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Jack Kerouac

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Beschreibung

Dies ist das literarische Statement einer Jugend, die inmitten der «schlechtesten der Welten» ein leidenschaftliches Bekenntnis zum «glückseligen Leben» ablegte. Tempo, Jazz, Marihuana, Sex und Freiheit waren die Zauberwörter der Beat Generation, die ständig auf der Suche nach einem intensiven, rauscherfüllten Dasein war. Ihre Trampfahrten durch die ungeheuren Weiten des Landes ließen sie ein Amerika entdecken, das die bürgerliche Erfolgsmoral nicht kannte.

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Seitenzahl: 595

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Jack Kerouac

Unterwegs

Aus dem Englischen von Thomas Lindquist

erster teil

eins

Ich begegnete Dean das erste Mal nicht lange, nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten. Damals hatte ich gerade eine schwere Krankheit hinter mir, über die ich hier nicht weiter reden will, außer dass sie etwas mit der elend lästigen Trennung zu tun hatte und meinem Gefühl, dass alles tot war. Mit Dean Moriarty begann der Teil meines Lebens, den man mein Leben unterwegs nennen könnte. Davor hatte ich oft davon geträumt, in den Westen zu gehen und mir das Land anzusehen, hatte vage Pläne geschmiedet – und war nie losgekommen. Dean ist der perfekte Kumpel für unterwegs, zumal er tatsächlich unterwegs geboren worden ist, als seine Eltern 1926 mit ihrer alten Karre auf dem Weg nach Los Angeles durch Salt Lake City kamen. Erstmals hörte ich von ihm durch Chad King; er hatte mir ein paar Briefe von ihm gezeigt, die Dean in einer Besserungsanstalt in New Mexico geschrieben hatte. Ich war ungeheuer interessiert an den Briefen, weil er darin so naiv und nett darum bat, Chad möge ihm alles über Nietzsche beibringen und all die wunderbaren intellektuellen Sachen, die Chad wusste. Irgendwann sprachen Carlo und ich über die Briefe und fragten uns, ob wir diesen seltsamen Dean Moriarty wohl je kennenlernen würden. All das liegt weit zurück, als Dean noch nicht so war, wie er heute ist, als er ein junger, geheimnisumwitterter Knastvogel war. Dann kam die Nachricht, dass Dean aus der Besserungsanstalt entlassen war und zum ersten Mal in seinem Leben nach New York kam; außerdem hieß es, dass er kürzlich geheiratet hätte, ein Mädchen namens Marylou.

Eines Tages, als ich auf dem Campus herumhing, erzählten mir Chad und Tim Gray, dass Dean sich in einer Bude mit nur kaltem Wasser in East Harlem, dem spanischen Harlem, aufhalte. Dean war am Abend zuvor angekommen, das erste Mal in New York, mit seiner hübschen kleinen scharfen Mieze Marylou; sie stiegen an der 50th Street aus dem Greyhound-Bus und bogen um die nächste Ecke, auf der Suche nach einer Kneipe, wo man was essen konnte, und landeten direkt bei Hector’s, und von da an ist Hector’s Cafeteria für Dean immer der Inbegriff von New York gewesen. Sie gaben ihr Geld für wunderschöne Kuchen mit Zuckerguss und für Sahneteilchen aus.

Und dauernd erzählte Dean Marylou solche Sachen: «Also, Schatz, hier sind wir in New York und obwohl ich dir nicht alles gesagt hab was mir so durch den Kopf ging während wir durch Missouri rollten und besonders in dem Moment als wir am Jugendgefängnis von Booneville vorbeikamen was mich an meine Knastprobleme erinnerte, ist es jetzt absolut notwendig all die offengebliebenen Fragen hinsichtlich unseres privaten Liebeslebens zu vertagen und sofort an konkrete berufliche Pläne zu denken…» und so weiter, eben in der Art, die er in jenen frühen Zeiten an sich hatte.

Ich ging mit den Jungs zusammen zu dieser Kaltwasserwohnung, und Dean kam in Unterhosen an die Tür. Marylou hüpfte von der Couch; Dean hatte die Besitzerin der Wohnung in die Küche geschickt, anscheinend zum Kaffeekochen, während er sich um seine Liebesprobleme kümmerte, denn für ihn war Sex die einzige heilige und wichtige Sache im Leben, obwohl er sich plagen und schwitzen musste, um Geld zum Leben und so weiter zu verdienen. Das sah man schon daran, wie er dastand und mit dem Kopf wackelte, immer den Blick gesenkt und nickend wie ein junger Boxer, der sich Instruktionen anhört, sodass man meinen konnte, er lauschte jedem Wort, wenn er tausendmal sein «Ja ja» und «Richtig, richtig» einwarf. Mein erster Eindruck von Dean war der eines jungen Gene Autry – schmucker Bursche mit schmalen Hüften und blauen Augen und einem gewaltigen Oklahoma-Akzent–, ein kotelettengeschmückter Held aus der Schneewelt des Westens. Tatsächlich hatte er eben erst auf einer Ranch gearbeitet, bei Ed Wall in Colorado, bevor er Marylou heiratete und an die Ostküste kam. Marylou war eine hübsche Blonde mit einem gewaltigen Wuschelkopf, ein Meer von goldenen Locken; sie saß auf der Sofakante, ließ die Hände in den Schoß hängen und starrte mit ihren rauchblauen Naturkinderaugen vor sich hin, weil sie in einer dieser schlimmen grauen New Yorker Buden gelandet war, von der man ihr drüben im Westen erzählt hatte. Nun wartete sie wie eine dieser langgliedrigen, abgemagerten surrealistischen Modigliani-Frauen in einem düsteren Zimmer. Aber abgesehen davon, dass sie ein liebes nettes Mädchen war, war sie strohdumm und stellte die schrecklichsten Dinge an. An diesem Abend tranken wir alle Bier und zogen uns beim Armstemmen über den Tisch und redeten, bis der Tag anbrach, und am Morgen, als wir dumpf dasaßen und im grauen Licht eines trüben Tages Kippen aus den Aschenbechern rauchten, sprang Dean nervös auf, schritt nachdenklich im Kreis herum und fand dann, dass es angesagt sei, Marylou das Frühstück machen und den Fußboden fegen zu lassen. «Mit anderen Worten, Schatz, wir müssen uns jetzt ran am Riemen reißen, sonst kommen wir ins Schleudern und verpassen jede wahre Erkenntnis oder Kristallisierung unserer Pläne.» Das war der Augenblick, in dem ich wegging.

In der folgenden Woche vertraute er Chad King an, dass er unbedingt von ihm schreiben lernen müsse; Chad sagte, dass ich Schriftsteller sei, er solle mich um Rat fragen. Inzwischen hatte Dean Arbeit auf einem Parkplatz gefunden, hatte mit Marylou Streit in ihrer Wohnung in Hoboken bekommen – weiß Gott, warum sie dorthin gezogen waren–, und sie war so wütend und von so tiefer Rachsucht, dass sie zur Polizei lief und eine falsche, hysterisch aufgebauschte, verrückte Anzeige erstattete, und Dean musste aus Hoboken verduften. Er wusste also nicht, wo er bleiben sollte. Er kam direkt heraus nach Paterson, New Jersey, wo ich bei meiner Tante wohnte, und eines Abends, während ich dort büffelte, klopfte es an der Tür, und da stand Dean und sagte unter Verbeugungen und verlegenem Füßescharren im dunklen Flur: «Hal-lo, erinnerst du dich an mich – Dean Moriarty? Ich komme, weil ich dich bitten wollte, dass du mir das Schreiben beibringst.»

«Und wo ist Marylou?», fragte ich, und Dean sagte, sie hätte anscheinend ein paar Dollar zusammengehurt und sei zurück nach Denver gegangen – «die Hure!» Wir gingen also aus dem Haus und tranken ein paar Bier, weil wir vor meiner Tante, die im Wohnzimmer saß und ihre Zeitung las, nicht so reden konnten, wie wir wollten. Sie warf nur einen Blick auf Dean und fand, dass er ein Verrückter sei.

In der Bar sagte ich zu Dean: «Verdammt, Mann, ich weiß ganz genau, dass du nicht nur zu mir gekommen bist, weil du Schriftsteller werden willst, und überhaupt, was verstehe ich schon davon, außer dass du dranbleiben musst, mit aller Kraft, wie ein Benzedrin-Süchtiger.» Und er sagte: «Ja, klar, ich weiß genau, was du meinst, und tatsächlich bin ich schon selbst auf diese Probleme gekommen, aber was ich will, ist die Erkenntnis all dieser Faktoren, die, wenn man sich von Schopenhauers Dichotomie für ein innerlich Erkanntes leiten lässt…» Und so weiter, in dieser Art, Dinge, von denen ich keinen Schimmer hatte und er selbst auch nicht. In jenen Tagen wusste er selbst nicht, was er da redete; mit anderen Worten, er war ein junger Knastvogel, völlig fixiert auf die wunderbaren Möglichkeiten, ein richtiger Intellektueller zu werden, und redete gern in einem Ton und unter Verwendung von Wörtern, wenn auch kunterbunt durcheinander, wie er es von «echten Intellektuellen» gehört hatte – obgleich er, wohlgemerkt, in allen anderen Dingen nicht so naiv war und nur ein paar Monate mit Carlo Marx brauchte, um in dem Jargon und all den Begriffen völlig zu Hause zu sein. Trotzdem kamen wir auf anderen Ebenen des Wahnsinns gut miteinander klar, und ich war einverstanden, dass er bei mir wohnte, bis er einen Job fand, und im Übrigen machten wir aus, irgendwann in den Westen zu fahren. Das war im Winter 1947.

