Doch wer die Sünden kennt - Hunter Morgan - E-Book

Doch wer die Sünden kennt E-Book

Hunter Morgan

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Beschreibung

Und ich will ein Racheschwert über euch bringen … Ein Mann wird gesteinigt, seine Geliebte bei lebendigem Leib verbrannt, eine lesbische Richterin gekreuzigt. Bei allen Opfern findet die Polizei Bibelzitate. «Azrael» nennt sich der selbsternannte Racheengel, der glaubt, über die Einwohner des verschlafenen Südstaatenstädtchens richten zu müssen. Und wer kennt die vermeintlichen Sünden der Einwohner besser als der ehemalige Gemeindepfarrer Noah? Immer wieder hat Noah seltsame Erinnerungslücken. Genau dann, wenn ein neuer Mord passiert ...

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Hunter Morgan

Doch wer die Sünden kennt

Aus dem Englischen von Joachim Peters

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

UND ICH WILL EIN RACHESCHWERT ÜBER EUCH BRINGEN ...

 

Ein Mann wird gesteinigt, seine Geliebte bei lebendigem Leib verbrannt, eine lesbische Richterin gekreuzigt. Bei allen Opfern findet die Polizei Bibelzitate. «Azrael» nennt sich der selbsternannte Racheengel, der glaubt, über die Einwohner des verschlafenen Südstaatenstädtchens richten zu müssen. Und wer kennt die vermeintlichen Sünden der Einwohner besser als der ehemalige Gemeindepfarrer Noah? Immer wieder hat Noah seltsame Erinnerungslücken. Genau dann, wenn ein neuer Mord passiert ...

Über Hunter Morgan

Zusammen mit ihrem Mann und den zwei jüngsten ihrer vier Kinder lebt Hunter Morgan im Süden Delawares, wo auch ihre Romane spielen.

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Epilog

Prolog

Es war ein gewöhnlicher Abend nach einem gewöhnlichen Tag. Abendessen. Fernsehen. Nach den Nachrichten ins Bett. Zahnpasta. Zahnbürste. Der Badezimmerspiegel. Dasselbe Spiegelbild.

Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen – völlig unerwartet. Sie war zwar schon öfter gekommen, aber das war lange her, und damals war sie nur ein Flüstern gewesen.

«Azrael.»

Nein! Die Zahnbürste fiel zu Boden. Hände krallten sich am Rand des Waschbeckens fest, während das Bild im Spiegel verschwamm. Plötzlich schien das Deckenlicht heller zu strahlen – so hell, dass es blendete.

Schmerz. Unerträglicher Schmerz.

«Azrael.»

Die Stimme war diesmal lauter, nicht zu überhören. «Azrael, es ist Zeit.»

Azrael, der Erzengel des Todes.

«Azrael, mein Wille geschehe.»

Die Stimme hallte dröhnend von den Wänden wider, so laut und unwiderstehlich, dass Azrael unter ihrem Ansturm zusammenbrach. Knie schlugen auf mattes Linoleum, und Hände versuchten verzweifelt, das Licht und den Schmerz auszusperren.

Azrael musste nicht mehr dagegen ankämpfen. Der Gehorsam durfte nicht verweigert, die Stimme nicht mehr ignoriert werden.

Die Stimme Gottes.

Kapitel 1

Der Maschendrahtzaun kam Rachel höher vor als beim letzten Mal, der spiralförmig gewundene Stacheldraht obendrauf noch bedrohlicher als in ihrer Erinnerung.

Ihre schweißnassen Hände umklammerten das Lenkrad des Volvo, während sie durch die Maschen des Zauns auf die alte Scheune in der Ferne blickte. Früher hatten darin Milchkühe gestanden, doch nun diente sie als Werkstatt für die Insassen. MÖBELSCHUPPEN stand auf einem Schild an der Hintertür.

«Mama?»

Rachel schaute zu dem Wachposten im fernen Betonturm hoch. Selbst vom Highway aus konnte sie das Gewehr in seinen Händen sehen, während er auf und ab ging.

«Mama, meine Hände sind ganz klebwig!»

Blinzelnd stellte Rachel den Rückspiegel so ein, dass sie ihre Tochter auf dem Rücksitz sehen konnte.

«Mama, ich bwauche ein Tuch.» Mallory wedelte mit ihren seesternartigen Händen. «Mattie auch.»

Geistesabwesend griff Rachel nach einer Schachtel Feuchttücher auf dem Beifahrersitz, öffnete den blauen Deckel und griff sich eine Handvoll. «Hilf Mattie», sagte sie zu ihrer Tochter, als sie ihr die Tücher reichte.

Dann bemerkte Rachel eine Bewegung hinter dem Zaun und legte die Hände wieder aufs Lenkrad. Als er auf sie zukam, umklammerte sie es so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Anders als beim letzten Mal trug er keinen blaugrünen Overall, sondern normale Jeans, Turnschuhe und ein ausgebleichtes grünes T-Shirt. Er hatte eine blaue Sporttasche bei sich.

Plötzlich wurde ihr schlecht. Sie blickte hoch zu dem Wachposten im Turm und schluckte den galligen Geschmack in ihrer Kehle hinunter.

«Featig, bin wieder saubah, Mama», tönte Mallory vom Rücksitz mit einer Unbekümmertheit, wie nur ein vierjähriges Kind sie haben konnte. Ihr war nicht bewusst, warum sie hier vor dem Gefängnis standen, und Rachel wollte, dass dies auch so blieb. Am besten für immer.

«Sehr gut», flüsterte Rachel, die den Blick nicht von ihm wenden konnte. Er kam auf das offene Tor zu. «Wirf die Tücher einfach auf den Boden, wir heben sie dann zu Hause auf.»

«Aber Mama, du hast doch gesagt –»

«Ich weiß, Mallory», zischte Rachel. Sie musste sich zwingen zu atmen, bevor sie weitersprach. «Das geht schon in Ordnung. Wirf sie einfach auf den Boden, Schatz. Wir räumen den Abfall dann zu Hause weg.»

Er kam um die Ecke und ging direkt auf sie zu. Durch die Windschutzscheibe sah Rachel selbst gegen die tiefstehende Sonne deutlich sein attraktives Gesicht, seine geschwungenen Brauen, den fast unsichtbaren Höcker auf seiner Nase an der Stelle, wo er sie mit neunzehn gebrochen hatte, und die Falten in seinen Augenwinkeln. Er aber hielt den Blick gesenkt und schaute weder zu ihr auf noch zurück zum Wachturm.

Rachel hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Der Gestank der kalten Pommes frites vom Rücksitz war überwältigend, und fast wäre sie losgefahren und hätte ihn an der Straße stehenlassen.

Doch sie tat es nicht und hörte gleich darauf das Klicken des Türgriffs.

Die Hände noch immer am Lenkrad, starrte sie ins Leere, als er einstieg und die Tür schloss.

«Noah», hörte sie sich murmeln.

«Rachel.»

Das kurze Schweigen, das nun folgte, kam ihr endlos vor. Tausend Erinnerungen stürmten auf Rachel ein – Erinnerungen an die Gerüche, Geschmäcker und Geräusche des Lebens, das sie einst mit diesem Mann geteilt hatte.

Ein ungleichmäßiges Klopfen auf den Ledersitz hinter ihnen durchbrach die Stille. Der neben Mallory angeschnallte Mattie schlug mit fleischigen Fäusten auf den Autositz und stieß gutturale Laute aus.

Noah saß einfach nur da und starrte vor sich hin, die Sporttasche auf dem Schoß.

Rachel schaute in den Rückspiegel, legte den ersten Gang ein und fuhr vom Gras auf die Straße. «Ja, ich weiß», sagte sie und stellte den Rückspiegel so ein, dass sie den Wagen hinter ihnen sehen konnte. «Ich weiß, Mattie. Das ist Noah. Er ist wieder da.»

«Schon gut, Mattie», sagte Mallory. «Schon gut.»

Rachel sah ihr hübsches rundes Gesicht im Rückspiegel, als sie den Kopf hochreckte.

«Mama, leg die CD ein. Mattie mag die Arthur-CD.»

Rachel wollte schon widersprechen. Es war Mai, und sie hatte es gründlich satt, die Weihnachtsmusik von Arthur the Aardvark anzuhören, die schon seit letztem November im CD-Spieler lag, aber Mattie traktierte noch immer den Autositz mit seinen Fäusten und schrie mit dieser rauen, schnarrenden Stimme, die ihres Wissens in achtunddreißig Jahren nie ein Wort gesprochen hatte. Und ihr war im Augenblick alles recht, um nicht mit ihrem Mann sprechen zu müssen. Exmann.

Sie schaltete den CD-Spieler im Armaturenbrett ein, und das Chanukka-Lied dröhnte aus den Lautsprechern. Mallory stimmte mit ihrer Babystimme ein, die schon nicht mehr ganz so babyhaft klang, und Mattie beruhigte sich auf der Stelle. Rachel sah im Rückspiegel, wie er die Melodie auf einem unsichtbaren Keyboard spielte.

Sie waren schon fast zehn Kilometer gefahren, und das nächste Lied hatte bereits begonnen, als Rachel wagte, Noah anzusehen – und dann sogar anzusprechen. «Du könntest ruhig etwas zu Mattie sagen. Er hat dich schrecklich vermisst.»

