Doctor Sax - Jack Kerouac - E-Book

Doctor Sax E-Book

Jack Kerouac

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Beschreibung

Jack Kerouac nannte Doctor Sax, die rätselhafte Figur, die die Phantasien seiner Jugend heimsuchte, seinen Geist, Schutzengel, persönlichen Schatten und geheimen Liebhaber. In diesem bemerkenswerten autobiographischen Roman über ein Aufwachsen in Lowell, Massachusetts, erzählt durch sein fiktives Alter Ego Jack Duluoz, verwebt er reale Menschen und Begebenheiten mit phantastischen Figuren zu dem Stoff, aus dem seine Kindheit gewebt war – Spielen am Fluss und an Eisenbahnschienen, das Mitansehen von Leben und Tod an den Straßenecken – bis der Leser glaubt, selbst dort gewesen zu sein.

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Jack Kerouac

Doctor Sax

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Lutz Bormann

 

Über dieses Buch

Jack Kerouac nannte Doctor Sax, die rätselhafte Figur, die die Phantasien seiner Jugend heimsuchte, seinen Geist, Schutzengel, persönlichen Schatten und geheimen Liebhaber. In diesem bemerkenswerten autobiographischen Roman über ein Aufwachsen in Lowell, Massachusetts, erzählt durch sein fiktives Alter ego Jack Duluoz, verwebt er reale Menschen und Begebenheiten mit phantastischen Figuren zu dem Stoff, aus dem seine Kindheit gewebt war – Spielen am Fluß und an Eisenbahnschienen, das Mitansehen von Leben und Tod an den Straßenecken –, bis der Leser glaubt, selbst dort gewesen zu sein.

 

«Kerouacs bestes Buch.» (Time)

Vita

Jack Kerouac, am 12. März 1922 in Lowell/Massachusetts geboren, diente während des Zweiten Weltkriegs in der Handelsmarine, trampte später jahrelang als Gelegenheitsarbeiter kreuz und quer durch die USA und Mexiko und wurde neben William S. Burroughs und Allen Ginsberg der führende Autor der Beat Generation. Mit «On the Road» schrieb er eines der berühmtesten Bücher des 20. Jahrhunderts. Er starb am 21. Oktober 1969 in St. Petersburg/Florida.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1959 unter dem Titel «Dr. Sax: Faust Part Three» im Verlag Grove/Atlantic, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Dr. Sax» Copyright © 1959, 1987 by Jack Kerouac

Covergestaltung Anzinger & Rasp, München

Coverabbildung Sanghwan Kim/iStock

ISBN 978-3-644-00396-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Erstes Buch

Nächtliche Erscheinungen in Pawtucketville

1

Vor kurzem hatte ich nachts einen Traum, in dem ich auf dem Gehweg der Moody Street in Pawtucketville (Lowell, Massachusetts) saß, mit Papier und Bleistift in der Hand, und zu mir selbst sagte «Beschreibe den faltigen Teer auf diesem Gehweg, auch die eisernen Stäbe des Zauns vom Textilgewerbehaus, oder den Eingang, wo Lousy, du und G.J. immer saßen, und hör nicht auf, an Wörter zu denken, wenn du einhältst, dann halt besser ein, um dir das Bild vor Augen zu führen, – und laß dabei deinen Verstand aus dem Spiel».

Und davor kam ich den Hügel herunter zwischen der Gershom Avenue und jener gespenstischen Straße, wo Billy Artaud damals lebte, auf Blezans Eckgeschäft zu, wo die Kerls sonntags nach der Kirche rauchend und spuckend herumstehen, und Leo Martin zu Sonny Alberge oder Joe Plouffe sagt «Eh, batêge, ya faite un grand sarman s’foi icite» – («Heiliger Baltechismus, hat der heute lange gepredigt»), und Joe Plouffe, vorspringendes Kinn, klein, geschmeidig-kraftvoll, spuckt mittendrein ins Wackergestein des Gershompflasters und geht kommentarlos zum Frühstück nach Hause (lebte bei seinen Schwestern und Brüdern und der Mutter, weil der Alte sie alle an die frische Luft gesetzt hatte – «Laßt meine Knochen in diesem Regen zerweichen!» –, um ein Eremitendasein in der Dunkelheit seiner Nacht zu führen – altes schniefendes rotäugiges Kaputniksaufloch vom Viertel) –

Doctor Sax sah ich zum erstenmal in seiner früheren Gestalt in der damals katholisch geprägten Kindheit in Centralville – Sterbefälle, Begräbnisse, das Leichentuch all dessen, die düstre Gestalt im Winkel, wenn du durch die offene Tür den Sarg des Toten im Klagezimmer siehst, mit dem entsetzlichen Purpurgebinde am Eingang. Gestalten von Sargträgern, die in einer verregneten Nacht aus einem Haus kommen und einen Kasten tragen mit dem toten alten Mr. SYipe drin. Die Statue der Heiligen Teresa, die sich umsieht, in einem altmodischen katholischen Film der zwanziger Jahre mit der Heiligen Teresa, die mit einem jungen Glaubensheld im Auto durch die Stadt rast und à la W.C.Fields gerade noch die Kurve kratzt, während die Puppe (nicht die Heilige Teresa selbst, sondern die Heldin, die sie verkörpert) ihrem Heiligwerden entgegeneilt mit großen ungläubigen Augen. Wir hatten eine Statue der Heiligen Teresa in unserem Haus – auf der West Street sah ich, wie sie sich nach mir umdrehte – im Dunkeln. Auch davor schon, die Entsetzen ob eines Jesus Christus der Passionsspiele in seinen Leichentüchern und Gewändern des traurigsten Verhängnisses Menschheit im Kreuz Tränen für Diebe und Armut – er stand am Fußende meines Betts und stieß dagegen in einer dunklen Samstagnacht (an der Ecke Hildreth und Lilley in der Wohnung auf der zweiten Etage und rundherum nichts als Ewigkeit) – entweder Er oder die Jungfrau Maria bückten sich mit phosphoreszierenden Umrissen und Grauen, das gegen mein Bett stieß. In derselben Nacht rauschte ein Elf herbei, eher eine Frohnatur von Geist wie der Weihnachtsmann, und schlug meine Tür zu; es war windstill; meine Schwester nahm gerade ein Bad im rosafarbenen Badezimmer unseres Samstagabendheims, und meine Mutter schrubbte ihren Rücken, stellte das alte Mahagoniradio auf Wayne King ein oder warf einen Blick auf die ersten Maggie und Jiggs Comics, die gerade von den Zeitungsjungen draußen gebracht worden waren (dieselben, die auch in meinem Chinakrimi zwischen den Backsteinhäusern der Innenstadt herumflitzen), also rief ich «Wer hat meine Tür zugeschlagen (Qui a fermez ma porte?)» und sie antworteten niemand («Parsonne voyons donc») – und ich wußte, daß ich besessen war, sagte aber nichts; kurz darauf folgte der schreckliche Traum vom rasselnden roten Schlafzimmer, mit seltsamem rotem 29er Lack frisch gestrichen, und ich sah es im Traum nur Tanzen und Rasseln wie Gerippe, weil mein Bruder Gerard sie verfolgte und träumte, daß ich erwachte und schrie wegen des Grammophons im Nebenzimmer mit seinen ‹Masters Voice›-Rundungen im braunen Holz – Erinnerung und Traum geraten durcheinander in diesem verrückten Universum.

