Doran - Franziska Hartmann - E-Book

Doran E-Book

Franziska Hartmann

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Beschreibung

Dorans Welt besteht aus Farben, die niemand außer ihm sieht. Farben, die nur er deuten kann. Denn Doran ist ein Seher. Als er und seine Geschwister aufgrund ihrer Abstammung von einem Feuergeist hingerichtet werden sollen, kann Doran entkommen. Doch seine Familie wird durch die Umstände zerrissen. Seine Suche nach einer neuen Heimat führt ihn aus der Stadt Glenbláth hinaus ins Tal der Feuergeister und von dort schließlich in den Wald der magischen Wesen. Während seiner anhaltenden Flucht vor den Menschen gewinnt er immer mehr Zugang zu seinen seherischen Fähigkeiten und trifft auf neue Freunde, einen abenteuerlustigen Waldelfen und eine treue Räbin, die ihn Hoffnung schöpfen lassen. Doch zugleich konfrontiert die Reise ihn immer wieder mit seiner Vergangenheit und einer Frage, die ihn nicht loslässt: Ist er wirklich das Monster, das die Menschen in ihm sehen?

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Franziska Hartmann

Copyright © 2021 by Franziska Hartmann

Herausgeber: Franziska Hartmann

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail: [email protected]

www.talderfeuergeister.wordpress.com

Ich male einen Regenbogen in den Himmel,

Lasse die Sonne strahlen über das Land.

Und die Menschen, sie leuchten mit neuem Lächeln,

Finden wieder, was sie einst verband,

Bevor die Welt im Grau ertrank.

Mit nur einem Flügelschlag bin ich fort von hier.

In nur einem Atemzug fliegt mein Geist weit hinaus.

HALBBLUTFEUER

„Ich will nicht sterben.“ Ich klammerte mich an meinen Bruder. Wir saßen in einer Ecke in dem kleinen hölzernen Wagen, der uns und noch ein Dutzend weiterer Kinder ins Unbekannte transportierte. Ich hörte von draußen das Hufgeklapper der Pferde, die den Wagen zogen. Dieser wurde bei jeder Unebenheit des Bodens durchgerüttelt. Dabei stieß ich mir ständig die Knochen an den Wänden und am Boden. Mir tat alles weh. Meine Schultern, meine Ellenbogen, die Wirbelsäule bis hinab zum Steißbein. Etwas neidisch schaute ich zu dem Wolfsmädchen, das neben mir zusammengerollt an der Wand lag. Sie war eine Gestaltwandlerin. Was hätte ich dafür getan, jetzt solch ein weiches Fell zu haben, auf dem ich liegen konnte. Das meinen ausgezehrten Körper vor den harten Wänden schützte.

„Du wirst nicht sterben“, versuchte mein Bruder, mich zu beruhigen. Cuinn hielt mich in einem Arm, in dem anderen unsere Schwester Lilly. Sie war die Jüngste von uns und sie weinte. Das tat sie schon, seitdem wir in den Wagen gebracht worden waren. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich hätte am liebsten dasselbe getan, doch sogar dafür war ich zu angespannt. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Es waren Geschichten erzählt worden. Geschichten darüber, dass sie Halbblute, wie wir sie waren, auf Scheiterhaufen verbrannten. Warum sie das taten, hatte ich noch nicht ganz verstanden. Ich wusste nur, dass meine Mutter ein Mensch war und mein Vater ein Feuergeist. Und dass Vater uns plötzlich hatte verlassen müssen. Und dann waren Stadtwachen in unser Haus eingefallen und hatten meine Geschwister und mich mitgenommen und eingesperrt. Seit dem waren bestimmt schon einige Monate vergangen. Aber sicher war ich mir nicht. In der dunklen Zelle, in die sie uns mit zig weiteren Halbbluten eingepfercht hatten, war mir jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen.