Noah presste die Lippen aufeinander. «Danke fürs Abholen.»

«Was blieb mir anderes übrig?», entgegnete sie, ohne nachzudenken, und bog in östlicher Richtung von der Route 113 ab. «Hätte ich sagen sollen ‹Heb deinen faulen Arsch und geh zu Fuß vom Knast nach Hause›?»

Er schaute aus dem Fenster auf die malerische Kleinstadt, durch die sie gerade fuhren. «Schöne Ausdrucksweise für die Frau eines Priesters.»

«Exfrau.»

«Expriester», setzte er noch einen drauf.

Sie schwiegen für die Dauer eines weiteren Lieds, doch Rachel weigerte sich, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie konzentrierte sich auf die Straße, fuhr über den Georgetown Circle weiter in östlicher Richtung und sang gemeinsam mit Mallory den idiotischen Text, den sie längst auswendig kannte. «We three Kings ate boiling tar …»

Noah starrte nur aus dem Fenster.

Mehrere Male warf sie ihm einen verstohlenen Seitenblick zu, doch sie sah seine braunen Augen nicht und wusste nicht, was er dachte. Aber genau genommen war es verdammt lange her, dass sie Zugang zu Noah Gibsons Gedankenwelt gehabt hatte.

Rachel folgte der Route 9 bis kurz vor Lewes, wo sie nach links in nördlicher Richtung abbog. Die Umgebung änderte sich schlagartig; die kleinen Grüppchen von Häusern und Geschäften wurden auf der belebten Straße zum Strand von Kiefernwäldern abgelöst, und die holprige Pflasterstraße war so schmal, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikamen. Während sie «It’s Baxter Day!» lauter sang als Mallory auf dem Rücksitz, bog sie nach links ab und fuhr über die Brücke in die Stadt. Sie passierten das hölzerne Ortsschild, handgearbeitet von Buddy Peterson, der vom Schnitzen von Holzenten und deren Verkauf in den Andenkenläden am Strand lebte. WILLKOMMEN IN STEPHEN KILL hieß es auf dem Schild über der Jahreszahl 1698.

Sie fuhr durch die Main Street, vorbei an Häusern im viktorianischen Stil, am kleinen Imbiss, in dem es das beste Frühstück im ganzen Landkreis gab, an einem neuen Mini-Markt sowie an dem im alten Bahnhof untergebrachten Postamt, bevor Noah endlich den Mund aufmachte.

«Wo fahren wir hin?»

Sie blinkte, bog von der Straße ab und kam unter einer großen Buche zum Stehen, unmittelbar vor der bröckelnden Mauer aus rotem Backstein um den Friedhof der St. Paul’s Episcopal Church. Hier waren sie beide getauft worden, hier hatten sie geheiratet und ihre Söhne zu Grabe getragen. Noah hatte in dieser Kirche als Gemeindepfarrer gedient, bevor ihr früheres Leben zu Ende gegangen war.

Sie stellte den Motor ab und ließ die Hände neben sich auf das weiche Leder des Sitzes sinken. «Ich dachte, du wolltest vielleicht die Gräber deiner Eltern sehen. Ich weiß …» Sie stockte kurz. «Ich weiß, es ist fünf Jahre her, aber du hast die Grabsteine noch nicht gesehen, und ich dachte, du –»

«Nein.»

Seine abrupte Antwort ließ Mallory mitten im Lied verstummen. Als Rachel im Rückspiegel sah, wie die Unterlippe ihrer kleinen Tochter zitterte, wurde sie wütend.

«So kannst du nicht mit mir reden, Noah», flüsterte Rachel entschieden. «Nicht, nachdem …» Sie wandte den Blick ab und wusste nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.

«Tut mir leid.» Er senkte den Blick etwa auf Höhe seiner Knie, und seine Arme spannten sich um seine Sporttasche. «Entschuldige, aber ich will einfach nur nach Hause. Ist das so viel verlangt, Rachel?»

Einen Augenblick lang saß sie da, starrte die Backsteinmauer an und dachte an die einfachen Grabsteine auf der anderen Seite, während Arthur the Aardvark ein weiteres Weihnachtslied herausplärrte. Joanne und Mark fehlten ihr noch immer, und sie wusste, dass auch Noah sie vermisste.

Doch welches Recht hatte sie, ihm vorzuschreiben, wie er zu trauern hatte – sie als Mutter, die nicht einmal die Gräber ihrer eigenen Kinder besuchte?

Sie ließ den Motor an, setzte zurück und sprach erst weiter, als sie in die lange, mit zerkleinerten Austernschalen aufgeschüttete Einfahrt des Gehöfts bog, in dem sie und Mallory lebten, knapp fünf Kilometer von der Stadt entfernt.

Auf dem vertrauten, gewundenen Fahrweg hätte sie Noah schon fast erzählt, dass die Rebstöcke zu beiden Seiten der Straße sich dieses Jahr prächtig entwickelten. Sie wollte ihm sagen, dass aus der neuen Hybride jener ausgezeichnete Pinot Noir werden konnte, von dem seine Eltern immer geträumt hatten. Sie brachte es aber nicht über sich, nun, da der Hof bald zum Verkauf anstand und sie sich unweigerlich mit dem Stapel ungeöffneter Antwortschreiben auf ihrem Schreibtisch würde auseinandersetzen müssen, die sie von den Weingütern in Pennsylvania und New York erhalten hatte, bei denen sie sich um eine Stelle beworben hatte.

Noah schloss die Augen und umklammerte die Sporttasche auf seinem Schoß. Er brachte es einfach nicht über sich, den Blick über die langen, anmutigen Reihen junger, knospender Rebstöcke schweifen zu lassen. Er hatte Tage, Wochen, Monate vor seiner Entlassung von diesen ordentlichen Reihen geträumt, und nun konnte er sie nicht einmal ansehen. Wollte es nicht. Er hatte nicht das Recht, die Freude ihres Anblicks zu genießen, hatte überhaupt kein Recht auf Freude mehr, ebenso wenig wie er das Recht hatte, den heiligen Boden des Friedhofs zu betreten.

Erst das Bellen eines Hundes ließ Noah die Augen öffnen. Er kannte dieses Gebell. Chester. Zu seiner eigenen Verwunderung musste er lächeln. «Er lebt noch», murmelte er.

Rachel hielt vor der einzeln stehenden Garage unmittelbar hinter dem in Cremeweiß und Blau gehaltenen viktorianischen Gutshaus an. «Ja, er lebt noch. Abzüglich eines Beins.»

«Wieso das?»

«Ea ist in eine Fawwe», erklärte das kleine Mädchen auf dem Rücksitz. Es waren ihre ersten Worte, seit er Rachel angeherrscht hatte. «Dr. Mawy hat es abgeschnitten.»

Noah schaute über die Schulter in das kleine Engelsgesicht. Sie hatte Rachels grüne Augen, war ganz offensichtlich Rachels Kind. Aber nicht seines, denn seine Kinder – seine und Rachels Kinder – lagen auf dem Friedhof neben seinen Eltern.

Zu seiner eigenen Verblüffung hatte Noah einen Kloß im Hals – und das, obwohl er schon geglaubt hatte, jeden Rest von Gefühl verloren zu haben. «Was ist mit Chester passiert?», fragte er Rachel, um nicht darüber nachdenken zu müssen, wer Mallorys Vater war.

Rachel war um den Wagen gegangen, um die hintere Tür zu öffnen und das kleine Mädchen aussteigen zu lassen.

«Ist in eine Fawwe für Bisamwatten gekommen», erklärte Mallory sachlich, während sie die Arme hob, damit ihre Mutter den Sicherheitsgurt ihres Kindersitzes öffnen konnte. Noah sah, dass sie kurze Jeans trug mit einem rosa Ballettröckchen darüber sowie flauschige lila Hausschuhe.

Noah blickte Rachel an. «Stellt der alte Tewes immer noch seine unerlaubten Fallen auf?»

«Jetzt nicht mehr.» Sie hob den Gurt über den Kopf des Mädchens, und das Kind sprang unter dem Arm seiner Mutter hindurch aus dem Wagen. «Snowden hat ihn eingebuchtet.» Sie griff nach Matties Gurt und schnallte ihn ab. «Komm, Mattie. Geh mit Mallory ins Haus», bat sie mit sanfter Stimme.

«Snowden hat den Mumm, einen Tewes einzusperren?»

«Offensichtlich.» Sie schaute ihn über den hellbraunen Ledersitz an. «Er ist jetzt Chef der hiesigen Polizei.»

«Snowden Calloway ist Polizeichef?», murmelte Noah vor sich hin. «Und ich dachte immer, so weit kommt es nie.»

Sie zuckte mit den Schultern. «Warum sollten nicht auch in Stephen Kill Minderheiten eine Chance bekommen?»

Der dunkelhäutige Snowden Calloway war aus einer nichtehelichen Beziehung der Stadtbibliothekarin Tillie Calloway mit einem unbekannten Schwarzen hervorgegangen, was in manchen Kleinstädten im Süden Delawares noch immer als unverzeihliche Sünde galt. Auch wenn die Bürger von Stephen Kill ihre Vorbehalte gegen Tillie wegen ihres Fehltritts und gegen Snowden wegen seiner Hautfarbe nicht offen zur Schau trugen, hatte Noah nach seiner Rückkehr aus dem College in Kalifornien doch feststellen müssen, dass diese Vorurteile weit über pure Bigotterie hinausgingen.