Eines Abends, als Dean zum Essen bei uns war – er hatte schon seinen Parkplatzjob in New York–, beugte er sich über meine Schulter, während ich munter drauflostippte, und sagte: «Komm schon, Mann, die Mädchen werden nicht warten, mach schnell.»

Ich sagte: «Einen Moment noch, ich bin gleich da, sobald ich dieses Kapitel fertig habe», und es war eines der besten Kapitel in dem Buch. Dann zog ich mich an, und wir sausten los nach New York, um ein paar Mädchen zu treffen. Während wir im Bus durch die unheimliche phosphoreszierende Leere des Lincoln-Tunnels rollten, heizten wir uns gegenseitig an, fuchtelten mit den Händen, schrien und redeten aufgeregt, und mich packte allmählich das gleiche Fieber wie Dean. Er war einfach jung und ungeheuer vom Leben begeistert, und obwohl er ein Schwindler war, schwindelte er nur deshalb, weil er so gern mit Leuten zusammen sein und zu tun haben wollte, die ihn sonst nicht beachtet hätten. Auch mich beschwindelte er, und ich wusste es (von wegen Kost und Logis und «Schreiben lernen» etc.), und er wusste, dass ich es wusste (dies ist die Grundlage unserer Beziehung gewesen), aber mir war’s egal, und wir kamen gut miteinander aus – kein Generve, keine Bemutterung; wir umkreisten einander auf Zehenspitzen, wie herzergreifend neue Freunde. Mit der Zeit lernte ich von ihm genauso viel wie er wahrscheinlich von mir. Und was meine Arbeit anging, sagte er: «Weiter so, alles, was du machst, ist phantastisch.» Er schaute mir über die Schulter, wenn ich meine Geschichten schrieb, und schrie: «Ja! Richtig! Toll! Mann!» und «Puuuh!» und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. «Mann, toll, es gibt so viel zu tun, so viele Sachen zu schreiben! Wie soll man auch nur anfangen, all das aufs Papier zu bringen, und das ohne künstliche Beschränkungen und alle Fesseln wie literarische Hemmungen und grammatikalische Ängste…»

«Genau, Mann, du sagst es.» Und eine Art heiliges Feuer sah ich aus seiner Begeisterung lodern, aus seinen Visionen, die er mit einem solchen Wortschwall beschrieb, dass die Leute im Bus sich nach dem «übererregten Irren» umdrehten. Im Westen hatte er ein Drittel seiner Zeit in Billardhallen verbracht, ein Drittel im Knast und ein Drittel in der öffentlichen Bücherei. Man hatte ihn eifrig durch die winterlichen Straßen hasten sehen, barhäuptig, mit Büchern unter dem Arm, die er in die Billardhalle mitschleppte, oder wie er über Bäume in die Dachbuden von Freunden hinaufkletterte, wo er tagelang blieb, um zu lesen oder sich vor der Polizei zu verstecken.

Wir fuhren nach New York – ich hab vergessen, worum es ging, zwei farbige Mädchen–, aber da waren keine Mädchen; sie sollten ihn in einem Imbiss treffen und kreuzten nicht auf. Wir liefen zu seinem Parkplatz, wo er einiges zu erledigen hatte – er zog sich hinten im Schuppen um und machte sich vor einem gesprungenen Spiegel fein und so–, und dann zogen wir los. Und das war der Abend, an dem Dean Carlo Marx begegnete. Etwas Ungeheuerliches passierte, als Dean Carlo Marx begegnete. Zwei schlaue Köpfe, die sie sind, flogen sie aufeinander. Zwei scharfe Augen blickten in zwei scharfe Augen – der heilige Schwindler mit dem hellen Verstand und der kummervolle Dichter-Schwindler mit dem düsteren Verstand, nämlich Carlo Marx. Von diesem Moment an sah ich Dean nur noch selten, und es tat mir sogar ein bisschen leid. Ihre Energien prallten frontal aufeinander, ich war im Vergleich dazu ein Tölpel, ich konnte nicht Schritt halten mit ihnen. Der ganze verrückte Wirbel der Dinge, die kommen sollten, begann damals; er sollte alle meine Freunde und alles, was mir von meiner Familie geblieben war, in einer riesigen Staubwolke über der amerikanischen Nacht aufmischen. Carlo erzählte ihm von Old Bull Lee, Elmer Hassel, von Jane: Lee in Texas, der dort sein Gras zog, Hassel im Knast auf Riker’s Island, Jane, die im Benzedrinrausch halluzinierend über den Times Square wandelte, ihr Baby im Arm, und in der Klapsmühle von Bellevue landete. Und Dean erzählte Carlo von unwahrscheinlichen Leuten im Westen wie Tommy Snark, dem hinkefüßigen Billardhallen- und Spielautomatenhai und Kartenzocker und komischen Heiligen. Er erzählte ihm von Roy Johnson und Big Ed Dunkel, seinen Kumpels aus der Kindheit und von der Straße, von seinen unzähligen Mädchen und Sex-Partys und pornographischen Bildern, von seinen Helden, Heldinnen, Abenteuern. Zusammen rannten sie durch die Straßen und fuhren auf alles ab auf die Art, wie sie das damals draufhatten und die später so viel trauriger wurde, vorsichtig und inhaltsleer. Aber damals tanzten sie durch die Straßen wie Kobolde, und ich stolperte hinterher, wie ich mein Leben lang hinter Leuten hergestolpert bin, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe funkensprühende Feuerwerksvulkane und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und aus der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen «Aaah!» Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland? Weil er so gern lernen wollte, so zu schreiben wie Carlo, stürzte sich Dean sofort auf ihn, mit einem großen und liebenden Herzen, wie nur ein Schwindler es haben kann. «So, Carlo, jetzt lass mich mal sprechen – also, was ich sage, ist…» Ich sah sie ungefähr zwei Wochen lang nicht, und in dieser Zeit zementierten sie ihre Freundschaft in den teuflischen Ausmaßen eines süchtigen Tag-und-Nacht-Gesprächs.

Dann kam der Frühling, die große Zeit der Wanderschaft, und jeder in der verstreuten Clique machte sich bereit für die eine oder andere Reise. Ich arbeitete fleißig an meinem Roman, und als ich in der Mitte angelangt war, nach einem Ausflug mit meiner Tante in den Süden, wo wir meinen Bruder Rocco besuchten, war ich bereit, zum allerersten Mal an die Westküste zu fahren.

Dean war schon aufgebrochen. Carlo und ich hatten ihn zur Greyhound-Station an der 34th Street begleitet. Oben gab es da einen Fotoautomat, wo man Bilder für einen Vierteldollar machen konnte. Carlo nahm seine Brille ab und machte ein finsteres Gesicht. Dean schoss eine Profilaufnahme und blickte sich schüchtern um. Ich machte ein en-face-Bild, auf dem ich aussah wie ein dreißigjähriger Italiener, der jeden umbringen würde, der ein Wort gegen seine Mutter sagt. Dieses Foto schnitten Dean und Carlo säuberlich mit einer Rasierklinge in der Mitte durch, und jeder verstaute seine Hälfte in seiner Brieftasche. Dean hatte sich für die große Heimfahrt nach Denver in einen echten Geschäftsanzug geworfen, wie er an der Westküste üblich ist; er hatte seinen ersten Auftritt in New York hinter sich. Ich sage Auftritt, aber er hatte bloß wie ein Hund auf Parkplätzen geschuftet. Er war der phantastischste Parkplatzwächter der Welt, er konnte ein Auto mit vierzig Sachen rückwärts in eine enge Lücke quetschen, knapp vor der Mauer bremsen, rausspringen, zwischen Kotflügeln durchrennen, in den nächsten Wagen springen, mit fünfzig Meilen in der Stunde auf einem kleinen Fleck wenden, schnell rückwärts rein in eine Parklücke, rrrums, die Handbremse reinknallen, dass man den Wagen hochschnellen sieht, während er raushechtet; dann schnell zur Kassenbude, im Sprint wie ein Hundertmeterläufer, den Parkschein aushändigen, in einen gerade angekommenen Wagen springen, bevor der Besitzer halb draußen ist, buchstäblich unter ihm durchtauchen, während er aussteigt, den Wagen mit klappernden Türen starten und losdonnern zum nächsten freien Platz, wenden, reinstoßen, bremsen, rausspringen, rennen; und diese Schufterei acht Stunden lang, ohne Pause, jeden Abend, in der täglichen Rushhour und in der Rushhour nach dem Theater, in speckigen Pennerhosen, einer zerschlissenen, pelzgefütterten Jacke und mit klatschenden kaputten Schuhen. Jetzt hatte er sich für die Fahrt nach Hause einen neuen Anzug gekauft; blau, Nadelstreifen, mit Weste und allem Drum und Dran – für elf Dollar an der Third Avenue, dazu eine Uhr mit Uhrkette und eine Reiseschreibmaschine, auf der er in einem möblierten Zimmer in Denver anfangen wollte zu schreiben, sobald er dort einen Job gefunden hatte. Unser Abschiedsessen bestand aus Frankfurtern mit Bohnen in einem Riker’s in der Seventh Avenue, und dann stieg Dean in den Bus, an dem Chicago stand, und brauste los in die Nacht. Da fuhr er hin, unser Hitzkopf. Ich schwor mir, den gleichen Weg zu nehmen, wenn erst der Frühling richtig blühte und das Land wachküsste.

