21,99 €
Jetzt als Sonderausgabe! Auf einer Geburtstagsparty werden Jugendlichen sieben Zauberkunststücke vorgeführt. Sieben erstaunliche Phänomene, die Anne und ihre Freunde zunächst vor Rätsel stellen. Doch so nach und nach kommen sie den Tricks auf die Spur. Mit der Unterstützung eines Nachbarn, einem pensionierten Physiker, entwickeln sie dazu physikalische Ideen: Anhand des Gewichts von Schokolade wird die Einheit für die Kraft diskutiert, "Schau mir in die Augen" leitet ein Gespräch über die Bildentstehung ein. Das Beobachten von Zugvögeln ist Aufhänger für den Magnetismus, und ein heftiges Gewitter gibt Anlass zum Nachdenken über die Elektrizität. Auch die von Physikern entwickelten Vorstellungen zu Quarks, Weißen Zwergen und Schwarzen Löchern kommen zur Sprache. Peter Häußler ist Professor für die Didaktik der Physik an der Universität Kiel und versteht es, lebendig und spannend zu schreiben. Über die Grundlagen der Physik hinaus erfährt der Leser auch etwas über ihre Erkenntnismethoden und den Unterschied zwischen Alltags- und Wissenschaftssprache. Alle Versuche sind genau beschrieben und können ohne großen Aufwand mit alltäglichen Gegenständen nachvollzogen werden. Das Buch ermutigt Jugendliche wie Erwachsene sich (wieder einmal) mit Physik zu beschäftigen, Kenntnisse aufzufrischen oder zu erweitern.
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Seitenzahl: 917
Cover
Weitere Sonderausgaben der »Erlebnis Wissenschaft«
Titelseite
Autor
Impressum
Vorspiel
Hokus-Pokus
Geld aus der Flasche
Geisteskräfte
Happy birthday
Charaktertest
Ringelreihen
Zufall
Sternschnuppen
Aufklärung
1 Licht und Sehen
Augenfälliges – Bedingungen für das Sehen
Lichtstrahlen und wie sie reflektiert werden
Im Riesenauge – Bildentstehung mithilfe eines Lochs
Zebrastreifen – Lichtbeugung
Geknicktes Licht – Lichtbrechung
Um die Ecke sehen
Linsen
Schau mir in die Augen
Bildverarbeitung im Gehirn
Tieraugen
Regenbogenfarben
Gelb und Blau gibt Weiß – oder Grün? Additive und subtraktive Farbmischung
Himmelblau – Lichtstreuung
2 Bewegung und Wärme
Sinken und Fallen – Zwei einfache Bewegungen
Gezeichnete Bewegungen – Graphen
Wie lang ist ein Moment? Momentangeschwindigkeit und Beschleunigung
Bewegung mit und ohne Kraft – Newtons Gleichung
Das Gewicht von Schokolade – Die Einheit für die Kraft
Die goldene Regel der Mechanik
Watt issen Dschuhl? – Die Einheiten Watt und Joule
Energie – Erhaltung und Entwertung
Gefühlte Bewegung
Schwimmen, Schweben oder Untergehen – Auftrieb und Dichte
Frieren bei 30 Grad im Schatten – Thermometer und ihre Skalen
Gefühlte Temperatur – Wärmestrahlung
Vom Sinn des Wärmesinns
Unsichtbares Licht – Ultraviolett und infrarot
Zwei konkurrierende Theorien
Das große Zittern – Brownsche Molekularbewegung
Die absolute Temperaturskala
3 Töne und Hören
Hohe und tiefe Töne – Schnelle und langsame Schwingungen
Schrille, samtene, silberne oder dunkle Töne – Oberschwingungen
Das A und O der menschlichen Stimme
Rauschen, Raumklang und Resonanz
Töne unterwegs – Schallwellen
Schallgeschwindigkeit
Ultra- und Infraschall
Gespeicherte Klänge
Was Licht und Schall gemeinsam haben
4 Magnetismus
Der Richtungssinn der Vögel
Der Magnetkompass
Fernwirkungen
Das Magnetfeld
Die Hypothese von den Elementarmagneten
Wechselwirkung
Noch einmal Fernwirkungen: Kleiner Exkurs in die Astrologie
Ein folgenreicher Versuch – Elektromagnetismus
5 Elektrizität
Elektrizität – selbst gemacht
Gewitter
Mobile und sesshafte Ladungen
Bewegte Ladungen
Gegenspieler: Antrieb und Hemmung
Preisvergleich
Einbahnstraßen und andere Wege für den Strom
Frau Galvani und die Froschschenkel
Wasserstraßen für den Strom
Elektrisches im menschlichen Körper
Ein Magnet bewegt nicht nur Eisen – Elektromagnetische Induktion
Der Fahrraddynamo
Der besondere Dreh beim Wechselstrom – Drehstrom
Transportprobleme
Speicherprobleme
Ökostrom
Das Siliziumzeitalter
Künstliche Sinnesorgane: Sensoren
Von überzähligen Elektronen und hüpfenden Löchern
Zwei Halbleiter ergänzen sich: die Diode
Zwei Dioden ergänzen sich: der Transistor
Ein Vorgang mit Rückwirkung
6 Chaos
Das chaotische Pendel
Vom Wetter und anderen chaotischen Systemen
Der chaotische Umgang mit der Physik: Sciencefiction
Wie aus Chaos Ordnung wird
Geordnetes Licht – Ein synergetisches Märchen
7 Mikrokosmos – Mesokosmos – Makrokosmos
Atome
Moleküle
Riesenzahlen und Zwergenbrüche
Die wahre Größe von Molekülen
Sind Atome doch teilbar?
Die große Leere – Rutherfords Atommodell
Mesokosmos – Mikrokosmos
Bindungen
Der Zoo der Elemente
Das Ende der klassischen Physik
Halten Atome doch nicht ewig? – Radioaktivität
Teil-Teilchen – Quarks
Radioaktivität und der menschliche Körper
Warum im Atomkern so viel Energie steckt
Kernspaltung und die Folgen
Die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie
Pro und Kontra Kernenergie
Planeten, Sternbilder und Lichtjahre
Außerirdische
Mesokosmos – Makrokosmos
Der krumme Raum
Der Anfang der Welt – Urknall
Geburt und Tod der Sterne – Weiße Zwerge und Schwarze Löcher
Das Ende der Welt
Nachspiel
Sachregister
Endbenutzer-Lizenzvereinbarung
3 Töne und Hören
Grundschwingung und die ersten vier Oberschwingungen einer Saite. Die Frequenz der Grundschwingung verhält sich zu den Frequenzen der Oberschwingungen wie 1 : 2 : 3 : 4 : 5.
Vergleich der Obertöne einer Geige und eines Waldhorns beim Spielen eines Tons mit einer Frequenz von 440 Hz (also des Kammertons A). Während die Geige sehr obertonreich ist, sind beim Waldhorn Obertöne nur bis zur 5. Ordnung nachweisbar.
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Table of Contents
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John EmsleyParfum, Portwein, PVC …Chemie im AlltagISBN 3-527-30789-32003
John EmsleySonne, Sex und SchokoladeMehr Chemie im AlltagISBN 3-527-30790-72003
Jan Koolman, Hans Moeller, Klaus-Heinrich Röhm (Hrsg.)Kaffee, Käse, Karies …Biochemie im AlltagISBN 3-527-30792-32003
Friedrich R. Kreißl, Otto KrätzFeuer und Flamme, Schall und RauchSchauexperimente und Chemiehistorisches3-527-30791-52003
Martin SchneiderTeflon, Post-it und ViagraGroße Entdeckungen durch kleine Zufälle3-527-31643-42006
Heinrich ZanklFälscher, Schwindler, ScharlataneBetrug in Forschung und Wissenschaft3-527-31646-92006
Peter Häußler
AutorProf. Dr. Peter HäußlerIPNUniversität KielOlshausenstr. 6224118 Kiel
TitelbildTeile des Titelbildes wurden mit Erlaubnis von mauritius-images verwendet.