Rachel stieg aus und schlug die Tür zu.

Kein Puffer mehr zwischen ihm und ihr.

Noah blieb trotzdem noch im Volvo sitzen. Er hörte, wie der Hund bellte und Rachel Mattie etwas zurief, und sah das Mädchen mit dem Zopf die Stufen zur Haustür hochsteigen. Natürlich konnte er hier nicht ewig sitzen bleiben, doch er wusste einfach nicht, was er nach dem Aussteigen tun sollte.

Die Vorstellung, nach über fünf Jahren Haft wieder frei zu sein, war ihm noch immer nicht ganz geheuer.

«Kommst du?», rief Rachel von der Veranda.

Als Noah die Tür öffnete, lief der alte Chesapeake Bay Retriever, der Hund seines Vaters, aufgeregt schnaufend auf ihn zu. Zu seinem Erstaunen legte das betagte Tier trotz seines Alters und des fehlenden rechten Hinterbeins noch immer ein beachtliches Tempo vor.

«Hey, Junge.» Noah tätschelte seinen Kopf und kratzte ihn hinter den Ohren. Der Hund hechelte voller Wonne und legte sich auf Noahs Schuhe, wie er es immer schon getan hatte. «Guter Junge, guter Chester.»

Noah sah Mattie auf der Veranda stehen. Er ließ seine großen Hände baumeln und trug dasselbe, was er beim letzten Mal getragen hatte, als Noah ihn gesehen hatte – dasselbe, was er in den letzten zwanzig Jahren vom Frühling bis in den Herbst getragen hatte, sofern die Temperaturen es zuließen: ein weißes T-Shirt, eine khakifarbene Arbeitshose, billige Sportschuhe und eine marineblaue Baseballkappe. Jede Baseballkappe tat es für ihn, solange sie nur marineblau war.

Matties Blick brach Noah fast das Herz. Sein Gesicht spiegelte selten Gefühle wider, aber nun merkte Noah, wie aufgewühlt Mattie seinetwegen war. «Hallo, Mattie.»

Jahrelang war man nicht sicher gewesen, wie viel Mattie McDonnell begriff, weil er schon geistig behindert auf die Welt gekommen war. Noah aber wusste aus Erfahrung, dass Mattie weit mehr verstand, als er durchblicken ließ, und mehr, als andere ihm zutrauten. Nachdem man bei Mattie, der nur zwei Jahre jünger war als Noah, eine sogenannte Inselbegabung diagnostiziert hatte, waren die beiden zusammen aufgewachsen, und nach dem Unfalltod von Matties Vater war Noah für Mattie zu einer Art Betreuer geworden. Noah und Mattie hatten viel gemeinsam erlebt, und obwohl Mattie stumm war, hatten sie im Lauf der Jahre gelernt, sich zu verständigen. Noah schuldete Mattie mehr, als er ihm im Augenblick zurückgeben konnte, und Matties Blick zeigte ihm, dass dieser ihn zumindest ein bisschen verstand.

«Du hast mir gefehlt, Mattie», sagte Noah schlicht, während er in Chesters Begleitung auf das Haus zuging.

Mattie starrte ihn nur mit großen braunen Hundeaugen an. Er sah wesentlich älter aus als beim letzten Mal, als Noah ihn gesehen hatte. Sein Gesicht war markanter geworden, sein braunes Haar – ähnlich wie das von Noah selbst – mit Grau durchsetzt, und er hatte Gewicht zugelegt. Er war mit seiner gedrungenen Figur bei einem Meter achtzig Größe schon immer recht stämmig gewesen, doch nun wirkte er noch massiger, noch weicher.

«Du hast mich auch vermisst, stimmt’s?» Noah hätte ihn am liebsten umarmt, ließ es dann aber doch bleiben.

Das Quietschen der Fliegengittertür riss Noah aus seinen Gedanken. «Tee?», fragte Rachel und hielt zwei Gläser hoch.

Noah nickte.

«Geh rein zu Mrs. Santori, Mattie», sagte Rachel. «Sie hat Plätzchen für dich und Mallory.» Als er zögerte, sichtlich hin und her gerissen zwischen den Plätzchen und Noah, hob Rachel das Kinn in Richtung der soeben wieder zugefallenen Fliegengittertür. «Geh schon, bevor Mallory sie allein isst!»

Noah sah zu, wie Mattie an ihm vorbeischlurfte. «Dann sind Consuelo und Mateo also noch hier?»

Sie ging an ihm vorbei auf die großen Schaukelstühle an der Ecke der Veranda zu. «Sicher. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das alles allein geschafft hätte?»

Sie schaute ihn nicht an, aber er sah, wie sie unter dem engen, pfirsichfarbenen T-Shirt die Schultern straffte. Sie war dünner als in seiner Erinnerung und wirkte irgendwie zerbrechlicher, doch ihr Gesicht hatte sich nicht verändert. Mit ihrem schulterlangen honigblonden Haar und ihren grünen Augen war sie jetzt, mit vierzig, ebenso schön wie damals mit vierzehn, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte.

«Wohl kaum.» Er folgte ihr zu den Stühlen, ließ seine Sporttasche fallen und setzte sich auf die Kante des Schaukelstuhls seines Vaters – hauptsächlich, weil ihm nichts Besseres einfiel. Noch nie im Leben war er so nervös gewesen. Seltsam, was die Zeit, ein Doppelmord und eine Gefängnisstrafe aus einem Mann machen konnten.

Rachel stellte eines der Gläser auf einen hölzernen Tisch zwischen die beiden Stühle und nahm einen Schluck, als sie sich in den Schaukelstuhl seiner Mutter sinken ließ.

«Mallory ist sehr hübsch.» Er nahm das Glas, das sie ihm hingestellt hatte, und nippte an dem süßen Tee. Er schmeckte wie der seiner Mutter.

«Und vor allem klug», ergänzte sie.

Als sie ihn ansah, lag in ihren Augen eine Mischung aus Stolz und etwas anderem, das er nicht definieren konnte. War es Angst? Vor ihm? Er hoffte, dass dem nicht so war.

Er hielt das genoppte, bernsteinfarbene, angenehm kühle Glas zwischen den Händen und ließ den Blick über den Gemüsegarten schweifen. Er war nicht mehr in Reihen bepflanzt, wie bei seiner Mutter und vor ihr seiner Großmutter, sondern bestand aus Hochbeeten. Viel war noch nicht angepflanzt, aber auf einem der Hochbeete spitzten unter Plastikfolie bereits die ersten grünen Sämlinge aus dem Boden. «Ich wusste nicht, dass du eine Tochter hast, Rachel.»

Sie blickte in Richtung Garten, lehnte sich in den Stuhl zurück und begann zu schaukeln. «Weil ich nicht wollte, dass du es erfährst.»

Er starrte auf die graugestrichenen Holzdielen der Veranda und wusste nicht, was er entgegnen sollte. Er wollte sie natürlich fragen, wessen Kind Mallory war, aber angesichts der Umstände hatte er kein Recht dazu. Ein kurzer Blick auf ihre linke Hand verriet ihm, dass sie keinen Ehering trug. Der mit dem keltischen Liebesknoten, den er ihr gegeben hatte, war natürlich längst weg, aber er war nicht durch einen anderen ersetzt worden.

Er schwieg einen Augenblick, obwohl er nur mühsam seine Neugier unterdrücken konnte, und wechselte dann das Thema. «Mattie ist bei dir. Kommt er öfter?»

«Er wohnt hier.»

«Er wohnt hier?» Sie schauten einander kurz in die Augen, bevor er den Blick abwandte.

Mattie hatte im Untergeschoss der Kirche gewohnt, erst mit seinem Vater, dann allein. Er hatte jahrelang in der Obhut der Kirchengemeinde von St. Paul’s gelebt, aber Noah war für ihn verantwortlich gewesen, und somit hatte Noah ihn ebenso im Stich gelassen, wie er Rachel im Stich gelassen hatte.

«Er war nach deiner Verhaftung am Boden zerstört. Untröstlich.» Ihre Stimme war ausdruckslos und ohne jedes Gefühl – seine geliebte Rachel, die einst so voller Leben, voller Emotionen gewesen war. Voller Freude. Und er musste sich für den Rest seines Lebens vorwerfen, ihr das angetan zu haben.

«Keiner konnte etwas mit ihm anfangen», fuhr Rachel fort. «Dem neuen Pfarrer konnte man ihn nicht einfach aufhalsen, also hat man ihn der staatlichen Fürsorge übergeben. Sie haben ihn dann in ein Heim im Westteil des Landkreises gesteckt, aber das ging nicht gut.»

«Und warum nicht?»

«Er lief immer wieder weg. Dann haben sie ihn in ein anderes Heim in Kent verlegt, in der Hoffnung, er würde bleiben, wenn er die Landschaft nicht mehr erkennt. Aber nach drei Tagen fand er irgendwie den Weg zurück nach Stephen Kill. Wie, weiß kein Mensch. Er war verdreckt und verängstigt.»

«Und dann hast du ihn aufgenommen?»