Und das war eigentlich der Anfang von meinen Erfahrungen unterwegs, und die Dinge, die kommen sollten, sind zu phantastisch, um sie hier nicht zu erzählen.

Ja, und nicht nur weil ich Schriftsteller war und neue Erfahrungen suchte, wollte ich Dean näher kennenlernen, und auch nicht nur, weil mein Herumhängen auf dem Campus einen Kreislauf vollendet hatte und eine Blamage war, sondern auch, weil er mir irgendwie, trotz aller Unterschiede zwischen uns, wie ein lange verlorener Bruder vorkam; der Anblick seines knochigen Schmerzensgesichts mit den langen Koteletten und des angespannten schwitzenden muskulösen Nackens erinnerte mich an meine Kindheit an den Färbereiabwassertümpeln und Badepfützen und Flussufern von Paterson und am Passaic River. Seine schmutzigen Arbeitsklamotten hingen mit solcher Anmut an ihm – bei keinem Maßschneider konnte man einen besseren Sitz kaufen, man konnte ihn sich nur beim «Naturschneider natürlicher Lebensfreude» verdienen, so wie Dean es getan hatte, bei all seiner Schufterei. Und in seiner aufgeregten Art zu reden hörte ich wieder die Stimmen alter Gefährten und Brüder unter der Brücke, zwischen den Motorrädern, in der von Wäscheleinen durchzogenen Nachbarschaft und auf schläfrigen Türstufen am Nachmittag, wo die Jungs Gitarre spielten, während ihre großen Brüder in den Textilfabriken arbeiteten. Alle meine anderen derzeitigen Freunde waren «Intellektuelle» – Chad, der Nietzscheaner und Anthropologe, Carlo Marx mit seinen bekloppten surrealistischen, leisen, ernsten, irren Reden, Old Bull Lee und seine kritische Motzerei gegen alles und jedes–, oder sie waren heimliche Kriminelle wie Elmer Hassel mit seinem gelangweilten höhnischen Grinsen; genauso Jane Lee, die sich auf ihrer Couch mit Orientdecke wälzte und über den New Yorker die Nase rümpfte. Aber Deans Intelligenz war in jeder Hinsicht genauso geschult, brillant und umfassend, nur ohne die öde Intellektualität. Und seine «Kriminalität» hatte nichts Schmollendes oder Spöttisches; sie war ein unbändiger, bejahender Ausbruch amerikanischer Lebensfreude; sie war der Westen selbst, der Westwind, eine Ode aus der Prärie, etwas Neues, lange Vorhergesagtes und lange Ersehntes (er knackte Autos nur zum Spaß für Spritztouren). Außerdem vertraten alle meine New Yorker Freunde den negativen, albtraumhaften Standpunkt, dass die Gesellschaft abzulehnen sei, und lieferten ihre müden, bücherschlauen oder politischen oder psychoanalytischen Gründe dafür, während Dean nur so durch die Gesellschaft raste, gierig nach Brot und nach Liebe; ihm war es egal, ob so oder anders, «solange ich nur an das nette Mädchen mit ihrem süßen Etwas zwischen den Beinen rankomme, Mensch» und «solange wir was zu essen haben, Mann, verstehst du mich? Ich bin hungrig, ich verhungere, lass uns sofort was essen!» – und schon stürzten wir los und aßen, wie es, so spricht der Weise Salomo, «dein Teil ist unter der Sonne».

Ein westlicher Verwandter der Sonne – das war Dean. Obwohl meine Tante mich warnte, er würde mich in Schwierigkeiten bringen, hörte ich einen neuen Ruf und sah einen neuen Horizont und glaubte daran, jung, wie ich war; und ein paar kleine Schwierigkeiten oder auch, dass Dean mich als Kumpel abwies, mich hängenließ, wie er es später tun sollte, verhungernd am Straßenrand und auf dem Krankenbett – was machte das schon? Ich war ein junger Schriftsteller und wollte abheben.

Irgendwo unterwegs, das wusste ich, gab es Mädchen, Visionen, alles; irgendwo auf dem Weg würde mir die Perle überreicht werden.

zwei

Im Monat Juli 1947, nachdem ich etwa fünfzig Dollar von meinem Veteranensold gespart hatte, war ich so weit, dass ich an die Westküste fahren konnte. Mein Freund Remi Boncœur hatte mir einen Brief aus San Francisco geschrieben und gesagt, ich solle kommen und mit ihm auf einem Rund-um-die-Welt-Dampfer in See stechen. Er schwor, er könne mir einen Job im Maschinenraum verschaffen. Ich schrieb zurück und sagte, ich wäre schon mit irgendeinem alten Frachter zufrieden, solange ich ein paar längere Südseereisen unternehmen und genügend Geld mit heimbringen könne, um mich im Haus meiner Tante über Wasser zu halten, bis ich mein Buch fertig hätte. Er sagte, er habe eine Hütte in Mill City, und dort hätte ich alle Zeit der Welt zum Schreiben, während wir die lästige Suche nach dem Schiff hinter uns brächten. Er lebte mit einem Mädchen namens Lee Ann zusammen; sie sei eine wunderbare Köchin, schrieb er, und alles werde klargehen. Remi war ein alter Schulfreund von mir, ein Franzose, aufgewachsen in Paris und ein wirklich verrückter Typ – wie verrückt, das wusste ich damals noch nicht. Er erwartete meine Ankunft also in zehn Tagen. Meine Tante war einverstanden mit meiner Reise nach Westen; es werde mir guttun, sagte sie, ich hätte den ganzen Winter so hart gearbeitet und sei kaum an die Luft gekommen; sie lamentierte nicht einmal, als ich ihr sagte, dass ich ein Stück weit trampen müsse. Sie wünschte sich nur, dass ich heil und ganz wiederkäme. Also ließ ich mein dickes, halbfertiges Manuskript auf dem Schreibtisch liegen, zog eines Morgens zum letzten Mal meine gemütliche Bettdecke glatt, nahm meinen Segeltuchsack, in dem ich ein paar wichtige Dinge verstaut hatte, und machte mich auf den Weg zum Pazifischen Ozean, mit fünfzig Dollar in der Tasche.