2

In dem Traum von der Teerfaltenecke sah ich sie, wie eine Heimsuchung, die Riverside Street, wie sie über die Moody Street hinweg in die fabelhaft-trächtigen Abgründe der Sarah Avenue und Rosemont die Schleierhafte führte … Rosemont: – eine Siedlung, in die Hochwasserniederungen des Flusses und die sanften Erhebungen bis zur Sandbank gebaut, die Friedhofswiesen und verwunschenen Spukgefilde versoffener Käuze wie Luxy Smith und der gespenstische Mühlteich – in dem Traum stellte ich mir nur die ersten Schritte vor, von jenem ‹faltigen Tor›, gleich um die Ecke, Eindrücke von der Moody Street in Lowell – geradewegs weiter zur Rathausuhr (mit Zeitangabe), dann die roten Antennen der Innenstadt und die Neonbeleuchtung des Chinarestaurants am Kearney Square im nächtlichen Massachusetts; dann ein Blick nach rechts zur Riverside Street, wie sie abbiegt, um zwischen den reichen ehrbürgerlichen Tollhäusern der Präsidenten der Textilvereinigung (O! –) und der weißhaarigen Landaltadeldamen zu verschwinden, worauf die Straße plötzlich, nach dieser Traumstraße der Rasen, Fliegentüren und hinter Jalousien lauernden Emily Dickinsonschen Schullehrerin, ins rohe Flußszenario mündet, wo das Land, das steiluferreich felsige eintunkt, um die Lippen des Merrimack zu berühren, der da brausend über Wirbel und Geröll zum Meer rauscht, phantastisch und geheimnisvoll, vom Schnee des Nordens, leb wohl; – bog links ab, vorbei am geheiligten Eingang, wo G.J., Lousy und ich in jenes Mysterium gehüllt saßen, das ich jetzt wachsen, immer riesiger werden sehe, zu etwas jenseits meines Begreifens, jenseits meines Vermögens und meiner Grenzen, zu eben jenem Geheimnis, was Gott mit meiner Zeit getan hat; – Haus an der Teerfaltenecke, vier Stockwerke hoch, mit einem Hinterhof, Wäscheleinen, Klammern, in der Sonne herumsummsende Fliegen (ich träumte, ich lebte in jenem Haus, niedrige Miete, guter Blick, prächtige Möbel, meine Mutter froh, mein Vater ‹beim Kartenspielen› oder nur stumm auf dem Stuhl sitzend, uns beistimmend, der Traum) – Und bei meinem letzten Besuch in Massachusetts stand ich in der Kälte, beobachtete ich ihr Treffen und sah Leo Martin, wie er Eisnebel atmete, platzte ins nachmittägliche Pool-Billardspiel herein wie in meiner Kindheit und bemerkte auch das Eckhaus, weil die armen Kanadier, Stamm meiner Gott-schenkte-mir-das-Leben-Herkunft, nur schwaches elektrisches Licht in der bräunlichen Muffgruft von einer Küche hatten und einen katholischen Kalender an der Klotüre (Ach ich), ein Anblick voller Leid und Qual – Bilder meiner Kindheit – Im Eingang G.J., Gus Rigopoulos und ich, Jackie Duluoz, Sandplatzsensation und Oberrabauke der Stadt; und Lousy, Albert Lauzon der Trichter (er hatte eine Trichterbrust), Kid Lousy, Weltmeister im Leisespucken, und manchmal auch Paul Boldieu, unser Werfer und später dann grimmiger Fahrer einer Klapperkiste, der typische Blechhaufen eines jungen Bengels –

«Einprägen, einprägen, jeden einzelnen von ihnen gut einprägen», sage ich zu mir selbst im Traum, «wenn du am Eingang vorbeikommst, sieh dir Gus Rigopoulos, Jackie Duluoz und Lousy genau an.»

Nun sehe ich sie auf der Riverside Street in der wogenden Finsternis.

3

Hunderte von Leuten sind auf der Straße, im Traum … ’s ist Samssonntagnacht, alle strömen zur Clo-Sol – Innenstadt, in wirklichen Restaurants der Wirklichkeit, Mutter und Vater sitzen wie Schatten auf der Speisenkarte an einem abgedunkelten Fenster mit schweren 1920er Wandbehängen hinter ihnen, alles wie auf einem Werbeplakat «Vielen Dank, geben Sie uns bald wieder die Ehre bei Diner und Tanz – Ron Foo, 467 Market Street, Rochester» – sie essen bei Chin Lee, einem alten Freund der Familie, er kannte mich, gab uns zu Weihnachten Lichees, einmal eine große Mingvase (plaziert auf dumpfem Klavier inmitten von Salontrübseligkeiten und Engeln mit Staubschleier und Tauben, der Katholizismus der Staubwolken und meiner Gedanken); das ist Lowell, draußen vor den verzierten Chinesenfenstern liegt Kearney Square, auf dem sich das Leben tummelt. «Allmächtiger», japst mein Vater und tätschelt seinen Bauch, «war das ein Festmahl.»

Leise auftreten, Geist.