1. Auflage 2001
Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinem Fall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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© 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
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ISBN-13: 978-3-527-31644-1
ISBN-10: 3-527-31644-2
Anne Petersen wohnte mit ihren Eltern in einem dreistöckigen Mietshaus am Rande der Stadt. Dass diese Gegend vor hundert Jahren noch ein Dorf gewesen war, konnte man auch heute noch erkennen. Die Straße war zwar asphaltiert, aber nicht begradigt worden. Es gab noch die alte gewundene, an einigen Stellen von Lindenbäumen gesäumte Dorfstraße. Anne konnte von ihrem Zimmer aus auf ein schönes Fachwerkhaus gegenüber sehen. Auf dem dicken Holzbalken, der die große Toreinfahrt an der Giebelseite nach oben hin abschloss, war das Baujahr eingekerbt: ANNO 1840. Von einem hinteren Zimmer aus blickte Anne auf ein von einem kleinen Bach durchzogenes Feuchtgebiet, das nicht bebaut werden durfte. Zu Annes großer Freude grasten dort seit kurzem zwei Pferde, eine etwa zehnjährige braune Stute und ein einjähriges Haflinger-Pony. Das war zu der Stute gestellt worden, damit diese sich nicht so einsam fühlte. Anne hatte mit dem Besitzer der Pferde vereinbart, dass sie die Pferdeäpfel aufsammeln und am Rande der Wiese zum Kompostieren ablegen würde. Dafür dürfte sie dann gelegentlich die Stute reiten.
Annes Freundin hieß Julia, sie ging mit ihr in dieselbe Klasse. Julia wohnte in einem Vorort und musste nach der Schule mit dem Bus nach Hause fahren. Weil sie dort aber tagsüber niemand antreffen würde – ihre Mutter war berufstätig, und ihr Vater hatte sich noch vor ihrer Geburt auf Nimmerwiedersehen verabschiedet –, kam sie an den meisten Tagen erst einmal mit zu Anne. Julia war eine gute Schülerin, und gemeinsam gingen Anne und Julia die Hausaufgaben so flink von der Hand, dass fast immer noch Zeit für eine gemeinsame Unternehmung blieb. Sie gingen schwimmen oder bummeln oder streiften unten am Fluss entlang.
Im Parterre wohnten Herr und Frau Clausen. Herr Clausen arbeitete in dem nahen Betriebshof der Stadt und hatte dafür zu sorgen, dass die Fahrzeuge und Geräte zum Reinigen und Schneefegen der Straßen immer in Ordnung waren. Und wenn er sah, dass die alte Dorfstraße nicht ordentlich gefegt oder im Winter nicht als Erste mit dem Schneepflug freigeräumt worden war, genügte ein Wort von ihm, und ›Seine Jungs‹ in den orangenen Overalls beeilten sich, das Versäumte nachzuholen. Herr Clausen war ein Hüne von einem Mann und wurde in der Nachbarschaft wegen seiner nach allen Richtungen ausladenden Figur, aber auch wegen seines kleinen Hündchens, das er morgens und abends spazieren führte, heimlich nur Obelix genannt. Er war eine Seele von Mensch. Wann immer eine Tür klemmte oder ein Zaunpfahl wackelte oder ein Auto nicht anspringen wollte, Obelix richtete es wieder: ein paar schnelle Griffe seiner geschickten Schaufelhände, und das Problem war gelöst.
Frau Clausen war zwar einen Kopf kleiner als ihr Mann, hatte aber ebenfalls eine recht stattliche Figur. Obwohl sie schon vor fast dreißig Jahren ihrem Mann in dessen norddeutsche Heimat gefolgt war, hatte sie immer noch einen breiten schwäbischen Akzent und war stets ein wenig verwundert, wenn sie von den Leuten nicht immer verstanden wurde.
Die unmittelbaren Nachbarn, mit denen Annes Familie Tür an Tür wohnte, waren die Sommers. Von Herrn Sommer wusste Anne nur, dass er Physiker gewesen war, ohne dass sie sich darunter etwas Bestimmtes hätte vorstellen können. In letzter Zeit begegnete sie ihm häufiger. Er lebte jetzt nämlich im Ruhestand und versorgte den Haushalt. Frau Sommer war Lehrerin für Deutsch und Biologie.
Ganz in der Nähe gab es ein ausgedehntes Kleingartengelände, und da Frau Sommer von Kind auf an einen Garten gewöhnt war, hatte sie dort eine kleine Parzelle gepachtet. Die war vom Vorpächter ziemlich vernachlässigt worden, sodass es anfangs mächtig viel zu tun gegeben hatte. Sie liebte die Gartenarbeit, und wenn es in der Schule einmal Ärger gab, zog sie sich meistens für eine Weile in den Garten zurück. Je nach Schwere der Gemütswallung begnügte sie sich dann mit Unkrautrupfen oder grub wild entschlossen eine Ecke des Gartens um. »Stress abdampfen« nannte sie das.
Herr Sommer hatte sich in einer Gartenecke ein kleines Kräuterbeet angelegt, in dem eine üppig wuchernde Salbeistaude und eine prächtige Zitronenmelisse sein ganzer Stolz waren. Ansonsten war er nur eine Art Hilfsgärtner: Er durfte bei der Apfelernte helfen, den Unkrautkorb zum Komposthaufen bringen oder für den Knöterich, den seine Frau entlang einer Mauer zum Nachbargrundstück hin gepflanzt hatte, eine Kletterhilfe anfertigen.
Besonders gern zog er sich in ein Gartenhäuschen zurück. Dort hatte er knapp unter der Decke eine etwa armlange Eisenstange angebracht. Sie war waagerecht an einem dünnen Faden aufgehängt und konnte sich so nach allen Seiten drehen. Die Stange hatte er vorher mit einem starken Magneten berührt, sodass sie ebenfalls zu einem, wenn auch schwachen Magneten geworden war. Die ganze Anordnung war also, wenn man so wollte, ein etwas überdimensionierter Kompass, und weil sich Kompassnadeln nach Norden einzustellen pflegen, war das auch bei dieser magnetisierten Eisenstange so.
Wenn Herr Sommer hier in das Häuschen kam, hatte er sich stets ein Buch mitgebracht, und jedes Mal, bevor er mit dem Lesen begann, zelebrierte er ein kleines Ritual. Dazu gab er ganz vorsichtig einem der beiden Enden der Eisenstange mit dem Finger einen kleinen horizontalen Stoß. Sie drehte sich daraufhin aus ihrer Nordrichtung, in der sie seit der letzten Lesestunde verharrt hatte, heraus, verlangsamte allmählich ihre Bewegung, kam schließlich ganz zum Stillstand, um darauf sofort wieder mit der Rückbewegung zu beginnen. Zunächst war die Bewegung ganz langsam, kaum merklich, doch dann strebte die Stange in immer schnellerer Fahrt der ursprünglichen Ruhelage entgegen. Der Schwung dieser Bewegung trug sie über die Nordrichtung hinaus zur anderen Seite hin. Dort erlahmte die Bewegung der Stange allmählich, sie kehrte um, wurde wieder schneller, schoss wieder über das Ziel hinaus, und alles begann von vorne. Herr Sommer liebte es, diesem Schauspiel zuzuschauen. Obwohl er es schon Dutzende von Malen beobachtet hatte, spürte er immer wieder den leisen Zweifel in sich hochsteigen, ob dieser kleine Eisenknecht seine Lektion noch beherrschte und auch willens war zu tun, was man von ihm erwartete. Oder hatte er vielleicht gerade heute die Nordrichtung vergessen oder das Gespür für das Erdmagnetfeld verloren, sodass er die durch den Stoß erzwungene Anfangsbewegung einfach fortsetzte, ohne umzukehren? Solches geschah aber nie; auf ihn war Verlass. Zumindest hier war die Welt noch in Ordnung. Solchermaßen beruhigt, konnte sich Herr Sommer entspannt in einem Sessel seiner Lektüre zuwenden. Wenn dann nach einer Stunde die Pendelbewegungen einschliefen, war es allmählich Zeit, sich an seinen Posten als Hilfsgärtner zu erinnern. Ein Ast des Apfelbaums trug wieder so viele Früchte, dass er fast den Boden berührte und mit einem Holzpfahl unterstützt werden musste.
Es war kurz vor den Sommerferien, als Frau Sommer Anne im Treppenhaus sah, wie sie vor ihr die Stiege zur ersten Etage hinaufschlich.