Cuinn löste sich von Lilly und mir. „Bleibt hier sitzen“, sagte er leise. Er krabbelte zur Wand, die rechts neben uns lag. Was hatte er vor? Ich beobachtete, wie er eine Hand auf das Holz legte. Blaues Licht schimmerte unter seiner Hand hervor. Als es verglommen war, zog Cuinn seine Hand zurück. Die Wand darunter schwelte ein wenig, war ansonsten jedoch unverändert. Ich hörte Cuinn leise fluchen, ehe er die Hand erneut auf das Holz legte. Mittlerweile schauten auch ein paar andere Halbblute neugierig zu Cuinn herüber. Seine Handfläche leuchtete wieder auf. Nach wenigen Sekunden begann das Holz zu schwelen. Als er dieses Mal seine Hand wieder von der Wand nahm, glühte das Holz dort, wo er es vorhin noch berührt hatte. Aufgeregt sprang Cuinn auf und stolperte beinahe, als der Wagen mal wieder kräftig holperte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich zu Lilly und mir wandte. Ich hatte ihn lange nicht mehr lächeln sehen. Aber nun verstand ich, was ihm Anlass dazu gab: Das Glühen des Holzes breitete sich aus. Es fraß ein Loch in die Wand, das sich langsam ausdehnte. Aufgeregtes Gemurmel wanderte durch den Wagen. Cuinn nahm meine und Lillys Hand und riss uns auf die Füße. Als das Loch groß genug war, rief er: „Lauft!“

Die anderen Halbblute ließen sich das nicht zweimal sagen. Es entstand ein wildes Getümmel. Jeder wollte als erstes hinaus. Ich sah, wie ein Mädchen, das noch den richtigen Moment abpasste, um aus dem fahrenden Pferdewagen zu springen, geschubst wurde. Sie schrie auf, als sie durch das Loch fiel. Ich zuckte zusammen, als ich das dumpfe Geräusch ihres Aufpralls hörte. Cuinn drängte uns zu dem Loch. „Wenn ihr draußen seid, rennt fort! Ich folge euch“, sagte Cuinn. Dann sprangen Lilly und ich nacheinander hinaus. Als ich mich umdrehte, hielt der Wagen an. Cuinn stieg aus dem Loch. „Lauft, hab ich gesagt!“, rief Cuinn Lilly und mir zu. Doch als ich einige Wachen wahrnahm, die begannen, unsere Mitgefangenen wieder festzunehmen, war ich wie gelähmt. Cuinn kam auf uns zugerannt. Er nahm mich und Lilly an die Hand. Und rannte weiter. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten. Ich wollte laufen. Schneller. Schneller. Doch ich konnte nicht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich bekam kaum Luft. Meine Beine fühlten sich wackelig an. „Bruder, ich kann nicht mehr“, rief ich verzweifelt. Doch Cuinn blieb nicht stehen. Er lief weiter. „Bruder! Bitte!“ Da stolperte ich. Und während ich fiel, rutschte meine Hand aus der meines Bruders. „Cuinn!“, rief ich. Ich schlug auf dem harten Steinboden auf, ohne meinen Fall abfangen zu können. Ein gellender Schmerz durchzuckte meinen gesamten Körper. Ich stemmte die Arme auf den Boden und versuchte, mich aufzurichten. „Bruder!“, schrie ich, so laut ich konnte. Mir war schwindelig. Ich erkannte Cuinn nur noch schemenhaft in der Ferne. Ich sackte zurück auf den Boden. „Lilly“, murmelte ich. Jemand packte mich von hinten an meinem Hemd und riss mich unsanft hoch.

„Ich habe noch einen!“, hörte ich eine dunkle Männerstimme rufen. „Das ist unser Adlerauge.“

Unwillkürlich legte ich eine Hand über mein rechtes Auge, als er mich Adlerauge nannte. Dieses verdammte goldene Auge.

Der Mann schleifte mich und einen weiteren Jungen, vermutlich etwas jünger als ich, über den gepflasterten Weg.

„Ihr räudigen Bengel! Ihr habt doch nicht wirklich gedacht, dass ihr so leicht davonkommt?“

Los, Doran, noch kannst du fliehen. Du musst etwas tun, um hier wegzukommen, hämmerte es in meinem Kopf. Gleichzeitig erfüllten mich unzählige Szenarien, wie ich entkommen könnte. Ich konnte versuchen, mich loszureißen. Ich konnte ihm kräftig auf den Fuß treten. Ich konnte ihm in seine dreckige, fleischige Hand beißen, die mich seitlich am Kragen gepackt hielt. Letzteres erschien mir der geringste Kraftaufwand zu sein.

