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Amore, Amaretti und die Mafia! Italien ist laut und aufregend, leise und leidenschaftlich, klassisch und modern. Unsere Autorinnen nehmen Sie mit auf eine spannende Reise durch die Regionen rund um den Stiefel. Es gibt viel zu erzählen! Jede Gegend bietet andere Sehenswürdigkeiten und eigene Genusslichter. In 16 Kurzgeschichten entdecken wir lokale Eigenheiten und kulinarische Genüsse. Einzigartig und berührend. Manchmal tödlich. Ob faszinierende Felsenwohnungen, aromatischer Wein oder rätselhafte Traditionen, eine literarische Rundreise, so vielfältig wie Italien selbst. Denn wer liebt es nicht, das besondere Flair dieses Landes. Das berühmte Dolce Vita … Gönnen Sie sich einen Caffè, einen Spritz, ein Glas Prosecco und genießen Sie dabei Geschichten aus einem Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen.
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2024
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KURZGESCHICHTEN
BAND 1
Zweite Auflage
Copyright © 2022-24
Fenna Williams
& Klaudia Zotzmann-Koch
Coverdesign: Klaudia Zotzmann-Koch & Meike Schwagmann
* * *
Scraping, Crawling, Text- & Data-Mining untersagt.
Für Jule Schwachhöfer
Geleitwort der Herausgeberinnen
1. Bella Ciao
Cinque Terre, Ligurien
Edda Minck
2. Florentinisches Abenteuer – Bello e impossibile
Florenz, Toskana
Gitta Edelmann
3. Tacchino al latte
Chianti, Toskana
Joyce Summer
4. Miele Amaro
Supramonte, Sardinien
Petra K. Gungl
5. Fortunas Glitzern
Ischia, Kampanien
Stefanie Tettenborn
6. Früh in Pompeji
Pompeji, Kampanien
Thea Lehmann
7. Sieben Leben
Pantelleria, Sizilien
Fenna Williams
8. Das Leben, das süße Leben
Matera, Basilikata
Mareike Fröhlich
9. Überlebens-Bäume
Bari, Apulien
Ursula Schmid-Spreer
10. Schluss mit Dolce Vita, Rita!
Monte San Bartolo, Le Marche
Margherita Giovanni
11. Pinot grigio mit Pinocchio
Arezzo, Toskana
Ella Theiss
12. Nur noch bis Comacchio!
Comacchio, Emilia-Romagna
Meike Schwagmann
13. Rückkehr nach Verona
Historisches Verona, Venetien
Jennifer Adams
14. Gefährliches Prickeln
Prosecco-Hügel, Venetien
Laura Gambrinus
15. Vita – Dolce Vita
Gardasee, Trentino
Klaudia Zotzmann-Koch
16. Sehnsucht
Pino am Lago Maggiore, Lombardei
Julia Schmeer
Dolce Vitas
Literarische Rundreisen
Wer träumt nicht davon, einmal rund um den Stiefel zu reisen? Wenn möglich im VW-Bus, heute hier, morgen dort, stets einen vollen Teller Spaghetti aglio eolio in greifbarer Nähe. Es sind Erinnerungen an laue Sommerabende am Meer, Zikaden im Zitronenhain, überraschende Entdeckungen und Begegnungen entlang der Route, die direkt ins Herz der Sehnsucht führen. Die Autorinnen dieser Anthologie wollen diese Sehnsucht durch ihre Geschichten nicht stillen, sondern entfachen und befeuern – und das in unterschiedlichsten Genres von kriminell über liebevoll bis zukunftsweisend.
Dolce Vita: Das bedeutet für jede und jeden etwas anderes, aber immer doch Leben, in dem Müßiggang, Vergnügen und Genuss – manchmal auch illegal erworben – eine tragende Rolle spielen.
Deshalb stand Italien für die 16 Autorinnen der ersten Genusslichter-Reise in ein gemeinsames Buch- und Hörbuchprojekt ganz oben auf der Wunschliste.
Es war, wie gemeinsam in einen Bus zu steigen, als wir die Aufgaben verteilten, die das vorliegende Buch Wirklichkeit werden lassen sollten: Vom Schreiben der Geschichten über Lektorat und Korrektorat bis hin zur Gestaltung des Covers und dem Einlesen des Hörbuches ist diese Anthologie ein Gemeinschaftswerk – füreinander und miteinander geschaffen.