Monatelang hatte ich in Paterson über Landkarten der Vereinigten Staaten gebrütet, hatte sogar Bücher über die Pionierzeit gelesen und mir Namen wie Platte und Cimarron und so weiter auf der Zunge zergehen lassen, und auf der Straßenkarte war eine lange rote Linie eingezeichnet, die Route 6, die von der nördlichen Spitze von Cape Cod direkt nach Ely, Nevada, führte und dort abbog, runter nach Los Angeles. Ich würde einfach den ganzen Weg bis Ely auf der 6 bleiben, sagte ich mir, und zog zuversichtlich los. Um auf die 6 zu kommen, musste ich zum Bear Mountain hinauf. Voller Träume, was ich in Chicago, in Denver und schließlich in San Francisco machen würde, stieg ich an der Seventh Avenue in die Subway und fuhr bis zur Endstation an der 242nd Street und nahm dort einen Trolley-Bus nach Yonkers hinein; im Zentrum von Yonkers stieg ich um in einen Bus nach Außerhalb und fuhr bis zum Stadtrand am Ostufer des Hudson River. Wenn du eine Rose in den Hudson wirfst, an seinem geheimnisvollen Ursprung in den Adirondacks, stell dir nur vor, wo sie überall vorbeikommt, während sie für immer ins Meer hinausschwimmt – stell dir nur das wunderschöne Hudson-Tal vor. Ich fing also an mit der Tramperei. Fünf verschiedene Wagen brachten mich zu der erwünschten Bear-Mountain-Brücke, wo die Route 6 im Bogen aus Neuengland hereinschwenkt. Als ich dort endlich ausstieg, fing es an, in Strömen zu regnen. Nicht nur dass es dort keinen Verkehr gab, es schüttete wie aus Eimern, und weit und breit war nichts, wo ich mich unterstellen konnte. Ich musste rennen und unter ein paar Fichten Deckung suchen; das nützte nichts; ich fing an, zu heulen und zu fluchen, und schlug mich vor den Kopf, dass ich so ein verdammter Esel war. Ich war gute sechzig Kilometer nördlich von New York; den ganzen Weg hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass ich an diesem meinem ersten großen Tag immer nur nach Norden fuhr, statt in den heißersehnten Westen. Jetzt saß ich an der nördlichsten Ecke meiner Wegstrecke fest. Ich lief einen halben Kilometer bis zu einer hübschen aufgegebenen Tankstelle im englischen Cottage-Stil und stellte mich unter das tropfende Dach. Hoch über mir schickte der mächtige borstige Bear Mountain Donnerschläge durch die Gegend, die mich Gottesfurcht lehrten. Ich sah nichts als dampfende Bäume und schaurige Wildnis, bis in den Himmel hinauf. «Was, zum Teufel, mache ich hier?», fluchte ich und schrie jammernd nach Chicago. «Die anderen haben jetzt alle den größten Spaß, sie machen dies, machen das, und ich bin nicht dabei, wann werde ich endlich dort sein!» – und so weiter. Schließlich hielt ein Auto vor der verlassenen Tankstelle; der Mann und die zwei Frauen darin wollten die Landkarte studieren; ich trat vor und gestikulierte im Regen; sie berieten sich, ich sah aus wie ein armer Irrer, klar, mit meinem klatschnassen Haar und meinen triefenden Schuhen. Meine Schuhe, verdammter Idiot, der ich bin, waren mexikanische Huaraches, geflochtene Sandalen wie ein Sieb und für die Regennacht über Amerika und die rauen Nächte auf der Landstraße ungeeignet. Aber die Leute ließen mich einsteigen und nahmen mich weiter nach Norden mit, bis nach Newburgh, was mir immerhin besser schien, als die ganze Nacht in der Wildnis am Bear Mountain festzusitzen. «Außerdem», sagte der Mann, «gibt es keinen Durchgangsverkehr auf der 6.Wenn Sie nach Chicago wollen, sollten Sie lieber in New York den Holland-Tunnel nehmen und weiter Richtung Pittsburgh», und ich wusste, der Mann hatte recht. Mein Traum aber war in die Binsen gegangen, diese blöde, am häuslichen Herd ausgeheckte Idee, dass es wunderbar sein müsse, einer einzigen großen roten Linie quer durch Amerika zu folgen, statt es auf verschiedenen kleineren und größeren Straßen zu versuchen.

In Newburgh hatte der Regen aufgehört. Ich lief hinunter zum Fluss, und ich musste nach New York mit dem Bus zurückfahren, zusammen mit einer Delegation von Schullehrern, die von einem Wochenende in den Bergen zurückkamen – plapper-plapper blah-blah. Ich fluchte, dass ich so viel Zeit und Geld vergeudet hatte, und sagte mir immer wieder: Ich wollte doch nach Westen, und jetzt bin ich den ganzen Tag und bis in die Nacht hin und her gefahren, nach Norden, nach Süden, wie einer, der nicht richtig in Gang kommt. Ich schwor mir: Morgen werde ich in Chicago sein. Und um sicherzugehen, stieg ich in einen Autobus nach Chicago, gab den größten Teil meines Geldes aus – und scherte mich einen Dreck darum, Hauptsache, ich würde morgen in Chicago sein.

drei

Es war eine ganz normale Busfahrt mit schreienden Babys und brütender Sonne und Farmersleuten, die in Pennsylvania in einem Städtchen nach dem anderen zustiegen, bis wir auf die Ebene von Ohio kamen und wirklich losbrausten, vorbei an Ashtabula und quer durch Indiana bei Nacht. Frühmorgens war ich tatsächlich in Chicago und fand ein Zimmer beim YMCA und legte mich schlafen, mit nur noch sehr wenigen Dollar in der Tasche. Chicago nahm ich später unter die Lupe, nach einem gut verschlafenen Tag.

Wind vom Michigan-See, Bebop auf dem Loop, lange Spaziergänge in der Gegend von South Halsted und North Clark und ein langer Mitternachtsgang durch den Dschungel, wo ein Streifenwagen mich als verdächtige Gestalt verfolgte. Damals, 1947, war der Bebop überall in Amerika wie verrückt im Kommen. Die Jungs auf dem Loop jazzten, aber mit müden Mienen, weil der Bop irgendwo zwischen seiner ornithologischen Charlie-Parker-Phase und einer anderen Phase steckte, die mit Miles Davis begann. Und während ich dort saß und diesem Sound der Nacht lauschte, zu dessen Inbegriff der Bebop für alle von uns geworden ist, musste ich an all meine Freunde denken, vom einen Ende des Landes bis zum andern, und wie sie doch eigentlich alle auf demselben riesigen Hinterhof hockten, mit ihrem Irrsinn und mit ihrer Raserei. Und zum ersten Mal in meinem Leben fuhr nun auch ich in den Westen – am folgenden Nachmittag. Es war ein warmer, schöner Tag, genau richtig zum Trampen. Um aus dem unwahrscheinlichen Durcheinander des Verkehrs in Chicago herauszukommen, nahm ich einen Bus nach Joliet, Illinois, ging am Zuchthaus von Joliet vorbei und stellte mich, nach einem Spaziergang durch die belaubten schäbigen Straßen, unmittelbar am Stadtrand auf und zeigte mit dem Daumen in die Richtung, in die ich wollte. Den ganzen Weg von New York bis Joliet im Bus, und ich war über die Hälfte meines Geldes los.

Die erste Strecke fuhr ich auf einem Dynamit-Laster mit roter Flagge, gut dreißig Meilen in das weite grüne Illinois hinein, und der Truckdriver zeigte mir die Stelle, wo Route 6, auf der wir fuhren, sich mit Route 66 kreuzt, bevor sie beide in unwahrscheinliche Fernen nach Westen schießen. Nachmittags gegen drei, nach einem Apfelkuchen mit Eiskrem in einem Kiosk am Straßenrand, hielt eine Frau mit einem kleinen Flitzer für mich an. Eine irre Freude durchzuckte mich, als ich zu dem Wagen rannte. Aber sie war eine Frau mittleren Alters, tatsächlich Mutter von Söhnen in meinem Alter, und wollte jemanden, der ihr bis Iowa fahren half. Ich war begeistert. Iowa! Gar nicht so weit von Denver, und wenn ich erst in Denver war, konnte ich ausspannen. Sie fuhr die ersten paar Stunden, irgendwann wollte sie unbedingt irgendwo eine alte Kirche besichtigen, als ob wir Touristen wären, und dann übernahm ich das Steuer und fuhr, obwohl ich kein so guter Fahrer bin, den Rest der Strecke durch Illinois direkt bis Davenport, Iowa, via Rock Island. Und hier sah ich zum ersten Mal im Leben meinen geliebten Mississippi, trocken im sommerlichen Dunst, das Wasser niedrig, mit seinem gewaltigen geilen Geruch – er riecht wie der rohe Körper Amerikas selbst, weil er ihn dauernd umspült. Rock Island– Eisenbahnschienen, Bretterbuden, ein kleines Innenstadtviertel; und über die Brücke nach Davenport, einer ganz ähnlichen Stadt, überall der Geruch von Sägespänen in der warmen Sonne des Mittleren Westens. Hier musste die Dame auf einer anderen Route weiterfahren, nach der Stadt in Iowa, in der sie zu Hause war, und ich stieg aus.

Die Sonne ging gerade unter. Nach ein paar kalten Bieren wanderte ich zum Stadtrand hinaus, und es war ein langer Weg. All die Männer fuhren von der Arbeit nach Hause, Eisenbahnermützen und Baseballmützen und Mützen aller Art auf dem Kopf, genau wie in jeder anderen Stadt nach Feierabend. Einer von ihnen nahm mich mit, den Hügel hinauf, und ließ mich an einer verlassenen Straßenkreuzung am Rand der Prärie stehen. Schön war es dort. Die einzigen Autos, die vorbeikamen, waren die Autos von Farmern; sie warfen mir misstrauische Blicke zu, sie ratterten weiter, die Kühe kamen nach Hause. Kein einziger Lastwagen. Ein paar schnelle Wagen schossen vorbei. Ein Junge in einer frisierten alten Kiste sauste mit flatterndem Halstuch vorbei. Die Sonne ging ganz unter, und ich stand in der violetten Dunkelheit. Jetzt bekam ich es mit der Angst. Es gab nicht einmal Straßenlaternen hier auf dem platten Land in Iowa; ein paar Minuten, und niemand würde mich mehr stehen sehen. Zum Glück kam ein Mann, der zurück nach Davenport wollte, und nahm mich in die Innenstadt mit. Aber da war ich wieder am Ausgangspunkt.