«Die Behörden wussten nicht, was sie mit ihm machen sollten. Sie schlugen eine Art Heim in New Jersey vor, aber das klang für mich allzu sehr nach geschlossener Anstalt. Er hätte dort nicht Orgel spielen können, und du weißt ja, wie viel ihm das bedeutet; also habe ich die Behörden überredet, mich als seinen Vormund einzusetzen.»

«Das war lieb von dir, Rachel.»

Sie runzelte die Stirn. «Schwer war das nicht. Schließlich wollte ihn sonst keiner haben.» Sie schwieg einen Augenblick, verloren in ihren Gedanken. «Nach ein paar Problemen am Anfang hat er sich hier ganz gut eingelebt. Wir versuchten es erst mit einem normalen Zimmer im Haus, aber das gefiel ihm nicht. Da war nicht genug Platz für seine Bibelregale, und so haben wir ihm einen netten Raum im Keller der Scheune eingerichtet, der ganz ähnlich aussieht wie der Keller der Kirche.» Um ihren Mund spielte die Andeutung eines Lächelns. «Wir zogen ein paar Wände ein – du weißt ja, welche Angst er vor offenen Räumen hat –, und er bekam ein Bad, ein paar zusätzliche Steckdosen und ein Bett. Sieht nach nicht viel aus, aber für Mattie –»

«Ist es ein Zuhause», beendete er den Satz an ihrer Stelle.

Dann schwiegen sie wieder und nippten an ihrem Tee.

«Hast du … wieder geheiratet?», fragte er nach einer Weile. Seine Stimme klang seltsam in seinem Kopf, weit entfernt.

«Nein.» Sie schaukelte weiter und trank von ihrem Tee. «Hatte auch nicht viel Zeit für Männer. Du weißt ja, wie viel Arbeit das hier macht, und das blieb alles an mir hängen. Ich habe lange alles ganz allein gemacht, Noah. Wenn die Santoris nicht gewesen wären –»

«Ich weiß», unterbrach er sie. «Danke.» Das war nicht sehr originell, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er hatte so lange wie unter einer Eisschicht gelebt, dass er sich wie betäubt vorkam. Er hatte verlernt, sich auszudrücken. Und er war nicht einmal sicher, dass es in ihm noch etwas gab, was auszudrücken sich lohnte, seien es Gefühle oder Meinungen.

Sie stellte ihr Glas ab. «Ich fand, ich war es Joanne und Mark schuldig. Nach der ganzen Arbeit, die sie vierzig Jahre lang hier reingesteckt hatten, konnte ich doch nicht alles verkommen lassen. So kriegst du einen besseren Preis, wenn du verkaufst.»

«Ich verkaufe nicht.» Die Entschlossenheit in seinem Tonfall verblüffte ihn selbst.

«Du willst nicht verkaufen?» Sie sprang aus ihrem Stuhl auf, lehnte sich an das lackierte Geländer der Veranda und schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans. «Was soll das heißen?»

Nun zuckte er die Achseln. «Ich verkaufe nicht. Nachdem ich jetzt nicht mehr in der Gefängniswerkstatt angestellt bin, brauche ich schließlich einen neuen Job.» Der Witz hielt sich in Grenzen. «Ich dachte, ich kümmere mich um die Reben. Vielleicht mache ich sogar wieder eigenen Wein, statt die Trauben nur zu verkaufen.»

Nach dem Mord an seinen Eltern war er nicht in der Lage gewesen, im Herbst mit der Weinherstellung zu beginnen, und hatte die gesamte Ernte an einen Winzer im Süden Pennsylvanias verkauft. Zu diesem Zeitpunkt war ihr zweiter Sohn Isaac bereits tot und sein eigenes Leben ein Scherbenhaufen gewesen.

«Du kannst keinen Wein machen», erklärte sie und blickte ihn fassungslos an. «Du bist Alkoholiker.»

«Ich stelle einen Verkoster ein.»

Sie stöhnte, umklammerte das hölzerne Geländer mit ihren schlanken Händen und wandte den Blick ab. «Das ist keine gute Idee, Noah. Ein Alkoholiker sollte sich nicht mit Alkohol umgeben … jedenfalls nicht, wenn er trocken bleiben will.»

Er lehnte sich im Schaukelstuhl zurück. Nun, da er es ausgesprochen hatte, war er umso entschlossener. «Hübsches Büßerhemd, wenn du mich fragst.»

Sie schaute ihn mit Wut in ihren grünen Augen an. «Ich werde nicht zusehen, wie du dir das antust. Ich gehe. Ich habe mehrere Angebote.»

«Das tut mir leid.» Er beugte sich auf seinen knochigen Knien vor und verschränkte die Finger, fast wie im Gebet. Nein, nicht wie im Gebet; nie mehr.

«Das war’s dann also?» Rachel verschränkte die Arme vor der Brust, den Blick abgewandt, um ihm dann direkt in die Augen zu blicken. «Keine Diskussion?»

«Glaubst du vielleicht, sie geben mir meinen alten Job in der Kirche wieder?» Er schwieg einen Augenblick lang und sah sie an. «Wohl eher nicht», sagte er, als sie nicht antwortete.

«Du hast doch gesagt, du wärst trocken und wolltest das auch bleiben.»

«Ich bin trocken und will trocken bleiben. Ich weiß bereits, wann sich die Anonymen Alkoholiker treffen. Dreimal wöchentlich mittags in der Elk’s Lodge. Und natürlich einmal die Woche in St. Paul’s, aber das wäre vielleicht nicht so gut.»

«Und dein Betreuer findet die Idee gut?»

«Nein, aber er hat auch keinen Job für mich.»

«Noah, das ist doch Wahnsinn.» Sie ließ die Hände sinken und trat einen Schritt auf ihn zu. «Du hast doch einen Master-Abschluss –»

«In Theologie», unterbrach er sie. «Und für Pfarrer, die getötet haben, sind nicht allzu viele Stellen frei.»

«Sag das nicht.» Sie schloss die Augen.

«Warum nicht? Es stimmt doch. Das gehört zu dem, was man bei den AA lernt – du musst dir die Wahrheit eingestehen, egal, wie schmerzhaft sie ist.»

«Ich muss mal nach Mallory sehen.»

Sie wollte gerade an ihm vorbei, und Noah stand so abrupt auf, dass er fast mit ihr zusammenstieß. Er wollte ihre Hand nehmen und ihr sagen, wie sehr ihm das, was er getan hatte, leidtat, aber es hätte so pathetisch und unangemessen geklungen, dass er sie vorbeiließ.

Kapitel 2

Das Abendessen kam ihm endlos vor, so unwohl fühlte Noah sich. Er war dankbar, als Rachel sich mit der Bemerkung entschuldigte, sie müsse für Mallory das Badewasser einlassen. So blieben Noah und Mattie allein in der großen Wohnküche zurück, um den Tisch ab- und den Geschirrspüler einzuräumen. Mrs. Santori hatte Huhn, frischen Spargel und neue Kartoffeln aufgetragen, sich dann aber entschuldigt, um mit ihrem Mann zu essen, wie sie es seit Jahren tat. Sie hatte Noah seit seiner Ankunft die kalte Schulter gezeigt und war zwar höflich, aber distanziert geblieben, doch das hatte er nicht anders erwartet. Ihm war klar, dass die sechzigjährige Mrs. Santori ihn für den Tod seiner Eltern verantwortlich machte – egal, was andere sagten.

Einen Augenblick lang saß Noah einfach nur da, starrte die blauweiß karierte Tapete an und lauschte Mallorys Geplapper, während ihre Mutter sie hinausführte. Er wusste nicht, was ihn davon abhielt aufzustehen – abgesehen davon, dass er schon lange kein Essen mehr erlebt hatte, nach dem er sich ohne Zustimmung eines bewaffneten Wärters erheben durfte.

Er stand so langsam auf, als erwarte er, von einem Dutzend Augenpaaren dabei beobachtet zu werden. «Hey, Mattie, ich habe die Orgel im Wohnzimmer gesehen. Spielst du immer noch jeden Sonntagmorgen?» Er stellte seinen schmutzigen Teller auf den von Rachel. Das Essen hatte köstlich geduftet, das beste seit … fünf Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen, aber es hatte ihm wie Sägemehl im Mund gelegen. Weder er noch Rachel hatten allzu viel gegessen.

Gemächlich wie ein Berg erhob sich Mattie von einem der zierlichen antiken Stühle, die Rachel restauriert hatte, und legte Messer und Gabel sorgsam auf seinen Teller. Mattie lernte langsam, aber hatte er einmal etwas begriffen, konnte er es wieder und wieder auf die immer gleiche Weise tun, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Er nickte.

«Das ist gut. Du weißt ja, dass mir dein Spiel immer gefallen hat. Viel besser als das von Mrs. Long, die manchmal ziemlich daneben greift, nicht wahr?» Ohne eine Antwort zu erwarten, trug Noah die beiden Steinzeugteller mit dem bunten Kinderteller obendrauf zum Spülbecken. Seine Entlassung aus dem Gefängnis hatte Mallory offenbar nicht den Appetit verschlagen, denn ihr Teller sah aus wie abgeleckt von dem Hund, der gerade an der Hintertür darauf wartete, eingelassen zu werden.