Wir widmen dieses Buch einer Frau, die dieses Projekt mit uns begonnen hat, es aber leider nicht mit uns beenden durfte: Jule Schwachhöfer, eine Kollegin, für die gegenseitige Unterstützung einen wichtigen Teil ihres Dolce Vitas darstellte, und deren Dankbarkeit für das Geschenk der Kreativität an sich und ihres Schreibtalents im Besonderen sie auszeichnete. In ihrem Sinne werden wir anderen weiterschreiben und hoffen, dass unsere Geschichten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von daheim aus in die Ferne tragen.
Achten Sie auch in Zukunft auf Genusslichter-Projekte, durch die wir Ihnen unsere Sehnsuchts-Orte literarisch vorstellen.
Viva Italia,
Ihre
Fenna Williams & Klaudia Zotzmann-Koch
»Und ob ich gehen kann, wohin ich will!« Loki zerrte ihren Koffer unter dem seniorengerechten Bett hervor. »… dann wird deine Freundin, die große Contessa Giulietta, mal ohne dich auskommen müssen«, äffte sie ihren Neffen Lennart nach, der eben wütend ihr Zimmer verlassen hatte. Loki sah auf die Uhr – nur noch eine halbe Stunde.
In jedem Jahr, pünktlich auf die Minute am 4. Mai, fuhr ein Rolls Royce vor der Seniorenresidenz vor, um sie zum Flughafen zu bringen. Früher hatte die schwarze Luxuskarosse vor Lokis Haus gehalten, in dem nun ihr Neffe wohnte, der ihr zum Dank das Leben schwer machte mit seinen Bedenken, was das Reisen in ihrem Alter anging. Hätte er sie nicht mit seinem Vortrag über Osteoporose, Schlaganfälle und Blutdruck aufgehalten, wäre sie längst fertig und könnte noch eine Tasse Kaffee trinken.
»Ich bin sechsundneunzig, aber doch nicht aus Zucker«, murmelte sie und der Unmut über Lennart befeuerte ihren Tatendrang. Das große schwarze Ballkleid verschwand im Koffer, ebenso ihr Tennisdress. Als es an der Tür klopfte, war sie eben dabei, ihre Hüte in die große Hutschachtel zu legen.
»Herein«, sagte Loki und Schwester Marianne betrat das Zimmer.
»Ist er weg?«
»Ja, seit zehn Minuten. Ihre Abholung steht hinter dem Haus bereit.« Schwester Marianne grinste.
»Lennart wird jedes Jahr schlimmer«, sagte Loki. »Als ob ich senil wäre!«
»Er meint es doch nur gut. Sie sollten honorieren, dass er sich um Sie kümmert.«
»Ich habe bereits honoriert, meine Liebe. Er hat das Haus, und er soll mich in Frieden leben lassen. Aber nein … dies soll ich nicht, das soll ich nicht … Herrje!«
Schwester Marianne half Loki dabei, sich das schwarze Reisecape um die Schultern zu legen.
»Lieben Dank. Und wenn mein nichtsnutziger Neffe nach mir fragt, sagen Sie ihm, ich schmolle bis übernächste Woche.«
»Geben Sie her, ich nehme den großen Koffer.«
Loki drapierte den Reisehut auf ihrem Kopf, nahm die Hutschachtel und folgte Schwester Marianne zum Aufzug.
Am Flughafen war sie die Einzige, die vom Flugkapitän des Jets begrüßt und zur Gangway geführt wurde. Er setzte sie darüber in Kenntnis, dass Veronika leider diesmal verhindert sei, was Loki mit einem Seufzer quittierte.
Als sie sich noch einmal umschaute, tauchte Lennart hinter der Tür des Flughafengebäudes neben einer Stewardess auf und vollführte eine unwürdige Pantomime, die darin gipfelte, dass er mit geballten Fäusten gegen das Panzerglas schlug.
Loki winkte und rief: »Lassen Sie ihn bloß nicht raus!« Dann schlossen sich die Türen und keine fünf Minuten später hob der Learjet ab.
Während des Fluges wurde Loki durch den Steward über die Aktivitäten der kommenden drei Tage informiert. Sie waren in jedem Jahr gleich: Eine Fahrt von Levanto nach La Spezia mit dem Boot. In früheren Jahren waren die Damen noch bei besserer Gesundheit gewesen und hatten die fünf Orte der Cinque Terre auf dem Wanderpfad erreicht. Wie immer würde ein Tennismatch ausgetragen und ein Tanzabend zu den Klängen der dreißiger und vierziger Jahre in angemessener Kleidung veranstaltet werden. Ein Besuch in den Höhlen bei Manarola und ein Abend in der hauseigenen Bunkeranlage der Villa des Conte Vittorio Armando Doria standen ebenfalls an. Zum Abschluss Feuerwerk und dazwischen La Dolce Vita mit alten Freundinnen in einem der größten und schönsten Häuser in der Region.