»Was ist los mit dir, Anne? Du siehst heute gar nicht so fröhlich wie sonst aus!«
»Ach, eigentlich ist gar nichts. Nur … also ich hab in zwei Wochen Geburtstag!«
»Das ist doch aber kein Grund zum Traurigsein«, meinte Frau Sommer.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß nicht so recht, was ich mit meinen Freunden, die ich einlade, machen soll. Früher war das kein Problem. Da haben wir Spiele gespielt. Aber das finden wir jetzt nicht mehr so toll. Neulich beim Geburtstag von Julia, das ist meine Freundin, war es so was von öde.« Anne starrte missmutig auf die Treppenstufen. »Ihre Kinder waren doch auch einmal in meinem Alter. Wie haben die denn ihre Geburtstage gefeiert?«
»Ja, da muss ich jetzt direkt nachdenken. Das ist ja schon eine kleine Ewigkeit her. Eigentlich war es auch mehr mein Mann, der sich da was ausgedacht hat. Jetzt erinnere ich mich: Manchmal hat er sie mit kleinen Zaubertricks unterhalten. Das hat eigentlich immer allen großen Spaß gemacht. Wär das nicht auch was für euch?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich hab ich gar keine genauen Vorstellungen, ich weiß nur, dass es nicht langweilig werden darf. – Ja, so ein Zauberer … kennen Sie denn jemanden, den ich bezahlen kann?«
Frau Sommer schmunzelte. »Mein Mann würde es sicher umsonst machen.«
»Ehrlich? Aber er kennt mich ja kaum. Ich habe doch in meinem ganzen Leben höchstens drei Sätze mit ihm gesprochen. Und hätte er überhaupt Lust dazu?«
»Das lass nur meine Sorge sein. Morgen sage ich dir Bescheid, ob er angebissen hat.«
Als Frau Sommer am nächsten Tag Anne zwischen Tür und Angel begegnete, war ihre Botschaft ebenso kurz wie eindeutig: »Er macht’s!«
*
Die Tage bis zum Geburtstag waren für Herrn Sommer mit der Vorbereitung seines Auftritts ausgefüllt wie lange nicht mehr. So vieles musste ausgedacht, vorbereitet und geübt werden. Endlich klingelte es und Anne und ihre Freunde wirbelten herein. »Also das sind Julia, Lisa, Christoph und Felix. Alle aus meiner Klasse. Und das ist Frau Sommer und das Herr Sommer!«
Herr Sommer bat alle ins Wohnzimmer. Die Sitzordnung um den großen Esstisch, der mit einem grobleinenen, weißen Tischtuch bedeckt war und den Herr Sommer noch um ein Seitenteil verlängert hatte, war bald hergestellt. Anne, das Geburtstagskind, saß an der Schmalseite, ihr gegenüber Herr Sommer, und an jeder der beiden Längsseiten, näher zu Anne hin als zu Herrn Sommer, saßen je zwei der anderen Gäste. Obwohl draußen die Sonne schien, war es im Zimmer etwas schummrig, weil die Rollläden zu zwei Dritteln heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen waren, angeblich, um die Hitze abzuhalten, in Wahrheit aber war es Teil einer ausgeklügelten Lichtregie.
Herr Sommer wartete geduldig, bis es ganz still geworden war und sich alle Augen auf ihn richteten. »Meine liebe Anne, liebe Gäste von Annes Geburtstagsparty«, begann er wie ein Festredner und eine Spur feierlicher, als er es eigentlich geplant hatte, »ich habe neulich beim Aufräumen auf dem Speicher etwas Merkwürdiges gefunden.«
Bei den letzten Worten ging er zu einer kleinen Anrichte und trug von dort einen mit einem schwarzen Tuch verhüllten schweren Gegenstand zum Tisch. Dann knipste er einen Schalter an, und von der Decke leuchtete ein Strahler genau auf das geheimnisvolle Objekt. Mit einer dramatischen Geste enthüllte er eine kleine hölzerne Truhe, deren schön gemasertes Holz im Scheinwerferlicht glänzte. Sie hatte einen leicht gewölbten Deckel und war an allen Kanten mit blattförmig ausgestanztem Eisenblech verstärkt. Wenn man für eine Theateraufführung eine kleine Schatztruhe hätte beschaffen müssen, hätte man keine bessere finden können.
»Diese Truhe stammt aus dem Nachlass meines Vaters«, fuhr Herr Sommer fort. »Er hat sie mir gegenüber nie erwähnt, und deshalb habe ich ihr zunächst keine Beachtung geschenkt, zumal sie obendrein verschlossen war und der Schlüssel fehlte. Neulich fiel sie mir beim Aufräumen wieder in die Hände, und da ich in einem Zigarrenkästchen unter allerlei anderem alten Krempel auch den Schlüssel fand«, bei diesen Worten kramte er langsam und etwas umständlich einen rostigen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor, »habe ich die Truhe natürlich geöffnet.«
Alle fünf Augenpaare schauten auf den Schlüssel, der jetzt langsam ins Schloss geschoben und mit einem schnarrenden Geräusch herumgedreht wurde. Herr Sommer klappte den Deckel der Truhe zurück. Aber so sehr sie ihre Hälse auch reckten, sehen, was darin war, konnten sie nicht. Herr Sommer stellte befriedigt fest, dass seine Dramaturgie bis hierher funktioniert hatte. Anne hielt es nicht mehr länger auf ihrem Sitz. Sie saß ja auch am weitesten entfernt und hatte den ungünstigsten Einblickswinkel. Gerade als sie im Begriff war aufzuspringen, deutete Herr Sommer auf ein Detail im Innendeckel, das von allen Plätzen bequem zu erkennen war.
»Hier könnt ihr deutlich die Initialen Th. H. S. erkennen«, sagte er rasch. »Das sind die Initialen meines Großvaters Theodor Heinrich Sommer. Da mein Großvater schon 1914 gestorben ist, müssen wir daraus schließen, dass die Truhe um die einhundert Jahre alt ist. Es ist auch ziemlich wahrscheinlich«, fuhr Herr Sommer in dem gleichen, wissenschaftliche Korrektheit vorspiegelnden Ton fort, »dass auch die Gegenstände, die diese Truhe zum Inhalt hat, von ähnlich hohem Alter sind«.
Damit klappte er den Deckel wieder zu.
»Ihr könnt euch vorstellen, dass ich sehr neugierig war, vielleicht sogar noch neugieriger, als ihr jetzt seid. Immerhin hatte ich sie geerbt, und ich wollte doch wissen, ob sie etwas Wertvolles enthielt. Beim ersten Blick in das Innere war ich aber maßlos enttäuscht. In der Truhe waren sieben Gegenstände, aber kein einziger schien mir von irgendeinem größeren materiellen Wert zu sein. Da habe ich mich natürlich gefragt, warum mein Großvater sie überhaupt in eine solche Truhe gepackt, aufgehoben und seinem Sohn, also meinem Vater, vererbt hat. Vielleicht konnte man ihren wahren Wert erst erkennen, wenn man sich näher mit ihnen beschäftigte. Das wollte ich unbedingt herausfinden. – Und was mir dabei alles widerfahren ist, das, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer –«, und an dieser Stelle machte er eine kleine Kunstpause, »was mir dabei widerfahren ist, sollt ihr heute Nachmittag auch erleben.«
Seine Zuschauer saßen reglos auf ihren Stühlen und fixierten die noch immer geschlossene Truhe.
»Ich will jetzt der Schatztruhe einen ersten Gegenstand entnehmen«, begann Herr Sommer wieder, öffnete ihren Deckel, griff nach einem kleinen Flakon, der zu zwei Dritteln mit einer milchig-trüben Flüssigkeit gefüllt war, und schloss den Deckel wieder. Dann gab er die kleine Flasche an Felix weiter und bat ihn, laut vorzulesen, was auf dem kleinen Zettel stand, der an ihrem Hals baumelte. Felix hatte ein wenig Mühe, die etwas altertümlichen Buchstaben zu entziffern, doch dann las er den Text laut vor, wobei er jedes einzelne Wort betonte:
»Man soll einen Tropfen in was für ein Gefäß geben?«, fragte Anne.
»Gemeint ist wohl ein Gefäß, das von einem Töpfer aus Tonerde geformt und dann gebrannt wurde, damit es fest wird« antwortete Herr Sommer.