Ich ging in den Busbahnhof, setzte mich hin und überlegte mir die Lage. Ich aß noch einen Apfelkuchen mit Eiskrem; ich aß praktisch nichts anderes auf dem ganzen Weg quer durchs Land, ich wusste, es war nahrhaft und es schmeckte natürlich köstlich. Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Ich stieg in Davenport in einen Bus, nachdem ich eine halbe Stunde lang eine Kellnerin im Café des Busbahnhofs angegafft hatte, und fuhr bis an den Stadtrand, diesmal aber dorthin, wo die Tankstellen sind. Hier donnerten, rrrums, die großen Trucks vorbei, und binnen zwei Minuten hielt einer für mich mit kreischenden Bremsen. Mit jubelnder Seele rannte ich hin. Und was für ein Fahrer – ein großer dicker harter Truckdriver mit vorquellenden Augen und einer heiseren Raspelstimme, der die Gänge nur so reindrosch und die Kupplung trat und seine Karre in Fahrt brachte und mir kaum Beachtung schenkte. So konnte ich meine müde Seele ein bisschen ausruhen, denn das ist eine der größten Unannehmlichkeiten beim Trampen, dass du mit unzähligen Leuten reden und ihnen das Gefühl geben musst, dass sie keinen Fehler gemacht haben, als sie dich auflasen. Du musst sie sogar unterhalten, und das alles ist ein großer Stress, wenn man auf Achse ist und nicht vorhat, in Hotels zu schlafen. Der Typ überbrüllte einfach das Dröhnen und ich brauchte nur zurückzubrüllen, und wir entspannten uns. Er schrubbte die Kiste in einem Rutsch bis Iowa und erzählte mir brüllend die komischsten Geschichten, wie er noch in jeder Stadt, die ein unfaires Tempolimit hatte, die Polizei angeschmiert hatte, und immer wieder sagte er: «Diese verdammten Cops, mich kriegen sie nicht am Arsch!» Gerade als wir nach Iowa City hineinrollten, sah er einen anderen Truck, der hinter uns herkam, und weil er in Iowa City abbiegen musste, blinkte er den anderen Typ mit den Rücklichtern an und bremste, sodass ich rausspringen konnte, was ich auch tat mit meinem Seesack, und der andere Lastwagen, mit diesem Wechsel einverstanden, hielt für mich an, und wieder saß ich im Handumdrehen in einer riesigen hohen Kabine, bereit, Hunderte von Meilen durch die Nacht zu brausen. Und wie war ich glücklich! Der neue Truckdriver war so verrückt wie der andere und brüllte genauso, und ich brauchte mich nur zurückzulehnen und dahinzurollen. Jetzt sah ich Denver schon vor mir aufragen wie das gelobte Land, weit draußen unter den Sternen, jenseits der Prärie von Iowa und der Ebene von Nebraska, und dahinter sah ich meine noch größere Vision von San Francisco wie ein Juwel in der Nacht. Zwei Stunden lang ließ er die Karre rollen und erzählte Geschichten, und dann, in einer Stadt in Iowa, wo Dean und ich Jahre später auf Verdacht in einem Cadillac angehalten wurden, der wie gestohlen aussah, schlief er ein paar Stunden auf dem Fahrersitz. Ich schlief auch und machte dann einen kleinen Spaziergang an der einsamen Backsteinmauer entlang, die von einer einzigen Laterne beleuchtet war, während am Ende all der kleinen Seitenstraßen die Prärie brütete, und der Duft von Mais war wie nächtlicher Tau.

Im Morgengrauen erwachte er mit einem Ruck. Wir donnerten los, und eine Stunde später wurde vor uns der Qualm von Des Moines über den grünen Maisfeldern sichtbar. Er musste jetzt sein Frühstück verzehren und wollte sich Zeit lassen, darum fuhr ich gleich weiter nach Des Moines, ungefähr vier Meilen, mitgenommen von zwei Typen von der University of Iowa; es war seltsam, in ihrem nagelneuen bequemen Auto zu sitzen und sie über Prüfungen reden zu hören, während wir locker in die Stadt sausten. Am liebsten hätte ich jetzt einen ganzen Tag lang geschlafen. Also ging ich zum YMCA und fragte nach einem Zimmer; sie hatten keins: Einer Eingebung folgend wanderte ich hinunter zu den Eisenbahngleisen – und davon gibt’s eine Menge in Des Moines – und landete in einem düsteren alten Präriegasthof neben dem Lokomotivschuppen und verschlief einen ganzen langen Tag auf einem großen sauberen harten weißen Bett, mit in die Wand geritzten schmutzigen Sprüchen neben meinem Kopfkissen und zerschlissenen gelben Fenstervorhängen, die vor die rauchige Szene des Rangierbahnhofs gezogen waren. Ich wachte auf, als die Sonne sich rot färbte; und das war das einzige Mal in meinem Leben und der sonderbarste Moment überhaupt, da ich einen Moment lang eindeutig nicht wusste, wer ich war – ich war weit fort von zu Hause, zerschlagen und müde von der Fahrt, in einem billigen Hotelzimmer, das ich noch nie gesehen hatte, und hörte draußen Dampf zischen, das alte Holz des Hotels knarren und Schritte über mir, und all die traurigen Geräusche, und ich blickte zu der rissigen Zimmerdecke hinauf und wusste wirklich nicht, wer ich war, vielleicht fünfzehn sonderbare Sekunden lang. Angst hatte ich nicht; ich war einfach jemand anders, ein Fremder, und mein ganzes Leben war ein spukhaftes Leben, das Leben eines Gespenstes. Ich war auf halbem Weg meiner Reise durch Amerika, an der Trennlinie zwischen dem Osten meiner Jugend und dem Westen meiner Zukunft, und vielleicht ist das der Grund, warum es dort und damals passierte, an diesem sonderbaren roten Nachmittag.

Aber ich musste weiter und durfte nicht jammern, darum schnappte ich meinen Seesack, sagte dem alten Hotelportier, der neben seinem Spucknapf saß, so long und ging etwas essen. Ich aß Apfelkuchen mit Eiskrem – der wurde immer besser, je weiter ich nach Iowa kam, das Kuchenstück größer, das Eis sahniger. Es gab die schönsten Mädchen in Des Moines, Scharen von ihnen, wohin ich auch blickte an diesem Nachmittag – sie kamen von der Schule und gingen nach Hause–, aber ich hatte jetzt keine Zeit für solche Gedanken und versprach mir ein Fest in Denver. Carlo Marx war schon in Denver; Dean war dort; Chad King und Tim Gray waren da, es war ihre Heimatstadt; Marylou war da; und von einer riesigen Clique war die Rede, darunter Ray Rawlins und seine schöne blonde Schwester Babe Rawlins; zwei Kellnerinnen, die Dean kannte, die Schwestern Bettencourt; und sogar Roland Major, mein alter Dichterkumpel vom College, war da. Ich dachte an sie alle voller Vorfreude und Erwartung. Also lief ich an den schönen Mädchen vorbei, und die schönsten Mädchen der Welt wohnen in Des Moines.

Ein Mann mit einer Art Werkzeugschuppen auf Rädern, einem Lastwagen voller Werkzeug, den er aufrecht stehend lenkte wie ein moderner Milchmann, nahm mich die lange Steigung mit hinauf; oben bekam ich sofort einen Lift, ein Farmer und sein Sohn, die nach Adel in Iowa unterwegs waren. In dieser Stadt, unter einer großen Ulme bei einer Tankstelle, schloss ich Bekanntschaft mit einem anderen Tramper; er war ein typischer New Yorker, ein Ire, der die meisten Jahre seines Arbeitslebens bei der Post einen Lastwagen gefahren hatte und jetzt unterwegs nach Denver war, zu einem Mädchen und einem neuen Leben. Ich nehme an, er war vor irgendetwas in New York auf der Flucht, wahrscheinlich vor der Polizei. Er war ein richtig rotnäsiger junger Suffkopp von dreißig Jahren und hätte mich normalerweise angeödet, nur dass meine Sinne jetzt nach jeder Art menschlicher Freundschaft hungerten. Er trug einen ausgefransten Pullover und eine ausgebeulte Hose und hatte keinerlei Gepäck bei sich – nur eine Zahnbürste und Taschentücher. Er sagte, wir sollten zusammen trampen. Ich hätte nein sagen sollen, weil er am Straßenrand eine ziemlich schlimme Figur machte. Aber wir blieben zusammen und fuhren mit einem schweigsamen Mann bis Stuart, Iowa, einer Stadt, wo wir wirklich steckenblieben. Wir standen vor dem Eisenbahn-Fahrkartenkiosk in Stuart und warteten auf Autoverkehr in Richtung Westen, warteten gute fünf Stunden lang, bis die Sonne unterging, und schlugen die Zeit tot, anfangs mit Dingen, die wir von uns selbst erzählten, dann erzählte er schmutzige Geschichten, dann kickten wir nur noch Kieselsteine über den Asphalt und gaben irgendwelche blödsinnigen Geräusche von uns. Schließlich hatten wir es satt. Ich beschloss, einen Dollar für Bier zu opfern; wir gingen in einen alten Saloon in Stuart und hoben ein paar. Dabei besoff er sich wie an jedem Feierabend zu Hause an der Ninth Avenue und krähte mir fröhlich alle fiesen Träume seines Lebens ins Ohr. Irgendwie mochte ich ihn; nicht weil er ein guter Typ war, wie sich später herausstellte, sondern weil er sich für alles Mögliche begeistern konnte. In der Dunkelheit stellten wir uns wieder an die Straße, und natürlich hielt keiner, und es kam auch sonst fast niemand vorbei. Das ging so bis drei Uhr morgens. Eine Zeitlang versuchten wir auf der Bank im Fahrkartenkiosk zu schlafen, aber der Telegraph tickerte die ganze Nacht und wir konnten nicht einschlafen, und draußen donnerten die großen Güterzüge vorbei. Wir wussten nicht, wie man richtig auf einen Güterzug aufspringt; wir hatten es noch nie gemacht; wir wussten nicht, ob die Züge nach Osten oder nach Westen fuhren oder was für Kastenwagen oder Pritschenwagen und abgetaute Kühlwagen man nehmen musste und so fort. Als daher kurz vor Tagesanbruch der Bus nach Omaha kam, sprangen wir auf und gesellten uns zu den schlafenden Passagieren – ich zahlte für ihn wie für mich. Er hieß Eddie. Er erinnerte mich an meinen angeheirateten Vetter aus der Bronx. Das war der Grund, warum ich mit ihm zusammenblieb. Es war, als hätte man einen alten Freund dabei, einen grinsenden gutmütigen Typ, mit dem man blödeln konnte.