Noah stand am Spülbecken, kratzte die Essensreste in das Eimerchen auf der Küchenarbeitsplatte und spülte die Teller unter fließendem Wasser vor. Mattie schlurfte auf seine langsame, schwerfällige Art vom Tisch weg, stellte seinen Teller auf die Arbeitsplatte und schleppte sich dann zum Tisch zurück, um die Teegläser zu holen.

«Hör mal, Mattie, es tut mir echt leid, dass ich dich so plötzlich verlassen habe und so lange weggeblieben bin.» Noah stieß die Luft aus und suchte nach den richtigen Worten, während er über dem Spülbecken aus dem offenen Fenster schaute. Es war fast dunkel, und er sah, dass aus den kleinen Kellerfenstern der Scheune, unter der Mattie schlief, Licht drang. «Und ich weiß … ich weiß, dass du wahrscheinlich nicht alles verstehst, was geschehen ist, aber ich …» Er schaute über die Schulter auf Mattie, der auf halber Strecke zwischen Tisch und Spülbecken stand, ein Glas in jeder Hand, und auf den Boden vor sich starrte.

Mattie hörte zu.

«Was ich getan habe, war falsch, Mattie. Es … es war schrecklich. Unverzeihlich.» Noah blieben die Worte im Hals stecken. Er schluckte. «Aber ich kann es nicht ungeschehen machen, versteh das bitte. Ich kann nur von vorn anfangen, und ich verstehe, wenn du böse auf mich bist, aber … ich hoffe trotzdem, dass wir wieder Freunde sein können.» Er betrachtete den Mann, der angeblich einen IQ von allerhöchstens fünfzig hatte. «Ich brauche dich, Mattie. Ich brauche einen Freund.» Noah nahm ihm die schmutzigen Gläser aus der Hand und suchte Matties Blick. «Könntest du dir vorstellen, wieder mein Freund zu sein?»

Mattie hob langsam seine schweren Lider. Er nickte nicht, schüttelte aber auch nicht den Kopf.

Noah rang sich ein Lächeln ab. «Denk darüber nach, ja?»

Mattie schlurfte zum Tisch zurück, um Mallorys zu ihrem Teller passenden Plastikbecher mit den maskierten Comicfiguren zu holen. Als Noah sich wieder zum Spülbecken umdrehte, hatte er das Gefühl, als sei ein klein wenig von der Last abgefallen, die er schon so lange mit sich herumschleppte, dass er sich viel zu sehr an sie gewöhnt hatte.

 

Mallory saß nackt in der halbvollen Badewanne, packte einen Gummihai, drückte ihn unter Wasser und schüttelte ihn so heftig, als ginge es um Leben oder Tod. «Wea ist dea Mann, Mama?»

Rachel zog sich ein Stück zurück und hob die Hände, um nicht nass gespritzt zu werden, aber vergeblich. «Ich habe dir doch gesagt, dass er Noah heißt und das Weingut und das Haus ihm gehören.»

«Ich dachte, das Weingut gehört Oma und Oma Himmew.»

«Früher schon», antwortete Rachel geduldig. Sie hatte schon vor einem Jahr aufgegeben zu erklären, dass es Opa und Oma im Himmel hieß und Himmel nicht ihr Nachname war. «Aber jetzt gehört es Noah.»

Das kleine Mädchen hob den Spielzeughai aus dem Wasser und blickte mit einer für ihr Alter ungewöhnlich ernsten Miene auf. «Wiww er mein Schwafzimma?»

Rachel schaute zur Seite und schüttelte den Kopf. «Nein.»

«Schwäft er dann in deinem?»

Mallorys unschuldige Worte schmerzten, und Rachel musste sich zusammennehmen, um sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass sich das, was Noah aus ihrem Leben gemacht hatte, auf ihre Tochter auswirkte. «Nein, Mallory. Er schläft unten im Gästezimmer.»

Mallory drückte den Hai erneut unter Wasser und ließ ihn auf eine Barbiepuppe zuschwimmen, deren Haar mit einer Kinderschere gekürzt worden war, die eigentlich nichts außer Papier hätte schneiden dürfen. «Im Gästezimma steht aber viel Müww.»

«Zimmer, Mallory. Zimmer, und den Müll räume ich natürlich weg.» Rachel griff nach dem milden Kindershampoo, das nach Ananas und Mango duftete. Mallorys Vorschullehrer hatte gemeint, die Kleine müsse endlich in logopädische Behandlung, aber Rachel war dazu noch nicht bereit, auch wenn Mallorys Unfähigkeit, r und l auszusprechen, sie in Augenblicken wie diesem ziemlich nervten. «Hast du die Haare gewaschen?»

Mallory versuchte vergeblich, die Kiefer des Hais um Barbies Kopf zu biegen, und schob dann einfach den Kopf der Puppe ins Maul des Hais. «Wird Noah mein Daddy?»

«Nein. Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn auf so etwas?» Rachel spritzte etwas Shampoo auf den kleinen, nassen blonden Kopf und verrieb es mit der freien Hand, bis es schäumte.

«Mawia hat auch einen Daddy bekommen, als ea aus dem Gefängnis gekommen ist.»

Rachel erstarrte. Maria war Mrs. Santoris Enkelin, die Tochter ihres nichtsnutzigen jüngsten Kindes Connie. Connie lebte im Jahr mit mindestens zwei verschiedenen Männern zusammen und zerrte ihre Tochter von einem heruntergekommenen Wohnmobil zum nächsten, wobei sie oft in dem alten Motel am Stadtrand vorbeischaute. Maria ging nur etwa jeden zweiten Tag in die Vorschule. «Was redest du da?» Rachel stellte die Shampooflasche ab und nahm einen Plastikbecher vom Badewannenrand. «Leg den Kopf zurück.»

Mallory tat es. «Mawias neua Daddy. Ea ist aus dem Gefängnis gekommen, wo wia Mistah Noah abgehowt haben.»

Rachel goss das Wasser über Mallorys Kopf. «Woher weißt du das?» Sie schnitt eine Grimasse und schöpfte einen neuen Becher Wasser aus der Wanne. «Und woher wusstest du überhaupt, dass das das Gefängnis war?»

«Es sah aus wie bei Shawshank Pension.»

«Du hast Shawshank Redemption gesehen?»

«Das ist Matties Wiebwingssendung.»

«Und dabei habe ich Mrs. Santori doch gesagt, dass sie besser aufpassen muss, was ihr beide im Fernsehen schaut.»

«Das war nicht Feansehen, das war DVD», erklärte Mallory.

«Mallory», stöhnte Rachel. «Eine DVD läuft auch über den Fernseher, und außerdem spielt das gar keine Rolle. Das ist kein Film für eine Vierjährige. Und jetzt steh auf.» Sie warf den Becher ins Wasser und nahm ein gefaltetes Handtuch vom Toilettensitz.

Mallory stand auf.

«Lass den Hai da.»

Das Mädchen ließ ihn platschend fallen. «Tschüs, Hai.»

«Und jetzt raus», kommandierte Rachel.

Mallory stieg aus der Wanne und ließ sich in ein großes grünes Badetuch einwickeln. «Mattie häwt mia bei den schwimmen Stewwen die Augen zu», sagte sie leise und blickte zu ihrer Mutter hoch. «Er weiß es wegen dea Musik.»

Als Rachel in die grünen Augen ihrer Tochter schaute, kamen ihr unerwartet die Tränen.

«Hast du Seife in den Augen?» Mallory nahm die Ecke des Badetuchs und streckte die Hand zum Gesicht ihrer Mutter hoch.

Rachel lachte und nahm ihre glitschige Tochter in den Arm. «Was wollen wir heute Nacht lesen? Ein Märchenbuch oder Harry Potter?»

«Nicht Hawwy, nicht ohne Mattie. Er mag Hawwy Potta.»

Rachel wollte Mallory schon fragen, wie sie wissen wollte, dass Mattie Harry Potter mochte. Der Mann konnte anderen kaum seine Grundbedürfnisse mitteilen, aber die beiden hatten eine merkwürdige, ganz besondere Beziehung, die da gewesen war, seit sie Mallory aus der Klinik nach Hause gebracht hatte, und sie hatte längst aufgegeben, das alles verstehen zu wollen.

«Also gut», gab sie nach und trug die Kleine durch den Flur zu ihrem Zimmer. «Aber wenn du willst, dass Mattie zum Vorlesen hochkommt, musst du ganz schnell deinen Schlafanzug anziehen und ihn holen. Mama ist müde und will auch ihren Schlafanzug anziehen.»

«Den mit den Schafen, Mama?»

«Mmm-hmm.»

«Hat Noah auch einen Schwafanzug mit Schafen?»

«Keine Ahnung.» Rachel betrat das Kinderzimmer und setzte ihre Tochter auf dem Boden ab. «Ist mir auch egal, und jetzt beeil dich.»

 

Noah musterte im Spiegel über dem Handwaschbecken der neben der Küche gelegenen Toilette sein blasses Gesicht. Er hatte sich am Morgen rasiert, aber schon wieder einen kräftigen Bartschatten, der ihn mit seinen hohlen Wangen und dem langen, schlechtgeschnittenen braunen Haar wie einen reichlich zwielichtigen Charakter aussehen ließ.

Aber für die meisten Leute war er das ohnehin – einer, den man am ehesten bei der Essensausgabe der Heilsarmee erwarten würde und der nur noch auf eine heiße Mahlzeit und einen trockenen Schlafplatz hoffte.