Nach einem angenehmen Flug über die Alpen war sie in Genua in den Helikopter gestiegen, der nun über dem Küstensaum der Cinque Terre eine Ehrenrunde drehte. Das Meer glitzerte, die fünf Orte: Vernazza, Monterosso, Corniglia, Manarola und Riomaggiore, die dem Landstrich ihren Namen verliehen, lagen dösig in der Sonne und verließen sich in allen Belangen auf Levanto und La Spezia, die den Küstensaum zu beiden Enden einrahmten. Loki ging das Herz auf, als sie die Zypressen sah, die das Grundstück der Villa La Bella Leonessa behüteten. Ein Traum in Sonnengelb und Grün, darunter die Bucht von Vernazza, die durch steile Berghänge vor zu viel Tourismus bewahrt blieb. In früheren Jahren war der Ort nur zu Fuß oder mit dem Boot erreichbar gewesen.
Der Hubschrauber ging in den Sinkflug. Auf der Freitreppe zum Garten, in dem sie neben einem Springbrunnen landeten, stand der Hausherr, Conte Vittorio Armando Doria. Aber wo war Giulietta? Normalerweise war Vittorio gar nicht da, wenn die Damen ihre Dolce-Vita-Tage abhielten.
Die Rotorblätter kreisten ein letztes Mal, dann kam Matteo, der Majordomus, über den Rasen geeilt, um das Gepäck ins Haus zu bringen.
Vittorio lief mit ausgestreckten Armen die Stufen hinab. »Cara mia! Du siehst aus wie das blühende Leben, liebe Loki.«
»Du bist auch keinen Tag älter geworden«, antwortete sie, obwohl sein Rücken gebeugt und seine Schritte nicht mehr so ausgreifend waren wie früher. »Wo ist Giulietta?«
Der Conte seufzte, nahm ihre Hände in seine und sagte: »Unpässlich. Sie wird zu uns stoßen, sobald es ihr wieder besser geht.«
»Kann ich kurz zu ihr gehen, um sie zu begrüßen?«
»Leider nein. Der Arzt ist noch da, keine Aufregungen, auch keine guten.«
»Ach, wie schade.«
»Aber Kate aus London ist eingetroffen. Es wird eine kleine Gesellschaft in diesem Jahr, meine Liebe. Lilly und Germaine aus Paris sind verhindert und Veronika auch.«
Loki runzelte die Stirn. »Im letzten Jahr waren wir noch sechs. Jetzt nur noch drei?«
»Drei von zweiundfünfzig. Und so lange Giulietta unpässlich ist, müsst ihr mit mir vorliebnehmen. Wie geht es deinem Neffen?«
»Ach, Vito, er benimmt sich wie eine Glucke.«
Vittorio lachte und führte sie in den Salon, wo besagte Kate aus London sie bei einem schlichten Glas Wasser bereits erwartete. Die beiden alten Damen umarmten sich innig. Kates Gehstock fiel krachend um.
Der Conte räusperte sich und sagte: »Ich lasse euch jetzt bis zum Abendessen allein. Dinner um einundzwanzig Uhr im großen Bankettsaal. Fühlt euch wie zu Hause.«
»Danke, Vito«, sagte Kate.
Loki nestelte aus ihrer Handtasche ein Päckchen Butterkekse.
»Es hat sich nichts geändert, nicht wahr?«
»Na, Gottseidank«, sagte Loki und reichte Kate einen Keks.
»Du hast mir nie verraten, wo du die immer hergeholt hast.«
»Wenn ich es dir sage, hättest du alle Geheimnisse der Welt gelüftet. Wie langweilig, nicht wahr?«
Das Dinner bestand, wie in jedem Jahr in den Tagen des Dolce Vita, aus Polenta, Weißbrot, Olivenöl und Wein aus dem Weingut derer von Doria.