4

Folge den großen Flüssen auf den Karten Südamerikas (dem Ursprung von Dr. Sax), folge deinen Putumayos bis zur Vereinigung des Napo mit dem Amazonas, durchmiß die unvorstellbar dichten Urwälder, das Wunder südlicher Paraña-Dschungel, betrachte die erhabene Pose eines Kontinents, der sich von Arktis zu Antarktis wölbt – für mich war der Merrimack ein Napo von kontinentaler Bedeutung … des Kontinents von Neu-England. Er nährte sich von schlangengleichem Ursprung mit weitem Schlund herannahend, quoll aus verborgener Feuchte und kam als Merrimack an die Fischwehre und Franklinfälle, die Winepesaukies (von der nordischen Kiefer) (und erhaben wie ein Albatros), die Manchesters, Concords und Plum-Inseln aller Zeiten.

Der tosende Schlafbringer unserer Nächte –

Ich hörte ihn mit einem Stöhnen von den Felsen erstehen und wie er mit seinen Wassern heulte, sprulsch sprulischsch, uuum uuum suuu die ganze Nacht über suuuu, suuuu und die Sterne wie Löcher in einem Tintendach. Merrimack, dunkler Name, der mit düstren Tälern protzt: mein Lowell hatte die großen Bäume aus alter Zeit im rauhen Norden, die über abgebrochener Pfeilspitze und Indianerskalps winkten, das Ufergeröll der Schieferküste steckt voller Perlen, barfüßige Indianer liefen darüber hinweg. Der Merrimack saust von einem Norden der Ewigkeiten herab, fällt wie ein Pissestrahl durch Schleusen, Klüfte und Schaumberge auf Felsen, blosch, und rollt grummelnd dem Mammon entgegen, gebändigt durch tausamtene Steinmulden mit scharfen Kanten (wir tauchten ab, zerschnitten unsere Füße, miese Sommernachmittags-Schulschwänzer), überall auf den Felsen häßliche alte Trottel, Scheiße aus der Kanalisation und Färbemittel, und wir schluckten jede Menge von diesem Brechmittel – In mondheller Nacht sehe ich den mächtigen Merrimack mit tausend Schimmeln über die tristen Ebenen brausen. Traum: – die hölzernen Planken des Fußwegs am Rande der Moody Street Brücke geben nach, und ich hänge an einem Balken über dem Tosen der Schimmel in der Tiefe, – vorwärts ächzend, Truppen und Kavallerie des anstürmenden wohlgestaltigen Wohldröhners König Gray, verwirbelt und gezwirbelt wie ein Kunstwerk und mit schneeweißen verschnörkelten Geckentogas der Lehmseelen in erster Reihe.

Entsetzen bereiteten sie mir, diese Wellen, diese Felsen –

5

Doctor Sax lebte in den Wäldern, er war kein Stadtgespenst. Ich sehe ihn herumstaksen mit dem unglaublichen Jean Fourchette, dem Bewohner der Müllkippe, ein Idiot, Gickser, zahnlos, restlos bedient, pockennarbig, einer, der am offenen Feuer vor sich hin kicherte, ein aufrichtig geliebter Begleiter auf langen Spaziergängen in meiner Kindheit – Die Tragödie von Lowell und die Sax-Schlange ist in den Wäldern und die Welt außen herum –

Im Herbst fielen die weiten, ausgedörrten Felder zu den Ufern des Merrimack ab, an denen es vor geknickten Föhren und verschiedensten Brauntönen überquoll, Herbst, gerade hatte ein schriller Pfiff im winterlichen November das dritte Viertel beendet, und mein Vater und ich sahen am Nachmittag in der Menge dem Gebalge von Halbamateuren zu, genau wie zu Indianer Jim Thorpes Zeiten, wumm, Treffer. Es gab auch Rehe in den Billericawäldern, vielleicht ein oder zwei in Dracut, drei oder vier in Tyngsboro, und eine Jagdsport-Kolumne auf der Sportseite des Lowell Sun. Hohe, vor Kälte starrende, dürre Föhren, wenn die Schule wieder anfängt und die Äpfel geerntet sind, stand nackt in nördlicher Dunkelheit auf die Entblößung wartend. Im Winter trieb der Merrimack in seinen Eismassen dahin; nur in der Mitte blieb ein schmaler Streifen frei, mit den zerbrechlichen Kristallen des Stromes, die gesamte Bucht von Rosemont und die Aiken Street Brücke lagen wie ausgebreitet für winterliche Schlittschuh-Partys, die man von der Brücke mit einem eingeschneiten Fernrohr beobachten konnte in Windstößen, und entlang der verfallenen Gegend auf der Lakeviewseite lungern Randfiguren einer holländischen Schneelandschaft in diesem bleichen Schneegewirbel herum. Eine blaue Säge kracht aufs Eis nieder. Hockeyspiele zehren das Feuer auf, vor dem die Mädchen kauern. Billy Artaud macht mit einem Tritt seines Spikeschuhs in dem gespenstischen Winterlicht aus dem Schläger eines Gegners Kleinholz, ich rase mit 40 Meilen rückwärts, bis ich den Puck bei einem Check verliere, und die übrigen Artaudbrüder stürzen sich mit Gebrüll in die allgemeine Keilerei –

Es ist derselbe bloße, arme Fluß, der März taut ihn auf, bringt Doctor Sax und die Regennächte des Schlosses.

6

Da waren diese tiefblauen Ferienabende zur Weihnachtszeit, wenn die Sterne bereits über der ganzen Stadt funkelten, so weit mein Auge reichte, vom hinteren Textilbezirk aus, nachdem ich die Sonntagnachmittagvorstellung verlassen hatte. Zeit zum Abendessen, das Roastbeef wartet, oder ragout d’boullette, der weite Himmel einfach unvergeßlich, noch verstärkt durch das Strahlen des harten Eises im Winterwetter, eine glasklare blaue Luft, wie sie zu solchen Stunden über den Backsteingassen und den Marmorforen des Lowell-Auditoriums liegt, mit Schneeverwehungen in den roten Straßen, der Trübsal wegen, und verirrte Vögel, die in Lowell sonntags zur Essenszeit wegen ein paar Brotkrumen auf einen polnischen Zaun fliegen – noch kein Gedanke an das Lowell, das später kam, das Lowell der verrückten Mitternächte unter finsteren Kiefern im kitschigen Mondlicht, mit einem wehenden Leichentuch, einer Laterne, dem Vergraben von Dreck, dem Ausgraben von Dreck, Gnome, Achsen voller Wagenschmiere im Fluß und der Mond, der sich im Auge einer Ratte brach – Lowell, die Welt, die du findest.

Doctor Sax verbirgt sich hinter der Biegung meiner Gedanken.

Szenerie: Ein Schatten, der im Dunkel der Nacht über die Sandbank hinwegflitzt.