Er ließ das kalte Wasser laufen und holte Zahnbürste und Zahncreme aus der blauen Sporttasche, die er auf den Toilettensitz gestellt hatte. Er trug ein weißes T-Shirt und seine blauen Boxershorts aus dem Gefängnis, weil das alles war, was er zum Schlafen hatte. Morgen, wenn Rachel aus dem Haus ging, wollte er hoch in den Abstellraum gehen, der beim Bau des Hauses vor hundert Jahren als Kinderzimmer gedacht gewesen war. Dort hatten auch ihre Söhne für sehr kurze Zeit geschlafen.

Rachel zufolge standen dort einige mit einem N markierte Kartons, in denen er seine persönlichen Habseligkeiten – überwiegend Kleidung, wie er vermutete – finden würde. Er war so lange weg gewesen und sein früheres Leben mit Rachel so weit entfernt, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was sonst noch dadrin sein sollte.

Er starrte noch immer in seine schmerzerfüllten dunklen Augen im Spiegel, hielt seine Zahnbürste unter das Wasser und zog einen dünnen Strang Zahncreme über die Borsten. Alles in allem war der Tag, wie er fand, gar nicht so schlecht gelaufen. Nicht so gut, wie er gehofft hatte, aber auch nicht so schlecht, wie er es verdient gehabt hätte. Er steckte die Zahnbürste in den Mund und bewegte sie auf und ab, unfähig, den Blick von seinem Spiegelbild zu wenden.

Im Gefängnis hatte es keine echten Spiegel gegeben – nur kleine aus Metall, die ein gespenstisches, verschwommenes Spiegelbild erzeugten. Er hatte sie meist gemieden – vielleicht, weil er seltsam darin aussah, vielleicht auch, weil er sich selbst nicht in die Augen hatte schauen können.

Nun, nach fünf Jahren, erkannte er kaum mehr den Mann, der ihm da entgegenstarrte. «Pater Noah Gibson», murmelte er, spuckte ins Waschbecken und hob den Kopf, um sein Spiegelbild noch einmal zu sehen.

Plötzlich stieg ihm ein Geruch in die Nase, der ihn vor Angst erstarren ließ. Ein ebenso vertrauter wie unerwünschter Geruch.

Nicht schon wieder war der letzte Gedanke, der ihm noch bewusstwurde, bevor die Dunkelheit sich über ihn senkte.

 

Azrael wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter zu widersetzen. Widerstand war nicht nur zwecklos, sondern schmerzhaft. Seine Aufgabe war klar, Fragen waren überflüssig. Azrael wusste, was zu tun war, und auch warum, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Und was ihm nicht klar war, durfte er nicht hinterfragen. Welches Recht hatte schon ein Engel, Gott in Frage zu stellen?

Nur mit dem Mondlicht als Orientierungshilfe fuhr Azrael mit ausgeschalteten Scheinwerfern über die schmale, unbefestigte Einfahrt. Der Weg war holprig und brauchte dringend ein paar Schubkarren oder besser gleich eine ganze Lastwagenladung Kies, doch Johnny Leager hatte wahrscheinlich nicht das Geld für solche Ausbesserungsarbeiten – nicht als Arbeiter in der Fabrik, nicht einmal als Schichtführer.

Der Engel stellte den Wagen vor dem Haus ab und umrundete es. In seinen Taschen lag lediglich die Notiz, die er hinterlassen wollte. Für die Waffe würde Gott schon sorgen.

 

Johnny nahm sich eine Dose Bier, die im Kühlschrank der Garage hinter der Orangenlimonade versteckt war, und freute sich an dem Zischen, als er sie öffnete. Er hatte Stacy versprochen, weniger zu trinken, wenn sie weniger Tacos aß, und sie zog ihre Diät recht konsequent durch; somit war es nur recht und billig, dass auch er seinen Bierkonsum einschränkte. Was aber nicht hieß, dass sich ein Mann an einem Freitagabend, wenn Frau und Kinder schon im Bett waren, nach einem langen Arbeitstag nicht ein Bierchen genehmigen durfte.

Er schaltete das Garagenlicht aus und trat in den Hinterhof hinaus, der von einem Sicherheitslicht an der hinteren Ecke des eingeschossigen Hauses erhellt wurde. Allmählich sah das alles recht ordentlich aus. Aufgrund der Gehaltserhöhung nach seiner Beförderung in der Fabrik hatte er einen Kredit bekommen und Stacey die neue Wohnzimmereinrichtung und den Heimtrainer kaufen können sowie das Material für die neue Veranda. Vielleicht konnten sie nächstes Jahr sogar eine Badewanne mit Heißwasser einbauen. Wenn Stacy weiter so abnahm, bis sie wieder richtig scharf aussah, konnte es lustig werden, mit ihr in die Wanne zu springen, sobald die Kleinen im Bett waren.

Johnny nippte an seinem Bier, ging über die Veranda und atmete den Geruch des frischgesägten Holzes ein. Er setzte sich auf den Gartenstuhl vor dem Backsteingrill, den er gerade mauerte, lehnte sich zurück und streckte die Füße aus. Im Licht der Sicherheitsleuchte konnte er die bereits fertigen Teile – Sockel und Rückwand – sehen. Es würde ein gutes, stabiles Stück werden – groß genug für ein Spanferkel und optimal zum Zubereiten von Burgern, Rippchen und Würstchen bei gemeinsamen nachmittäglichen Grillpartys mit der Familie von Staceys Bruder.

Als er die Bierdose abstellte und zu den Umrissen des Schaukelgestells hinüberschaute, hatte er plötzlich einen Kloß im Hals. Kaum zu glauben, dass er um ein Haar so dumm gewesen wäre, all das aufs Spiel zu setzen. Gut, dass er noch zur Besinnung gekommen war.

Er trank den letzten Rest Bier aus. Er musste ins Bett, weil er früh aufstehen wollte. Johnny jr. musste zum Basketballtraining, und er hatte Stacey versprochen, ihn hinzufahren, damit sie in den Aerobic-Kurs gehen konnte.

Johnny freute sich schon auf den Samstag. Er würde seinen Sohn zu ihrem Lieblingsfrühstück – Eier, Speck und Pfannkuchen – ausführen, ihn dann zum Training fahren und danach an seinem Grill weitermauern. Er hatte noch genug Backsteine, musste aber unterwegs noch Mörtel besorgen.

Plötzlich sah er am Rand des Grills etwas Weißes flattern. Hatte er dort eine Baumarktquittung liegenlassen? Stacey hob immer alle Belege auf für den Fall, dass sie sie irgendwie steuerlich absetzen konnten.

Er stand auf und zerdrückte die Bierdose in der Hand, während er über die Veranda ging. Der Lichtschein der Sicherheitslampe reichte nicht ganz bis zum Gartengrill. Er griff nach dem Zettel, auf dem ein roter Ziegelstein lag. Er konnte sich nicht erinnern, einen Mauerstein liegengelassen zu haben, und es war auch keine Quittung. Er drehte sich zum Licht an der Hausecke und las mit dem Rücken zum Grill blinzelnd die handgeschriebene Notiz.

 

Begeht ein Mann mit der Frau eines anderen Mannes Ehebruch, müssen der Mann und die Frau hingerichtet werden.

 

«Was soll das?» Er ließ den Zettel fallen, als habe er sich daran die Finger verbrannt, während aus seiner anderen Hand die Bierdose klappernd zu Boden fiel. Dann schaute er über die Schulter auf die Kiefern hinter dem Schaukelgestell, als würde ihn jemand beobachten. War das ein schlechter Scherz?

Plötzlich pochte sein Herz, und sein Mund war ganz trocken.

Er sah den Backstein erst, als dieser nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Der Stein traf ihn mit voller Wucht an der Schläfe und ließ ihn nach hinten gegen die Rückwand des neuen Gartengrills taumeln. Als Johnny mit schmerzverzerrtem Gesicht nachsehen wollte, wer das verdammte Ding auf ihn geschleudert hatte, kam bereits ein weiterer Backstein geflogen, der ihn am Kinn traf. Stöhnend breitete er beide Arme aus, als ihn ein dritter Stein traf, dann noch einer und noch einer.

Einer krachte genau auf seine Nase. Er hörte das scheußliche Geräusch nachgebenden Knorpelgewebes und spürte, wie ihm das Blut aus der Nase schoss. Er versuchte noch, die Hand zu heben, um den nächsten Stein abzuwehren, doch der kam zu schnell und mit zu großer Wucht. Sein Kopf schlug gegen die Backsteinwand, und seine Beine gaben nach. Seine Jeans war nass. In seinem Kopf drehte sich alles, und er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, als er langsam zu Boden rutschte, den Rücken noch immer an der Wand. Er konnte nicht mehr weglaufen, die Angriffe nicht mehr abwehren. Ein weiterer Stein traf ihn an der Stirn; Blut spritzte, und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Kopf.

Während das Blut ihm in den Augen brannte, versuchte er blinzelnd die Gestalt zu erkennen, die auf der Veranda stand und noch immer Ziegelsteine nach ihm warf. Da der Halogenscheinwerfer seinen Angreifer nur von hinten beleuchtete, konnte Johnny nicht erkennen, wer es war. Durch den dünnen Blutfilm vor seinen Augen sah die Gestalt im Dunkeln, umgeben von einem gespenstischen Lichtschein, fast wie ein Engel aus.