Der Wachmann schrie auf, als ich ihm, so fest ich konnte, die Zähne in die Hand rammte. Er ließ von mir ab und ich rannte erneut los, obwohl mir immer noch von meinem vorherigen Sturz schummrig war. Ich hätte mir vorher denken können, dass mein Fluchtversuch zum Scheitern verurteilt war. Doch meine Hoffnung schwand erst vollkommen, als meine Beine mich nicht recht voranbringen wollten. Schneller, als ich mich befreit hatte, landete ich in den Armen eines anderen Wächters, der gerade drei Halbblute an einem Rad des angesengten Pferdewagens festgebunden hatte. Er riss mich herum, drückte mich auf den Boden neben die anderen Halbblute und fesselte meine Hände ebenfalls mit einem dicken Seil an den Wagen.

Der Mann beugte sich zu mir herunter, sodass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. „Ein kleiner Rebell also. Du denkst wohl, du seist mutig. Aber du bist nicht mehr als eine schmutzige Ratte.“

Ich spuckte ihm ins Gesicht. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen verfinsterte sich. Er wischte sich mit der Rechten die Spucke aus dem Gesicht und benutzte dieselbe Hand daraufhin, um mir eine solch kräftige Schelle zu verpassen, dass mir kurz schwarz vor Augen wurde. Meine linke Wange brannte, dass es mir Tränen in die Augen trieb. Erst als er ging, um weitere Halbblute zu verfolgen, wagte ich, zu den anderen Halbbluten zu schielen. Ich bereute es sofort. Mein rechtes Auge spielte verrückt. Das musste meine Angst sein. Meine Anspannung. Alle Menschen um mich herum umgaben bunte Farben. Ich befand mich in einem grellen, nicht enden wollenden Farbenmeer, das in meinem Auge brannte und mir ein penetrantes Stechen in den Kopf trieb. Doch noch schlimmer als die beißenden Farben war das, was sie mir verrieten. Sie flüsterten zu mir. Sprachen eine Sprache, die nur ich verstehen konnte. Und sie setzten die Kinder um mich herum in Flammen. Sie sagten mir: Ihre Lebenszeit ist abgelaufen. Sie werden allesamt verbrennen. Heute. Und du hast keine Chance, sie davor zu bewahren.

Ich schluckte und blickte auf meine Hände an dem hölzernen Rad. Würde ich auch sterben? Verrate mir, ob ich heute sterben werde! Aber der Blick auf meine Hände verriet mir nichts. Ich sah nur ganz gewöhnliche Hände. Ohne Farben. Ohne irgendeinen Hinweis. Abgesehen davon, dass sie knöchrig und aufgeschürft waren und ich das Gefühl hatte, ich würde eine ganze Weile keinen einzigen Gegenstand darin halten können.

„Bruder!“

Der Ruf einer sehr vertrauten Stimme weckte meine Aufmerksamkeit. Mein Blick schnellte herum. Lilly. Eine Wache zerrte sie an mir vorbei. „Lilly!“, schrie ich und versuchte vergebens, mich von den Fesseln zu befreien. „Lilly!“ Sie verschwand aus meinem Sichtfeld, als der Mann sie in einen weiteren Pferdewagen verfrachtete. Sie war das letzte Kind, das darin verschwand. Dann wurde die Tür endgültig geschlossen und der Wagen setzte sich in Bewegung. „Lilly!“, schrie ich erneut.

„Halt den Mund oder willst du dir noch eine einfangen?“, fuhr der Mann mich an, der mich vor wenigen Minuten geschlagen hatte. Er war zurückgekehrt, um meine Fesseln zu lösen und mich in einen intakten Wagen zu bringen, der gerade herangefahren war. Ich verstummte und folgte ihm ohne weitere Versuche, mich zu wehren. Lilly. Sie hatten andere Farben umspielt als die anderen Kinder. Sie hatte eine Chance. Sie würde nicht sterben. Nicht heute. Die Erkenntnis beruhigte mich irgendwie. Auch wenn ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde. Und wusste, dass die anderen sterben würden. Lilly würde leben. Und Cuinn? Ich hatte ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht würde ich ihn nie mehr wiedersehen.