Geräusch: Ein Hund, der eine halbe Meile entfernt bellt; und der Fluß.

Geruch: Süßlicher Sandtau.

Temperatur: Sommernachtsfrost

Monat: Später August, die Spielsaison ist vorüber, keine homeruns mehr über die magische Mitte unserer Arena, unseren Sandplatz, wo Ballspiele in der rötlichen Dämmerung stattfanden, – jetzt wird es der Flug der Krähe im Herbst sein, wie sie ihrem dürren Grab in den Föhren Alabamas entgegenkrächzt.

Vermutung: Doctor Sax ist gerade über der Sandbank verschwunden und nach Hause ins Bett gegangen.

7

Von der Teerfaltenecke aus beginnt sich die Moody am Stadtrand durch die salzweißen Mietshäuser von Pawtucketville hinaufzusteigen um ihren Gipfel in der Griechensiedlung an der Ortsgrenze von Dracut zu erreichen, wo unwegsames Gehölz Lowell einsäumt und wo griechische Veteranen, die noch die amerikanische Besatzungszeit auf Kreta miterlebt haben, frühmorgens mit dem Milcheimer zur Ziege auf die Wiese rennen – Dracut Tiger ist der Name der Wiese, und dort ist es, wo wir im Spätsommer großangelegte Baseball-Runden aufziehen, die Endrunden in einem grauen alles schluckenden, regnerischen Zwielicht, September, Leo Martin als Werfer, Gene Plouffe Vorstopper, Joe Plouffe (in dem lauen Brodem) gerade auf rechter Position (später Paul Boldieu als Werfer, Jack Duluoz als Fänger, ein großartiges Team, gerade dann, wenn der Sommer wieder heiß und staubig wird) – die Moody Street erreicht den Scheitel des Hügels und überblickt die griechischen Farmen und die dazwischenliegenden zweistöckigen Bungalows aus Holz an tristen Feldrändern des märzhaften Spätnovembers, der in der silbernen Herbstdämmerung seine Birkenreiser auf die Hügelsilhouette wirft, krah. Die Dracut Tigers sitzen da mit einem Steinwall im Rücken, und Straßen nach Pine Brook, das wild-düstre Lowell so es mich wieder schluckte, sein dunkler Reigen einer Rundumpracht, – Moody Street, die einem Diebesnest entspringt und bei Ballspielern auf einem windigen Hügel endet (alle brüllen wie Denver, Minneapolis, St.Paul mit dem Treiben von zehntausend Helden der Billardhalle, des Bolzplatzes und der Veranda) (hör’ die Schüsse der Jäger im dürren Unterholz, wie sie ihre Wagen vor dem Rotwild verbergen) – und weiter hinauf führt die alte Moody Street, an der Gershom und Mount Vernon vorbei und weiter, bis sie sich am Ende der Wagenschlange verliert, oben auf dem Wendeplatz, als es noch Straßenbahnen gab, und wo jetzt die Busfahrer auf ihre gelben Armbanduhren schauen – verödet in Birkenwäldern zur Krähenzeit. Dort kann man sich umwenden und ganz Lowell überblicken, in einer trocken bitterkalten Nacht im Schatten eines Blizzards, in der scharfkantig blauen Nacht, die das Rotbäckchenglühn der Rathausuhr in die Himmelspflaumen ätzt, diese blinkenden Sterne; von Billerica blies es trockene Sonnenwinde feuchten Blizzardwolken entgegen, den Sturm endend und Neues bringend, ganz Lowell siehst du …

Überlebende des Sturms, völlig weiß und dennoch im Trauerrand.

8

Einige meiner tragischen Träume von der Moody Street Pawtucketville in einer gespenstischen Samstagnacht – so unerreichbar und unmöglich – junge Blagen, die zwischen den Eisenpfosten auf dem Teerfaltenhof herumtollen und französisch plärren – die Mütter sehen aus den Fenstern und rufen entnervt «Cosse tué pas l’cou, ey?» (Brech’ dir nicht den Hals, eeh?) Im Verlauf von ein paar Jahren zogen wir durch die Imbißkulisse der Textilfabriken, mit all den fettigen Mitternachts-Hamburgern mit Zwiebeln und Ketchup; da war diese schreckliche Hütte, deren Veranda in meinen Träumen immer wieder einstürzte, und doch saß meine Mutter jeden Abend draußen auf einem Stuhl, mit einem Bein im Haus, falls die spitz zulaufende Veranda über dem Verhau von Gerümpel und Drähten samt ihren zerbrechlichen Stützpfosten einkrachen sollte. Irgendwie genoß sie es. Wir haben sie lächelnd auf einer Photographie in diesem Höhepunkt aller Alpträume, mit einem kleinen weißen Spitz, den meine Schwester damals besaß –

Zwischen dieser Behausung und der Teerfaltenecke lagen einige Unterkünfte, die für mich von geringer Bedeutung waren, weil sie nicht in der Nähe meines gewohnten Süßwarenladens waren, aus dem später mein Tabakgeschäft wurde – ein weithin bekannter Drugstore, der von einem weißhaarigen, ehrwürdigen Kanadier mit silberner Brille geführt wurde und seine Brüder im Jalousiegeschäft und ein intelligenter, feingliedriger Ästhet als Sohn, der später in einem goldenen Nebel verschwand; dieser Laden, der eines Bourgeois, Anziehungspunkt in einer uninteressant zusammengewürfelten Gegend, lag Tür an Tür mit einer Art Gemüseladen, völlig unbeachtet, einem Hauseingang, einem Schrei, einem Durchgang (schmal, auf eine Grasfläche äugend); und der Fabrikimbiß mit der Glasfront und den gebeugten, dickfäustigen Essern, dann der Süßwarenladen an der Ecke, nie ganz geheuer, weil ständig der Besitzer wechselte und die Farben und ständig dieser Geruch dünn in der Luft hing, der Geruch freundlicher, älterer, netter Damen von der Hl. Johanna von Orleans-Kirche auf dem Mount Vernon und von Crawford, das sich den grauen Hügel des Presbitère hinaufzog, daher wurden wir in diesem Laden nie Stammkunden, aus Furcht vor diesen Ladies und dieser Gepflegtheit, wir liebten düstere vergammelte Süßwarenläden wie den von Destouches.