Kapitel 3

Als Noah zu sich kam, fand er sich, barfuß und in Unterwäsche, neben Rachels Wagen auf dem kalten Betonboden der Garage wieder. Langsam setzte er sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, als erwache er gerade aus einem Vollrausch. Dabei hatte er seit fünf Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen keinen Tropfen mehr getrunken.

Die Fahrertür stand einen Spalt weit offen, und die Innenbeleuchtung warf Schatten auf den mit Farbspritzern verunzierten Betonboden. Das unablässige Klicken aus dem Wageninneren verriet ihm, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte. Er setzte sich auf, lehnte sich an die Hintertür des Wagens und ließ den Kopf hängen.

Nicht schon wieder ein Blackout, dachte er gequält, während ihm noch letzte Reste jenes eigenartigen, schrecklichen Geruchs in die Nase stiegen, der diese Bewusstseinsstörungen begleitete. Das konnte nicht wahr sein; sein letzter Blackout lag schon mehr als vier Jahre zurück. Er war sicher gewesen, dieses Problem hinter sich zu haben.

Doch niemand vergiftet seinen Körper ungestraft so, wie du es getan hast, sagte er sich. Niemand zerstört das Leben seiner Liebsten, ohne dafür zu büßen.

Er fragte sich, warum die Fahrertür offen war. Er stand auf, setzte sich hinters Steuer und drehte den Schlüssel, den Rachel offenbar im Zündschloss hatte stecken lassen. Das Klicken hörte auf, und die Digitaluhr im Armaturenbrett leuchtete auf: fünf nach zwölf. Etwa um zehn war er zum Zähneputzen ins Bad gegangen. Das war vor mehr als zwei Stunden gewesen. Wo war er in der Zwischenzeit gewesen?

Noah schloss die Augen und umklammerte das Lenkrad. Er hatte keinen Führerschein und konnte nicht einmal einen beantragen, bevor er nicht seine Geldstrafe bezahlt und einen wöchentlich stattfindenden Kurs absolviert hatte, den Leute wie er besuchen mussten. Bis dahin würde es noch mindestens ein Jahr dauern, eher länger.

Er drehte den Zündschlüssel auf «Aus», stieg aus und schloss die Tür. Sollte er die Hand auf die Motorhaube legen, um zu prüfen, ob der Wagen bewegt worden war?

Manche Dinge wusste man besser nicht.

Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging hinter dem Wagen herum, überquerte die Stelle, an der er einst seinen Pick-up abgestellt hatte, und verließ die Garage durch die Seitentür.

Draußen erhellte eines der vielen Sicherheitslichter auf dem Anwesen den Weg zur Eingangsterrasse. Die zerkleinerten weißen Muschelschalen stachen Noah in die Füße, und so beeilte er sich, die Stufen zu erreichen. Chester, der auf der Veranda neben der Tür schlief, hob den Kopf und musterte neugierig den barfüßigen Mann in Boxershorts.

Chester war im Haus gewesen, als Noah zum Zähneputzen ins Bad gegangen war; er erinnerte sich ganz genau daran, dass er im Flur gelegen hatte.

Langsam wie ein alter Mann stieg Noah die lackierten hölzernen Stufen hinauf. Er hatte also während seines Blackouts den Hund rausgelassen und war in die Garage gegangen. Warum, wusste er nicht. Und natürlich erinnerte er sich an nichts – ebenso, wie er sich in Bezug auf jene Nacht an nichts erinnerte, außer an den Streit, den er hier auf dieser Eingangsterrasse mit Rachel gehabt hatte, bevor er in seinen Wagen gestiegen und davongefahren war.

Chester stand auf und trottete schwerfällig auf Noah zu.

Als Noah ihm nicht sofort den Kopf tätschelte, legte der alte Hund ihm die Schnauze in die Hand.

«Schon gut», flüsterte Noah. «Liebt mich hier also doch noch einer.» Er gab dem Hund einen Klaps und kraulte ihn hinter den Ohren. Mit einem letzten Blick auf die Garage ging er, gefolgt von Chester, ins Haus. Dann verschloss er die Küchentür, bevor er durch den Flur ins Gästezimmer trat, ohne auch nur das Licht anzumachen. Seit fünf Jahren war er Nacht für Nacht in Gedanken über diese Dielen geschritten; er brauchte kein Licht.

 

Als Noah beim Aufwachen die vertrauten Frühstücksgeräusche im Haushalt der Gibsons vernahm, kam es ihm im Halbschlaf einen Moment lang vor, als sei das Leben so, wie es einmal gewesen war: er und Rachel ineinander verliebt, das ganze Leben vor ihnen. Er roch Mrs. Santoris starken Kaffee, vermischt mit dem himmlischen Duft gebratenen Fleisches. Samstag und Sonntag hatte Mrs. Santori immer ein großes Frühstück zubereitet, und nichts mochte Noah lieber als ihren Braten aus gehacktem Schweinefleisch.

Als er jedoch aufstand und Chester weckte, der neben der Tür schlief, drang die Realität allmählich wieder zu ihm durch. Er sah sich im Raum um: gestapelte Kartons; die alte Nähmaschine seiner Mutter sowie ihr Bügelbrett mit Sachen, die sie hatte flicken wollen; ein kaputter Stuhl; eine Leiter und Kisten mit Weckgläsern. Er hörte Rachel mit Mallory sprechen und das kleine Mädchen mit seiner niedlichen Stimme antworten.

Da er nichts anderes anzuziehen hatte, streifte Noah wieder die Jeans vom Vortag über und ersetzte das weiße T-Shirt wieder durch das grüne. Dann stieg er barfuß in die schwarzen Halbschuhe, die er im Gefängnis bekommen hatte, öffnete die Tür und ließ Chester hinaus.

Er ging kurz ins Bad, wo er seine Zahnbürste im Waschbecken fand und seine Sporttasche noch immer auf dem Klodeckel, und trat dann zögernd in die sonnendurchflutete Küche.

«Buenos, Señora Santori.»

«Buenos», antwortete sie schmallippig. «Ihr Frühstück, Señor.» Consuelo Santori lebte seit vierzig Jahren in den Vereinigten Staaten und sprach perfekt Englisch; nur wenn sie wütend war, kam ihr Akzent wieder durch. Sie stellte ihm einen Teller hin, der bereits mit Rührei, getoastetem Roggenbrot und Schweinebraten beladen war.

Noah lief das Wasser im Mund zusammen, als er sich auf den für ihn reservierten Stuhl setzte. Manchmal gab es diese spezielle Art von Braten auch im Gefängnis, aber er war nie so zubereitet, wie er es gerne hatte – so knusprig, wie Mrs. Santori ihn machte. Und Roggentoast … Er hatte ganz vergessen, wie köstlich frischgetoastetes und gebuttertes Roggenbrot schmecken konnte.

Er breitete seine Serviette auf dem Schoß aus und blickte zu Rachel, Mallory und Mattie hoch, die vor ihm bedient worden waren. «Habt ihr schon das Tischgebet gesprochen?», fragte er. Obwohl er selbst seit fünf Jahren kein Tischgebet mehr gesprochen hatte, war dieser Brauch in ihm verwurzelt seit der Zeit, als er jünger war als das kleine Mädchen ihm gegenüber.

«Wia spwechen kein Tischgebet», erklärte Mallory, während sie mit dem Strohhalm an einer Saftpackung sog. An diesem Morgen trug sie einen Cowboyhut aus rotem Filz und ein rosa Nachthemd. «Nua, wenn jemand zum Essen kommt.»

Rachel errötete.

Noah überraschte sie alle, auch sich selbst, indem er den Kopf zurückwarf und loslachte. Mattie erschrak dermaßen, dass er seine Gabel fallen ließ.

Rachel musste lächeln. «Was ist so lustig daran?» Sie schüttete Zucker direkt aus der Zuckerschale in ihren Kaffee.

Mrs. Santori brachte Noah seinen Kaffee, und er nickte dankend. «Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ihre Ehrlichkeit.» Er blickte zu dem Mädchen auf, dessen blondes Haar über den Ohren zu zwei kleinen Rattenschwänzen gebunden war, die unter ihrem Cowboyhut hervorstanden. «Ich habe wahrhaftig kein Recht, jemandem vorzuschreiben, ob er ein Tischgebet zu sprechen hat oder nicht.»

Rachel stand auf, den Kaffeebecher in der Hand, ohne ihr Essen angerührt zu haben. «Beeil dich, Liebes, sonst kommen wir noch zu spät zu deiner Reitstunde. Du bist ja noch nicht einmal angezogen.»

«Ich bin wohl angezogen.»

«Du weißt doch: nicht im Schlafanzug in die Scheune.» Sie wandte sich wieder Noah zu. «Ich bringe Mallory zum Reiten, setze Mattie in der Kirche ab, damit er für den Morgengottesdienst üben kann, und habe dann in der Stadt noch ein paar Sachen zu erledigen.» Sie drehte sich nicht um, als sie zur Tür ging, aber Noah wusste trotzdem, dass sie mit ihm sprach. «Wir sind bis zum Mittagessen zurück, und wenn du möchtest, kann ich dir danach zeigen, was wir aus dem Gut gemacht haben.»