Im Morgengrau kamen wir nach Council Bluff; ich spähte hinaus. Den ganzen Winter über hatte ich von den großen Planwagenzügen gelesen, die sich hier berieten, bevor sie sich auf den Weg nach Oregon und Santa Fe machten; und natürlich waren da jetzt lauter nette Vororthäuschen der einen oder anderen Sorte, die sich in der tristen grauen Morgendämmerung ausbreiteten. Dann Omaha und, bei Gott, der erste Cowboy, den ich sah; mit einem Zehn-Gallonen-Hut auf dem Kopf ging er in Texasstiefeln an den nackten Mauern der Fleischlagerhäuser entlang und sah aus wie jeder abgetakelte Typ im Morgengrauen an den Backsteinmauern der Ostküste, bis auf die Kostümierung. Wir stiegen aus und wanderten gleich den Hügel hinauf, diese lange Steigung, die der mächtige Missouri in Jahrtausenden gebildet hatte und an der Omaha erbaut ist; so kamen wir aufs flache Land hinaus und hielten die Daumen hoch. Ein kurzes Stück nahm uns ein wohlhabender Rancher mit Zehn-Gallonen-Hut mit; er erzählte, das Tal des Platte River sei so breit wie das Niltal in Ägypten, und während er das sagte, sah ich die hohen Bäume in der Ferne, die sich am Flussbett entlangschlängelten, und die weiten grünen Felder ringsumher und fast war ich seiner Meinung. Und dann, als wir wieder an einer Straßenkreuzung standen und Wolken am Himmel aufzogen, rief uns ein anderer Cowboy, diesmal eins achtzig groß und mit bescheidenem Halb-Gallonen-Hut, zu sich herüber und wollte wissen, ob einer von uns Auto fahren könne. Natürlich konnte Eddie fahren, und er hatte auch einen Führerschein, ich dagegen nicht. Unser Cowboy hatte zwei Autos dabei, die er zurück nach Montana bringen wollte. Seine Frau war in Grand Island, und wir sollten einen der Wagen dorthin bringen, wo sie ihn übernehmen würde. Von dort wollte er weiter nach Norden fahren, und das würde das Ende unserer Fahrt mit ihm sein. Aber es waren gut hundert Meilen nach Nebraska hinein, und natürlich sprangen wir voll drauf an. Eddie fuhr allein mit dem Wagen voraus, der Cowboy und ich folgten im anderen, und kaum waren wir aus der Stadt, fing Eddie aus schierem Übermut an, die Karre auf neunzig Meilen pro Stunde zu jagen. «Verdammt, was macht der Junge da!», schrie der Cowboy und nahm die Verfolgung auf. Es war wie ein Wettrennen. Einen Moment dachte ich, Eddie wolle mit dem Wagen abhauen – und soviel ich weiß, wollte er das auch. Aber der Cowboy hängte sich an ihn, holte ihn ein und drückte aufs Horn. Eddie bremste ab. Der Cowboy hupte, er solle anhalten. «Junge, verdammt, bei diesem Tempo wird dir ein Reifen platzen. Kannst du nicht etwas langsamer fahren?»

«Oh, verdammt, bin ich tatsächlich neunzig gefahren?», sagte Eddie. «Hab ich gar nicht gemerkt auf dieser glatten Straße.»

«Lass dir nur Zeit, damit wir heil und ganz nach Grand Island kommen.»

«Wird gemacht.» Und wir setzten die Reise fort. Eddie hatte sich beruhigt und war vielleicht sogar schläfrig geworden. So fuhren wir an die hundert Meilen durch Nebraska und folgten den Schlangenlinien des Platte River mit seinen grünen Feldern.

«Während der Depression», erzählte mir der Cowboy, «bin ich mindestens einmal im Monat auf Güterzügen gefahren. In jenen Tagen konntest du Hunderte von Männern auf einem Pritschenwagen oder in einem Kastenwagen fahren sehen, und das waren nicht immer nur Landstreicher, es waren Arbeitslose aller Art, die von einer Stadt zur anderen zogen, manche waren aber auch einfach nur auf Wanderschaft. So ging das überall im Westen. Die Bremser machten einem damals keine Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, wie es heute ist. Nebraska kann mir gestohlen bleiben. Oh, Mitte der dreißiger Jahre war die Gegend hier nichts als eine riesige Staubwolke, so weit das Auge reichte. Man kriegte keine Luft zum Atmen. Der Boden schwarz. Ich war hier, damals. Meinetwegen können sie Nebraska den Indianern zurückgeben. Ich hasse diese verdammte Gegend mehr als jede andere auf der Welt. Montana, da wohne ich jetzt – Missoula. Komm mal rauf und sieh dir Gottes eigenes Land an.» Später am Nachmittag schlief ich ein, als er genug vom Erzählen hatte – und er war ein guter Erzähler.

Wir hielten irgendwo, um eine Kleinigkeit zu essen. Der Cowboy ging fort, um einen Ersatzreifen flicken zu lassen, und Eddie und ich setzten uns in eine Art selbstgebastelter Imbissbude. Ich hörte ein mächtiges Lachen, das mächtigste Lachen der Welt, und da kam auch schon ein ungehobelter kerniger Nebraska-Farmer mit einer Horde von anderen Typen in den Imbiss; man hörte ihr heiseres Bellen weit über die Prärie, über die ganze graue Welt dieses Tages. Alle anderen stimmten in sein Lachen ein. Er war der sorgloseste Typ der Welt und hatte ein riesiges Herz für jeden. Ich sagte mir: Wumm, hör zu, wie der Mann lacht. Das ist der Westen, hier bin ich im Westen. Dröhnend platzte er in die Imbissbude, brüllte nach Ma, und sie machte ihm die köstlichste Kirschenpastete von ganz Nebraska, und ich bekam auch was ab, mit einem Berg Eiskrem obendrauf. «Ma, mach mal schnell irgendwas zu essen, ehe ich anfange, mich selber aufzufressen, roh oder so was Blödes.» Er warf sich auf einen Hocker und machte ha ha ha ha. «Und schmeiß eine Handvoll Bohnen rein.» Das war der Geist des Westens, der hier neben mir saß. Am liebsten hätte ich alles über sein ganzes rauhes Leben erfahren und gewusst, was zum Teufel er all die Jahre gemacht hatte, außer so zu lachen und zu brüllen. Yippieee, jubelte meine Seele, und dann kam der Cowboy zurück und wir fuhren weiter nach Grand Island.

Im Handumdrehen waren wir da. Er fuhr weiter, seine Frau zu holen und seinem Schicksal entgegen, was immer ihn erwarten mochte, und Eddie und ich stellten uns wieder an die Straße. Ein paar junge Burschen nahmen uns mit – Halbstarke, Teenager, Farmer-Jungs in einer zusammengebastelten Kiste – und setzten uns weiter draußen irgendwo ab, in einem feinen Nieselregen. Dann kam ein alter Mann, der kein Wort sprach – nur Gott weiß, warum er uns mitnahm–, und brachte uns nach Shelton. Hier stand Eddie verloren vor einer gaffenden Bande von kleinen, vierschrötigen Omaha-Indianern am Straßenrand, die offenbar nicht wussten wohin und was tun. Jenseits der Straße war das Eisenbahngleis, und auf dem Wassertank stand: SHELTON. «Verdammt will ich sein», sagte Eddie staunend, «in dieser Stadt bin ich schon mal gewesen. Das war vor vielen Jahren, im Krieg, es war in der Nacht, spätnachts, und alle schliefen. Ich ging auf die Plattform raus, um eine zu rauchen, und da standen wir mitten im Nirgendwo, und alles war schwarz wie die Hölle, und ich schaue mich um und sehe das Wort Shelton auf dem Wassertank. Unterwegs zum Pazifik, alle schnarchten, jeder verdammte Trottel, und wir blieben nur paar Minuten stehen, Kohle laden oder so, und schon ging’s weiter. Hol mich der Teufel, dieses Shelton! Seither hab ich diese Stadt gehasst!» Und hier in Shelton blieben wir hängen. Genau wie in Davenport, Iowa, fuhren irgendwie nur Farmer in ihren Autos vorbei, und dann und wann ein Touristenwagen, was noch schlimmer ist, mit alten Männern am Steuer und ihren Ehefrauen, die auf Sehenswertes zeigten oder die Karten studierten und bequem zurückgelehnt alles mit misstrauischem Blick bedachten.