Dies war die schmuddelige Behausung eines siechen Aussätzigen – man sagte, er hätte alle erdenklichen Krankheiten. Meine Mutter, die Damen, dieses Gerede, jeden Nachmittag gab es dieses gewaltige Tratschen und Palavern hinweg über das Wogen der Näherei und das Blitzen der Nadeln im Licht. Oder es war vielleicht das Geschwätz ausgelaugter Wichser in den verpinkelten Onaniertreffs hinter der Garage, eklige Exzesse und Auswüchse der Lümmel aus der Nachbarschaft, die abends auf dem Feld Stroh kauten (wenn ich gerade beim Abendessen war) und nachts zum Schlafen unter Heuschober krochen, auch wenn Jean Fourchette, der Penner von Rosemont, über die Maisfelder stakste, mit Rebgerte, Sabberbüchse, vollgewichsten Klamotten und idiotischem Gekicher, durch die Fülle des mitterschlafnächtlichen Pawtucketville mit wildgroßem Namen und Bagdad-dichtem-Dachleinen-und-Drähte-Hügel –

«Pauvre vieux Destouche» nannten sie ihn manchmal, weil sie ihn trotz aller Schreckensnachrichten über seinen Zustand wegen seiner fiebrigroten Augen und seines schleppenden Gangs bemitleideten, er war der zugerichtetste Mensch auf der Welt, und taub waren seine baumelnden Arme, Hände, seine Lippen, die Zunge, nicht wie bei einem Idioten, sondern sinnlich oder gefühllos und verbittert von sehrendem Kummer … ein alter Entwurzelter, ich kann nicht sagen, welche Macke, Droge, Krankheit, Elephantiasis oder was noch alles an ihm fraß. Es ging auch das Gerücht, daß er an den Pillermännern kleiner Jungs herumfummelte – ging angeblich ins Halbdunkel und bot ihnen Bonbons oder Pennies an, aber mit diesem gleichgültigen, von Sorge und Krankheiten müden Gesicht spielte es ohnehin keine Rolle mehr – offensichtlich lauter Lügen, aber wenn ich den Laden betrat, um Süßigkeiten zu kaufen, war ich so behext und starr vor Angst als wär’s eine Opiumhöhle. Er saß auf einem Stuhl, und bei jedem Atemzug hörte man ein bestialisches hohlwangiges Tuten; man mußte sich die Bonbons selbst holen und den Penny in seine schlaffe Hand legen. Meine Vorstellung von den Opiumhöhlen hatte ich aus den Shadowheften, die ich bei ihm kaufte. Angeblich spielte er mit dem kleinen Zap Plouffe … Zaps Vater, der alte Eigenbrötler, hatte den ganzen Keller voller Shadows, die mir Gene Plouffe einmal zum Lesen gab (etwa zehn Shadows, 16 Star Westerns und zwei oder drei Pete Pistols, die mir gefielen, weil Pete Pistol so unscheinbar aussah), aber leicht zu lesen waren sie nicht – die Shadows im Laden des alten Wracks zu kaufen, gab mir gemischte Gefühle wie im Keller von Plouffe, es war darin etwas von alter, sprachloser Tragödie.

Neben dem Bonbonladen war ein Kurzwarengeschäft, dort boten die Damen aus der nachmittäglichen Nähclique runde blauäugige Puppenköpfe von Gliederpuppen feil, die in Spitzenkrägen verschwanden und auf ein blaues Kissen gepinnt waren … Dinge, die schon zu unseres Vaters Zeiten vergilbten.

9

Der Park verlief offen zur Sarah Avenue hin, über Hinterhöfe alter Farmen an der Riverside Street hinweg, mit einem Trampelpfad mitten durchs hohe Gras und der blocklangen Mauer der Gershomgarage (Liebende wälzten in verruchter Mitternacht kahle Stellen ins Feld, aus denen Laute hervorsprudelten). Auf der anderen Seite des Parks, an der Schmutzstraße Sarah Avenue, lag ein umzäuntes Feld, hügelig, mit Fichten, Birken, unverkäuflich, unter gigantischen Neu-England-Bäumen, durch die man nachts, zu riesigen Sternen hinaufschauen konnte wie durch eine Blätterwarte. Hier lebten die Familien Rigopoulos, Desjardins und Giroux hoch über dem aufgetürmten Gestein und mit Aussicht über die Stadt, die hintere Textilgegend, die hoch gelegene Halde und die unsterbliche Leere des Tals. Oh graue Tage mit G.J.! seine Mutter im Schaukelstuhl, ihre dunklen Gewänder wie die Kleider alter mexikanischer Mütter in tortilladüstren Steingevierten – und G.J., der am Küchenfenster steht und durch die hohen Bäume hindurch den Sturm betrachtet, die schwach gezeichnete rötliche Silhouette der Stadt vor dem gleißenden Hintergrund, fluchend, murmelnd «Welch ein verdammtes Leben für einen Mann in dieser steinharten, arschkalten Welt» (über dem Fluß die grauen Himmel und Stürme der Zukunft) und seine Mutter, die Englisch nicht versteht und sich auch nicht kümmert, was die Jungen nachmittags nach der Schule herumlungernd daherreden, schaukelt mit ihrer griechischen Bibel vor und zurück und sagt «Thalatta Thalatta!» (Meer! Meer!) – und in der Ecke von G.J.s Haus rieche ich die dumpfige Schwermut der Griechen und schaudere bei dem Gedanken, im feindlichen Lager zu sein – von Thebanern, Griechen, Juden, Niggern, Itakern, Iren, Polacken … G.J. richtet seine Mandelaugen auf mich, wie bei unserer ersten Begegnung im Hof, als er mir mit seinen Mandelaugen die Freundschaft anbot – vorher hatte ich die Griechen immer für rasende Irre gehalten.

G.J., mein Jugendfreund und Held –

10

Geboren wurde ich in Centralville, in Pawtucketville sah ich Doctor Sax. Über den weiten Kessel zum Hügel hin – in der Lupine Road im März 1922 um fünf Uhr am Nachmittag einer völlig in Rot getauchten Abendessenszeit, als schläfrig in den Kneipen der Moody und Lakeview Biere gezapft wurden und der Fluß mit seiner Eisfracht über gerötete verschlickte Steine hinwegrauschte, und an den Ufern das Röhricht zwischen Matratzen und alten weggeworfenen Stiefeln wogte, und nasse Schneefladen, die träge von tiefgebeugten Zweigen schwarzer, dorniger taugeölter Kiefern rutschte, und darunter der schwere Schnee an den Hängen, auf denen verirrte Sonnenstrahlen blitzten und die Schmelze des Winters vermischt mit den Fluten des Merrimack – wurde ich geboren. Verdammtes Hausdach. Ganz Auge war ich, kam und hörte die Flußröte; ich erinnere mich an diesen Nachmittag, schaute ihn durch Perlenschnüre, die als Vorhang in der Tür hingen und durch Glas von einer universellen traurigen Röte tödlicher Verdammnis … der Schnee schmolz. Die Schlange hatte sich im Hügel eingerollt, nicht in meinem Herz.