»Wie habe ich es vermisst«, sagte Kate und Loki pflichtete ihr bei. »Nichts geht über ein gutes Weißbrot.«
»Was meinst du, meine Liebe, ob Vito morgen das Boot selbst steuert?«
»Ich befürchte es.«
»Du siehst etwas bedrückt aus. Geht’s dir wirklich gut?«
»Ja, ja. Ich mache mir nur Sorgen um Giulietta.«
»Ach, spätestens übermorgen ist sie wieder fit. Den Ball und das Feuerwerk wird sie sich nicht entgehen lassen.« Kate kicherte und hielt geziert ihre Hand vor den Mund, um ein paar Kekskrümel am Entweichen zu hindern.
»Ich hoffe es«, sagte Loki und nahm Kates Hand über den großen Tisch hinweg, an dem halb Ligurien Platz gehabt hätte.
Kate schickte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Wir sind noch drei. Lass uns Spaß haben.«
Der folgende Tag war strahlend. Vittorio steuerte das Riva Ariston mehr schlecht als recht durch die Wellen, bis Kate ihn mit einem Augenaufschlag und säuselnder Stimme fragte: »Meinst du, Vito, ich dürfte auch mal?«
Erleichtert übergab er ihr das Steuer und dann flog die Küstenlinie an ihnen vorbei, bis sie La Spezia erreichten. Kate drosselte den Motor, Vittorio entkorkte einen Weißwein und schenkte aus. Die drei hoben ihre Gläser in Richtung Meer. Kate sagte: »Ich kann sie sehen.«
»Ja, ich auch. Gott segne sie.«
»Bless them all, the long and the short and the tall …«, zitierte Kate einen Gassenhauer aus Kriegstagen.
Dann kippten sie den Inhalt ihrer Weingläser ins Meer.
Kate wendete das Boot und steuerte Riomaggiore an, wo sie ihren Mittagsimbiss einnehmen würden, den Matteo in einem Korb bereitgestellt hatte. Es gab Polenta, Weißbrot, Olivenöl und Wein.
Unter Kates geschickten Händen schlenzte das Boot in die schmale Bucht. Zu beiden Seiten erhob sich die Steilküste, an deren Hängen sich bunte Häuser schmiegten, bewacht vom Castello Riomaggiore.
»Kannst du dich noch an Michele erinnern?«, fragte Loki.
»Aber sicher. Wir hatten fünfzig durchgekriegt in der Nacht. Aber er war der Letzte … kurz vor dem Ende …«
»Und den beißen die Hunde.«
»Die Hunnen«, korrigierte Kate. »Armer Kerl. So hübsch …«
Vito reichte ihnen die gefüllten Gläser.
»Armer Kerl«, sagte auch Loki und kippte den Wein ins Meer, in dem Anno ‘45 Michele vor ihren Augen ertrunken war, bevor er das rettende Boot der Briten hatte erreichen können.
Vittorio, Kate und Loki salutierten.
»Wie geht es unserer Giulietta heute?«, fragte Loki.
»Sie lässt euch grüßen. Sie wird auch morgen in Manarola leider noch nicht dabei sein können.«
»Aber zum Ball wird sie doch kommen?«
»Sie hofft es.« Vittorio seufzte.
»Na, dann«, sagte Kate. »Auf Giulietta.«
Der Conte schenkte Wein nach und alle erhoben das Glas.
»Auf Giulietta. Die Beste von allen«, sagte Loki.
Die Beste von allen verpasste die Höhlenbesichtigung am nächsten Tag, bei der wieder viel Wein im Meer versenkt und Kerzen entzündet wurden, und kam auch am letzten Morgen nicht zum Frühstück, obwohl, wie alle Tage, für sie mitgedeckt war.
Loki war besorgt. »Ein Ball nur für uns zwei.«
»Na ja … besser als gar kein Tanzvergnügen«, antwortete Kate.
»Aber das Feuerwerk … das wird sie doch vielleicht in ihrem Zimmer hören, wenn sie schon nicht mittanzen kann.«
»Natürlich.«
»Ehrlich gesagt, Kate, ich habe keine Lust auf Tennis. Ich gehe in mein Zimmer und werde etwas lesen.«
»Gehst du nicht.«
»Nicht?«
»Nein, du willst dich zu Giulietta schleichen.«
Loki lachte. »Einmal MI6, immer MI6, oder?«
»Aber sicher. Vito ist nach Levanto gefahren, weiß Gott, was er da will …«
»Hauptsache, er will es noch etwas länger«, sagte Loki. »Sie wird sich freuen, uns zu sehen.«
»Und falls nicht, wird sie uns die Störung verzeihen.«
»Vittorio packt sie immerzu in Watte.«
»Das muss Liebe sein«, sagte Kate. »Gehen wir.«
Auf Zehenspitzen schlichen sie aus dem Salon. Kate setzte ihren Gehstock so sanft auf, dass kein Laut zu hören war. Loki überlegte, ob ihre Freundin den überhaupt brauchte, oder ob er eine getarnte Waffe war, etwas in der Art eines versteckten Floretts oder einer einschüssigen Pistole.