Der Pferdewagen füllte sich. Ich spürte es, weil ich gegen die Wand gedrückt wurde und ich immer schlechter Luft bekam. Es wurde eng. Ich wusste nicht, wie viele wir waren. Ich vermied es aufzuschauen. Ich konnte das nicht sehen. Ich wollte nicht sehen, wie sie starben. Es reichte, den Tod zu spüren, ich musste ihn nicht auch noch vor Augen haben. Der Wagen begann zu ruckeln und zu schaukeln. Die Angst, die ich vorhin noch verspürt hatte, war fort. Als hätte ich sie mit Cuinn und Lilly verloren. Zurück blieb nur eine Leere. Ein taubes Gefühl, das mich lähmte.

„Doran!“

Ich sah immer noch nicht auf, als jemand meinen Namen rief. Es war die Stimme eines Jungen.

„Doran, ich bin es, Leon. Wo sind dein Bruder und deine Schwester?“

Ich wandte mich noch weiter von Leon ab. Er war einer der Halbblute, mit dem ich mich während unserer Gefangenschaft angefreundet hatte. Wir hatten immer viel geredet. Uns gegenseitig geholfen, die Zeit totzuschlagen und unseren Hunger, unseren Durst und unsere Angst zu mildern. Doch nun wollte ich nicht reden. Und ich war mir sicher, dass nichts in dieser Welt den Schmerz, von dem ich wusste, dass er sich unter der Taubheit versteckte, mildern konnte.

„Glaubst du, es stimmt, was sie sich erzählen? Werden sie uns verbrennen? Werden wir sterben?“

Bitte frag mich das nicht, dachte ich. Ich wünschte, ich hätte die Antwort nicht gekannt. Doch ich kannte sie. Und ich hasste sie.

„Das sind bestimmt nur Gerüchte. Wir werden nicht sterben. Warum sollten sie uns umbringen?“, hörte ich die Stimme eines Mädchens.

„Warum sperren sie uns ein? Warum lassen sie uns hungern?“, entgegnete Leon. „Sie tun es, weil wir Halbblute sind. Vielleicht ist das auch Grund genug, uns umzubringen.“

„Nein, sag so etwas nicht! Es wird sicher alles wieder gut“, meinte das Mädchen.

Nein, wird es nicht. Nichts wird gut.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben wir stehen. Ich hörte, wie die Tür des Wagens geöffnet wurde.

„Marsch, nicht so langsam!“, rief jemand zu uns herein.

Die Halbblute neben mir bewegten sich.

„He, bist du taub, Junge? Bewegung!“

Ich schaute zur offenen Tür. Der Mann, der dort stand, fixierte mich mit seinem harten Blick. Ich war der Letzte im Wagen.

„Sind deine Ohren etwa ebenso missgebildet wie dein Auge?“

Ich trottete auf ihn zu. Er packte mich am Arm und zog mich hinaus. Draußen hörte ich lautes Geheul. Schreie. Es waren Kinder, die nach ihren Eltern schrien. Die um Vergebung flehten. In jenem Moment, in dem sie an riesige Pfähle gebunden wurden. Pfähle, die von gebündelten Holzscheiten umgeben waren. Während der Mann mich zu einem der Pfähle stieß und begann, mich festzubinden, dachte ich ebenfalls an meine Mutter. Sie hatte mir immer gesagt, mein goldenes Auge erinnere sie an eine Sonne. Eine leuchtende, alles erhellende und wärmende Sonne. Es bereitete mir oft Schwierigkeiten. Ich sah Dinge, die ich nicht sehen wollte. Und es verging kein Tag, an dem ich keine Kopfschmerzen hatte von all den Eindrücken. Doch meine Mutter versuchte, mir immer wieder einzubläuen, wie wunderschön dieses Auge war. Und dann dachte ich an meinen Vater, der einfach verschwunden war. Und wider Erwarten war das erste Gefühl, das sich durch meine Taubheit durchkämpfte, keine Angst, sondern Wut. Der Gedanke an meinen Vater machte mich wütend. Er hatte uns allein gelassen. Dabei war sein Blut doch der Grund, weshalb wir nun in dieser Lage waren.

Meine Gedanken verfielen, als ich Lilly erneut erblickte. Eine Wache war dabei, sie an den Pfahl neben mir zu binden. „Lilly!“, rief ich, so laut ich konnte.