Der junge Doctor Simpson, der später tragisch hager, grauhaarig und ungeliebt war, sagte kurz angebunden «Ich denke, daß es ihr alles in allem gutgeht, Angy» zu meiner Mutter, die ihre ersten beiden, Gerard und Catherine, im Krankenhaus geboren hatte.

«Dankschön, Doctor Simpson, er ist fett wie ’n Butterfaß – mon ti n’ange…» Goldene Vögel schwebten über ihr und mir, als sie mich an ihre Brust nahm; Engel und Cherubine führten einen Tanz auf und sanken von der Decke herab, mit den Arschlöchern voraus und dicken Speckschwarten, und ein Brodem von Schmetterlingen, Vögeln, Motten und Braunem hing fad und blöde über Gebärschnuten.

11

An einem grauen Nachmittag in Centralville, als ich etwa 1, 2 oder 3 Jahre alt war, sah ich in den verträumt-seherischen Abgründen meines kindlichen Seins einen unordentlichen, düstren frankokanadischen Schuhmacherladen, ganz verloren in grauen, tristen im Regal gefalteten Schwingen und im Geklapper dieses Etwas. Später auf der Veranda von Rose Paquettes Haus (eine große fette Freundin meiner Mutter, mit Kindern) bemerkte ich, daß der verfallene Schuhladen aus meinem Regentraum genau unter uns war … etwas, das ich über unseren Häuserblock wußte. An diesem Tag lernte ich das englische Wort für Tür … door, door, porte, porte – dieser Schuhmacherladen ist in den Regenschleiern meiner frühesten Erinnerungen verborgen und mit der Großen Bademantelvision verknüpft.

Ich sitze in den Armen meiner Mutter in einer braunen Aura, die von ihrem Bademantel aufsteigt – Kordeln hängen an ihm herab wie die Kordeln in Filmen, Klingelschnur für Kaiserin Catherine, aber braun und um den Gürtel des Bademantels gewunden – der Bademantel der Familie, ich sah ihn 15 oder 20 Jahre lang – die Kranken darin – alter Weihnachtsmorgenbademantel mit dem üblichen Karo- oder Viereckmuster, aber das Braun als Farbe des Lebens, Hirnfarbe, graubraunes Hirn, und die erste Farbe, die ich wahrnahm nach den Regengrautönen meiner ersten Blicke hinaus aus meiner so dumpfen Krippe in die spektrale Welt. Ich bin in den Armen meiner Mutter, aber irgendwie steht der Stuhl nicht auf dem Boden, sondern schwebt frei in der Luft, umgeben von einem nach Sägemehl riechenden Brodem, der von Lajoies Holzplatz herüberweht, und über der Rasenfläche an der Ecke Sechste West und Boisvert – dieses Daguerreotypie-Grau ist überall, doch der Mantel meiner Mutter verbreitet eine warme, braune Aura (das Braun der Familie) – so wie jetzt, wenn ich in naßkalten Böen mein Kinn in einen warmen Schal einwickle – denke ich an das Wohlbehagen in dem braunen Bademantel – oder wenn sich eine Küchentür in den Winter öffnet und scharfe Eisluft in den warmgeblähten Vorhang des Hitzedufts vom Kochherd spießt … sagen wir mal Vanillepudding … ich bin der Pudding, der Winter ist der graue Nebel. Ein Freudenschauer überkam mich – als ich bei Proust über die Teetasse las – all jene Untertassen in einem Krümel, die gesamte Geschichte am Daumen – eine ganze Stadt in einer leckeren Krume – ich finde meine ganze Kindheit in den winterlichen Vanillewolken rund um den Küchenherd. Es ist genau wie kalte Milch auf heiße Brotsuppe, die Vereinigung von Heiß und Kalt die Lücke zwischen den Kindheitserinnerungen.

Das Braun meines Bademanteltraums und das Grau vom Schuhmacherladen sind verbunden mit den Braun- und Grautönen von Pawtucketville – das Schwarz des Doctor Sax kam später.

12

Abends das Geplärr der Kinder in den Hinterhöfen – nun erinnere ich mich auch an den besonderen Klang – Mütter und Familien hören ihn nach dem Abendessen durch ihre Fenster. Sie rennen im Slalom zwischen Eisenstangen durch, ich folge ihnen im Spuktraum meiner Rückkehr nach Pawtucketville, recht oft komme ich vom Hügel herab oder von der Riverside.

Ich quälte mich erschöpft aus meinem Kissen, höre das Scheppern von Töpfen in Küchen, wie die Klagen einer älteren Schwester zum Singsang werden, den die Jüngeren aufgreifen, einige miauend, und dazu echte Katzen, die von den Pfosten am Haus entlang und von Mülltonnen herab einstimmen – Rangeleien, afrikanisches Palaver aus finstren Zirkeln – antwortendes Ächzen, Hüsteln, Seufzer von Müttern, schon bald zu spät, reinkommen und Schluß mit der Spielerei, und von meiner Wehleiderei, die meinen schlechten Träumen wie eine Lindwurmschleppe nachhängt, komme ich schwups zum schlimmen Ende und wache auf.

Die Kinder im Hof bemerken mich nicht, entweder nur so oder weil ich ein Geist bin und für sie nicht gesehen werden kann.