Sie nahmen die vordere Treppe. Auf dem ersten Absatz wandte Kate sich plötzlich nach rechts um und stieß mit dem Ellbogen gegen die Wand. Unter dem Ahnenportrait eines der Helden der Familie Doria öffnete sich eine Tür, die so geschickt eingefasst war, dass man sie nicht sehen konnte, wenn man nicht wusste, dass sie da war.
Im Nu waren die beiden alten Damen verschwunden, gerade so, als seien sie niemals dort gewesen. Kichernd nahmen sie die Dienstbotentreppe in den nächsten Stock, kamen unter dem Porträt eines weiteren Doria wieder heraus und schlüpften in Giuliettas Zimmer, das sie mit tiefer Dunkelheit empfing.
»Liebes, bist du da?«, flüsterte Kate.
»Giulietta?«, fragte Loki.
Kate zog die Vorhänge auf, und die beiden sahen sich einem leeren Himmelbett gegenüber.
»Wo ist sie denn?«, fragte Kate, die mit energischen Schritten und ordentlichem Stockgeklapper das Zimmer durchmaß und die Tür zum Bad aufstieß. »Hier ist sie auch nicht.«
»Es sieht alles so … unbenutzt aus.«
»Und wie«, sagte Kate und beugte sich über das Bett, bis ihre Nase die Laken berührte. »Frisch gewaschen und ein bisschen staubig. Es müsste eigentlich nach Mitsouko duften.« Kate eilte wieder ins Bad. »Der Flakon steht noch hier.«
»Könnte sein, dass Vittorio ihr ein Krankenzimmer eingerichtet hat, einer von den fünfunddreißig Räumen wird es wohl sein.« Loki ging zu Giuliettas Sekretär, der unter dem großen Fenster stand. »Ihr Tagebuch.« Sie schob das in Kalbsleder gebundene Buch auf dem Sekretär hin und her, unschlüssig, ob sie den Frevel begehen sollte.
Kate nahm es und schlug es auf. »Letzter Eintrag … vor vierzehn Tagen … Vittorio versteht es nicht. Was soll ich nur tun?«
Loki ließ sich erschöpft auf die Bettkante fallen.
»Wasversteht er nicht?!«, sagte Kate. »Komm, wir werden sie finden.« Sie reichte ihrer Freundin die Hand und zog sie vom Bett.
Im selben Moment flog die Tür auf und Vittorio betrat das Zimmer. Loki schreckte zurück.
»Vito!«, startete Kate den Angriff, »wo ist Giulietta?«
»Im Krankenhaus.«
»Ach, was?«
»Ich komme gerade daher. Es geht ihr besser.«
»Ach, was? In welchem Krankenhaus? Wir wollen Blumen …«
Vittorio seufzte. »Sie will nicht …«
»Ach, papperlapapp, Vittorio, ich bitte dich. Was ist es, das du nicht verstehst?« Kate zeigte auf das Tagebuch.
Loki eilte an Vittorios Seite und nahm seine Hand. »Mein Lieber, was ist passiert?«
Ohne eine Antwort zu geben, drehte er sich um und ging hinaus. Die beiden folgten ihm. Sie nahmen die geheime Treppe und stiegen im Gänsemarsch hinunter. Bis zum Keller kam Loki noch mit, aber dann verlor sie die Orientierung.
»Vittorio, wo …«, fragte sie.
»Pst!«, machte Kate. »Wir sind auf der Höhe der Schießanlage.«
Im selben Augenblick öffnete sich zur Rechten eine Tür und Loki erkannte die Katakomben wieder. Der Bunker.
Vittorio lief den Gang entlang, um an dessen Ende eine weitere Tür zu öffnen. Kate zuckte die Schultern und zog Loki mit sich. Hier hatten sie damals Waffen, Munition und Sprengstoff gelagert.