Es tröpfelte stärker, und Eddie fing an zu frieren; er hatte sehr wenig an. Ich fischte ein kariertes Wollhemd aus meinem Seesack, und er zog es an. Jetzt ging’s ihm besser. Ich hatte Schnupfen. Ich kaufte mir Hustenbonbons in einem armseligen Indianerladen. Dann ging ich in das winzige Postamt und schrieb meiner Tante eine Postkarte. Und wieder stellten wir uns an die graue Straße. Da stand es vor uns, Shelton, in Großbuchstaben auf dem Wassertank. Der Rock-Island-Express donnerte vorbei. Verschwommen sahen wir die Gesichter der Pullmanpassagiere vorbeifliegen. Der Zug jaulte durch die Prärie, dem Ziel unserer Sehnsucht entgegen. Es regnete immer stärker.

Ein hochgewachsener schlanker Typ mit Gallonen-Hut bremste auf der falschen Straßenseite und kam zu uns rüber; er sah aus wie ein Sheriff. Wir legten uns insgeheim unsere Geschichten zurecht. Gemächlich kam er herübergeschlendert. «Na, Jungs, fahrt ihr irgendwohin oder bloß so rum?» Wir verstanden die Frage nicht, aber es war eine verdammt gute Frage.

«Wieso?», fragten wir.

«Na, ich hab da unten an der Straße, ein paar Meilen weiter, einen kleinen Rummelplatz und suche ’n paar willige Burschen, die arbeiten und sich ’n Dollar verdienen wollen. Hab die Konzession fürs Roulette und die Konzession für ein Wurfspiel, wisst ihr, diese Holzringe, die man nach Puppen wirft, um sein Glück zu versuchen. Wenn ihr bei mir arbeiten wollt, kriegt ihr ein Drittel der Einnahmen.»

«Kost und Unterkunft?»

«Ein Bett kriegt ihr bei mir, aber kein Essen. Verpflegen müsst ihr euch in der Stadt. Wir kommen viel rum.» Wir überlegten es uns. «Is ’ne gute Gelegenheit», sagte er und wartete geduldig auf unsere Entscheidung. Wir kamen uns blöd vor und wussten nicht, was wir sagen sollten, und ich zumindest wollte nicht auf einem Rummelplatz hängenbleiben. Ich hatte es verdammt eilig, die Clique in Denver wiederzusehen.

Ich sagte: «Ich weiß nicht, ich will möglichst schnell weiter und hab glaube ich keine Zeit.» Eddie sagte auch so was, und der Alte winkte mit der Hand und schlenderte lässig zu seinem Wagen zurück und fuhr weg. Und das war’s dann. Wir lachten noch eine Weile darüber und spekulierten, wie es wohl gewesen wäre. Ich hatte Visionen von finsteren staubigen Nächten in der Prärie, sah Familien von Nebraska-Farmern vorbeimarschieren mit ihren rosigen, alles ehrfürchtig bestaunenden Kindern und wusste, ich hätte mich ganz beschissen gefühlt, hätte ich sie mit all diesen billigen Jahrmarkttricks übers Ohr gehauen. Und das Riesenrad kreiste in der Dunkelheit über dem flachen Land und, Allmächtiger, diese trostlose Musik vom Karussell, während ich doch weiter wollte zu meinem Ziel – und dann schlafen in einem Bett aus Sackleinen in einem vergoldeten Zirkuswagen!

Eddie erwies sich als ziemlich geistesabwesender Reisekumpel. Irgendwann kam eine komische alte Kiste vorbei, am Steuer ein alter Mann; sie war irgendwie aus Aluminium, ein viereckiger Kasten – ein Wohnwagen zweifellos, aber ein sonderbarer, verrückter Wohnwagen der Marke Nebraska-Eigenbau. Er fuhr sehr langsam und hielt. Wir rannten hin; der Mann sagte, er könne nur einen mitnehmen; ohne ein Wort sprang Eddie auf und rumpelte langsam davon, und mit ihm mein kariertes Wollhemd. Na, weg mit Schaden, ich winkte dem Hemd Lebewohl; es hatte sowieso nur einen sentimentalen Erinnerungswert für mich. Lange stand ich in unserem gottverdammten schicksalhaften Shelton, lange, mehrere Stunden lang, und dauernd kam es mir so vor, als würde es Abend werden; tatsächlich war es erst früh am Nachmittag, aber schon finster. Denver, Denver, wie sollte ich je nach Denver kommen? Ich wollte schon aufgeben und dachte daran, mir einen Kaffee zu leisten, da hielt ein ziemlich neuer Wagen mit einem jungen Mann am Steuer.

«Na, wohin?»

«Denver.»

«Ich kann dich hundertsechzig Kilometer in die Richtung mitnehmen.»

«Phantastisch, phantastisch, Sie haben mir das Leben gerettet.»

«Bin früher selber getrampt, darum nehme ich immer einen Kumpel mit.»

«Täte ich auch, wenn ich ein Auto hätte.» Und so redeten wir, und er erzählte mir sein halbes Leben, das nicht besonders spannend war, und ich schlief ein Weilchen und wachte direkt vor der Stadt Gothenburg auf, wo er mich absetzte.

vier

Die sagenhafteste Mitfahrgelegenheit meines Lebens sollte jetzt kommen, ein Lastwagen mit flacher Pritsche, darauf sechs, sieben Jungen ausgestreckt, und die Fahrer, zwei junge blonde Farmer aus Minnesota, sammelten jede Menschenseele auf, die sie am Straßenrand fanden – die zwei lustigsten, fröhlichsten, nett aussehenden Holzköpfe, die zu treffen man sich wünschen konnte, beide in Baumwollhemden und Latzhosen und sonst nichts; beide muskelbepackt und aufrichtig, mit einem breiten Hallo-Lächeln für jeden, der ihnen über den Weg lief. Ich rannte hin und sagte: «Ist noch Platz?» Sie sagten: «Klar, spring auf, is’ Platz genug für alle.»

Ich war noch nicht auf der flachen Pritsche, als der Laster schon losdonnerte; ich taumelte, ein Mitfahrer packte mich, und ich ließ mich nieder. Jemand reichte eine Pulle Fusel herum, das heißt den traurigen Rest. Ich trank einen kräftigen Schluck in der wilden, poetischen Tröpfelregenluft von Nebraska. «Yippieee, los geht’s!», schrie ein Junge mit Baseballkappe, und die beiden vorn jagten den Laster auf hundertzehn Sachen und überholten alles. «Wir sind schon seit Des Moines mit diesem Hurensohn von Karre unterwegs. Die Kerle machen nie Rast. Dann und wann musst du schreien, wegen ’ner Pinkelpause, sonst musst du in den Wind schiffen und dich dabei festhalten, Bruder, gut festhalten.»

Ich sah mir die Gesellschaft an. Da waren zwei junge Farmerburschen aus North Dakota mit roten Baseballkappen, was die Standardkopfbedeckung für Farmerburschen aus North Dakota ist, und sie waren unterwegs zur Erntearbeit; ihre Väter hatten ihnen freigegeben, damit sie einen Sommer lang trampen konnten. Da waren zwei Stadtjungen aus Columbus, Ohio, Football-Spieler in der Highschool-Mannschaft, die Kaugummi kauten, in die Sonne blinzelten und gegen den Wind sangen und sagten, sie wollten den ganzen Sommer lang per Anhalter durch die Vereinigten Staaten gondeln. «Wir fahren nach Los Angeles!», schrien sie.

«Was wollt ihr da machen?»

«Keine Ahnung, verdammt. Was soll’s?»

Dann war da ein hochgewachsener dünner Bursche, der einen hinterhältigen Blick hatte. «Woher bist du?», fragte ich. Ich lag neben ihm auf der Pritsche; man konnte nicht aufrecht sitzen, ohne runterzufliegen, es gab keine Seitenklappen. Er drehte sich langsam zu mir um, machte den Mund auf und sagte: «Mon-ta-na.»