Pawtucketville rasselt durch meinen besessenen Schädel …

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Eine regnerische Nacht, und auf der Moody Street Brücke steht der arme alte Spinnereiarbeiter Joe Plouffe. Die Nacht, in der er auf die Mill Pond Spinnereien zusteuerte mit seinem Mittagessen im Henkelmann, den er urplötzlich in den Nachthimmel schleuderte – G.J., Lousy und ich saßen am Freitagabend im Park auf dem Rasen, hinterm Zaun, und zum millionsten Mal kommt Joe mit seinem Futternapf in den braunen Lichthof der Ecklampe, die jeden Stein, jede Straßenmulde freilegt – nur in dieser Nacht hören wir einen seltsamen Schrei und sehen, wie er sein Essen in die Luft feuert, die Arme hochwirft und kehrt macht, das Essen landet, und er ist schon auf dem Weg zu den Bars mit gepantschtem Whiskey statt zu den Spinnereien mit all der Plackerei – das einzige Mal, daß wir Joe Plouffe außer sich sahen, das andere Mal geschah es bei einem Basketballspiel am späten Nachmittag, Joe in meiner Mannschaft, Gene Plouffe in G.J.s, fangen die beiden Brüder mit gegenseitigen Rempeleien an, bummsdi, legen versteckt grinsend ihr ganzes Gewicht in die Hüften, daß es einen umhauen kann, und als ihn der kleinere Gene (1,55) ordentlich erwischt, läuft der größere Joe (1,57) rot an und rennt ihn von hinten über den Haufen, worauf Gene etwas benommen nun seinerseits einen hochroten Kopf kriegt, welch ein Duell, G.J. und ich käseweiß zwischen den Fronten des Titanenkampfes, es war ein tolles Match – Joes Mittagessen war tatsächlich nur sechs Meter vom Basketballkorb entfernt in einem Baum niedergegangen –

Doch nun ist es eine regnerische Nacht, und Joe Plouffe, resigniert, gebeugt, eilt um Mitternacht nach Hause (es fahren keine Busse mehr) und stemmt sich gegen den naßkalten Märzwind – und er blickt über das weite Dunkel hinüber zum Snake Hill, der hinter den Regenschleiern liegt nichts, nicht einmal eine trübe, braune Laterne. – Joe geht nach Hause, holt sich noch im Textile Lunch einen Hamburger, duckte sich vielleicht in unseren Teerfalteneingang, um seinen Zigarettenstummel anzuzünden – Dann runter in die Gershom Regenschwaden an der Ecke und ging heim (wie auch tragische Rosen in verregneten Hinterhöfen zur Mitternacht blühen mit vergessenem Marmor im Morast). Als Joe Plouffe den Absatz von der letzten Brückenplanke hebt, sieht man plötzlich von der Ferne aus dem nächtlichen Dunkel der Brücke einen schwachen braunen Lichtfleck auftauchen, der ein hohes Lachen ausstößt «Hiii hi ha ha ha», das abebbt, erstirbt, irr, wahnsinnig, im Umhang, mit grünem Gesicht (Aussatz der Nacht, Fratze der Finsternis) gleitet Doctor Sax an den Uferfelsen, dem Brausen entlang, dem steilen Schuttufer, in Eile – wedelnd, fliegend, schwebend, hinüberwischend zu den Schilfflächen von Rosemont, und holt in einer Bewegung das Schlauchboot unterm Schlapphut hervor, bläst es auf – rudert mit Gummipaddeln, rotäugig, verstohlengrimmig durch Regenschauer, Vampirspannen und Brausegischt Gischtmasten – wahrer Fluß – ein Auge immer auf die Burg gerichtet – als über das Merrimack-Tal hinweg mit eifrigen klitzekleinen Flügelschlägen der fledermausflügelige winzige Graf Condu seinem alten, angestaubten, hängebauchfaltigen Mädel vor dem unsäglichen Braun des Burgtores entgegenhetzt, o Geister.

14

Graf Condu kam von Budapest – er wollte gute ungarische Erde, um darin still die langen öden Nachmittage der europäischen Wüstenei zu verbringen – also floh er in einer regnerischen Nacht nach Amerika, schlief tagsüber in seiner 1,80m langen Sandkiste an Bord eines N.M.U.-Schiffes – kam nach Lowell, um sich an den Bewohnern der Merrimack-Gegend zu weiden … ein Vampir, er fliegt über den nächtlich verregneten Fluß hinweg, an der alten Müllkippe und den Spinnereien entlang zu den Ausläufern von Centralville … fliegt zum Tor seiner Burg, das auf der Traumwiese stand, dort, wo sich die Brücke und die 18. Straße kreuzen. Oben auf dem Hügel, und in Symmetrie mit dem alten burgähnlichen Steingebäude in der Lakeview Avenue nahe Lupine Road (dazu all die lang vergessenen frankokanadischen Ausdrücke meiner Kindersprache) steht eine Burg, hoch aufragend, der königliche Verwalter der Monarchendächer und Schlote Lowells (Oh, ihr hohen roten Schornsteine der Spinnereien von Lowell, alles überragender Ziegelmurks von Boott, wie es schwankt in den Terminuswolken des wilden Hurratages und Traumglockennachmittags –)

Graf Condu wollte seine Hühnchen sauber gerupft – Nach Lowell kam er im Zug einer großen allgemeinen Umsiedlung des Bösen – zu der versteckten Burg – der Graf war groß, hager, hatte eine Hakennase, trug einen Umhang, weiße Handschuhe und hatte boshafte, funkelnde Augen, der Held von Doctor Sax, dessen buschige Augenbrauen ihn so blind machten, daß er kaum sah, was er tat, wenn er nachts über die Müllkippe hinwegsetzte – Condu hatte eine zischende Aussprache, war scharfzüngig, aristokratisch, barsch, hatte ein widerliches Mündchen wie ein blutleerer Simpel, vormüpfig mit den dicken, nach innen gewölbten Muslippen und hintertückisch wie mit dem dünnen herabhängenden Bart eines Mandarins, den er aber nicht hatte – Doctor Sax war alt, die Festigkeit seiner Detektivwangen hatte durchs Alter nachgelassen, sie hingen etwas herab (sah ein wenig aus wie Carl Sandburg, aber mit Schleierumrissen, groß und hager als Schatten an der Wand, nicht im Freien auf der Minnesota Road gehend mit Locken und gottverdammt fröhlich in den Tagen der Heiligkeit und des Friedens –) (Carl Sandburg mit einem dunklen Hut tief im Gesicht habe ich einmal nachts im Jamaica Long Island Negerviertel gesehen, Böse-Buben-Gegend, hinter Sutphin, als er gerade einen langen Boulevard von Inseln und Leichenhallen mit Trauerbeleuchtung hinunterging, nicht weit von den Gleisen Long Islands, wo er gerade von einem Güterzug aus Montana gekommen war) –