Er nickte. «Das wäre schön.»

Die Fliegengittertür fiel hinter ihr ins Schloss, als sie auf die Veranda trat.

Mallory krabbelte von ihrem Stuhl herunter, ein Stück Schweinefleisch in jeder Hand. «Waate auf mich, Mama, waate!», rief sie, während ihre roten Cowboystiefel über den Hartholzboden klackerten. «Ich komme schon. Ich muss noch meinen Schwafanzug wechsewn. Beeiw dich, Mattie», rief sie über die Schulter.

Mattie bewegte sich so schnell er konnte, wischte gründlich seinen Teller mit einer halben Scheibe getoastetem Weißbrot ab und stopfte es in den Mund, während er aufstand. Er schob seinen Stuhl unter den Tisch, trug steif seinen Teller zur Spüle und nickte Mrs. Santori zu, wobei ihm sein babyfeines sandfarbenes Haar in die Augen fiel.

«De nada», antwortete sie lächelnd, als er aus der Tür schlurfte.

Allein mit Mrs. Santori in der Küche, nippte Noah verlegen an seinem Kaffee. Als er Butter auf seinen Toast strich, fiel ihm erst auf, dass er als Einziger am Tisch Roggenbrot aß. Sie hatte sich daran erinnert …

Die Erkenntnis machte ihn froh und traurig zugleich. «Gracias, Señora Santori», bedankte er sich und hielt einen gebutterten Toast hoch. «Für das Roggenbrot … und dafür, dass Sie sich um Rachel gekümmert haben.»

Sie ging zur gegenüberliegenden Tischseite und legte ihre kleinen braunen Hände auf die Lehne von Mallorys Stuhl. «Ich vermisse sie, Señor und Señora Gibson.»

Er nickte. «Ich auch», erklärte er mit gesenktem Blick.

Sie stand eine weitere Minute da und musterte ihn unverhohlen, bevor sie Mallorys Teller und Besteck zur Spüle trug.

Noah aß noch ein Stück Braten und schloss dabei vor Wonne die Augen. Der Geschmack von zu Hause. «Kann ich heute etwas für Sie tun, Consuelo?», fragte er. «Muss vielleicht irgendetwas repariert werden?»

«Der Wasserhahn tropft.» Sie deutete mit dem Kopf auf das Spülbecken. «Ich bitte meinen Mann schon seit zwei Jahren, es zu machen.» Sie winkte ab. «Er sagt jeden Tag sí, macht aber nichts.»

Noah musste lächeln. Consuelo und Mateo waren ein interessantes Paar. Sie war mindestens zehn Jahre älter als er, und die beiden stritten ununterbrochen, hingen aber so sehr aneinander, dass sie es nicht haben konnten, wenn ein Außenstehender den anderen kritisierte. In ihrer Familie gab Consuelo die Befehle, die Mateo weitestgehend ignorierte. Noahs Eltern hatten sie eingestellt, als Noah noch zur Highschool gegangen war; Consuelo sollte sich ums Haus kümmern und kochen und Mateo mit seinen Eltern im Weingarten arbeiten. Die Santoris waren seinen Eltern ebenso treu ergeben wie einander.

Als Noah mit dem Essen fertig war, ging er mit einer zweiten Tasse Kaffee zu Chester auf die Veranda hinaus. Er wollte sich gerade auf die oberste Stufe setzen, als er hörte, wie sich ein Auto näherte. Obwohl einige Jahre vergangen waren, erkannte er sofort den alten schwarzen Lastwagen und den bärtigen Mann, der den Arm aus dem Fenster hängen ließ, während er in den Hof fuhr.

Joshua Troyer nickte, lüpfte seinen schweißgeränderten Strohhut und rief ihm einen Gruß zu, als er den Wagen zum Stehen brachte.

Noah nickte zurück. «Morgen, Joshua.» Er stand auf und bot dem Mann, der schon Anfang sechzig war, die Hand. Obgleich Joshua Mennonit war, seit Noah ihn kannte, sah er noch immer wie ein Amish aus, kleidete sich wie ein Amish und sprach wie ein Amish. Das einzige Zugeständnis an das moderne Leben neben seiner «Abkehr von der Kirche», die er nur vollzogen hatte, um die Mennonitin Trudy Haan ehelichen zu können, war sein schwarzer Ford Pick-up Baujahr 77. Selbst die «modernen» Amish People in Delaware fuhren noch keine Autos, jedenfalls nicht zum persönlichen Gebrauch.

«Schön, dass du wieder zu Hause bist», sagte Joshua feierlich.

«Schöner, als du dir vorstellen kannst.» Noah war gerührt, dass Joshua gekommen war, um ihn willkommen zu heißen. «Willst du eine Tasse Kaffee?»

Joshua schüttelte den Kopf. «Keinen Durst. Wollte nur mal vorbeischauen. Muss zur Mühle.» Er strich sich über seinen braunen, mit grauen Strähnen durchsetzten Bart. «Hühnerfutter ist aus.»

Noah nickte.

Joshua nickte, spuckte auf den Boden und schaute in die Ferne. Er war kein Mann großer Worte.

Noah ahnte, dass Joshua etwas auf der Zunge lag, wollte ihn aber nicht drängen. Joshua mochte das ebenso wenig wie Mattie. Er würde schon sagen, was er zu sagen hatte, wenn er dazu bereit war.

«Hast du schon das Neueste aus der Stadt gehört?», fragte Joshua schließlich.

Noah nippte an seinem Kaffee. «Ich bin schon ewig nicht mehr in Stephen Kill gewesen, Josh.»

Joshua nickte und steckte die Daumen unter seine schmutzigen Hosenträger. «Hätt’ ja sein können.» Er legte eine weitere Kunstpause ein. «Das von gestern Nacht, meine ich.»

«Was war denn gestern Nacht?»

«Da ist einer gesteinigt worden.»

«Gesteinigt?» Noah starrte ihn verständnislos an. «Was meinst du damit?»

«Zu Tode gesteinigt.» Joshua schaute noch immer auf die Felder hinter dem Haus.

Noah trat einen Schritt zurück und setzte sich auf die zweite Stufe. «Das gibt’s nicht.» Er blickte auf. «Und wer?»

«Johnny Leager aus der Old Mill Road.»

Noah faltete einen Augenblick lang die Hände und hielt die Fingerspitzen aneinander. Er betete nicht, aber die alten Gewohnheiten waren schwer abzulegen. Johnny Leager war Mitglied seiner Kirchengemeinde gewesen. Er kannte ihn gut, ihn und seine ganze Familie. Johnny und Stacey hatten in ihrer Ehe einmal Probleme gehabt, und Johnny hatte ihn um Rat gefragt.

«Keiner weiß genau, was passiert ist», erklärte Joshua und betrachtete ihn aufmerksam. «Aber er soll mit Ziegelsteinen von seinem eigenen Haus getötet worden sein. Schädel eingeschlagen.»

Noah war sprachlos. Ein Mord in Stephen Kill? In der verschlafenen Kleinstadt war zuletzt vor dreißig Jahren jemand ermordet worden, bei einem Streit um Land zwischen zwei Betrunkenen mit Schusswaffen. Eine Polizeiwache gab es in dem Ort überhaupt erst seit fünfzig Jahren, und die stellte hauptsächlich Strafzettel wegen Falschparkens und Geschwindigkeitsüberschreitung aus und verfolgte unerlaubtes Betreten von und Jagen auf Privatgrund. Aber ein derart brutaler Mord … Noah konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer dazu fähig sein sollte. Jedenfalls keiner aus der Gemeinde; das konnte nur jemand von außerhalb getan haben.

«War es Raubmord?», fragte er, auch wenn er sich das nicht vorstellen konnte, da die Leagers nur knapp oberhalb der Armutsgrenze lebten, in einem dreißig Jahre alten Fertighaus auf einem sandigen Grundstück außerhalb der Stadt. Was hätte man denen schon stehlen können?

«Anscheinend weiß noch keiner, warum er sterben musste.» Joshua trat gegen das Vorderrad seines alten Lastwagens und spuckte aus. Er blieb noch kurz stehen und öffnete dann die Tür. «Wollte nur guten Tag sagen, Nachbar.»

«Danke.» Noah erhob sich von der Treppenstufe. «Ich weiß das sehr zu schätzen.»

«Muss schwer sein zurückzukommen.» Joshua stieg in den Wagen, knallte die Tür zu und ließ einen sonnengebräunten Arm aus dem Fenster baumeln. «Weiß nicht, wo du in die Kirche gehen willst, wollte dich nur einladen. In Gottes Augen sind wir alle Sünder, mein Sohn.»

Noah starrte auf seine Füße. Er hatte nicht die Absicht, die mennonitische Kirche von Stephen Kill zu besuchen, oder irgendeine andere, wollte Joshua aber nicht kränken, denn der war ein feiner Kerl und hatte ein gutes Herz. «Ich werde es mir merken.»

«Alles klar.» Joshua startete den Motor, setzte zurück bis vor die offene Garage und fuhr unter einem Hagel aufgewirbelter Muschelschalen davon, den Finger zum Gruß an seinem Strohhut.

Noah hob die Hand und blickte dem Lastwagen nach, bis er nicht mehr zu sehen war.