Schließlich waren da Mississippi Gene und sein Mündel. Mississippi Gene war ein kleiner schwarzhaariger Mann, der auf Güterzügen im Land herumfuhr, ein dreißigjähriger Tramp, der jedoch so jugendlich aussah, dass man sein Alter nie erraten hätte. Und er saß mit gekreuzten Beinen auf den Brettern, schaute über die Felder und sagte Hunderte von Kilometern kein Wort, bis er sich schließlich irgendwann zu mir umdrehte und fragte: «Wohin fährst du?»

«Denver», sagte ich.

«Ich hab da eine Schwester, hab sie aber seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen.» Er sprach melodiös und langsam. Er hatte Geduld. Sein Mündel war ein sechzehnjähriger großer Blonder, auch in Landstreicherlumpen; das heißt, sie trugen alte Klamotten, die vom Ruß der Lokomotiven und vom Schmutz der Güterwagen und vom Schlafen auf der Erde geschwärzt waren. Auch der blonde Junge war still, er schien vor etwas davonzulaufen, vielleicht vor der Polizei, nach der Art, wie er geradeaus vor sich hin schaute und sich besorgt und gedankenversunken die Lippen leckte. Montana Slim sprach die beiden manchmal mit einem hämischen falschen Lächeln an. Sie achteten nicht auf ihn. Slim war überhaupt ein falscher Typ. Ich hatte Angst vor seinem breiten, dämlichen Grinsen, mit dem er einem unverwandt ins Gesicht starrte wie ein halb Irrer.

«Hast du Geld?», fragte er mich.

«Nein, verdammt, vielleicht genug für ’n Pint Whisky, bis ich nach Denver komme. Und du?»

«Ich weiß, wo ich was auftreiben kann.»

«Wo?»

«Überall. Man kann immer irgendwen in ’ner dunklen Gasse ansprechen, was?»

«Sicher, das kann man wohl.»

«Hab ich gar nichts gegen, wenn ich mal wirklich Knete brauch. Jetzt will ich nach Montana, meinen Vater besuchen. Ich muss in Cheyenne aussteigen aus der Kiste und in eine andere Richtung weiterfahren. Die beiden Verrückten da vorn fahren nach Los Angeles.»

«Direkt?»

«Ohne Umsteigen – wenn du nach L.A. willst, sitzt du im richtigen Zug.»

Ich überlegte; die Idee, die ganze Nacht durch Nebraska, Wyoming und morgens durch die Wüste von Utah zu sausen, am Nachmittag wahrscheinlich durch die Wüste von Nevada, und tatsächlich in absehbarer Zeit in Los Angeles zu sein, hätte mich beinahe veranlasst, meine Pläne zu ändern. Aber ich musste nach Denver. Also musste auch ich in Cheyenne aussteigen und all die Kilometer nach Süden bis Denver trampen.

Ich war froh, als die beiden Farmerburschen aus Minnesota, denen der Truck gehörte, in North Platte anzuhalten beschlossen, um etwas zu essen; ich wollte sie mir mal ansehen. Sie kamen aus der Kabine und lächelten uns alle an. «Pinkelpause», sagte der eine. «Essenszeit!», sagte der andere. Aber sie waren die Einzigen in unserm Verein, die Geld genug hatten, um sich etwas zu bestellen. Wir trotteten hinter ihnen her in ein Restaurant, das von ein paar Frauen geführt wurde, und hockten bei Hamburgern und Kaffee, während sie enorme Mahlzeiten wegputzten, als säßen sie zu Hause in Mutters Küche. Sie waren Brüder; sie transportierten landwirtschaftliche Maschinen von Los Angeles nach Minnesota und verdienten gut Geld damit. Und so lasen sie auf ihrer Leerfahrt zur Küste jeden auf, der an der Straße stand. Das hatten sie inzwischen schon fünfmal gemacht, und sie hatten den größten Spaß dabei. Sie fanden alles prima. Sie hörten nie auf zu lächeln. Ich versuchte mit ihnen zu reden – ein blödsinniger Versuch meinerseits, mich mit den Kapitänen unseres Schiffs anzufreunden–, und die einzige Antwort, die ich bekam, war ein doppeltes strahlendes Lächeln mit großen maisgepäppelten weißen Zähnen.

Alle hatten sich in dem Restaurant um sie versammelt, bis auf Gene und seinen Schützling, die zwei Landstreichertypen. Als wir zurückkamen, saßen sie immer noch auf dem Lastwagen, einsam und trostlos. Jetzt brach die Dunkelheit herein. Die beiden Fahrer wollten erst mal eine rauchen; ich nutzte die Gelegenheit, um schnell eine Flasche Whisky zu holen, zum Warmhalten in der pfeifenden kalten Nachtluft. Sie lächelten, als ich es ihnen sagte. «Lauf schon, mach schnell.»

«Sie können auch ’n Schluck abhaben», beteuerte ich.

«O nein, wir trinken nie, lauf nur.»

Montana Slim und die beiden Highschool-Typen wanderten mit mir durch die Straßen von North Platte, bis wir einen Schnapsladen fanden. Sie warfen was dazu, auch Slim, und ich kaufte eine Flasche. Hochgewachsene Männer mit mürrischen Mienen beobachteten uns aus Häusern mit falschen Stuckfassaden; die Hauptstraße war gesäumt von quadratischen Schachtelhäusern. Endlose Ausblicke auf die Prärie öffneten sich hinter jeder der traurigen Seitenstraßen. Ich spürte, dass in der Luft von North Platte etwas anders war, aber ich wusste nicht, was es war. Fünf Minuten später wusste ich’s. Wir stiegen wieder auf den Laster und brausten los. Es wurde rasch dunkel. Wir tranken alle einen Schluck, und als ich mich umschaute, waren die grünen Felder am Platte River plötzlich verschwunden, und stattdessen sah man, so weit das Auge reichte, weite Ödlandflächen, nur Sand und Gestrüpp. Ich staunte.

«Was zum Teufel ist das?», schrie ich zu Slim hinüber.

«Das Weideland, Mann. Gib mal die Flasche rüber.»

«Yippieee!», schrien die Schuljungen. «Leb wohl, Columbus! Was würden Sparkie und die anderen sagen, wenn sie hier wären. Juhuu!»

Die Fahrer vorne hatten gewechselt; der ausgeruhte Bruder holte das Letzte aus dem Laster heraus. Auch die Straße hatte sich verändert: bucklig gewölbt in der Mitte, mit weichen Banketten und metertiefen Straßengräben auf beiden Seiten, sodass der Truck von einer Straßenseite zur anderen holperte und schlingerte – wunderbarerweise nur dann, wenn keine Autos entgegenkamen–, sodass ich schon dachte, wir würden gleich alle Purzelbaum schlagen. Aber die beiden waren unwahrscheinliche Fahrer. Wie dieser Lastwagen die Nase von Nebraska – die Ausbuchtung, die über Colorado hinausragt – hinter sich brachte! Und bald wurde mir klar, dass ich jetzt endlich in der Höhe von Colorado war, noch nicht offiziell über die Grenze, aber mit Blickrichtung nach Südwest, nach Denver, ja, das nur noch ein paar Hundert Kilometer entfernt war. Ich schrie vor Freude. Wir reichten die Flasche herum. Die großen blinkenden Sterne kamen heraus, die Sandhügel in der Ferne verblassten. Ich fühlte mich wie ein Pfeil, der von der Sehne auf sein Ziel zuschnellte.

Und plötzlich richtete sich Mississippi Gene vor mir aus seiner geduldig hockenden Träumerei auf, öffnete seinen Mund, beugte sich herüber und sagte: «Diese Ebenen erinnern mich an Texas.»

«Bist du aus Texas?»

«Nein, Sir, ich bin aus Green-vell Mass-zippy.» So sprach er es aus.

«Und wo kommt der Junge her?»

«Hat Schwierigkeiten gehabt, zu Hause in Mississippi, drum hab ich angeboten, ihm rauszuhelfen. Der Kleine war noch niemals fort von daheim. Ich kümmere mich um ihn, so gut ich kann, er ist noch ein Kind.» Gene war ein Weißer, aber er hatte was von der Weisheit und Müdigkeit eines alten Negers an sich, auch etwas, das stark an Elmer Hassel erinnerte, den New Yorker Drogensüchtigen, aber einen Eisenbahn-Hassel, einen reisenden, epischen Hassel, der jedes Jahr ein paarmal das Land durchquerte, nach Süden im Winter und Norden im Sommer und nur, weil er nirgends bleiben konnte, ohne dass es ihn anödete, und weil es für ihn kein Zuhause gab, nur die ewige Ferne, immer auf Achse unter den Sternen, meistens den Sternen des Westens.

«Bin ein paarmal in Og-den gewesen. Falls du nach Og-den mitkommen willst, ich hab da Freunde, bei denen wir unterkriechen können.»

«Ich will von Cheyenne direkt nach Denver.»

«Unsinn, fahr doch durch, so ’ne Chance kriegste nicht jeden Tag.»

Auch dies war ein verlockendes Angebot. Was war in Ogden los? «Was gibt’s in Ogden?», fragte ich.

«Das ist die Stadt, wo die meisten von uns vorbeikommen und sich jedes Mal wiedersehen; da kannst du jeden treffen.»