„Bruder! Bitte, ich will zu meinem Bruder!“, rief Lilly unter Tränen zurück.

Die Wache hielt inne und schaute zwischen Lilly und mir hin und her. Nach kurzem Zögern löste er Lillys Fesseln und zerrte sie zu mir herüber. „Habt ihr ein Glück. Ich bin vermutlich der Einzige, der euch diesen Gefallen tun würde“, murmelte er, während er Lilly direkt neben mir am Pfahl platzierte und dort fesselte.

Gefallen. Der Mann wusste offensichtlich nicht, was er dort redete. Hätte er uns einen Gefallen tun wollen, hätte er uns einfach freigelassen.

„Sie machen Feuer, Doran“, wimmerte Lilly und schaute ängstlich die Reihe der Pfähle entlang zu einem Mann, der eine Fackel entzündete.

„Ich weiß“, antwortete ich nur. Ich hätte sie gerne aufgemuntert. Doch mir kamen keine aufmunternden Worte mehr in den Sinn.

Als das Feuer brannte, entbrannte auch Jubel im Volk. In dem widerlichen Volk, das vor uns stand und tatenlos zusah. Und sich freute.

„Verbrennt die Verräterbrut!“

„Nieder mit dem magischen Volk!“

Das waren die Worte, die sie brüllten.

Ich starrte sie an. Auch als ich grausame Schmerzensschreie hörte, starrte ich sie noch an.

Lilly heulte. „Bruder!“, weinte sie.

„Sieh nicht hin“, riet ich ihr.

„Aber ich höre sie“, jammerte sie weiter. „Sie werden uns auch verbrennen. Er kommt näher. Der Mann mit der Fackel, er…“

„Sieh nicht hin!“, unterbrach ich sie barsch. Denn ich spürte, dass mit jedem Wort, das sie sagte, meine Angst wieder stärker wurde und sich zu der Wut gesellte. Die Angst, die ich nicht spüren wollte.

Sie sagte kein Wort mehr. Doch sie weinte noch immer leise. Und ich spürte ihr Zittern neben mir.

Und dann kam die Hitze. Eine nicht zu ertragende Hitze. Lilly schrie. Lilly stirbt nicht

NEUE HEIMAT

Als ich aufwachte, fühlte ich mich unwirklich. Ich wusste, dass ich auf etwas lag, aber ich konnte nicht sagen, was es war. Nicht einmal, wie es beschaffen war. War es weich? Oder hart? Kühl oder warm? Ich fühlte mich benommen. All meine Sinne schienen nur auf Sparflamme zu funktionieren. Nur meinen Kopfschmerz spürte ich klar und deutlich. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Über mir erkannte ich verschwommen die hölzerne Decke eines Raumes. Dann hörte ich Stimmen.

„Er hat es nicht geschafft. Die Verbrennungen waren zu stark und zu großflächig.“

„Wie geht es dem Mädchen?“

„Sie hatte wieder Schmerzen. Ich habe ihr noch ein Mittel dagegen gegeben. Sie wird mit den Narben in ihrem Gesicht leben müssen.“

„Und der andere Junge?“

„Ich wollte gerade nach ihm schauen. Er ist noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.“

Erst als ich näher kommende Schritte hörte, wurde mir bewusst, dass sie von mir sprachen. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Doch ich bekam sie kaum einen Millimeter auf, weil mich das Licht blendete. Ich hätte schwören können, dass es nicht einmal besonders hell da draußen war, aber meine Augen waren einfach viel zu empfindlich.

„Kaya, er ist wach!“

„Bist du dir sicher?“

Jemand hob meine Lider an. „Definitiv. Junge? Kannst du mich hören?“

Ich wollte antworten. Ich schaffte es immerhin, meinen Mund zu öffnen.

„Hab keine Angst. Du bist im Tal der Feuergeister. Wir kümmern uns um dich. Du bist in Sicherheit.“

Sicherheit. Feuergeister. Ich wollte mich sicher fühlen. Aber ich konnte es nicht. Mein Körper signalisierte mir noch immer Gefahr. Doch für eine Reaktion war ich zu schwach.