Die Fledermaus verschwand aus der Luft, und am Burgtor materialisierte ein Vampirgraf im Abendcape. La Contessa de Franziano, eine Nachfahrin walisischer Hrmkten, die vor der Küste von Leghorn von einer Trireme gefallen war, als dort noch mittelalterliche Festungswachen die Mauer säumten, die aber von sich behauptete, eine echte Franconi aus der Linie der Medici zu sein, kam eilends zur vergoldeten Tür in einem Spitzenkleid herabgerauscht, das von Spinnenfäden zusammengehalten wurde und von dem beim Bücken die Staubfladen abplatzten, mit einem Perlenanhänger und einer schlafenden Spinne auf dem Rücken, die Augenlider ach so gesenkt, und eine dunkle Stimme wie aus dem Kohlenkeller – «Verehrtester Graf, Ihr seid gekommen!» – sie schmachtet zur Tür mit schluchzenden Armen und öffnet sie in der Regennacht und die wenigen Lichter, die trübe von Lowell über den Kessel funzeln – doch der Graf bleibt gefaßt, stark, ernst, steilgebügelt, emotionslos, adolfisch und zieht einen Handschuh aus – atmet mit leisem Prusten und Schnaufen – rasselnd –

«Meine Liebe, gefühllos, wie ich angeblich bin, gehe ich davon aus, daß die Possen der Gnomdamen den Euren nicht das Wasser reichen, wenn der alte Zuckerpudding heimkehrt.»

«Aber Graf», klimpert die Sklavin Odessa (Contessa in einem Lager), «wie schafft Ihr es nur, schon vor dem Abendblut so aufgekratzt zu sein – Raoul mixt nur eben den Mix –» (Krimskramsmischmasch).

«Steckt er wieder mit der alten Pute im Glockenstuhl, ich meine natürlich Mrs. Wizard Nittlingen zur Hölle mit ihrem stachelbewehrten geborstenen Korsett.»

«Ich glaube fast –»

«Ist meine Kiste aus Budapest eingetroffen?» will der Graf wissen (eine Meile entfernt kratzt Joe Plouffe die Riversidekurve, bevor ihn die Regenböe erwischen kann).

«… bürokratische Querelen machen es unwahrscheinlich, daß Ihre Kiste noch vor dem Zwölfmond eintrifft.»

«Pschahh!» – klatscht mit den Handschuhen – «Ich sehe schon, daß dies eine weitere erfolglose Mission wird, einen Furz für die alte Furzfresse zu finden – dünnhalsiges Individuum – wer ist sonst noch im Hause?»

«Blook. Splaf, sein Reservevoiltrottel. Mrawf, der verblichene Quakser mit dem Krebskopf –»

«Und?»

«Der Kardinal von der Scholle … ist gekommen, um seine Sarabandbrosche der Schlangenhaut zu bieten – wenn er ein Stück von der Haut bekommen kann …»

«Möchte meinen», schmunzelt der gräfliche Vampir, «daß sie verdammt überrascht sein werden, wenn die Kleinbauern die … Brühe von der Schlange abkriegen.»

«Ihr glaubt, sie wird leben?»

«Wer wird sie schon töten, um sie wiederzuerwecken?»

«Wer wird sie töten wollen, um zu überleben?»

«Die Pfarrisäer und Priester – gebt ihnen etwas, das sie zwingt, sich unmittelbar mit dem Grauen und Blutvergießen zu befassen, und sie werden mit Holzkreuzen zufrieden sein und nach Hause gehen.»

«Aber der alte Zauberer will leben.»

«In der letzten Gestalt, die er annahm, würde er mich nicht weiter stören –»

«Wer ist Doctor Sax?»

«In Budapest hieß es, er sei ein alter verrückter Kauz. Von dem steht nichts Schlimmes zu befürchten.»

«Ist er hier?»

«Ist er – vermutlich.»

«Nun gut – und hattet Ihr eine angenehme Reise?» (zurückhaltend) «Natürlich habe ich für den Moment eine Kiste mit guter amerikanischer Erde für Euch zum Schlafen – Espiritu hat sie für Euch ausgegraben – gegen Honorar – es wird oben entgegengenommen – und den Gegenwert in B (denn er wird nie etwas mit Geld anfangen können, und so will er nichts weiter als Blut) könnt Ihr mir übergeben, wenn Ihr es habt, und ich werde ihn ausbezahlen – er hat genörgelt und genörgelt –»

«Ich kann Euch jetzt schon etwas B geben.»

«Woher bekamt Ihr es?»

«Ein junges Mädchen in Boston, als ich gegen 7 in der Abenddämmerung das Schiff verließ, Schneewirbel auf der Milk Street, doch dann begann es zu regnen, ganz Boston im Matsch, ich stieß sie in eine Gasse und erwischte sie unter dem Ohrläppchen und zapfte ihr etwa einen halben Liter ab, füllte es in mein goldenes Krüglein, um bei Morgengrauen einen Schlaftrunk zu haben.»

«Glücklicher – ich suchte mir einen süßen sechzehnjährigen Knaben aus, der bei seiner Mutter im Fenster lehnte und zur blauen Stunde (die Sonne versank gerade im Westen) nach dem Abendessen Vögel zählte, und erwischte ihn geradewegs am Adamsapfel, schlürfte ihn halb leer, so süß war er – vergangene Woche war’s ein –»

«Genug, Contessa, Ihr habt mich überzeugt, daß ich abscheulicherweise das Richtige tat, hierher zu kommen – Die Versammlung wird nicht lange währen – die Burg wird zweifelsohne erklappern – aber (gähn) ich will wieder fort – es sei denn, die Schlange kommt tatsächlich heraus, desfalls ich selbstverständlich bleibe, um das grause Spektakel mit eigenen Augen zu verfolgen – in gebührender Entfernung aus der Luft –»

«Dann wird es nächtens geschehen müssen, mein Graf.»

«Wenn Ihr Mater trefft, bestellt ihr bitte, daß ich sie am Morgen besuchen werde.»

«Sie spielt eifrig Karten mit Hatchet Craw im blauen Turmgemach – unterhält dabei Flamboy den Botschafter so großzügig … er kam gerade von Crawistaw, wo er ein Polopferd stahl und es zum Maharadscha von Larkspur fliegen ließ, der darob Glückwünsche sandte – Sie haben eine neue Taube in den bengalischen Bergen gefunden. Angeblich soll sie der Geist Gandhis sein.»

«Diese ‹Taubensache› ist irgendwie aus den Fugen geraten», sagte der Graf stirnrunzelnd. «Taubisten