Kühle Luft schlug ihnen entgegen. Am Ende des Raumes ragte ein Kreuz auf, daneben standen brennende Kerzen und davor, gebettet in Samt und Seide auf dem steinernen Altar, lag Giulietta. Ihr Mund zu einem Lächeln verzogen.
»Tut mir leid, Giulietta, aber die beiden waren so neugierig. Na, ja … wie immer«, sagte Vittorio.
Loki flüsterte: »Was macht er da? Sie ist ...«
Kate trat Loki auf den Fuß. Dann legte sie eine Hand an Giuliettas kalte Wange. »Ja, verzeih, Liebes. Wir haben dich gestört. Du wolltest schlafen.«
»Ja«, sagte Vittorio. »Sie schläft.«
»Sie ist … oh …«, sagte Loki in die Stille hinein.
Kate schickte ihr einen vernichtenden Blick und zischte: »Unpässlich, ein wenig … Haltung, meine Liebe.«
Vittorio schluchzte auf. »Sie wollte so gern noch dabei sein.«
»Und das ist sie«, sagte Loki. »Das ist sie.«
»Ich glaube, es ist Zeit für unser Tennismatch«, sagte Kate, »und wir sind noch nicht mal umgezogen.« Sie hakte Loki unter und den Griff ihres Gehstocks in Vittorios Hemdkragen und zog beide von Giulietta weg. »Komm, Vito, wir brauchen einen Schiedsrichter. Giulietta kann das gerade nicht machen.«
Kate gewann das Match 6:1, 3:6 und 6:0, ohne ihren Gehstock bemühen zu müssen. Dann war es Zeit, sich für den Ball umzukleiden. Bevor sie zu ihren Zimmern hinaufgingen, sagte Vittorio: »Ich danke euch vielmals.«
»Sag ihr, wie es ausgegangen ist.«
»Das mache ich. Wir sehen uns nachher.«
Matteo hatte den Saal hergerichtet wie in jedem Jahr. Zweiundfünfzig Stühle standen an der Wand entlang aufgereiht. Auf jedem Stuhl lag eine Platzkarte mit einem Namen: Sandrine, Lilly, Germaine, Sophia, Aurora, Esther, Simonetta, Veronika … Zwischen den Stühlen stand jeweils ein Beistelltischchen mit einem Glas Wein darauf. Zu alten Schlagern aus Kriegszeiten tanzte Vittorio mal mit Kate, mal mit Loki. Als die Sonne unterging, schwebten sie zu den Klängen von We’ll meet again bei einem Pas de trois übers Parkett.
Loki ließ ihr Ballkleid schwingen, während Kate in Breeches und Stiefeln bella figura machte. Entrückt kreiselten sie beim letzten Tanz an den Stühlen vorbei und nickten einem jeden zu. Kate lachte und rief: »Wie damals.«
»Siebter Mai neunzehnhundertfünfundvierzig!«, rief Loki.
»Siebenhundertzweiundvierzig gerettet!«, rief Kate.
»Zweiunddreißig Heldinnen im Feld verloren!«, rief Loki,
»aber siebenhundertzweiundvierzig gerettet!«
»We’ll meet again, don’t know where, don’t know when …« sang Vera Lynn und die alte Schallplatte knisterte.
»Ihr habt uns alle gerettet«, sagte Vittorio. »Und jetzt das Feuerwerk.«
Arm in Arm nahmen sie diesmal Kurs auf die offizielle Treppe, die hinunter in die Bunkeranlage führte. Weit kamen sie nicht, denn ein aufgeregter Matteo rannte durch die Halle. »Mi scusi, Conte, mi scusi …«
Und Loki sah bereits das Unheil in Form von Lennart durch die Tür kommen.
»Guten Abend«, sagte er und musterte das Triumvirat.
Loki raffte den Stoff ihres Ballkleides und ging energischen Schrittes auf ihn zu. »Lennart! Was machst du hier?!«
»Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dich abzuholen und sicher nach Hause zu bringen.«
»Ich werde genauso nach Hause reisen, wie ich hergekommen bin. Allein. Würdest du bitte die außerordentliche Güte haben, auf der Stelle zu verschwinden?«
Lennart wich zurück. So hatte er seine Tante noch nie erlebt. Und die Frau in Uniform sah aus, als wollte sie ihn mit ihrem Gehstock attackieren, der bereits auf sein Brustbein zielte. Auch Onkel Vittorio schien nicht erfreut.
»Was soll diese … Kostümierung? Wo ist Tante Giulietta?«
»Wir feiern die Kapitulation«, sagte Vittorio.
»Wessen Kapitulation?«
»Hitlers Kapitulation!«, sagte Kate.
»Warum?«
»Darum«, sagte Loki. »Und jetzt geh.«
Vittorio ergriff das Wort. »Lennart! Wir feiern die Frauen, die dafür gesorgt haben, dass siebenhundertzweiundvierzig desertierte Mussolinisoldaten und Juden vor den Nazis gerettet wurden. Wir feiern ihre Tapferkeit: in den Höhlen von Manarola, in den Bergen über Vernazza, im Hafen von Riomaggiore und auf dem Meer und in ganz Ligurien. Wir ehren die Kameradinnen wie Kate, Loki und Giulietta und alle anderen, die ihr Leben riskierten und verloren, deren Namen in keinem Geschichtsbuch stehen und die beim großen Siegesmarsch noch nicht mal offiziell dabei sein durften. Wir teilen bis heute das Brot und den Wein mit ihnen. Wir vergessen sie nicht!« Der Conte hakte Kate und Loki unter und schritt mit ihnen die Treppe hinab.
Lennart folgte auf dem Fuße, hintendrein Matteo, der die Hände rang.
»Ihr habt was genau gemacht?!«, fragte Lennart.
»Loki und Giulietta und viele andere Frauen haben oben mit den Faschisten getanzt, um sie abzulenken, während Vito und ich mit weiteren compagni dafür gesorgt haben, einen sicheren Weg zum Meer zu finden, oder in die Berge, je nachdem. Je mehr wir von den Braunröcken einluden und je netter wir zu ihnen waren, desto weniger waren auf den Straßen unterwegs, um uns in die Quere zu kommen.«
Lennart schnappte nach Luft. »Nett?!«
»Sehr nett«, sagte Kate.
»Tante Loki, sag mir, dass das nicht wahr ist.«
»Es ist wahr, Lennart. Jedes Wort.«
»Die haben deinen Bruder erschossen! Wie kannst du …?!«
»Ein Grund mehr, zu tun, was zu tun war.«
Im Schießstand angekommen, teilte Matteo die Waffen an seinen Herrn und die beiden Damen aus, ebenso die Schallschutzkopfhörer. Ein Zugeständnis an die Hörgeräte der Beteiligten.
»Geladen?«, fragte Vittorio.
»Geladen!«, antwortete Matteo und salutierte.
»Ich gehe!«, sagte Lennart. »Das guck ich mir nicht an.«
»Nein, nein, bleib und lern was«, sagte Kate, die die Trommel ihres Enfield-Revolvers rotieren und einschnappen ließ, sich umdrehte und ohne zu zögern sechs Schuss auf die Zielscheibe abgab, die tief in einem gemauerten Tunnel aufgestellt war. Dann folgte Loki mit einer Walter P. 38 und Vittorio mit Giuliettas Beretta. Die Scheibe aus dickem Kork war zu Krümeln zerfetzt, die Nerven des Neffen, der sich zu spät die Ohren zugehalten hatte, ebenfalls.
»Ich gehe Tante Giulietta besuchen«, schrie er. »Irgendeiner muss doch hier noch bei Verstand sein!«
»Ja, mach das«, rief Loki, »sie ist nebenan und rechnet die Punkte zusammen.«
Kate lachte. Loki stimmte mit ein, und die beiden waren so ansteckend, dass auch Vittorio mitlachte. Sogar Matteo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er die Carcano-Gewehre lud.
Der Schrei, der durch die felsigen Gänge hallte, hätte Giulietta eigentlich von den Toten zurückholen müssen.
Eine Sekunde später kam Lennart bleich und zitternd zurück, klammerte sich an den Türrahmen und rief: »Sie ist tot! Tante Giulietta ist tot!«
»Nein, sie ist nur unpässlich«, sagten alle drei wie aus einem Munde.
»Sie ist tot! Verflucht, und ihr wisst das. Was macht ihr hier?«
»Feiern und gedenken«, sagte Loki. »Und Giulietta feiert mit. Alle feiern mit. Alle, die noch leben, und alle, die unpässlich und verhindert sind. Jedes Jahr einmal La Dolce Vita für unsere Kameradinnen, bis keine mehr von uns übrig ist.«
Matteo reichte ein mit drei vollen Weingläsern bestücktes Tablett herum. Die drei nahmen sie und kippten den Inhalt auf den Boden.
»Für alle!«
Lennart schüttelte sich. »Ihr seid Irre!«
»Nein«, sagte Kate. »Resistenza, Deckname Gatto.«
»Resistenza«, sagte Vittorio. »Giulietta, Deckname Leonessa.«
»Resistenza!«, sagte Loki. »Deckname Fuoco«, und nahm das Gewehr von Matteo entgegen. »Feuerwerk, compagni!«
Die drei legten an und richteten die Gewehre in den Tunnel.
Matteo kurbelte an einem alten Grammophon in der Ecke, und zu den Klängen von Bella Ciao, dem Kampflied aus alten Tagen, das Loki, Kate und Vittorio voller Inbrunst mitsangen, leerten sie ihre Magazine.
So voll habe ich mir Florenz nicht vorgestellt. Immerhin ist es schon September und die Touristen sollten so langsam an ihre Schreibtische oder hinter ihre Ladentheken zurückgekehrt sein und ihre schulpflichtigen Kinder unterstützen. Aber mir scheint, derzeit ist die halbe Welt auf Reisen und macht zumindest einen eintägigen Zwischenstopp in Florenz.
Toskana. Florenz. Kunst, Kultur und gutes Essen.
Ach ja, und natürlich Chianti Classico, den wir schon als Jugendliche gerne tranken, weil die leeren Bastflaschen sich so toll als Kerzenständer eigneten.
Ich bin tatsächlich zum ersten Mal hier. Italien hat mich nie besonders gereizt und außer einer Städtereise nach Rom als Begleitung meiner Schwiegermutter vor zehn Jahren ist der italienischste Ort, den ich betrete, Giovannis Pizzeria am Ende meiner Straße.
Hier haben Heidi und ich auch gleich eine Pizzeria entdeckt, einen einfachen Imbiss gegenüber der Stazione Centrale, wie Hauptbahnhof auf Italienisch heißt. Da verkauft man die Pizzastücke von großen Blechen nach Gewicht. Lecker sind die und der junge Mann, der meine Bestellung in holprigem Italienisch charmant lächelnd entgegennimmt, ist das auch.
Natürlich ist Pasquale – den Namen verrät ein kleines Schild an seinem T-Shirt – viel zu jung für mich, aber es tut gut, seinen schmeichelnden Blick zu spüren und ihn wissend anzulächeln. Als ich die Pizza entgegennehme, berühren sich unsere Finger und es kribbelt.
Ich habe Hunger nach unserer Reise und der Besichtigung von Santa Maria Novella gleich hier nebenan, auf die Heidi bestanden hat. Tatsächlich bin ich positiv überrascht von der Basilika mit ihrer Fassade aus strengen, geometrischen Formen. Nur mit den religiösen Fresken, vor denen Heidi so viel Zeit verbracht hat, kann ich nun mal gar nichts anfangen.
Wir setzen uns auf die frei gewordene Bank draußen vor dem Imbiss. Die Pizza schmeckt fantastisch, dazu trinke ich eine Cola, was ich normalerweise nie tue. Aber ich will mir etwas gönnen und für Rotwein ist es noch zu früh.
Heidi legt mir ihren Plan für den Nachmittag vor: Basilika San Lorenzo, Palazzo Medici, Duomo. Für morgen hat sie den Palazzo Vecchio, die Uffizien und den Palazzo Pitti vorgesehen. Ich höre noch etwas von Piazza Signoria und Ponte Vecchio, die man dann gleich mitnehmen könnte, aber so richtig erfreuen kann ich mich an Heidis Stadtführungsplänen nicht. Eigentlich hatte ich mir weniger eine Besichtigungs- und mehr eine Genusstour vorgestellt.
»Und was wird aus unserem Dolce Vita?«, frage ich sie mitten in ihrem Vortrag über die Medici.
Sie stutzt. »Ich dachte, du wolltest hier so richtig Kultur tanken? Hast du doch gesagt, als du den Florenz-Reiseführer in meinem Laden angeguckt hast.«
Da hat sie natürlich recht. Gesagt habe ich das. Aber nicht wirklich gemeint.
»Gibt es nicht zum Beispiel ein nettes Café, von dem aus man eines der berühmten Bauwerke betrachten kann? Oder eine Eisdiele, damit wir beim Schlendern durch die Gassen etwas in der Hand haben?«, schlage ich vor.
»Aber ich habe extra Karten für die Uffizien reserviert!« Heidis Stirn runzelt sich.