„Du wirst dich bald wieder besser fühlen.“

Ich spürte etwas Kühles an meinen Lippen. Und als die Flüssigkeit meinen Mund und Hals benetzte, spürte ich erst, wie durstig ich war. Ich zwang mich erneut dazu, meine Augen weiter zu öffnen. Jetzt erkannte ich die beiden Gestalten. Es waren zwei Frauen, Feuergeister. Ich erkannte sie an ihren langen blonden Haaren und ihren goldenen Augen. Und an diesem einen bestimmten Grünton, ein im Gegensatz zu anderen Farben, die ich sah, sanftes Tannengrün, der die beiden umspielte. Dieser Grünton umgab nur Feuergeister. Sie sahen aus wie Zwillinge. Eine von ihnen hatte mir einen Becher Wasser eingeflößt, den sie nun wieder von meinen Lippen absetzte und an sich nahm.

„M… mehr…“, krächzte ich.

Die Frau füllte den Becher auf. „Kannst du ihn halten?“, fragte sie mich.

Ich schickte meine Konzentration in meine Hände. Ich bewegte meine Finger unter der weichen Decke, unter der ich lag. Der andere Feuergeist half mir, mich aufzusetzen. Dann schaffte ich es, meine Arme zu heben und nach dem Becher zu greifen. Ich war froh, dass der Becher nur zur Hälfte gefüllt war, als ich ihn mit zittrigen Händen zu meinem Mund führte und trank.

„Mein Name ist Kaya“, stellte sich die Frau vor, die mir das Wasser gereicht hatte und deutete dann auf die andere. „Und das hier ist meine Schwester Amber.“

Amber nickte mir lächelnd zu.

„Möchtest du etwas essen?“, fragte Kaya.

Ich nickte heftig. Ich hatte nicht nur einen wahnsinnigen Durst, sondern auch einen Mordshunger.

Kaya verschwand hinter dem roten Vorhang, der den Eingang in mein Zimmer verdeckte.

Und als ich allein mit Amber war, fand ich endlich meine Sprache wieder. „Was ist passiert?“, fragte ich sie. „Wie bin ich hierhergekommen?“

Amber sah mich mitfühlend an. „Ein paar Feuergeister haben dich gerettet.“

„Und die anderen?“

Ihr Blick wurde noch trauriger. „Ich fürchte, für die meisten kam die Rettung zu spät.“

Mein Herz klopfte wild. „Was ist mit meinen Geschwistern? Cuinn? Lilly? Sind sie auch hier?“

„Ich kann es dir nicht sagen. Aber ich verspreche dir, ich werde es herausfinden“, versicherte Amber mir.

„So.“ Kaya kehrte zurück mit einem Holztablett in den Händen. Sie stellte es auf meine Oberschenkel. „Ich hoffe, es wird dir schmecken.“

Da war ich mir sicher. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich einen Kanten frisches Brot und Käse vor mir stehen sah. Dazu reichlich Obst. Ohne zu zögern, langte ich zu und begann, Brot und Käse zu verdrücken.

„Wir werden nun erst einmal nach den anderen schauen“, teilte Kaya mir mit.

Doch ich war viel zu vertieft ins Essen, um darauf zu reagieren.

„Cuinn und Lilly, richtig?“

Als Amber die Namen meiner Geschwister nannte, sah ich jedoch auf. Ich nickte. „Cuinn und Lilly Lasair.“

„Wir werden versuchen, sie ausfindig zu machen. Und wie ist dein Name, junger Mann?“

„Ich bin Doran“, nuschelte ich, während ich weiter mein Brot kaute.

Dann ließen Kaya und Amber mich allein.

Und wie ich da allein in meinem Bett saß, verging mir plötzlich der Appetit. Weil mir bewusst wurde, wie allein ich wirklich war. Mein Vater hatte mich verlassen. Meine Mutter war weit weg und ich würde vielleicht nie wieder zu ihr zurückkehren können. Und ich wusste nicht, ob Cuinn und Lilly noch lebten. Ich hatte niemanden. Ich ließ den letzten Rest meines Brotes liegen und saß dann eine Weile wie versteinert da. Da war sie wieder: Diese innere Leere. Und die Frage: Was brachte es mir eigentlich, überlebt zu haben, wenn ich nun alleine war?