»Ja, dann ist es ja ganz einfach«, meinte Anne, »dann brauchen wir doch nur so einen Tontopf und es kann losgehen.«
Herr Sommer ging in die Küche und kam bald darauf mit einem Glaskrug voll Wasser und einer Keramikschüssel zurück. Die Schüssel war ganz offensichtlich leer, denn bevor er sie vor sich auf den Tisch stellte, hatte er sie für einen kurzen Augenblick mit der Öffnung nach unten gedreht, ohne dass etwas herausgefallen wäre. Nachdem er den Deckenstrahler etwas verstellt hatte, sodass das Licht jetzt nicht mehr auf die Truhe, sondern genau auf die Schüssel fiel, konnten es alle von ihren Plätzen aus auch deutlich sehen: Die Schüssel war vollkommen leer. Jetzt ließ sich Herr Sommer den Flakon zurückgeben und hielt ihn dicht über die Schüssel. Dann schnippte er mit dem Finger gegen die Flaschenwand und ein einzelner Tropfen fiel herab. Der Tropfen zerfloss nicht, sondern wölbte sich halbkugelförmig und hob sich glänzend von dem mattdunklen Schüsselgrund ab. Jetzt nahm Herr Sommer den Wasserkrug und goss vorsichtig etwas Wasser auf den Tropfen. Der löste sich darin sofort auf. Nichts weiter geschah.
»Sie müssen Sie die Schüssel randvoll machen!«, rief Felix, der sich an die Anweisung auf dem Zettel erinnerte.
Herr Sommer goss mehr Wasser hinzu. Zunächst noch etwas vorsichtig, damit es nicht auf die Tischdecke spritzte, doch dann neigte er plötzlich den Krug etwas stärker, sodass sich ein kräftiger Wasserschwall in die Schüssel ergoss. Kurz bevor diese, wie befohlen, »randvoll« war, setzte er den Krug ab. Auf dem Boden der Schüssel lag etwas Glänzendes.
»Da liegt was!«, rief Anne begeistert. »Ich glaube, es ist ein Geldstück!«
Herr Sommer goss das Wasser in den Krug zurück und gab das Geldstück zur Besichtigung frei. Es war ein altes Ein-Mark-Stück aus dem Jahre 1875. Diese Jahreszahl war zusammen mit einem Kranz aus Eichenlaub auf der Vorderseite eingeprägt. Die Rückseite schmückte ein Adler.
»1875 hat mein Großvater bereits gelebt«, erklärte Herr Sommer. »Ich nehme an, dass die kleine Flasche und ihr Inhalt auch aus dieser Zeit stammen und dass vielleicht bei der Verwandlung des Tropfens immer etwas aus dieser Zeit entsteht.«
»Machen Sie es doch gleich noch mal«, schlug Christoph vor, »am besten nehmen Sie gleich mehr als einen Tropfen. Dann werden wir ja sehen, ob wieder altes Geld daraus wird.«
Herr Sommer ließ sich nicht lange bitten. Schon hatte er zwei Tropfen in die leere Schüssel geschnippt, sie mit etwas Wasser übergossen und dann mit Schwung Wasser nachgefüllt. Diesmal lag ein etwas größeres Geldstück auf dem Boden der Schüssel. Nachdem er das Wasser wieder in den Krug zurückgekippt hatte, gab er die Münze seinen Gästen: Auf einer Seite der Münze umrahmten die Worte »KARL KOENIG VON WUERTTEMBERG« den Kopf eines Mannes mit mächtigem Vollbart, auf der anderen Seite stand unter dem unvermeidlichen Adler die Jahreszahl: 1880.
»Alles klar!«, rief Christoph. »Bei zwei Tropfen gibt es ein Zwei-Mark-Stück. Aber warum gerade zwei Mark aus Württemberg? Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Eine Erklärung würde ich es nicht nennen«, antwortete Herr Sommer, »denn dass ein paar Tropfen einer trüben Flüssigkeit zu Geld werden, kann ich nicht erklären. Aber dass es aus Württemberg stammt, deutet wieder auf meinen Großvater hin, denn er war Schwabe und lebte bereits in diesem Land, als es noch ein Königreich war. Ich glaube, dass auch das Ein-Mark-Stück aus Württemberg ist. Wenn ihr genau hinseht, erkennt ihr auf beiden Münzen im Innern des Adlers das gleiche Wappen und über dem Adlerkopf die gleiche Krone.«
Bevor die Geburtstagsgäste noch weitere Fragen stellen konnten, beeilte sich Herr Sommer, der Truhe einen zweiten Gegenstand zu entnehmen, das heißt, eigentlich waren es zwei. Der eine war eine gewöhnliche Holzkugel von etwa zwei Zentimeter Durchmesser, in die eine Ringschraube gebohrt war, der andere war aus Metall. Er hatte die Form eines kleinen, an den Enden spitz zulaufenden Bootes, das mit einer schwarz glänzenden, kreisrunden, aufrecht stehenden Scheibe beladen war. Auf der Rückseite der Scheibe war sowohl eine Sicherheitsnadel als auch eine Öse angelötet. Offensichtlich handelte es sich um ein Schmuckstück, das als Brosche und auch als Anhänger an einer Kette oder einem Lederband getragen werden konnte. Die Ringschraube der Holzkugel und die Öse des Anhängers waren mit einem einfachen Bindfaden verbunden. Aufgespießt auf die geöffnete Sicherheitsnadel war ein Zettel. Herr Sommer gab ihn ohne weiteren Kommentar an Felix. Der hatte ihn bald entziffert und las Folgendes laut vor:
Der erste Teil der Anweisung war allen sofort klar. Der Vorschlag, die Badewanne zu füllen, wurde aber unter Hinweis auf die Verschwendung von Wasser wieder verworfen. Schließlich einigte man sich darauf, den noch auf dem Tisch stehenden Krug mit frischem Wasser zu füllen, denn die vielen milchigen Tropfen aus dem Flakon hatten es etwas getrübt. Herr Sommer nahm also den Krug, ging in die Küche und kam nach einer kleinen Weile mit einem frisch gefüllten zurück. Er fasste den Gegenstand, der versenkt werden sollte, an der Holzkugel an und ließ den daran baumelnden Anhänger vorsichtig ins Wasser hinab. Als auch die Holzkugel die Wasseroberfläche berührte, ließ er sie los, und beide, die Holzkugel und der darunter hängende Anhänger, tauchten ganz langsam tiefer. Schließlich setzte das Boot des Anhängers sachte auf dem Boden des Kruges auf. Die Holzkugel, die vom Bindfaden festgehalten und am Aufsteigen zur Wasseroberfläche gehindert wurde, schwebte immer noch über dem Boot. Das Boot drehte sich noch ein wenig, denn offensichtlich war das Wasser im Krug noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, doch dann passierte zunächst gar nichts mehr.
»Ich glaube«, sagte Anne nach einer Weile, »wir müssen jetzt was tun! Felix, lies doch noch einmal, was auf dem Zettel steht!«
»Versenke mich in klarem Wasser! Und heb mich hoch mit der Kraft deiner Gedanken!«
»Ich habe einmal im Fernsehen gesehen«, ergriff jetzt Julia das Wort, »dass jemand ein Pendel zum Schwingen gebracht hat, ohne es zu berühren. Er hat sich ganz doll auf das Pendel konzentriert und hat ihm mit seinen Gedanken befohlen, sich zu bewegen.«
»Wir sollten uns vielleicht überlegen«, schlug Anne vor, »mit welchen Gedanken wir dem Boot helfen können, dass es von der Holzkugel nach oben gehoben wird.«
»Da gibt es zwei Möglichkeiten«, meinte Felix. »Wir könnten uns in Gedanken darauf konzentrieren, dass entweder das Boot leichter wird oder dass die Holzkugel kräftiger nach oben zieht. Was meint ihr?«
»Gute Idee«, erwiderte Anne, »Wir könnten beides versuchen: Wir Mädchen machen das Boot leichter und die Jungen geben der Kugel mehr Kraft zum Heben.«
Und so versuchten sie es denn, ohne recht zu wissen, wie sie es eigentlich anstellen sollten. Lisa und Julia schlossen die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, Anne unterstützte mit ihren Händen ein imaginäres Boot und hob es sanft in die Höhe, die beiden Jungen schienen im Geiste mit ihren Händen die Ringschraube zu umklammern und die Kugel nach oben zu zerren, Herr Sommer schmunzelte vor sich hin und freute sich, dass alles so gut lief. Er hatte nämlich bemerkt, dass inzwischen das Boot ein ganz kleines Stück vom Boden abgehoben hatte.
»Ich glaube, es bewegt sich!«, rief Anne aufgeregt, und die beiden anderen Mädchen rissen die Augen weit auf.
Als alle sahen, dass ihre Bemühungen erfolgreich waren, strengten sie sich nur noch mehr an. Lisa und Julia imitierten Anne in ihren beschwörenden Stützbewegungen und die Jungen hatten allmählich vom vielen Ziehen ganz verzerrte Gesichtszüge. Jetzt hatte sich das Boot schon um einen ganzen Zentimeter gehoben und es stieg zwar langsam, aber stetig weiter nach oben. Kurz bevor die Holzkugel die Wasseroberfläche erreichte, wollte es nicht mehr so recht weitergehen.
»Ihr gebt euch ja auch nicht mehr so viel Mühe«, mahnte Anne ihre Gäste, die mehr oder weniger mit ihren hebenden und zerrenden Gesten aufgehört hatten, »da ist es kein Wunder, wenn sich nichts mehr tut. Also strengt euch noch mal ein bisschen an, gleich haben wir es ja geschafft.«
Alle rückten noch näher zum Krug hin, damit ihre Gedanken und Gesten noch konzentrierter wirksam werden konnten. Aber so sehr sie sich auch abmühten, Kugel und Boot waren nicht mehr höher zu hieven. Ja, es war nicht zu leugnen, sie verloren sogar ein wenig an Höhe – und am Ende einer weiteren Minute, in der die Anstrengungen der Geburtstagsgesellschaft immer halbherziger wurden, setzte das Boot wieder auf dem Boden des Kruges auf. Alle waren ein wenig erschöpft und kehrten auf ihre Plätze zurück, um ihre Gläser nachzufüllen. Herr Sommer nahm den Krug und trug ihn in die Küche, um ihn zu entleeren.
Als er zurückkehrte, legte er den kleinen Taucher in die Truhe zurück und entnahm ihr einen dritten Gegenstand. Es war ein etwas altertümlich wirkendes Glas mit einem schlanken Kelch, in den ein Weinrankenmuster eingraviert war, und mit einem im Vergleich dazu etwas klobig wirkenden sechskantigen Stiel. Herr Sommer gab Felix das Glas, in dessen Kelch ein zusammengefalteter Zettel steckte. Felix strich den Zettel glatt und las ihn laut vor:
Was sollte nun das wieder bedeuten? Felix drehte und wendete das Glas etwas unschlüssig. Als er dabei aus Versehen mit dem Finger leicht an den dünnen Kelch des Glases stieß, gab es einen leisen Ton von sich, der deutlicher zu hören war, als er nun bewusst mit dem Finger dagegen klopfte, und noch lauter wurde, als er mit dem Fingernagel dagegen schnippte.
»Ja, das könnte es doch sein«, meinte Julia. »Das ist der Ton des Glases und genau den sollen wir singen und dann singt es ihn vielleicht auch!«
Mit diesen Worten stimmte sie den Ton des Glases an und Anne machte es ihr nach. Auch Felix, der noch nicht im Stimmbruch war, hatte keine Mühe, den richtigen Ton zu finden. Christoph gab es auf, nachdem er in mehreren Anläufen nur eine Reihe von Kieksern produziert hatte, und Lisa umkurvte den Ton von unten und von oben, ohne ihn jemals richtig zu treffen. Doch die drei gaben sich alle Mühe, verglichen noch einmal ihren Sington mit dem Glaston und ließen unisono ein lang gezogenes Ooooooooo hören. Vom Glas war nichts zu hören.
»Wie sollen wir auch das Glas hören«, rief Christoph, »wenn ihr so einen Lärm macht. Wir müssen es anders anstellen. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, müsst ihr mit dem Singen schlagartig aufhören. Dann klappt es vielleicht!«
Aber das hatte auch keinen Erfolg. Das Glas blieb stumm. Hilfesuchend schauten sie Herrn Sommer an.
»Das Glas ist sicher auch schon über hundert Jahre alt«, begann er, »da ist es vielleicht ein wenig schwerhörig geworden. Ihr müsstet irgendwie lauter singen. Ich habe eine Idee: Katrin«, und dabei wandte er sich an seine Frau, »könntest du unsere Sänger ein wenig auf deiner Geige unterstützen? Ich könnte den Ton mit einem Kassettenrekorder aufnehmen, damit wir ihn nachher ganz laut abspielen können.«
Frau Sommer war einverstanden und holte ihre Geige.
»Ich habe auch eine Idee«, sagte sie. »Wir könnten doch für Anne ›Happy birthday‹ singen! Ich richte es dann so ein, dass der letzte Ton des Ständchens der Ton des Glases ist. Felix, klopfst du bitte für mich noch einmal an das Glas, damit ich die Geige danach stimmen kann?«
Sie drehte nacheinander an den Wirbeln der Geige, auf denen die Saitenenden aufgewickelt sind und mit denen man die Saitenspannung verändern kann, ließ sich den Glaston noch einmal geben und war nach einer weiteren Korrektur der Tonhöhe der Saiten schließlich zufrieden. Mittlerweile hatte Herr Sommer seinen Kassettenrekorder und ein Mikrofon aufnahmebereit gemacht. Es konnte losgehen. Frau Sommer gab kurz den ersten Ton vor und begann dann zu spielen. Nach und nach fielen alle ein:
Happy birthday to youuuu,
Happy birthday to youuuu,
Happy birthday, liebe Anne,
Happy birthday to youuuuuuuuuuuuuuuu!
Als sie beim letzten Ton angekommen waren, ging Frau Sommer ganz dicht an das Mikrofon heran und spielte ihn mit mehreren Bogenstrichen lange und laut.
Herr Sommer schaltete den Rekorder wieder ab, spulte die Kassette zurück und legte sie in das Kassettendeck der Stereoanlage ein, weil er sich von deren großen Lautsprechern einen besseren und lauteren Ton versprach. Das Glas wurde nun ganz dicht vor eine der beiden Lautsprecherboxen gestellt und das Band abgespielt. Kurz bevor das letzte ›Happy birthday to youuuuuuuuuuuu‹ endete, drückte Herr Sommer die Pausentaste. Das Band blieb augenblicklich stehen und im selben Augenblick sang das Glas den gleichen Ton, seinen Ton! Anfänglich ziemlich laut, dann allmählich verklingend. Nach vier oder fünf Sekunden war das Glas wieder stumm. Herr Sommer löste die Pausentaste noch einmal für einen kurzen Augenblick, sodass der Rest des Geigen-Singtons zu hören war, und die Glasantwort kam ebenso prompt wie das erste Mal.
»Vielleicht«, fragte Felix, »singt das Glas bei jedem Ton, den man ihm laut genug vorspielt? Kann ich das einmal ausprobieren? Wir haben ja verschiedene Töne auf dem Band.«
Herr Sommer nickte zustimmend, und Felix spulte das Band wieder an den Anfang zurück und drückte die Play-Taste. Er drehte den Lautstärkeregler noch ein wenig auf, damit das Glas auch den Anfang des Liedes genügend laut hören konnte, und stoppte das Band kurz vor Ende des allerersten »Happy birthday to youuuuu«. Das Glas blieb stumm. Es war ja auch nicht sein Ton! Also weiter zum nächsten »Happy birthday to youuuu«. Diesmal stimmte der Ton, mit dem das »youuuu« gesungen wurde, mit dem Schlusston des Liedes überein. Und tatsächlich: Das Glas sang mit!
»Jetzt könnten wir doch ausprobieren«, begann Felix wieder, »wie nahe wir dem Ton des Glases kommen müssen, damit …«
Weiter kam er nicht, denn Christoph fiel ihm ins Wort: »Nun lass gut sein, Felix. Wir haben jetzt genug gesungen.«
Als Nächstes entnahm Herr Sommer der Truhe ein kleines hölzernes Kästchen von der Größe eines Halb-Pfund-Päckchens Butter. Im Innern des Kästchens, dessen Deckel und Seitenwände mit handgeschnitzten, geometrischen Formen verziert waren, lagen drei kleine Segelschiffe. Eines hatte ein weißes, ein anderes ein gelbes und ein drittes ein blaues Segel aus festem Karton. Der Rumpf der Boote war aus sehr leichtem Holz gefertigt und nicht länger als ein kleiner Finger. Er ähnelte mit seinen stumpfen Enden mehr dem eines plumpen Schubschiffes als dem einer schnittigen Segeljacht. Nur der Bug verjüngte sich ein wenig, sodass man doch wenigstens wusste, welches das vordere und welches das hintere Ende war. Auf dem Boden des Kästchens lag ein Zettel mit folgender Aufschrift:
Nachdem ihn Felix vorgelesen hatte, schauten sich alle ein wenig ratlos an.
