBERFLUSS VORHANDEN, INFOLGE DES FEHLENDEN EXPORTS

ZWEITERins Wort:DIE FRAGE HIESS: