Doppelgänger-Agentur, Band 1: Double Crush (Humorvolle New-Adult-Romance für alle Fans von Kiss Me Once) - Nina MacKay - E-Book

Doppelgänger-Agentur, Band 1: Double Crush (Humorvolle New-Adult-Romance für alle Fans von Kiss Me Once) E-Book

Nina MacKay

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Double-Agentur-Regel Nr. 1: Küss niemals einen Doppelgänger! Denn du erwischst immer den Falschen. Die Ognito Inc. Agency ist die beste Double-Agentur von L.A. Hier finden Promis Doppelgänger, die sie auf Events vertreten. Kolly soll die Doubles für eine Band ausbilden, dabei sind ihre Stärken Software und Sarkasmus, nicht Styling und Smalltalk. Als Kolly bei einem Shooting als Model einspringen muss, knistert es heftig zwischen ihr und dem Double Lincoln. Doch dann taucht die echte Band auf und Kolly ist sich nicht mehr sicher: Flirtet gerade der Doppelgänger mit ihr – oder der echte Star? Noch mehr spannende Romane von Nina MacKay: "Legend Academy"-Dilogie: Fluchbrecher & Mythenzorn

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 553

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

 

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

© 2023 Ravensburger Verlag GmbH

Text © 2023 Nina McKay

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Umschlaggestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Fotos von Shutterstock (© sergio34, © popovartem.com, © Vik Y)

Inhaltslektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de

Stillektorat: Svenja Kopfmann

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-473-51205-8

ravensburger.com

 

FÜR TAMARA R., ERSTE IHRES NAMENS, KÖNIGIN DER DOCTOR WHO-ANSPIELUNGEN, BEZWINGERIN DER LOGIKFEHLER. JEDER SOLLTE EINE LEKTORIN WIE DICH HABEN ❤

PLAYLIST

Das Besondere an dieser Playlist ist, dass man sie in Endlosschleife beim Lesen hören kann oder auch jeden Track einzeln zum jeweiligen Kapitel. Track 1 passt perfekt zur Stimmung von Kapitel 1 und so weiter. Viel Spaß damit! 😊

1  Celesy, Dinah Smith •Ready To Go (Kollys Lieblingssong)

2  Kiiara •Gold (Suttons Lieblingssong)

3  AS IT IS •I Miss 2003

4  With Confidence •What You Make It

5  Simple Plan, Derick Whibley •Ruin My Life

6  MKTO •Good Bye Song (Sawyers Lieblingssong)

7  Landon Austin •The Older You Get, The Less You Cry

8  Fly By Midnight •Tomorrow

9  Machine Gun Kelly, Bring Me The Horizon •Maybe

10 Cody Francis •Building Chemistry

11 DJ Aristocat •2 Me

12 Jane & The Boy •Save Myself

13 MKTO• American Dream (Violas Lieblingssong)

14 Sleepy Fish •Witch Hat

15 Ruth B. •Dandelions

16 Landon Austin, Aubrey Toone •Little Did I Know

17 Landon Austin •Armor

18 Blink-182 • What’s My Age Again

19 Loving Caliber •It Should Have Been You

20 Christine Smit •Get Over You Again

21 Landon Austin •I Quit Drinking (Raes Lieblingssong)

22 StreamBeats Originals •Kill It Anyway

23 Loving Caliber •Call Me Out

24 Loving Caliber •27 (Calebs Lieblingssong)

25 Kiiara• Brightside

26 James Flamestar •Stardrops

27 Maybe •Damned If We Do

28 Loving Caliber •The One Who Saves Me

29 Loveless •Haunting Me (Lincolns Lieblingssong)

30 JEREMIAS •Blaue Augen

31 Senses Fail •Double Cross

32 Houses On The Hill •Just Do It (Shys Lieblingssong)

33 Houses On The Hill, Le June •Let It All Out On Me

34 Landon Austin •Our Song

35 Loving Caliber •We Were Meant To Be

36 Loving Caliber •Bedroom

37 Till I Fall •Downshift (Graesons Lieblingssong)

38 Bring Me The Horizon • STraNgeRs

39 Till I Fall •Keep Trying (Biggys Lieblingssong)

40 Miracle Of Sound •Digital Shadow 2014

41 John T. Graham, Michael Stenmark •Today Is A Good Day To Live

42 Vacancy, Mia Pfirrmann •Seven You

43 Sigrid, Bring Me The Horizon •Bad Life

44 Shawn Mendes •When You’re Gone

45 Bring Me The Horizon •DiE4u

46 Malik Harris •Rockstars

47 Blink-182 •First Date

ALLES IM LEBEN HAT SEINEN PREIS, HEISST ES. NUR WAS WIE VIEL KOSTET, DAS SAGEN SIE EINEM NICHT.

Draußen vor dem Gerichtsgebäude erwartete mich anstelle der Pressemeute, die ich mir in allen Farben und mit Blitzlichtgewitter ausgemalt hatte, nur Sawyer. Sawyer war immer zur Stelle.

»Wie ist es gelaufen?« Mit den Händen in den Hosentaschen seiner Jeans blinzelte er mich erwartungsvoll an, während ich noch meiner Anwältin zum Abschied winkte.

Ich blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es auszusprechen, fühlte sich fast schlimmer an, als es vom Richter zu hören. Also schwieg ich ein paar Sekunden und schaute Sawyer stattdessen dabei zu, wie er an seiner Lederkette mit der Schildkröte herumspielte. Schräg hinter ihm hatte die Justitia auf ihrem Steinpodest ihr Schwert erhoben, dessen Schatten direkt in meine Richtung wies.

Unter uns erklomm eine ganze Familie die Steinstufen zur Höhle der bissigen Staatsanwälte, und ich nutzte die Ablenkung, um Sawyer noch nicht antworten zu müssen. Alle von ihnen hatten dunkle Haare, in denen sich die Sonne brach, und waren mit dichten Augenbrauen gesegnet. Wie eine dunkle Welle – und erstaunlich geschmeidig – pflügten sie über die Stufen. Hinter der Großfamilie entdeckte ich tatsächlich zwei Paparazzi, die ihnen nachjagten. Kein gänzlich ungewohnter Anblick in L.A. Mein Blick huschte erneut zu der steinernen Justitia mit ihrer Augenbinde, dem Schwert und der Waage am Ende der Treppe. Alles in mir fühlte sich taub an. Als hätte mir der Richter den Sinn des Lebens gestohlen. Das Einzige, für das ich morgens aufstand.

Die Celebrity-Familie hatte uns mittlerweile fast erreicht. Sicherlich irgendein Reality-Sternchen, das ich schon irgendwann mal über einen Bildschirm hatte flimmern sehen und das nun vermutlich irgendwen verklagte oder selbst verklagt wurde und den Gerichtsspaß samt Familienanhang durchzog. Bloß in echt erkannte man sie ja nie. Die Frau mit der Glitzer-Sonnenbrille, die ganz offensichtlich die Clanchefin sein musste, geriet neben mir ins Straucheln.

»Vorsicht!« Automatisch streckte ich beide Hände aus, um sie zu stützen. Dadurch sank sie nur ein Stück ein, statt kopfüber auf die Stufen zu knallen. Ich lächelte sie an. »Das war knapp.«

Die goldenen Ohrringe schwankten, als sich die Frau, die mit absoluter Sicherheit ein Hollywoodstar sein musste, aufrichtete. Aus der Nähe war es eindeutig. Eine A Plus. Eigentlich hatte ich ein ebenso freundliches Lächeln und vielleicht sogar ein Dankeschön erwartet, doch im nächsten Moment zogen sich ihre tiefdunklen Augenbrauen zusammen. Kaum einen Wimpernschlag später stieß sie mich unfreundlich von sich weg. »Steh nicht so dumm im Weg rum. Mach Platz!«

Autsch. Passierte das gerade tatsächlich? Mein Knöchel knackte, als ich so elegant wie ein Seehund in Slow-Motion zur Seite taumelte und seitlich auf der Steintreppe aufprallte. Noch im selben Moment schoss ein heißglühender Schmerz durch meinen Hüftknochen. Na super.

»Das … das waren die Kasobians, oder?« Sawyer half mir auf, starrte dabei jedoch in Richtung Gerichtseingang, wo sich eben die dunkelhaarige Meute samt Paparazzi hineindrückte.

»Die Sterne sind also heute wirklich gegen mich«, stellte ich fest, zog dann den Haargummi aus meinem Pferdeschwanz, der sich sowieso schon halb gelöst hatte. Autsch. Es dauerte einen Moment, bis der Schmerz in meiner Hüfte verebbte. Bloß schien es meinen Knöchel härter getroffen zu haben. »Sogar dieses Hollywoodsternchen.«

»Ach, Kolly … und das, obwohl du sicher auf ein Selfie mit den Kasobians gehofft hast. Chance vertan.« Sawyer sah mich mit so viel gespieltem Mitleid an, dass ich einfach lachen musste.

»Genau. Für meinen Insta-Fame.« Ich ging leicht in die Knie, was mein Knöchel nur unter Protest hinnahm. »Das hätte zwanzig Millionen Likes gegeben. Wie konnte ich das verpassen?« Aber im Prinzip hatte Sawyer recht, wenn auch auf einer anderen Ebene. Warum bloß war mir keine eloquente Erwiderung eingefallen, als sie mich von sich gestoßen hatte? Wahrscheinlich würde mir der beste Konter aller Zeiten erst heute Abend im Bett wie eine Neon-Reklametafel ins Gesicht leuchten. Wie immer.

Sawyer strich sich durch die Seite seiner braunen Haare, die er etwas wuscheliger trug als zu unseren Schulzeiten. Seine gelockten Ponyfransen hatten seine Augenbrauen schon seit März verschluckt. Ganz und gar. »Komm schon, hack dich einfach in ihr Instagram-Profil, lösch alle Bilder und lade stattdessen eine neunteilige Anleitung zum Anlegen eines Gurkenbeets hoch. Easy peasy, lemon squeezy.«

Ich sog die Unterlippe hinter meine Vorderzähne. Es war Zeit, die Bombe platzen zu lassen. »Ich werde diesen Sommer gar nichts mehr hacken oder programmieren können. Noch nicht mal einen klitzekleinen Code schreiben, laut dem Jugendrichter. Dafür aber einhundert Sozialstunden ableisten.«

»Nein!« Sawyer riss die Augen auf. »Und wer hackt sich jetzt ins Collegenetzwerk und trägt die Noten für meine Hausarbeit ein?«

»Ich schon mal nicht, tut mir leid.« Bedauernd hob ich beide Schultern. Dabei wusste Sawyer ganz genau, dass sich meine Antwort auf diese Frage sowieso jedes Mal auf gemein reimte. Selbst ohne diese Geiselhaft meines Programmiertalents durch das Gericht von L.A. Unsägliche Worte wie »Terrorverdacht« waren im Gerichtssaal gefallen … »Sie werden mir sogar den Sommer über ein Tracking-Armband verpassen. Mit einem eingebauten Jammer. Damit sie jeden meiner Schritte online nachvollziehen können.« Oder besser gesagt: blockieren konnten.

»Ach, hör auf zu jammern. Für mich ist das viel schlimmer als für dich, Kolly. Wie konntest du mir das antun?« Sawyers Gesichtsausdruck brachte mich nun doch wieder zum Lächeln. Wie er da auf seinem Schildkröten-Anhänger herumkaute.

Meine Finger wanderten zu meiner eigenen Halskette, an der ein Mini-Zauberwürfel hing. Genau das Richtige für Situationen wie diese, in der ich meine Hände beschäftigen musste. Aber wir würden diesen kleinen Rückschlag beide überstehen. Glücklicherweise war ich in meinem IT-Studium meinen Kursen weit voraus und musste somit den Sommer über nichts lernen oder programmieren.

»Brauchst du eine Papiertüte oder vielleicht diese neue Entspannungs-App mit den Delfinen und der Gänseblümchenwiese? Die darf ich vermutlich gerade noch so runterladen.« Beim Gedanken an die letzten Worte des Richters schnaubte ich.

»Nein, Kolly, im Ernst, das mit dem Tracking-Armband ist ein Scherz, oder? Ich meine, sie haben dich doch als Heranwachsende verurteilt? Du wirst erst im Herbst einundzwanzig. Niemand bekommt so eine harte Strafe, bloß weil er sich kurz mal in einen Regierungscomputer gehackt hat, um herauszufinden, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser rechten Krawallpartei auf einen Link in einer Fake-Mail klicken würden.« Sawyer schüttelte seinen braunen Wuschelhaarkopf.

Am liebsten hätte ich eine Hand ausgestreckt, um an seinen Spitzen zu zwirbeln.

»Hörst du dir eigentlich selbst beim Reden zu?« Ich schob meine Kapuze über die Träger meines Rucksacks und begann humpelnd den Abstieg. Mein Knöchel schmerzte immer noch so sehr, dass ich krampfhaft die Lippen aufeinanderpresste. »Aber es war schon geil, oder? Ein angemessener Gegenschlag auf ihren Antrag, die Ehe für alle abzuschaffen. Stell dir vor, wie doof sie geschaut haben, als sämtliche ihrer Webseiten auf einen Schlag wegen zu viel Traffic zusammengebrochen sind. Und nicht zu vergessen: all die schwarzen Seiten, die ihre Faxgeräte ausgespuckt haben, bis der Toner leer war, sozusagen als Zugabe.«

Grinsend blies Sawyer die Backen auf. »Wer ist auch so rückständig, hat keine ordentliche Firewall und sendet einen Großteil der Dokumente per Fax aus Angst vor Infiltration?«

Nach ein paar Schritten ließ der Schmerz in meinem Knöchel ein wenig nach. »So schnell werden die keine Anträge und Widersprüche mehr gegen aktuelle Gesetze faxen.« Ich hielt Sawyer eine Faust hin, und er drückte seine dagegen.

»Egal, wie hacke du bist, Kolly ist Hacker!«

»Hacktivisten!«

Sawyer liebte dieses Ritual zwischen uns, und ich würde es so lange durchziehen, wie es ihm Freude bereitete.

»Weißt du, ich hab bereits einen Plan, wie ich dieses Tracking-Armband austrickse.«

»Ja?« Zweifelnd sah Sawyer zu mir auf und warf dann einen Blick zurück auf Justitia. »Hältst du das für eine gute Idee?«

»Allerdings. Irgendwie hab ich mich bisher überall vorbeigemogelt.« Und das galt nicht nur für Firewalls. »Aber jetzt ist erst mal Zeit für einen Kaffee«, beschloss ich für uns beide, bevor mein bester Freund, der mehr der kreative Ideengeber als ein Hacker war, sich noch total überschätzte und mir gut gemeinte Ratschläge erteilte. »Ich lade dich ein.«

»Das, was du Kaffee nennst, ist mehr Sahne und Karamellsirup, was praktisch jede Kaffeebohne auf dem Kontinent beleidigt und dann auch noch so teuer ist wie ein ganzes Reihenhaus in West-Adams, aber gut. Ich trinke einen Kaffee und du dein heißes Flavor-Wasser mit Sahne.«

Gespielt empört boxte ich ihm in die Seite, woraufhin mein Knöchel vehement protestierte, doch ich ignorierte den Schmerz. »Seit du begriffen hast, dass ich mich nicht mehr in dein Smartphone hacken kann, bekommst du ein ganz neues Selbstbewusstsein, oder?«

Sawyer kickte einen Stein aus dem Weg, als wir durch den Minipark am Gericht schlenderten. »Also wirst du den ganzen Sommer bis zum Semesterstart in der Double-Agentur deiner Mom rumsitzen, ohne programmieren zu können?«

»Jap. Wie letzten Sommer auch. Aber dieses Mal wird mich Mom keine Sekunde aus den Augen lassen. Immerhin zahlt sie gut, und ich brauche die Kohle, um zukünftig meine Spuren im Netz besser verwischen zu können. Mom hat übrigens mehr als entsetzt auf meine Vorladung zur Anhörung heute reagiert. Dazu kommen Sozialstunden in einer Katzenauffangstation, die mir aufgebrummt wurden.«

Schon allein beim Gedanken an Ognito Inc., Moms Firma, sank mein Herz. Wenn sie einfach weiter in einem normalen Büro mit Mindestlohn gearbeitet hätte, würden wir noch heute in der Wohnung neben Sawyer wohnen. Dann wäre es kein Problem, mich mit ihm zu treffen. Bloß mit dem Sommerjob und den Auflagen … Immerhin hatte meine jetzige Nachbarschaft auf dem Sunset Strip ein paar Vorteile – wie eine deutlich geringere Kriminalitätsrate, als es in West-Adams der Fall war. Aber selbst das hätte ich in Kauf genommen, wenn ich dafür weiterhin meine komplette Freizeit mit Sawyer in unserem alten Garten hinter dem Haus hätte verbringen können. Wie noch vor vier Jahren.

»Aber nicht mal in der Agentur meiner Mom werden sie mich an einen PC lassen. Zieh dir das rein, ich soll keine Datenbanken mehr pflegen wie letztes Jahr oder Caleb bei seinen Doubles assistieren, sondern selbst Ausbilderin für diese Möchtegern-Promis werden. Sechs Tage die Woche! Wie schräg ist das denn?«

Es spielte jedenfalls meiner Mutter in die Karten, die mich sogar samstags arbeiten lassen wollte. Kein Zweifel, meine Mom hatte geahnt, wie meine Anhörung vor Gericht ausgehen würde.

Sawyer wischte seine Handflächen an der Hose trocken. Sein Blick war erst auf den Boden gerichtet, flatterte aber wieder zu mir. Und genau in diesem Augenblick schwor ich mir eine Sache: Egal, wie viel Arbeit in diesem Sommer auf mich wartete, ich würde es irgendwie schaffen, mich so oft wie möglich mit Sawyer zu treffen.

Sawyers Finger glitten über den Jade-Schildkröten-Anhänger. »Ernsthaft? Du und die Doppelgänger anlernen? Na, ich hoffe für dich, du bekommst nicht die Fake-Kasobians zugeteilt.«

Das würde bedeuten, ich müsste auch das ein oder andere Treffen mit den echten Kasobians durchstehen. Oder noch schlimmer: eine arrogante Band und deren Doubles betreuen. Die wären echt mein Endgegner. Nachdem ich einem Hundehaufen ausgewichen war, verzog ich das Gesicht. »Gott bewahre.«

WENN MAN EINEM HOLLYWOODSTAR ERKLÄRT, DASS NICHT ALLES, WAS GLÄNZT, GOLD IST, TRÖSTEN SIE SICH VERMUTLICH DAMIT, DASS ES JA NOCH DIAMANTEN GIBT.

»Mom, ich bin wirklich krank.« So gut es ging, versuchte ich, ein überzeugendes Husten auszustoßen.

Meine Mutter, die in ihrem dunkelblauen Kostüm, der Spitzenbluse und der schicken Kurzhaarfrisur heute selbst wie ein Double von Lady Diana aussah, blickte nicht mal von ihrem Tablet auf. »Sicher, Käse-Spätzchen.« Andererseits wirkte sie mit ihren nach vorn gesunkenen Schultern ganz und gar nicht königlich.

»Okay, einen Versuch war’s wert.« Ergeben schob ich mich auf dem Bauch über die Küchentheke und stibitzte Moms Croissant. »Aber du zahlst das Mittagessen.«

Mom schwieg, zupfte lediglich ein langes braunes Haar von ihrem Blazer. Meins.

Okay. So zerstreut hatte ich Mom lange nicht mehr gesehen. Ob das an mir lag? Bloß trug mir Mom nie etwas nach, und wir hatten einen Sommerplan für mich erstellt, der sie zufriedengestellt hatte.

Ich atmete den Duft von Kaffeebohnen ein, der in der Luft hing, und kippte dann meinen supersüßen Karamell-Cappuccino hinunter.

Mom seufzte.

Warum seufzte sie eigentlich heute so viel? Mit hochgezogenen Augenbrauen warf ich einen Blick auf die Nachrichtenmeldungen auf ihrem Tablet. Mit ihrem korallenrot lackiertem Fingernagel tippte sie immer wieder auf einer Überschrift herum, als könnte die Meldung dadurch umspringen.

Privatjet von Tim Mercury zerstört – zahlreiche Proteste gegen Hollywood. Promis in Gefahr?

Oh, das … Ich ließ die Reste von Moms Croissant zurück auf den Teller fallen, las die Meldung ein zweites Mal. War das nicht schon der vierte Anschlag auf das Eigentum eines Prominenten in der letzten Zeit? Irgendwer hatte da etwas gegen VIPs mit übertrieben hohen Gagen, das war kaum zu leugnen.

»Was bedeutet das für dich und die Firma?« Mit zwei Fingern versuchte ich, das Band des Trackerpads von meiner Haut zu lösen. Das Ding sah aus wie ein Fitnessarmband. Sie hatten es mir am Freitag auf der Wache ein bisschen zu eng angelegt. Ich konnte es kaum einen Fingerbreit nach oben schieben. Und dieser verfluchte Jammer darin sendete zu allem Überfluss ein Störsignal, wenn ich mich bei einem Computer anmelden wollte. Ich musste mich zuerst am Armband mit einem Code, den mir eine App schickte, verifizieren, und ab da verfolgte mich der Arm des Gesetzes im Internet. Googlen und harmloses Surfen war erlaubt. Programmieren nicht. Absolut lächerlich. Selbstverständlich würde es jeden Versuch, die Einschränkung zu umgehen, sofort petzen. Zudem konnten sie mich dadurch wie einen Pizzalieferanten orten, der als rot blinkender Punkt über die Straßen von Los Angeles flitzte. Ich konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie es mir abnehmen würden … oder an dem ich eine Lösung fand, das Teil zu überlisten wie damals Moms Schloss an der Süßigkeitenschublade …

Obwohl sie mit den Gedanken sichtlich weit weg war, drehte sich Mom endlich zu mir um. »Was das für uns bedeutet? Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Und vermutlich wird es mehr Kundenanfragen geben als je zuvor. In Zeiten wie diesen wird jeder Star, der sich in Kalifornien aufhält, ein Double anfordern.«

So richtig glücklich sah sie bei dem Gedanken nicht aus. Obwohl mehr Kunden hieß, dass die Agentur schwarze Zahlen schrieb. Etwas, das wir dringend gebrauchen konnten.

Mit den Fingerspitzen tupfte ich Croissantkrümel von der weißen Marmorplatte. Irgendwas stimmte ganz gewaltig nicht. Oder lag es an der Tatsache, dass es vermutlich nicht mehr lange dauern würde, bis einer dieser Schilderschwenker und Protest-Schreier ihren Klienten ins Gesicht boxen würde? Unschön, aber wahr. Schließlich führte meine Mutter eine erfolgreiche Agentur, in der Prominente ein und aus gingen, um Doubles für sich zu buchen. Mittlerweile hatte sie ihre Mitarbeiter auf fünfzehn aufgestockt, und obwohl dieser fürchterliche Dexter Teilhaber der Agentur war, führte Mom sie praktisch im Alleingang. Dexter konnte man eh vergessen. Früher war er vielleicht mal eine große Nummer gewesen, aber heute steuerte er lediglich seine Promi-Kontakte bei und rührte ansonsten keinen Finger. Die eigentliche Arbeit überließ er stets Mom.

Da stellte sich doch die Frage, was für ein Problem eine Powerfrau wie meine Mom so aus der Spur bringen konnte?

Ich schluckte den Rest Krümel hinunter, der wie Kaugummi an meinem Gaumen geklebt hatte und im Abgang kitzelte. Mein Blick glitt über die Headlines der nächsten Beiträge.

Nach Offenlegung von Filmgagen von Rey Reynalds fordern Filmfans, die Stars härter zu besteuern.

Fans rufen nach horrenden Konzertticket-Preissteigerungen im ganzen Land zu Boykotts von Bands auf.

Entführungsversuch Jack Russell-Powder – konnte gerade so verhindert werden.

Jap, offensichtlich war niemand mehr sicher.

Mom griff sich die Autoschlüssel. »Lass uns aufbrechen.« Sie massierte sich die Schläfen, während sie ihr Tablet in die Handtasche gleiten ließ.

Ein paar Tage später blätterte ich in der Agentur die Akte auf meinem Schreibtisch durch. Zwei riesige Karamell-Cappuccinos waren nötig gewesen, um mich dazu zu motivieren, überhaupt damit anzufangen – dabei hatte ich eine Weile mit Bria in der Küche gequatscht, um nicht anfangen zu müssen. Jetzt beobachtete ich fasziniert, wie das Papier an meinen Fingern klebte. Nicht digital. Echtes Papier. Wie … ungewöhnlich. Und so rau. Mom hatte sie mir ausgedruckt. Ich überflog die erste Seite. Ein Sternekoch also. Wozu benötigte der ein Double? Ich zupfte ein wenig an der Ecke des pinken Klebezettels, der oben am Titelblatt befestigt war, als Mom zurück ins Großraumbüro stürzte. Natürlich blickten alle auf.

»Krisenmeeting. Jetzt. Viele neue Klienten. Kommt ihr?« Mehr als diese abgehackten Sätze verschwendete sie nicht. Moms Blick flitzte zwischen allen Anwesenden umher. Sofort wurde ich misstrauisch.

Selbst Bronco, die Golden-Retriever-Hündin meines Lieblingskollegen Caleb, spitzte die Ohren. Ihre Gummikrabbe plumpste zu Boden und stieß ein Quieken aus. Aber das hörte Mom nicht mehr, denn sie hatte sich umgedreht und war zurück in den Flur gehastet, wo der Teppich das Geklacker ihrer High Heels dämpfte.

»Mein Horoskop hatte recht.« Mit einem ähnlich lauten Quieken wie das der Spielzeugkrabbe sprang Caleb auf. »Oh, ihr großen Oscar- und Cosmopolitan-Götter, ich bekomme heute meinen A-Promi, und gemeinsam bereiten wir das Double auf die Wochen vor den Oscars vor.« Caleb, seines Zeichens bekennender Astrologie-Fan, klatschte in die Hände. Er schien das wirklich ernst zu meinen. Gemeinsam mit Viola, die ich ebenfalls vom letzten Jahr hier kannte, sprintete er los in Richtung des großen Meetingraums.

Schulter an Schulter quetschten sie sich durch die Tür, sodass ein Abdruck von Calebs Fingern an der Glasscheibe zurückblieb. Besser ich nahm meine dritte Tasse mit mittelmäßig ausreichend gesüßtem Kaffee mit, damit ich in diesem Meeting wenigstens etwas zu tun hatte. Gut, dass ich eben in der Mittagspause ein Nickerchen auf meinem Bürostuhl eingelegt hatte, denn andernfalls wäre ich durch anhaltendes Schnarchen in Moms Krisenmeeting aufgefallen.

Kaum hatte ich mich hinter dem klobigen Schreibtisch hervorgeschält, wurde ich schon von hinten angerempelt. Zwar sah ich es noch kommen, war allerdings nicht in der Lage, die Katastrophe zu stoppen. Mit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie meine Kaffeetasse schwankte und sich ein Schwall der lauwarmen Flüssigkeit auf mein weißes T-Shirt ergoss. Direkt in den Ausschnitt. Verflucht.

»Oops«, erklang eine Stimme hinter mir. Suttons Stimme. »Du bist aber auch ungeschickt, Käse-Spätzchen.«

Meine Schultern bebten. Nicht provozieren lassen! Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ihr Grinsen das Wort hämisch vor Neid erblassen ließ. Nachdem ich die Fingerspitzen an meinem braunen Rock abgerieben hatte, drehte ich mich dennoch zu ihr um. Ihre Model-Größe und die blonden Haare erweckten immer den Eindruck, als wäre Sutton einer Werbeanzeige für Beachlooks entsprungen. Jedenfalls, wenn man sich diesen überheblichen Ausdruck in ihren eng stehenden Augen wegdachte – und einen so was beeindruckte.

Sutton begegnete meinem Blick gelassen und strich sich in Zeitlupe ihre Extensions über die Schulter. Letztes Jahr hatte ich versucht, freundlich zu ihr zu sein. Auch weil ich erfahren hatte, was hinter ihrem abweisenden Verhalten steckte – aber Sutton machte es einem verdammt schwer … Ihr Blick glitt von meinem Kinn bis zu meinem Bauchnabel.

Mein Shirt! Entsetzt starrte ich an mir hinab. Um den Ausschnitt herum zog sich ein Kaffeefleck wie eine überdimensionierte Ansteckblume in die Länge. Ich zupfte an dem Stoff, der sich mittlerweile klamm auf meiner Haut anfühlte.

Nein, nein. Einfach nein!

Ehe ich etwas zu Sutton sagen konnte, das ich später bereute, stellte ich die Kaffeetasse ab und stürzte los in Richtung Toilette. Vielleicht konnte ich mein Outfit halbwegs retten.

Konnte ich nicht. Obwohl der Fleck blasser wurde, war immer noch deutlich zu erkennen, dass ich einen Unfall mit einer Kaffeetasse hinter mir hatte. Kurz vor einem Meeting mit dem gesamten Team. Super. Jetzt kam ich auch noch zu spät, und alle würden mich anstarren. Mich und die Katastrophe an meinem Ausschnitt.

Seufzend sah ich auf, in den Spiegel vor mir. Irgendwelche schwarzen Krümel klebten an meiner Wange. Automatisch hob ich eine Hand, um sie wegzuwischen. Doch das brachte absolut nichts. Moment mal … Ich beugte mich vor, näher an den Spiegel heran, denn meine leichte Kurzsichtigkeit ließ mich nicht scharf erkennen, was da in meinem Gesicht nicht stimmte. Bei näherer Betrachtung konnte ich jedoch sehr wohl ausmachen, was es war. Jemand hatte mir zwei schwarze Tränen, vermutlich mit Permanent-Marker unter mein linkes Auge gemalt. Ernsthaft? Und wieso war ich währenddessen nicht aufgewacht? Einen Moment war ich zu geschockt, um zu atmen. War mir zudem viel zu bewusst, dass ich mich allein im Miniwaschraum vor den Toiletten befand – nichts, was meine Platzangst besonders ruhig zur Kenntnis nahm. Und dann auch noch mit nicht abwaschbarem Marker im Gesicht. Dass sie sich das getraut hatte! Sicher eine von Suttons schäbigen Ideen. Auch das noch. Verfluchte Nickerchen, die ich mir wegen meiner nächtlichen Hackeraktivitäten angewöhnt hatte. Und die dazu noch viel zu tief waren.

Atmen, Kolly, atmen! Seufzend ging ich im Kopf meine Möglichkeiten durch. Mom würde sagen, dass ich nicht grundlos jemanden beschuldigen konnte. Ich hatte keine Beweise, dass diese Schmiererei auf Suttons Konto ging, und Mom hasste nichts mehr – abgesehen von meinen Hacker-Ausflügen ins World Wide Web –, wie wenn ich anderen die Schuld zuschob. Schadensbegrenzung – etwas anderes blieb mir nicht übrig, also beschloss ich, die schwarzen Tränen als neuesten Modetrend einzuführen, und stellte mich unter den Händetrockner, der mich samt nassem T-Shirt wie ein Fön durchblies. Währenddessen schwor ich mir einmal mehr, Mom diesen Sommer stolz zu machen. Den Job mit dem Koch-Double durchzuziehen. Immerhin hatte ich keine aufgeblasenen Schauspieler-Doubles an der Backe oder noch schlimmer: Band-Doubles, mit denen ich mich rumärgern musste.

Kurz darauf drückte ich die Eisentür auf, die zum großen Meetingraum führte, der vom Look her wie ein Spaceship eingerichtet war. Der Star-Wars-Meetingraum.

»Ah, endlich, Kolly. Ich dachte schon …« Mom kam ins Stocken, als sie einen Blick in meine Richtung warf.

Da ich beschlossen hatte, trotz meines Zustands so selbstbewusst wie möglich in dieses Meeting zu stolzieren, um Sutton keine Genugtuung nach ihrer kindischen Aktion zu verschaffen, schloss ich die Tür hinter mir und straffte die Schultern. Natürlich war nur noch neben Sutton ein Platz frei, und vermutlich hatte sie ihn mit Sekundenkleber oder Ähnlichem präpariert. Also blieb ich, wo ich war.

»Was hab ich verpasst?«

Mom räusperte sich. »Wir … wir …« Irgendwie schaffte sie es, bei meinem Anblick die Fassung zu bewahren, was ich ihr hoch anrechnete – unter diesen Umständen.

Viola zwirbelte an der Schleife vorn an ihrem Sechziger-Jahre-Stirnband, das sich von der Farbe kaum von ihren dunkelrot gefärbten Haaren abhob. Irgendwie hätte ich meine Finger auch gerne beschäftigt, doch genauso gut hätte ich mich in einem Löwengehege auf den Rücken werfen können.

Im Stillen ermahnte ich mich selbst, meine Hände nicht zu meinem Auge oder an meinen Ausschnitt zu heben. Vor mir saßen lediglich Mom und fünfzehn ihrer Mitarbeiter, unter denen unglücklicherweise eben Sutton Geelie war, die es aus irgendeinem Grund auf mich abgesehen hatte. Nun ja, im Prinzip wusste ich, was dahinter steckte …

Endlich fand Mom ihre Stimme wieder, wobei es weniger an meinem Aussehen, sondern vermutlich eher daran gelegen hatte, dass sie ihre Gedanken hatte ordnen müssen. Eine starke Stimme war jeder von uns von meiner Mutter gewohnt. »Es gab eine wahre Welle an neuen Anfragen, und wir haben die Klienten soeben auf die Mitarbeiter verteilt. Wir werden alle Überstunden machen müssen. Und wir fangen sofort damit an.«

Ich nickte und konnte mich gerade noch so davon abhalten, die Arme vor der Brust zu verschränken. Das hieß wohl, dass für mich die Klienten übrig geblieben waren, die niemand sonst hatte haben wollen. Wahrscheinlich wirklich die anspruchsvollen Kasobians. Typisch mein Glück.

Neben mir grinste Sutton mich an. Sie hatte ihren kirschroten Lipgloss erneuert und deutete auf ihren Ausschnitt. Ihre Lippen formten die Worte: Du hast da was.

Witzig. Wirklich witzig.

Aber angesichts der Tatsache, dass ich genau wusste, was sie so wütend machte, biss ich mir auf die Zunge und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Das, was Sutton neben meiner Verwandtschaft zu Mom rasend machte, waren meine dichten braunen Haare. Wohingegen sie, um einen ähnlichen Effekt von gesundem, vollem Haar zu erzielen, Extensions benötigte.

Mom ordnete ihre Papiere. »Du wirst, wie schon gesagt, das Double für einen Starkoch ausbilden und Bria bei ihrer ersten Klientin, einer Sängerin, unterstützen. Brauchst du eine Auffrischung der Körpersprache-Schulung, oder ist noch alles präsent bei dir?«

Koch. Bria beim Double einer Sängerin unter die Arme greifen. Na ja, hätte deutlich schlimmer kommen können. Das hörte sich fast schon nach einem zu ruhigen Sommer an. In Bezug auf Moms Frage schüttelte ich den Kopf. »Keine Sorge, ich kenne alle Abläufe der Agentur inklusive der Körpersprache-Schulung.« Wie schwer konnte das bei einem Koch und einer Sängerin schon sein?

»Gut. Immerhin hast du wirklich ein beinahe fotografisches Gedächtnis.« Und damit löste Mom das Meeting auf.

MARILYN MONROE SAGTE EINMAL, HOLLYWOOD IST EIN ORT, AN DEM SIE DIR TAUSEND DOLLAR FÜR EINEN KUSS BEZAHLEN UND FÜNFZIG CENTS FÜR DEINE SEELE.

Eine Woche zuvor

Meine Finger glitten über den Umschlag. Ohne ihn zu öffnen, wusste ich, was darinstehen würde. Einen Moment wirkte alles so fern. Das Geschrei meiner Mutter und das Jammern von Gus, das aus der Küche drang. Ebenso wie das Gehupe der Autos auf der Schnellstraße. Doch all das war jetzt egal. Es hätte mich nicht gewundert, wenn aus einer der ausgebleichten Ecken meines alten Kinderzimmers eine Fanfare ertönt wäre. Einfach, weil es der Moment war, den ich so lange herbeigesehnt hatte.

Oben ertastete ich mit der Fingerkuppe eine Kerbe im Umschlag. Aber das war Nebensache. Fehler hatte alles und jeder auf dieser Welt. Selbst meine liebsten klassischen Romane, die mit von der Sonne verblichenen Seiten auf dem Schreibtisch lagen. In der Küche schepperte es, als hätte meine Mutter die Bratpfanne viel zu kräftig auf die Tischplatte geschmettert. Kurz zuckten meine Muskeln, ich war schon im Begriff aufzuspringen, aber da hörte ich die Zimmertür meines kleinen Bruders zuknallen. Inzwischen konnte er auf sich selbst aufpassen. Sich selbst in Sicherheit bringen. Trotzdem … Der Inhalt dieses Umschlags konnte alles für uns ändern. Für Gus und mich. So viel stand fest. Eigentlich hätte ich jetzt zittern müssen, weil so viel von diesem Stück Papier abhing. Doch die Ruhe, die mich erfasst hatte und von meinem Unterbewusstsein ausging, wusste es. Ich wusste es.

Es konnte nur eine Zusage sein.

»Kaylee-Lynn ist für dich am Telefon, Lincoln!«, schrie meine Mutter aus der Küche und hustete sich im Anschluss die halbe Lunge aus dem Körper. Jedenfalls klang es so. »Hat wohl gehört, dass du zurück aus dem Bau bist.« Sie lachte, hustete, lachte.

»Sag ihr, dass ich ausgewandert bin!«, rief ich. Wenn ich momentan auf eins verzichten konnte, dann auf irgendwelche Ex-Freundinnen, die mich ablenkten.

Gerade wollte ich den Umschlag öffnen, als eine Taube draußen am Fenster gurrte, lautstark flatterte und sich auf der Backsteinfensterbank niederließ. Sie neigte den Kopf und betrachtete mich, begleitet von einem weiteren Gurren. Ich starrte zurück – einfach, weil der Flashback so heftig war wie ein Gongschlag neben meinen Ohren. Aber das konnte nicht derselbe Vogel sein, der mich zwei Jahre fast jeden Tag im Jugendgefängnis besucht hatte. Oder war er es doch? Nein … das mussten dreißig Meilen sein, die er hätte zurücklegen müssen. Dreißig Meilen, die mich und Pepper Pidgeon trennten. Dreißig Meilen von dort bis zu meiner Fensterbank. Wie hätte er mich finden sollen? Dennoch stand ich auf, schob das Fenster einen Spalt nach oben und klemmte meinen Teller mit den Brötchenkrumen darunter, sodass der Vogel gut darankam. Die Taube hatte nur minimal mit den Flügeln gezuckt und meine Aktion beobachtet. Jetzt raschelte sie mit ihren Federn, um gleich darauf die Krümel aufzupicken.

Ich trat einen Schritt zurück. Mit dem Ringfinger meiner rechten Hand rieb ich über meinen kleinen Finger. Alles an diesem Leben fühlte sich unwirklich an. Alles – außer dieser Brief.

Langsam senkte ich den Blick wieder auf den Umschlag. Dann riss ich ihn auf, holte den Brief heraus und überflog die Zeilen. Es war die offizielle Zusage für den Job. Mein Vorstellungsgespräch hatte Dexter und Miranda direkt überzeugt – nichts anderes hatte ich erwartet –, aber jetzt hatte ich es endlich schwarz auf weiß.

Kurz dachte ich an diesen verhängnisvollen Tag im Untersuchungsgefängnis zurück. An den Tag, an dem ich im Fernsehen diese Dokumentation über Doubles gesehen hatte, die dafür bezahlt wurden, so zu tun, als wären sie die Stars. Die das Original vertraten, wenn es selbst keine Lust auf ein Event hatte oder krank zu Hause saß. In derselben Sekunde hatte ich es gewusst. Dass das ein Job war, den man auch mit meinem unterirdischen Lebenslauf ausüben konnte. Weil es nur ums Aussehen und ums Faken ging. Mein Herz hatte wie verrückt geklopft, und ich hatte es vor mir gesehen, wie ich genau damit genug Geld verdienen konnte, um Gus und mich aus diesem festgefahrenen Leben herauszuholen. Ihm mehr zu ermöglichen, mehr Türen zu öffnen, als es mir bisher in meinem Leben gelungen war. Ein ganz neues Leben, für das wir das alte für immer hinter uns lassen konnten. Weil wir schlichtweg keine Alternative hatten.

Vor Aufregung, dass mein Traum nun greifbarer war, begannen meine Schultern zu beben, was die Taube mit einem sanften Gurren kommentierte. Beinahe so, als wollte sie mich beruhigen.

Ich blinzelte, dachte daran, wie ich zu diesem Casting gegangen war, das ich vor ein paar Wochen in einem Forum für Schauspieler entdeckt hatte – obwohl meine Bewährungshelferin Sadie mir davon abgeraten hatte. Showcasting für Doppelgängerwettbewerb hieß es. Aber aus der TV-Dokumentation hatte ich gewusst, dass das oft nur ein Deckname für das Casting eines echten Doubles für einen Prominenten war. Nicht, dass das ein Top-Secret-Geheimnis gewesen wäre, aber die echten Fans sahen es einfach nicht gern, wenn statt ihres Idols bei einem Event eben nur das Double auftauchte. Obwohl die ganze Welt wusste, dass Stars auch mal Burnout haben oder krank sein konnten. Nur, dass ausgerechnet vom eigenen Star ein Double existierte, das verdrängte man als Superfan lieber. Und für diesen angeblichen, einmaligen Wettbewerb hatten sie Doubles für mehrere Sänger sowie Bands gesucht, unter anderem auch für The Tinfoil Phantoms. Drei Wörter, die schon damals mein Herz höherschlagen gelassen hatten. Wenn ich jedes Mal einen Dollar für den Spruch »Du siehst diesem Sänger Graeson von The Tinfoil Phantoms so ähnlich« bekommen hätte … hätte ich jetzt … sechs Dollar in der Tasche.

Und dann hatte es begonnen. Mein erstes richtiges Vorstellungsgespräch, und es war praktisch keine Konkurrenz vor Ort gewesen, um für Graeson vorzusprechen. Außer für ihn hatten zur selben Zeit auch die Doubles für Biggy und Zac – die anderen zwei Bandmitglieder der Tinfoil Phantoms vorgesprochen. Mit Rae und Shy war unser Doppelgänger-Trio noch am selben Tag vervollständigt worden.

Die beiden waren anständige Jungs, vielleicht ein bisschen zu relaxed, zu selbstsicher, zu arrogant. Aber genau das machte es ihnen sicherlich leicht in dieser verdammten Stadt voller Möchtegerns – meiner Heimat. Immerhin hatte dieser Rae über einen Scherz von mir gelacht, und Shy hatte direkt ein Bier mit uns trinken gehen wollen. Also hatten wir das getan, und nicht nur Raes Humor hatte dazu beigetragen, dass ich abschalten konnte, sondern auch die Tatsache, dass Shy nie um einen Spruch verlegen war, wenn ihn ein Mädchen interessierte.

Es war der beste Abend seit Langem gewesen mit diesen beiden Schauspielschülern, die gerade nach L.A. gezogen waren. Wahrscheinlich weil ich vorher immer mit den falschen Leuten abgehangen hatte, aber bei unserem Barhopping war mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen, dass ich bei diesen zwei Jungs nicht krampfhaft aufpassen musste, dass sie nichts Dummes anstellten. Ich rieb mir über die Stirn, verdrängte die Gedanken an die schlimmste Nacht meines Lebens. Axe und seine Jungs würden dafür noch ein paar Jahre absitzen müssen.

Aber ich war frei. Endlich.

Ich überflog den Brief, las den letzten Satz zwei Mal. Ognito Inc. bot mir den Job als Graeson Woollards Double an – schon ab Mitte Mai! Also in einer Woche. Und der Lohn dafür war beträchtlich. Ziemlich viele Nullen pro Monat. Und das ohne Ausbildung oder Studium. Ein Frisur-Makeover und ich würde wie dieser geschniegelte Sänger aussehen. Dazu kam, dass diese Band Alumasken trug, die die rechte Hälfte ihres Gesichts bedeckten. Und am Ende des Sommers nach einer großen Tournee ging die Band nach Vegas, um dort dauerhaft zu spielen.

Ich könnte also problemlos Gus mitnehmen und gemeinsam mit ihm ein neues Leben beginnen. Mom würde es ganz sicher nichts ausmachen, und das Sorgerecht konnte ich mir erkämpfen. Schließlich war Mom Alkoholikerin, weshalb ihr kein Richter, der auch nur einen Funken Verstand besaß, Gus überlassen würde. Und sein Vater war nicht besser. Ich hatte mich informiert. Meine Chancen, das Sorgerecht für meinen kleinen Bruder zu bekommen, wären nicht schlecht mit einem festen Job. Dazu war meine Akte nun wieder lupenrein, dank dieses Gesetzes, dass Polizeiregister gelöscht wurden, wenn man als Minderjähriger verurteilt worden war. Es war schon fast zu einfach.

Ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Da schwebte sie vor mir: meine Zukunft in meiner Hand. In Form eines Briefs.

Etwas kratzte an meiner Tür, und nur einen Moment später kam Gus hereingestürzt, ohne vorher anzuklopfen. Tränenspuren zeichneten sich auf seiner Haut ab. »Ich brauche deinen Boxsack, Linc.« Seine Stimme glich eher einem Schluchzen. Einem jammernden Welpen. »Kann ich ihn haben? Bitte?« Mit dem Ärmel wischte er sich über die Stirn.

Kein Neunjähriger sollte die Aggressionen seiner Mutter gegenüber an einem Boxsack auslassen müssen.

Trotzdem deutete ich auf meinen Boxsack, der in der Ecke hing. Er war an so vielen Stellen mit Panzertape geflickt, dass das rote Leder darunter kaum noch zu sehen war. »Na klar.« Das Leben war nicht fair. Gus hatte so viel mehr verdient als eine arbeitslose Mutter, die ständig neue, ebenfalls arbeitslose Typen mit nach Hause schleppte.

Es würde das letzte Mal sein. Mein Blick fiel auf den Brieftext. So viele Nullen, so viel Geld. Und ich musste mich lediglich an drei Regeln halten.

Erstens: So tun, als wäre ich Graeson Woollard. Und dafür außerhalb des Jobs ab sofort eine Perücke tragen, um unerkannt zu bleiben.

Zweitens: In der Zeit, in der ich ihn doubelte, mit keinem Mädchen zusammenkommen.

Und Drittens: Nichts mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter der Double-Agentur anfangen.

Leichter konnte man kaum viertausend Dollar im Monat verdienen. Wirklich nicht. Ich legte meinem Bruder eine Hand auf die Schulter, verstrubbelte ihm dann die dunkelblonden Haare. »Willst du heute Nacht bei mir schlafen? Ich hole deine Matratze rüber.«

Gus schniefte laut, zog die Nase hoch, ehe er mich auf Hüfthöhe umarmte.

WAS IST, WENN SICH DAS LEBEN NUR DESWEGEN MANCHMAL SO HOLPRIG ANFÜHLT, WEIL ES IN DEN NÄCHSTEN GANG SCHALTEN MUSS?

»Sorry, Schatz«, sagte Mom abschließend, als ob sie mir gerade nicht die vernichtendste Nachricht des Tages überbracht hätte. Ich starrte auf die neue Akte vor mir auf dem Tisch.

»Keine Sorge. Bria wird sich um den Koch kümmern, und ich werde eine neue Praktikantin für sie als Support einstellen.« Und damit rauschte Mom davon.

In meinen Ohren klingelte es. Wieso musste Selma ausgerechnet jetzt schwanger werden? Und dazu nach ihrem Arztbesuch in ihrer Pause – nur Minuten nach unserem Krisenmeeting direkt ins Krankenhaus eingeliefert werden und uns im Stich lassen? Natürlich hoffte ich, dass es nichts Schlimmes und mit dem Baby alles okay war, bloß warum heute? Jetzt hatte ich ihre Klienten am Hals. Eine Band, denen das halbe Land zu Füßen lag. Und keine Geringere als ich sollte ihre Doubles ausbilden. Fantastisch. Und das allerschlimmste: Die Doubles würden heute zum ersten Mal in der Agentur auflaufen. Heute! Warum konnte ich nicht den Koch und dessen Double behalten? Im Geiste sah ich schon vor mir, wie arrogant und selbstverliebt sowohl diese Sänger als auch ihre Doubles sein würden. Wahrscheinlich wurde man nach einer gewissen Anzahl von geschriebenen Autogrammen einfach so. Womöglich konnten sie nicht mal was für ihre Allüren.

Mit dem Gummiende meines Ognito-Inc.-Kugelschreibers tippte ich wieder und wieder auf die Schreibtischplatte, während ich mit meinem Daumennagel über die Ränder des Metallclips fuhr. Um meine Nerven zu beruhigen, baute ich den Kugelschreiber auseinander, wieder zusammen, wieder bis auf jedes Einzelteil auseinander … Auf die Recherche zu dieser Band hatte ich ebenso viel Lust wie auf eine Ganzkörperenthaarung. Durchgeführt von Sutton.

Ab und zu rubbelte ich über die Stelle unter meinem Auge. Bloß leider ohne Ergebnis, wie ich nach einem unauffälligen Selfie feststellen musste. Abgesehen davon, dass sich meine Haut um die aufgemalten Tränen jetzt auch noch rot verfärbte, als hätte ich eine Allergie entwickelt.

»Ach, Kleines.« Caleb ließ sich mit dem Hintern auf meinen Schreibtisch fallen. Gerade noch so konnte ich mein internetloses Tablet in Sicherheit bringen, sonst hätte sich Caleb direkt auf das Gesicht von Shy gesetzt, der Biggy Heighat doubeln sollte. »Mach dir nicht zu viele Sorgen.« Er nahm meine linke Hand in seine bronzefarbene und schaute mir dabei tief in die Augen. »Das wird ein toller Sommer für dich. Du wirst auf die echten Bandmitglieder treffen und deren Hammer-Villa in den Hills besuchen. Den Gerüchten nach haben die sogar eine eigene Hüpfburg und ein Bällebad UND eine Gokart-Bahn.« Seine Augen glänzten, während er sich mit gespielt vor Aufregung weit aufgerissenen Augen in die Faust biss. »Denk an all die Partys, auf die du gehen wirst.«

Da hatte wohl jemand seine Nase in mein Band-Exposé gesteckt.

»Ja, weil das genau mein Ding ist. Promis anhimmeln.«

Wenn ich eine bekannte Sängerin geworden wäre, hätte ich es auch so gehalten. Wann immer möglich hätte ich mein Double zu Events geschickt. Erst recht, wenn es für Promis in der Öffentlichkeit aktuell so gefährlich wie nie war. Kurz hob ich den Kopf, um die durchlaufende Nachrichtenzeile auf dem Bildschirm über der Tür zum Flur zu lesen. Unter der Nachrichtensprecherin verkündeten die weißen Buchstaben: Kein Promi mehr sicher? Alec Wildwin mit Paintball-Gewehr beschossen. Ein Bild wurde eingeblendet, das den Schauspieler mit orangener Farbe auf der Lederjacke zeigte.

Ich lehnte mich auf dem Bürostuhl zurück, dessen Lehne nachgab und ein Knarzen ausstieß. »Und wenn diese Band so toll ist, warum hast du sie dir dann nicht selbst geschnappt?«

Caleb schürzte die Lippen. »Tja, momentan sind die Hollywoodstars einfach die coolere Option, tut mir leid, Zwerg. Die Oscars!« Caleb tat so, als würde er sich mit beiden Händen eine Krone auf den Kopf setzen. »Und wenn wieder ein Prinz reinkommt, will ich vorbereitet sein. Kann mich nicht mit diesem langfristigen Sommerengagement aufhalten. Viola hat mir den letzten Prinzen vor der Nase weggeschnappt.«

»Tja, Karma.« Sutton schritt mit ihrem Tablet bewaffnet an uns vorbei und hatte nur einen abfälligen Blick für Caleb übrig. »Mit dieser Igelfrisur lassen sie dich nicht mal in die Nähe eines echten Prinzen. Man könnte meinen, du kämst aus der schlimmsten Ecke von West-Adams, Caleb, und nicht Kolly.«

Selbstverständlich hatte sich Sutton diese Vorlage zum Seitenhieb gegen uns beide nicht verkneifen können. Zwei auf einen Streich. Ich seufzte, hielt mein Handgelenk mit dem Trackerarmband dann direkt an ihr Tablet. Sutton fluchte lautstark. Tja, da war wohl ihr Internet erst mal weg. Ich konnte noch erkennen, wie der Einloggen-Bildschirm erschien, bevor Sutton sich und ihr Gerät eilig in Sicherheit brachte.

»Diese Frisur mache ich gerade wieder hip!«, rief Caleb ihr nach, um direkt im Anschluss an seinen Stachelhaaren zu zwirbeln und dann extra laut an mich gewandt hinzuzufügen: »In den letzten drei Monaten bin ich übrigens regelmäßig zum Axt-Weitwurf-Training gegangen.«

Diese unterschwellige Drohung schien Sutton jedoch völlig kaltzulassen.

Caleb stieß einen dramatischen Seufzer aus und drehte sich wieder zu mir. »Zurück zu der Band, nein danke. Nach diesem Country-Girl letztes Jahr hab ich echt die Schnauze voll. Ständig musste ich springen und ihr Double ranschaffen, wenn das Original einen Seitensprung kaschieren wollte.«

O ja, ich erinnerte mich. Letzten Sommer hatte ich Caleb dabei geholfen, die Kopie dieser Sängerin in der Öffentlichkeit zu zeigen. Einmal hatte ich sogar in einen Designermantel und Sonnenbrille gehüllt mit ihr Sushi essen gehen müssen. Nur damit ihr Ehemann nicht bemerkte, dass sie eigentlich bei ihrem Liebhaber im Bett lag. Es war der fürchterlichste Abend meines Lebens gewesen, und ich war froh, dass Mom beschlossen hatte, für derlei Aufträge nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Allerdings hatten wir damit eine gut zahlende Klientin verloren, und Dexter war an die Decke gegangen.

Meine Augen scannten die Bilder und Infos über die Band. The Tinfoil Phantoms. Graeson, Zac und Biggy. Ausgerechnet Dexters Band. Er war nicht nur Graesons Dad, sondern auch der Bandmanager. Auf sämtlichen Videos und Fotos trugen die Bandmitglieder Aluminiummasken, die einen Teil ihres Gesichts bedeckten. Ein bisschen wie ein spaciges Phantom der Oper. Ihr Markenzeichen, aber das wusste ich wie jeder andere Amerikaner natürlich längst. Die Artikel, die Caleb aufrief, zeigten immer mehr Polizisten und Bodyguards um die Jungs herum. Wahrscheinlich zurecht. In letzter Zeit waren sie schon mal von Fans angegriffen worden. Irgendwelche Frauen hatten versucht, sie in einen weißen Lieferwagen zu zerren. Aber Letzteres war glücklicherweise schnell bemerkt und verhindert worden. Offensichtlich wollte irgendwer diese drei Kerle ganz für sich haben. Oder Lösegeld von ihrem Management. Und dann waren da noch die Hater. Fantastisch. Und ich würde ihre Lockvögel den Sommer über an der Backe haben.

Ich tippte auf mein Tablet, das mir sofort den Lebenslauf von diesem Rae ausspuckte, der Zac Stein doubeln sollte. Eigentlich gut zu merken. Beide hatten drei Buchstaben im Vornamen. Rae würde sich in Zac verwandeln … und Shy doubelte Biggy – beide Namen endeten auf »y«. Zum Schluss kamen noch Lincoln, der Graeson doubelte. Also eigentlich war es schon fast zu einfach, sich diesen Quatsch zu merken.

Ich überflog Lincolns Lebenslauf, der deutlich knapper ausfiel als die der anderen beiden Jungs. In den letzten zwei Jahren hatte er als Freiwilliger beim Wiederaufbau in Haiti geholfen. Nachdem der Wirbelsturm Andrew die Insel schwer getroffen hatte. Hmm. Ich zupfte an meiner Lippe. Hatten sie diesem Sturm nicht den Namen Matthew gegeben? Ein Flüchtigkeitsfehler? Oder … Ich besah mir diesen Typen genauer, der da vollkommen starr in die Kamera blickte. Er sah natürlich ziemlich gut aus – aber das taten sie ja fast alle in Hollywood. Nichts, was mich mehr beeindruckte als eine Pusteblume am Bordsteinrand. Ich neigte den Kopf. Irgendwas war da in seinen grünen Augen. Als ob er gewisse Dinge mit diesem herablassenden Blick überspielen wollte … Nun ja. Was ging es mich an?

Doch bevor ich mir noch weitere Gedanken um meine neuesten Doubles machen konnte, stöckelte Mom erneut an mir vorbei.

»Mom«, sagte ich aus einem Impuls heraus, und zwar hektisch, da ich befürchtete, nicht mehr als zwei Sekunden Zeit zu bekommen. »Ich und gleich drei Doubles? Das schaffe ich nie.«

Tatsächlich verlangsamte meine Mutter ihren Stechschritt, aber nur ein klein wenig. Kaum merklich – jedenfalls für das ungeübte Auge. Ihr Blick fiel auf den Kaffeefleck auf meinem Shirt. »Kolly, ich bitte dich. Heute ist genau der Tag, an dem wir einen guten Eindruck hinterlassen müssen.«

Automatisch wanderte meine Hand zu meiner Zauberwürfelkette. Genau deshalb musste Mom doch einsehen, dass ich ungeeignet war, die Band zu betreuen. Also, da nahm ich doch lieber acht Köche statt drei von sich überzeugte Fake-Rockbandmitglieder.

Mit der Hand, in der sie ihr Smartphone hielt, deutete sie auf mich. »Aber du hast recht. Caleb wird dir helfen. Caleb, zieh dir die Akten. Dexter bringt die Doubles nachher für ein erstes Kennenlernen vorbei.« Ihre Hand schwenkte zu ihm. »Und such Kolly ein Firmenshirt raus. Sofort.«

»Was?«, keuchte Caleb. »Wir beide?« Zuerst erschrocken, wechselte sein Gesichtsausdruck zu Entrüstung, sobald er den Kopf zu mir drehte.

»Ja. Kolly hat dich doch letzten Sommer bei Jennifer Tafts Double unterstützt. Ihr wart ein gutes Team.«

Oh, oh. Mit meinem Daumennagel drückte ich eine Kerbe in meinen Oberschenkel. Genau die Art Doubles, auf die ich am allermeisten verzichten konnte, und dann auch noch drei davon – zusätzlich hatte ich damit Calebs Sommer ruiniert. Ich begegnete Calebs Blick ausdruckslos, betete dabei im Inneren den Binärcode zu Alles wird gut herunter.

01000001 01101100 01101100 01100101 01110011

01110111 01101001 01110010 01100100

01100111 01110101 01110100

Das machte das Ganze nur ein bisschen besser. Ein Mini-Byte.

Wenig später hatte sich mein Lieblingskollege allerdings schon wieder gefangen und versuchte, sich seelisch und moralisch auf die neue Herausforderung einzustellen – gemeinsam mit mir in der Teeküche.

Während ich noch mit Caleb darüber stritt, wer die längere Stange Lakritz aus der Tüte gezogen und damit die Wette gewonnen hatte, wurde es im Flur auf einmal laut.

Neugierig ließ Caleb die Lakritzstange fallen und sprintete aus der Teeküche. Gerade noch so bekam ich sie zu fassen und konnte somit verhindern, dass das Stück Lakritz auf direktem Wege in Broncos Maul wanderte. Ehe ich Caleb folgte, tätschelte ich der Hündin, die bereits mit aufgesperrtem Maul vor mir saß, entschuldigend den Kopf.

Im Großraumbüro hatten sich sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Glastür zum Flur versammelt, sodass ich nicht erkennen konnte, was vor sich ging.

»Die Band-Doubles«, flüsterte Viola, von der ich nur den Schopf ihrer dunkelrot gefärbten Haare ausmachen konnte.

Caleb hüpfte auf und ab wie ein K-Pop-Star in einem Musikvideo.

Eine Tür schlug zu, und kurz darauf sah ich Dexter aus Moms Büro auf uns zukommen. Gefolgt von Mom.

Bria tauschte einen Blick mit Sutton, klammerte sich dann wie Mom an ihr Tablet, wobei sie sich mit den Fingernägeln in ihren braunen Haarsträhnen verhedderte. »Moment, ist das Dexter Woollard – der Rockstar?«

»Ex-Rockstar«, sagte ich. »Und er ist hier Teilhaber.« Das »unglücklicherweise« konnte ich mir geradeso verkneifen. Genauso wie: »Er kontrolliert nur gern.« Das würde Bria, die erst seit Kurzem in der Agentur arbeitete, selbst noch herausfinden. »Vor ein paar Jahren hat er Mom geholfen, die Agentur aufzubauen. Aber nach seiner Hüft-OP hat er sich aus dem Business zurückgezogen«, fuhr ich fort. Nun ja nicht ganz, was für uns alle offensichtlich war.

»Und außerdem managed er die echten Tinfoil Phantoms, unter denen auch sein Sohn ist, richtig? Die Band, die jetzt von uns Doubles bekommt?« Bria wandte sich zu mir um.

»Ja, Teilhaber sein, erfordert nicht allzu viel Zeitaufwand«, sagte Caleb. Den abfälligen Tonfall in seiner Stimme konnte nur wahrnehmen, wer ihn besonders gut kannte. »Außer er entscheidet, bei der Ausbildung der Doubles mit dabei zu sein, wie heute. Er hat diese Doubles sogar gemeinsam mit Miranda gecastet.«

Wirklich? Um das bestmöglichste Double für seinen Sohn Graeson, den Leadsänger der Band, auszuwählen? Mein Blick glitt über Moms Teilhaber, den ich ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte. Dexter Woollard war in der Tat immer noch ein gut aussehender Mann. Allerdings zeigten sich nach dem Autounfall, den er mit Anfang vierzig gehabt hatte, scharfe, verbitterte Züge in seinem Gesicht. Genau genommen hatte ich ihn auf keinem Bild im Netz oder in der Akte seiner Band oder sonst irgendwann lächeln sehen. So groß, wie er war, und mit den dunklen Haaren hätte er auch ein Telenovela-Star aus Südamerika sein können. Dazu kam, dass er früher mal ziemlich erfolgreich Rocksongs gesungen sowie selbst geschrieben hatte – wie er jeden wissen ließ, der es hören wollte oder auch nicht.

Moms Kiefermuskeln zuckten, was irgendwie nicht zu ihr passte, dann wurde mir die Sicht auf sie erneut versperrt. Ich neigte den Kopf. Generell verhielt sie sich in letzter Zeit zunehmend seltsam. Hatte das alles was mit unseren neuen Klienten zu tun?

Die anderen schubsten sich gegenseitig, um die besten Plätze vorn an der Tür des Großraumbüros zu ergattern.

Na toll. Also spannten wir mal wieder. Ich schob mir eine der Lakritzstangen in den Mund und quetschte mich an zwei Mitarbeitern in Marvel-Shirts vorbei. »Kann man eigentlich noch auffälliger neue Doubles ausspionieren?« Man hätte meinen können, die anderen würden gerade zum ersten Mal drei attraktive Doubles zu Gesicht bekommen. Irgendwie blieb ich mit dem Ärmel an einer Handtasche hängen und musste mich mit einem Ruck befreien, stolperte bei der Aktion jedoch weiter vorwärts. Leider geriet ich dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass ich stürzte. Zwar versuchte ich, mich noch an Suttons Rock festzuhalten, die quietschte, als ich ihn hinten halb herunterriss, doch auch das konnte meinen Sturz nicht aufhalten. Ich landete auf den Knien in der ersten Reihe vor meinem ganzen Team. Direkt vor Moms Füßen, die von drei Bodyguards flankiert wurde. Ich hob den Blick. Um mich herum verstummte alles. Nein, keine Bodyguards, wie ich gleich darauf feststellte. Das waren die Doubles. Meine Doubles. Breitschultrige, gut aussehende Anfang Zwanziger …

Und alle starrten mich an.

Vor Schreck verschluckte ich mich an den Lakritzresten in meinem Mund und fing an zu husten. Das da – ich erkannte sie von den Fotos wieder – waren die leibhaftigen Doppelgänger der Band The Tinfoil Phantoms. Und diese Kopien waren nicht mal schlecht, musste ich zugeben. Dieselbe Arroganz wie bei den Original-Bandmitgliedern schimmerte in ihren Augen …

Niemand sagte was, und niemand tat mir den Gefallen, den Blick abzuwenden. Lediglich die Doubles stießen sich gegenseitig mit den Schultern an, waren offenbar schon recht vertraut miteinander. Damit das Husten endlich aufhörte, zog ich mich mit einer Hand an einem Marvel-Shirt nach oben, während ich mir mit der freien Faust gegen die Brust schlug.

War ich ernsthaft immer noch Mittelpunkt dieser Menschentraube? Und warum verging die Zeit auf einmal so quälend langsam?

Blinzelnd gelang es mir immerhin, mich halbwegs zu sammeln, weswegen ich die drei Neuankömmlinge in Ruhe mustern konnte. Ihre Namen … Wie waren ihre Namen noch mal?

Der Blick des dunkelhaarigen Typen mit den ausgeprägten Kieferknochen blieb an meinem Ausschnitt hängen, genauer gesagt auf dem Ognito-inc.-Schriftzug.

»Nettes Wortspiel.«

Stimmt. Der Firmenname. Moms geniale Idee. Ich reckte das Kinn und widerstand dem Drang, an meinem Shirt zu ziehen. Lincoln. Der Typ hieß Lincoln wie der Präsident und die Automarke, fiel mir wieder ein. Sein Blick brannte sich in meinen, und mir wurde tatsächlich heiß. Wie einem Fangirl. Was natürlich gar keinen Sinn ergab, denn das hier war nicht der Originalsänger, und selbst dann hätte er mich kaltgelassen. Nicht, dass das in irgendeiner Weise von Bedeutung gewesen wäre …

Der Junge neben ihm mit der bronzefarbenen Haut und den zwei Millimeter kurz geschorenen Haaren war Rae. Noch nie zuvor hatte ich so hellblaue Augen gesehen. Ein wenig, wie wenn man nur eine ganz geringe Menge blauen Sirup in ein Glas Wasser mischte, sodass es kaum auffiel. Ein Diamant-Ohrstecker blitzte in seinem linken Ohrloch, und durch seine rechte Augenbraue zog sich eine rasierte Linie. So was war wohl angesagt heutzutage. Aber was wusste ich schon?

Hinter den beiden versuchte sich das dritte Double daran, unbeteiligt auszusehen. Als hätte er nicht unbedingt Lust, angestarrt zu werden. Daran würden wir definitiv arbeiten müssen. Seine dunkelblonden Haare waren immerhin wie bei seinem Original auf dieselbe Art und Weise frisiert. Mit einem Lockenstab in kleine Löckchen gebracht, die nach oben abstanden und an den Seiten kürzer waren.

Lincoln grinste mich an, was mich sofort misstrauisch werden ließ. »Ich wusste gar nicht, dass ihr auch Doubles von Tony dem Clown in der Agentur habt«, bemerkte er, wobei sein Blick über mich glitt. Von meinem linken Augenwinkel mit den aufgemalten Tränen über mein rotes Ognito-Inc.-Shirt, das nicht so wirklich zu meinem braunen Rock passen wollte.

Mein Kopf schoss nach oben. Ernsthaft? Dieser … muskelbepackte … empathielose … Fake-Promi! Und plötzlich lief die Zeit wieder normal ab. Fand er das etwa witzig? Hitze strahlte von meinem Nacken über meinen ganzen Oberkörper aus, während er immer noch den Blickkontakt zu mir aufrechterhielt. Als wollte er sichergehen, dass ich diejenige war, die zuerst wegschauen würde. Dabei stachen seine Augen unter den braunen Haaren hervor wie zwei Jade-Edelsteine.

»Das war nur ein Scherz. Wegen dem hier.« In seinen Augen blitzte etwas, während er einen Zeigefinger an seine eigene Wange führte. Natürlich sah allein die Bewegung bei ihm unverschämt gut aus. Dazu die breiten Schultern, der muskulöse Nacken, wahrscheinlich boxte er oder drückte jede Menge Gewichte in seiner Freizeit. Allerdings schien er weder eine Kinn-OP, Nasenkorrektur oder ein Bleeching gehabt zu haben. Das erkannte ich normalerweise auf zwanzig Fuß Entfernung.

Am liebsten hätte ich etwas ebenso Freundliches entgegnet, doch ich riss mich zusammen. Sonst würde Mom mir auch noch das Tablet wegnehmen. Das hier waren Moms Doubles. Meine Doubles. Und diesen durchtriebenen Lincoln würde ich schon in seine Schranken weisen. Schönlingen, die versuchten, mich aufs Kreuz zu legen, hatte ich nicht nur einmal das Instagram-Konto gehackt und … es wieder zurückgegeben, weil ich nicht so fies hatte sein wollen.

Ich verdrehte die Augen und begegnete dann Lincolns Blick so gelassen wie möglich. Er war lediglich das Double von Graeson Woollard, Dexters Sohn. Allerdings war er nicht so braun gebrannt, wie ich es vermutet hätte, nach zwei Jahren Aufbauhilfe auf Haiti. Genau genommen wirkte er eher blass auf mich.

»Das … ist meine Tochter Kolly«, stellte mich Mom vor.

Hinter mir hörte ich Sutton einen Huster ausstoßen, der verdächtig wie Käse-Spätzchen klang.

»Sie wird euch gemeinsam mit Caleb in eure neuen Rollen einweisen und eure Ansprechpartnerin sein. Selma musste uns leider kurzfristig verlassen.«

»Ja, genau«, griff ich Moms Einführung auf, obwohl ich bei jedem Wort innerlich gewürgt hatte. »Am besten ihr legt erst mal eure Sachen ab, nehmt euch einen Kaffee und dann treffen wir uns im Meetingraum Hulk. Die grüne Tür da. Nicht zu verfehlen.« Ich deutete in Richtung Flur.

Lincolns Mundwinkel hoben sich erneut. »Alles, was du sagst, Tony der Clown.«

SIE SAGEN, WENN DU DEINE VERGANGENHEIT NICHT IN DER VERGANGENHEIT LÄSST, ZERSTÖRT SIE DEINE ZUKUNFT. ABER WAS, WENN DICH DIE VERGANGENHEIT IMMER WIEDER EINHOLT?

Wieder mal merkte ich, wie ich innerlich kurz davor war, zu explodieren. Wieso machte diese Begegnung so viel mit mir? Der überwältigende Drang, zu kündigen und davonzustürmen oder noch Schlimmeres, Peinlicheres zu tun, überkam mich. Plötzlich schien ich diejenige zu sein, die zum ersten Mal im Leben ein arrogantes Double vor sich hatte. Ich musste mich beruhigen, atmen. Für Mom. Für die Agentur.

Die Jungs gingen vor. Dexter streckte sogar einen Arm aus, um wie ein Museumsführer auf die grüne Tür zu deuten. Nicht zu fassen, wie er sich aufspielte. Konnte er nicht einfach die Doubles in Ruhe lassen und sich in seinem Manager-Job für die Originalband als Boss gefallen?

Ein Kribbeln breitete sich auf der Haut meiner Oberarme aus, und ich spürte deutlich, wie Lincoln mich musterte, ehe er den Meetingraum betrat. Davon würde ich mich allerdings nicht verunsichern lassen.

Okay, ich würde das hinkriegen. So was von.

Über meine Schulter warf ich einen Blick zu Caleb, der gerade Raes Hinterteil intensiv musterte, ehe auch dieses Double im Meetingraum verschwunden war, dann ruckte sein Kopf zu mir. Wir sollten ihnen folgen, ja sicher.

»Äh, holt einer von euch Kaffee für unsere Gäste?« Schnell schob ich mich an den Kolleginnen und Kollegen vorbei bis zu meinem Schreibtisch, wo ich mir die Mappe mit den Unterlagen griff.

»Sicher«, sagte Viola. »Für dich stelle ich den Karamellsirup aufs Tablett.«

»Du bist die Beste.« Ich sah auf, um sie anzulächeln. Ein kleiner Lichtblick im Haifischbecken. Mein Atem ging blöderweise immer noch viel zu schnell. Genau wie mein Herzschlag.

Irgendwo hörte ich Sutton schnauben.

Glücklicherweise lösten sich so langsam alle anderen aus ihrer Starre und nahmen wieder ihre Plätze an den Schreibtischen ein.

Als ich mit wackeligen Beinen – warum auch immer konnte ich die aufgewirbelten Emotionen in mir nicht runterdrehen – auf meinem Weg zum Hulk-Meetingraum dem Blick meiner Mom begegnete, erfasste mich ein ganz anderes Gefühl in meinem Magen. Mom hatte wieder diese abwesende Miene aufgesetzt, als würden Sorgen tonnenschwer auf ihr lasten. Und schon wieder so zerstreut … Und genau in diesem Moment beschloss ich, dass ich diesen Tag schaffen würde, und nicht nur diesen. Dass ich unseren Auftrag meistern und meine Mutter stolz machen würde. Dass alles wieder werden würde wie früher.

Dexter Woollard hatte seine Designerschuhe, in denen er steckte, entspannt auf dem Tisch abgelegt. Überkreuzt. »Das soll also der beste Ersatz für Selma sein?« Er hob die Augenbrauen, dann glitt sein Blick von mir und Caleb zu meiner Mom. Wir drei standen vor ihm und den Doubles, wobei Caleb sich gerade abwandte, um den Beamer mit seinem Laptop zu koppeln.

Ich atmete tief ein. Einfach nicht reagieren. Alles in Ordnung. Binärcodes runterbeten.

Mom umklammerte das Tablet fester, sodass es aussah, als würde sie die Blutzufuhr für ihre Finger abquetschen. »Caleb und meine Tochter Kolly haben letzten Sommer das Double von Jennifer Taft ausgebildet. Sie verfügen also über ausreichend Erfahrung in der Musikbranche.« Streng genommen hatte das hauptsächlich Caleb getan, und ich war lediglich ein paarmal eingesprungen, hatte das Double in Mimik sowie Gestik unterrichtet, doch ich würde Mom vor Dexter keinesfalls korrigieren.

Ganz langsam, was etwas Höhnisches an sich hatte, legte Dexter den Kopf in den Nacken. »Ah, ist das nicht genau die Sängerin, die euch kurz vor ihrer Halloweenparty gekündigt hat? Nun, ausreichend Erfahrung würde ich das wirklich nicht nennen.«

»Nein. Da bist du leider nicht auf dem aktuellen Stand. In der E-Mail an dich hatte ich den Sachverhalt detailliert dargelegt. Wahrscheinlich hast du die Details überlesen.« Mom sah Dexter scharf an. »Tatsächlich hatten wir Jennifer Taft empfohlen, mit ihrem Management ein neues Double zu suchen. Wir konnten die Zusammenarbeit aus moralischen Gründen leider nicht fortführen.«

»Moral?« Dexter neigte den Kopf, als hörte er dieses Wort zum ersten Mal.

Neben ihm tippte Shy auf seinem Handy herum, das bei jeder Berührung leise Kampfgeräusche von sich gab. Überaus nervtötend. Was Rae ebenfalls zu denken schien, dessen Augenlider zuckten. Nur Lincoln starrte mich komplett regungslos an. Blinzelte dieser Typ eigentlich auch mal?

»Moral hat es in Hollywood praktisch noch nie an den Türstehern vorbeigeschafft. Meine Güte, Miranda … Wegen ein paar Seitensprüngen kündigt man doch nicht direkt eine gut zahlende Klientin.«

Wieder zuckte Moms Kiefer, als würde sie mit den Backenzähnen knirschen. »Tja, glücklicherweise sind wir die einzige Double-Agentur in Kalifornien, daher können wir uns das durchaus erlauben.«

»Oh, das würde ich nicht unbedingt als Vorteil sehen.« Dexter verschränkte die Arme hinter dem Kopf wie bei einer Stretching-Übung. »Niemand sonst glaubt offenbar, dass man mit unserem Geschäft langfristig Profit machen kann. Ehe man alles wegen einer einzigen Klage verliert.«

»Nein«, sagte Mom ruhig, »wir haben keine Konkurrenz, weil niemand glaubt, gegen uns in den Wettbewerb treten zu können. Und du als Teilhaber müsstest das wissen.«