»Bis jetzt«, brach Anne als Erste das Schweigen, »haben wir immer rausgekriegt, was wir machen müssen. Also schaffen wir das auch diesmal. Julia, dir fällt doch bei solchen Sachen meistens was Schlaues ein, kannst du uns sagen, was das bedeuten soll?«
»Nun ja«, erwiderte Julia, nachdem sie sich den Text noch einmal sorgfältig durchgelesen hatte, »der Schreiber spricht mich unmittelbar an und fordert mich auf, meine Gedanken zu meinem Schiff zu schicken. Das bedeutet wahrscheinlich, dass ich mir von den drei Schiffen eines aussuchen soll, so wie ich mir bei einem Brettspiel vor Beginn eine Farbe aussuche. Also drei von uns sollen sich ein Schiff aussuchen, und das ist dann für den Rest des Spiels ihr Schiff. Dann steht da, dass die Schiffe auf stillem Wasser sind. Also brauchen wir noch Wasser, auf dem wir die Boote schwimmen lassen können. Und dann sollen wir unsere Gedanken zu unserem Schiff schicken. Das soll vielleicht heißen, dass wir uns auf unser Schiff konzentrieren und es mit unseren Gedanken lenken und seine Bewegungen verfolgen sollen.
Die nächste Zeile beginnt mit ›Wird es‹. Das deutet darauf hin, dass etwas eintritt, was anfänglich noch nicht so ist, sondern erst im Laufe der Zeit so wird. Also, ein Schiff kann erstes oder letztes werden. – Das ist aber nicht ganz eindeutig. Soll es bedeuten, dass z. B. ein Schiff wie bei einer Regatta als Erstes oder Letztes durch die Ziellinie geht, oder soll ich das räumlich auffassen, dass ein Schiff vorne oder hinten liegt? – Aha, da haben wir es ja: Ein Schiff kann auch dazwischen liegen. ›Erstes‹ und ›letztes‹ haben wahrscheinlich die Bedeutung von vorne und hinten, sonst würde das ›Dazwischen‹ nicht dazupassen. Wir müssen die Schiffe also so aufs Wasser bringen, dass man am Anfang nicht sagen kann, welches Schiff vorne oder hinten liegt. Das soll sich ja erst im Laufe der Zeit entscheiden. Und dann steht da noch: Wer mit seinem Schiff vorne liegt, ist mutig, wer Letzter ist, ist besonnen, und wer in der Mitte zwischen den beiden liegt, ist verträglich. Hm, die drei Schiffe sagen etwas über ihre Besitzer aus. So eine Art Charaktertest. Wer besonders mutig ist, der lenkt sein Schiff durch seine Gedanken so, dass es am Ende vorne liegt. Ja, so könnte es sein. Mehr fällt mir dazu jetzt nicht ein.«
»Das war ganz fabelhaft, Julia!«, rief Frau Sommer begeistert. »Wenn meine Schüler mit Texten so umgehen könnten, wäre ich froh. Wo hast du denn das gelernt?«
»Das weiß ich nicht so genau«, antwortete Julia bescheiden. »Ich lese gerne Gedichte, auch solche, die ein wenig rätselhaft sind. Da versuch ich dann rauszukriegen, was der Schreiber vielleicht gemeint hat.«
»Wenn das stimmt, was Julia herausgelesen hat«, meldete sich jetzt Christoph zu Wort, »müssen wir Folgendes tun: Herr Sommer besorgt uns ein ›stilles Wasser‹ – ich denke der Wasserkrug ist dafür wirklich zu klein –, und wir müssen uns einigen, wer mitmachen soll. Und da möchte ich gleich einen Vorschlag machen: Anne soll mitmachen, weil sie Geburtstag hat, Julia, weil sie uns den Zettel so schön erklärt hat, und Felix, damit auch ein Junge dabei ist.«
»Also, ich bin einverstanden«, sagte Lisa und die anderen waren es auch.
Herr Sommer hatte im Badezimmer bereits vorher eine größere Plastikwanne zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Die Wasseroberfläche lag jetzt ganz still da, es gab nicht das geringste Gekräusel auf der Oberfläche oder gar eine Strömung. Anne hatte das Schiff mit dem weißen Segel gewählt. Sie fasste es an der Mastspitze an und setzte es ganz vorsichtig in der Nähe des Wannenrands auf das Wasser. Kaum hatte sie das Schiffchen losgelassen, da drehte es sich mit seinem vorderen Ende langsam zum Badezimmerfenster hin und blieb dann in dieser Stellung reglos liegen.
»Das ist aber merkwürdig«, sagte sie verwundert, »ob ich meinem Schiff doch einen kleinen Dreher mitgegeben habe, ohne dass ich es wollte?«
Sie nahm ihr Schiff heraus, wartete ein Weilchen, bis sich das Wasser beruhigt hatte, und setzte es an einer anderen Stelle wieder ein. Sofort drehte es sich in der gleichen Weise zum Fenster hin.
»Verflixt noch mal«, rief sie, »bist du denn verhext?«
Sie nahm das Schiff ein zweites Mal aus dem Wasser und setzte es absichtlich so wieder ein, dass das vordere Ende des Schiffes vom Fenster weg wies. Diesmal machte das Schiff keine Anstalten, sich drehen zu wollen. Zunächst wenigstens nicht. Eine ganze Weile geschah gar nichts. Oder doch? Hatte es sich etwa doch ein bisschen bewegt? Jetzt war es deutlicher zu sehen: Es drehte sich. Als es erst einmal quer zur Fensterrichtung stand, dauerte es nicht mehr lange, und es hatte genau die Richtung zum Fenster eingenommen. Dann hörte jede Bewegung auf.
»Jetzt versuch du es, Julia!«, rief Anne.
Julia setzte ihr Schiff mit dem blauen Segel an der gegenüberliegenden Seite mit großer Sorgfalt ein. Es fing sofort an, sich mit seinem vorderen Ende zum Fenster zu drehen. Dann war Felix an der Reihe, für den das Schiff mit dem gelben Segel übrig geblieben war. Er setzte es so auf die Wasseroberfläche, dass alle drei Schiffchen ungefähr ein gleichseitiges Dreieck bildeten, sodass man im Moment nicht entscheiden konnte, wer vorne, hinten oder dazwischen lag. Aber so sehr sie sich auch darauf konzentrierten, ihren Schiffchen im Geiste einen kleinen Schubs zu geben, die rührten sich nicht von der Stelle.
»Wenn es euch zu lange dauert«, sagte schließlich Herr Sommer, »können wir mit dem nächsten Gegenstand drüben weitermachen und später noch einmal nachsehen.«
Nein, da wollten seine Gäste lieber noch ein Weilchen warten. Sie wurden für ihre Geduld bald belohnt. Die beiden Schiffe von Julia und Felix hatten unverkennbar ihren Abstand zueinander verringert. Das konnte man deutlich sehen, ohne dass man die Bewegung selbst wahrgenommen hätte. Jetzt war es schon kein gleichseitiges Dreieck mehr, weil sich die beiden Schiffe immer weiter aufeinander zu bewegten. Schließlich waren das gelbe und das blaue Segel nur noch einige Zentimeter voneinander entfernt, und wenig später berührte der Bug des einen Schiffes das Heck des anderen. Dann wiederholte sich das Gleiche mit Annes Schiff. Sein Abstand zu den beiden anderen Schiffen wurde immer geringer. Nach wenigen Minuten lagen alle drei Schiffe dicht hintereinander: Anne lag vorne, Felix hinten und Julia dazwischen.
Herr Sommer hatte inzwischen den Zettel geholt.
»Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ihr euch wieder erkennt. Also, Annes Schiff ist jetzt das erste, und das, so steht es hier, spricht für ihren Mut. Demnach wäre Felix besonnen und Julia verträglich! Stimmt das so?«
»Aber das stimmt genau«, antwortete Lisa. »Wenn mal was zu tun ist, wozu sich die anderen nicht so recht trauen, dann ist es meistens Anne, die es macht. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass du, Felix, schon einmal etwas Unüberlegtes gemacht hättest. Und auch Julia ist gut getroffen. Wenn es irgendwo Streit gibt, dann sorgt meistens Julia dafür, dass sich nachher wieder alle vertragen.«
Als Nächstes entnahm Herr Sommer der Truhe ein hölzernes, schmuckloses Kästchen mit zwei Messingknäufen an den beiden kleineren Seitenteilen. Es war offenbar nicht zum leichten Öffnen bestimmt, denn sein Deckel war mit zwei um die Seitenteile und den Boden umlaufenden Stahlbändern festgezurrt. An einem der Messingknäufe baumelte ein Zettel mit folgender Aufschrift:
Obwohl das eigentlich nicht schwer zu deuten war, machte keiner der Geburtstagsgäste Anstalten, der Aufforderung nachzukommen.
»Will es denn niemand versuchen?«, fragte Herr Sommer nach einer Weile. »Anne, wie wär’s? Möchtest du nicht den Anfang machen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Anne zögernd, »ich trau mich einfach nicht. Wir haben an unserer Balkontür so einen ähnlichen Messinggriff. Wenn ich den anfasse, um die Tür zu öffnen, kriege ich manchmal einen kleinen elektrischen Schlag. Einmal habe ich dabei sogar im Dunkeln einen Funken gesehen und einen leisen Knall gehört. Mein Vater hat mir zwar gesagt, das sei ganz harmlos und komme daher, dass ich mich auf unserem Teppichboden elektrisch aufgeladen hätte, aber ich habe trotzdem immer ein wenig Angst, diesen Griff anzufassen. Und diese Messingdinger hier erinnern mich so daran.«
»Aber Anne«, gab Herr Sommer zu bedenken, »glaubst du denn wirklich, ich könnte dich mit diesem Ding elektrisieren wollen?«
»Natürlich nicht. Ich habe ja auch gesehen, wie Sie es angefasst haben, ohne dass Ihnen was passiert ist. Aber irgendwie, ich weiß auch nicht warum, ist es mir ein wenig mulmig, das anzufassen. Wie geht es euch denn?«
Die Angesprochenen schauten etwas betreten drein. Niemand wollte etwas sagen. Endlich fasste Herr Sommer selbst die beiden Knäufe an.
»Seht her, es passiert gar nichts! Und jetzt fühle ich auch ganz deutlich, wie etwas von der einen Hand durch meinen Körper zur anderen Hand hinströmt.«
Nach einer Weile ließ er seine rechte Hand los und ergriff die linke von Felix. Mit einer aufmunternden Kopfbewegung zu dem Kästchen hin bedeutete er diesem, mit seiner anderen Hand den freien Messingknauf anzufassen. Felix verstand zwar sofort, was Herr Sommer von ihm wollte, folgte der Einladung aber erst nach längerem Zögern und nicht, bevor ihm noch einmal versichert worden war, dass alles, was er zu erwarten habe, ein angenehmes Gefühl sei. Vorsichtig und langsam führte Felix seine rechte Hand dem Messingknauf entgegen, berührte ihn kurz mit dem Zeigefinger, legte dann schon etwas länger alle Finger darauf und umfasste schließlich den Metallgriff mit der ganzen Hand.
»Spürst du etwas?«, wollten die anderen wissen.
»Eigentlich nicht«, ließ sich Felix vernehmen, »das heißt, das Metall fühlt sich ein wenig kalt an, aber das ist wohl nichts Besonderes; Metall fühlt sich ja immer kalt an!«
»Kribbelt es vielleicht?«, fragte Anne. »Oder wird dein Arm warm oder schwer oder sonst was … irgendwas musst du doch spüren!?«
»Ich weiß nicht, jetzt fühlt sich der Griff nicht mehr so kalt an wie am Anfang, ja, wenn ich mich nicht täusche, eher sogar ein wenig warm, es könnte sogar sein, dass auch mein Arm ein wenig warm geworden ist. Ist es so, Herr Sommer, soll ich fühlen, dass mein Arm warm wird?«
»Vielleicht«, antwortete Herr Sommer lächelnd, »fühlt es jeder auf eine andere Weise. Mein Arm wird nicht warm, und es kribbelt auch nicht. Ich fühle es ganz einfach strömen, aber ich bin nicht sicher, ob ich es nur spüre, weil ich weiß, dass da etwas strömt, oder ob wirklich eine körperliche Empfindung damit verbunden ist. Vielleicht möchten es die anderen auch versuchen?«
Bei diesen Worten ließ Herr Sommer die Hand von Felix los und forderte Anne auf, die entstandene Lücke wieder zu schließen. Anne tat es ohne Zögern, denn nun hatte sie auf der einen Seite Herrn Sommer, auf der anderen Seite Felix zwischen sich und den beiden Metallgriffen.
»Also das Einzige, was ich fühle, ist, dass Ihre Hand, Herr Sommer, trocken ist, und deine Hand, Felix, ist ein wenig feucht. Funktioniert denn das Strömen überhaupt bei drei Personen?«
»Ja, ich kann es auch jetzt noch ganz deutlich spüren«, versicherte ihr Herr Sommer. »Es kommt nicht auf die Anzahl der Personen an, sondern nur darauf, dass der Menschenkreis geschlossen ist. Sobald einer die Kette unterbricht, hört das Strömen sofort auf.«
Jetzt wollten auch die anderen in den Kreis aufgenommen werden und es wurde allmählich ein wenig eng. Herr Sommer nahm deshalb das Kästchen vom Tisch und trug es zu einem kleineren runden Tisch, der in einer Zimmerecke in der Nähe des großen Bücherregals stand. Als er es vorsichtig auf dessen bodenlange Tischdecke absetzte, schaute er für einen kurzen Augenblick zu einem Blumentopf hinüber, der in einem Regalfach stand, und lächelte befriedigt. Alles lief nach Plan.
Herr Sommer forderte sie auf, sich um den Tisch herum auf den Boden zu setzen und sich an den Händen zu fassen. Er selbst fasste einen der Messingknäufe an und Christoph, sein Nachbar zur linken, den anderen. Der Kreis war wieder geschlossen.
Lisa war die Einzige, die glaubte, ein gewisses Strömen fühlen zu können. Als aber Herr Sommer den Messinggriff losließ und behauptete, nun könne auch er nichts mehr fühlen, weil nun der Kreis unterbrochen sei, wurde sie wieder unsicher, denn sie merkte keinen Unterschied.
»Vielleicht spürt man es nur an dem einen Knauf, weil das Strömen irgendwie unterwegs nachlässt«, gab Christoph zu bedenken. »Ich würde gerne mal mit Ihnen, Herr Sommer, den Platz tauschen.«
Aber auch das half nichts. Christoph spürte auch jetzt nichts, und Herr Sommer behauptete nach wie vor, dass ihn etwas durchströme, sobald der Menschenkreis geschlossen sei.
Doch Christoph blieb hartnäckig: »Könnte es vielleicht sein, dass Sie das mit dem Strömen nur so sagen, in Wirklichkeit aber genauso wenig wie wir merken? Sie müssten uns schon beweisen, dass das für Sie einen Unterschied macht, ob irgendwo eine Lücke ist oder nicht.«
»Das will ich gerne tun«, antwortete ihm Herr Sommer freundlich.
»Wie wäre es z. B. damit, dass ihr da, auf der anderen Seite des Tisches, eure Hände unterhalb der Tischkante haltet. Dann kann ich gar nicht sehen, ob ihr euch anfasst oder nicht, und ihr könnt leicht herausfinden, ob ich schummele.«
»Also, wenn ich Sie recht verstanden habe«, sagte Anne, »dann soll ich hier bei mir den Menschenkreis unterbrechen und wieder schließen, ganz wie ich Lust und Laune habe; und Sie, Herr Sommer, können das nicht sehen, weil der Tisch und die lange Tischdecke dazwischen sind. Und Sie sagen uns dann, ob wir uns angefasst halten oder nicht. Ist es so?«
»Genau so habe ich es gemeint.«
Um den Zustand der Menschenkette nicht durch ihren Gesichtsausdruck oder durch eine Bewegung zu verraten, kauerten sich Anne und Julia, ihre Nachbarin, ganz tief hinunter auf den Boden. Das Anfassen und Wiederloslassen der Hände konnte von Herrn Sommer unmöglich gesehen werden. Er schaute auch überhaupt nicht in diese Richtung, sondern schien, die Augen halb geschlossen, in sich hineinzuhören. Wie sehr sich Anne und Julia auch Mühe gaben, wie sehr sie die Länge der Unterbrechungen der Menschenkette auch änderten, Herr Sommer war stets im Bilde und konnte exakt das Öffnen und Schließen angeben.
»Jetzt habt ihr den Kreis wieder geöffnet … immer noch geöffnet … jetzt wieder geschlossen … wieder geöffnet!«
»Falsch!«, rief Anne triumphierend. »Julia und ich fassen uns immer noch an den Händen an!«
Hoffnung keimte auf, dass es Herr Sommer vorher vielleicht doch nur mit viel Glück erraten hatte.
»Es geht schon in Ordnung«, meldete sich Christoph zu Wort, »ich habe Lisas Hand losgelassen, der Kreis ist wirklich unterbrochen!«
Herr Sommer griff erneut in die Schatztruhe und entnahm ihr eine etwas angerostete, runde Metallplatte von der Größe einer Untertasse und eine kleine Pappschachtel, auf deren Deckel ein Zettel mit folgender Aufschrift geklebt war:
In dem Kästchen lagen eine etwa kirschgroße, metallisch glänzende Kugel, an der eine lange Angelschnur befestigt war, und drei Knöpfe von der Größe eines Geldstücks. Jeder der Knöpfe hatte eine andere Farbe: Auf dem schwarzen stand »Pech«, auf dem gelben »Gold«, und auf dem grünen Knopf stand »Glück«.
Herr Sommer blickte auf die Uhr und war überrascht, dass das Programm bis hierher viel länger als geplant gedauert hatte. Ohne weitere Erklärungen wickelte er das freie Ende der Angelschnur so um einen Haken an der Decke, dass die Kugel knapp über dem Fußboden baumelte. Nachdem sie zu pendeln aufgehört hatte und ganz ruhig an ihrem Faden hing, nahm er die Metallplatte und legte sie so unter die Kugel, dass der Mittelpunkt der Platte genau unter der Kugel war. Er ging zum Tisch zurück und holte die drei farbigen Knöpfe. Den grünen »Glücksknopf« legte er auf den äußersten Rand der Platte. Sofort bewegte sich die Kugel auf den Glücksknopf zu, umtanzte ihn noch ein paar Sekunden und blieb direkt über ihm hängen, ohne ihn zu berühren.
Auch die beiden anderen farbigen Knöpfe wurden nun noch auf die Platte gelegt, und zwar so, dass sie zusammen die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks bildeten. An der Lage der Pendelkugel änderte das nichts. Noch immer hing sie dicht über dem Glücksknopf.
»Darf ich es mal probieren, ob ich Glück habe?«, fragte Christoph, der sich dicht neben Herrn Sommer auf den Boden gekniet hatte.
Bevor noch jemand protestieren konnte, hatte er die Kugel schon in der Hand, zog sie etwa um eine Ellenlänge weiter nach außen und ließ sie dann los. Zunächst benahm sie sich wie jedes andere Pendel auch. Gleichmäßig und ohne die einmal eingeschlagene Bahn zu ändern, bewegte sie sich hin und her. Als sie aber nach einigen Pendelbewegungen etwas an Schwung verloren hatte und die Ausschläge kleiner wurden, geschah etwas Unerwartetes: Als die Kugel gerade über einen der Knöpfe hinwegsauste, änderte sie plötzlich ihre Bahn. Sie schlug regelrecht einen kleinen Haken. Beim Zurückpendeln benahm sie sich wieder ordentlich, um bei der nächsten Annäherung an einen der Knöpfe einen noch stärkeren Knick in ihrer Bahn zu machen. Von da an konnte man kaum noch folgen. Bald umrundete sie einen der Knöpfe, bald machte sie vor einem anderen eine Kehrtwendung. Schließlich schien sie über einem Knopf stehen bleiben zu wollen, um sich im letzten Augenblick dann doch noch für einen anderen Parkplatz zu entscheiden. Sie zitterte noch ein wenig über dem Glücksknopf, dann war Ruhe.
»Na also«, triumphierte Christoph, »jetzt will ich doch mal sehen, ob ich auch zu Gold komme.«
Ohne sich um das Murren der anderen zu kümmern, die auch einmal drankommen wollten, hatte er die Kugel bereits wieder ergriffen und ließ sie über dem »Goldknopf« wieder los. Die Kugel zitterte ein wenig, machte aber keine Anstalten, zu einem der anderen Knöpfe zu gehen.
»So geht das aber nicht!«, rief Anne empört. »Du musst sie erst pendeln lassen, so kann das ja jeder!«
»Nur ruhig Blut«, sagte Christoph, »ich hab ihr ja nur gezeigt, wohin sie soll.«
Dann kniete er sich hinter dem »Goldknopf« nieder, zog langsam das Pendel nach außen, peilte noch einmal den Goldknopf an, korrigierte die Anfangslage noch um eine Winzigkeit und ließ schließlich die Kugel wieder los.
Und auch dieses Mal pendelte die Kugel zunächst ganz ordentlich hin und her. Doch bald folgten wieder die kleinen und größeren Hakenschläge, die Umkreisungen – dieses Mal sogar um alle drei Knöpfe herum –, die Kehrtwendungen und eine Folge von kleinen, zuckenden Bewegungen zwischen den drei Knöpfen. Schließlich blieb sie tatsächlich über dem Goldknopf stehen.
»Habt ihr gesehen, wie ihr es anstellen müsst?«, fragte Christoph in die Runde.
»Ja, schon klar«, antwortete Anne ungeduldig, »mach erst mal Platz.«
Anne hatte es offenbar auf das »Glück« abgesehen, denn sie kniete sich hinter dem grünen Knopf nieder, nahm das Pendel und zog es mit einer langsamen Bewegung über den grünen Knopf nach außen. Dann kauerte sie sich ganz tief hinunter, um zu kontrollieren, ob Kugel, grüner Knopf und Mittelpunkt der Metallplatte genau in einer Linie lagen, rutschte auf den Knien noch ein wenig zur Seite, weil sie mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden war, und ließ nach erneuter Peilung die Kugel endlich los.
Tatsächlich erzielte sie das erwartete Ergebnis: Das Pendel kam über dem »Glück« zum Stillstand, nachdem es vorher wieder allerhand Kapriolen vollführt hatte.
»Es klappt!«, rief Anne begeistert. »Jetzt musst du es versuchen, Julia!«
Julia gab sich große Mühe, ihre Freundin bis ins kleinste Detail nachzuahmen. Sie landete jedoch auf »Gold« anstatt auf »Glück«, wie sie erwartet hatte.
»Du hast wahrscheinlich ein wenig gewackelt, als du die Kugel losgelassen hast«, meinte Christoph, »da hat sie ihr Ziel verfehlt. Ich zeig es dir noch einmal.«
Akribisch traf er alle Vorbereitungen – er hatte es wieder einmal auf »Gold« abgesehen – und landete unter dem Hohngelächter der anderen auf »Pech«. Er versuchte es noch einmal – wieder »Pech«! Und noch ein drittes Mal: Jetzt ließ er sogar den Deckenstrahler auf die Metallplatte richten, damit er die genaue Anfangslage hinter dem Goldknopf bei besserem Licht bestimmen konnte. Es half ihm aber nichts: Die Kugel landete bei »Pech«.
»Ich verstehe das nicht«, gestand er mit Schweißperlen auf der Stirn. In einem Anflug von Verzweiflung kniete er sich jetzt hinter dem schwarzen Pechknopf nieder – und ließ die Kugel ein letztes Mal nach den Regeln los, mit denen er sie anfänglich so erfolgreich ins Ziel gelenkt hatte. Jetzt wollte er sogar Pech – und er bekam es!
Herr Sommer ließ die Rollläden herunter, und eine Tischlampe im hintersten Eck des Wohnzimmers spendete gerade noch so viel Licht, dass man den letzten Zettel aus der Truhe lesen konnte:
Der Zettel war mit einem Gummiband an einem Metallrohr befestigt. Mit dem Glas an einem Ende des Rohres sah es aus wie eine kleine Taschenlampe.