„Ist alles in Ordnung bei dir, Doran?“

Ich zuckte zusammen. Amber schaute hinter dem Vorhang hervor. Ich antwortete nicht. Das war nicht nötig, denn Amber wusste, dass es mir nicht gut ging. Doch als ich sie ansah, sie und die bunten Farben, die sie begleiteten, hellte sich meine Stimmung auf. „Du hast Lilly gefunden“, sagte ich erleichtert. Es hatte gestimmt, was ich gesehen hatte. Lilly hatte überlebt.

Amber nickte freudig lächelnd. „Deine Schwester lebt. Sie hat aber schwere Verbrennungen davongetragen. Zwar ist sie außer Lebensgefahr, aber sie wird noch einen langen Genesungsprozess vor sich haben. Cuinn jedoch…“ Sie schlug betrübt die Augen nieder. „Er ist nicht unter den Halbbluten, die wir aus der Stadt geholt haben. Zumindest nicht unter denen, die noch leben.“

Ich schluckte schwer. Amber setzte sich neben mich auf die Bettkante und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir furchtbar leid.“

„Er ist entkommen“, murmelte ich.

„Wie bitte?“, fragte Amber überrascht.

„Er ist weggelaufen. Vielleicht ist er entkommen.“ Ich glaubte nicht wirklich daran. Aber es war eine Möglichkeit.

Und ich sah Amber an, dass auch sie nicht daran glaubte, als sie sagte: „Ja, vielleicht.“

„Kann ich zu meiner Schwester?“, fragte ich.

Amber zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Warte lieber noch ein, zwei Tage. Dann geht es ihr sicher schon besser. Und du solltest auch noch das Bett hüten.“

Ich wusste, dass sie recht hatte. Ich fühlte mich immer noch schwach. Auch wenn das Essen gut getan hatte.

Amber kniff die Augen leicht zusammen und legte den Kopf schief. „Darf ich dich etwas fragen?“

Ich nickte.

„Dein goldenes Auge… Hast du das von einem Feuergeist geerbt?“

Mir wurde kalt und ich bekam eine Gänsehaut, als sie mein Auge erwähnte. Adlerauge. Ich hatte die Stimme des Wächters in meinem Kopf. Und sein Gesicht vor Augen. Ich brauchte einen Moment, um die Erinnerungen beiseitezuschieben, ehe ich erneut nickte. „Mein Vater ist ein Feuergeist“, antwortete ich.

Amber lächelte. „Dann ist das hier ja quasi dein zweites Zuhause.“

Bisher hatte ich Amber wirklich gemocht. Aber irgendetwas an ihrer Aussage stach in meiner Brust. Ihre Worte bohrten sich in meinen Kopf und lösten dort etwas aus, womit ich nicht gerechnet hatte. Mein gesamter Körper spannte sich an. Und ich wurde wütend.

„Versuch, etwas zu schlafen, Doran. Du musst dich viel ausruhen.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Amber von mir, nahm das Tablett von meinem Schoß und ging.

Irritiert von meinen Gefühlen legte ich mich auf die Seite und zog die Decke zu meinem Kinn hinauf. Warum war ich wütend? Dann ist das hier ja quasi dein zweites Zuhause. Das war doch eigentlich eine freundliche Aussage. Sie bot mir eine neue Heimat. Sie wollte mir das Gefühl geben, hier willkommen zu sein. Doch ich wusste, wo der Fehler war.

Das hier war nicht mein Zuhause. Mein Zuhause war in der Stadt bei meiner Mutter. Das hier würde nie mein Zuhause sein. Der einzige Feuergeist, dem ich je wirklich nahe gestanden hatte, hatte mich, meine Geschwister und meine Mutter allein gelassen. Wie sollte das Tal solcher Wesen je meine Heimat werden?

DAS HERZ EINES WOLFS

Der letzte Schrei, den ich in der Nacht hörte, war mein eigener, als ich schweißgebadet erwachte. Kurz darauf erschien Amber in meinem Zimmer. „Doran, was ist passiert?“, fragte sie mich geschockt.

Ich atmete schwer. Dann schüttelte ich den Kopf. „Nichts. Ich habe nur schlecht geträumt.“

„Soll ich dir einen heißen Tee machen?“, bot Amber mir an. „Das beruhigt Körper und Geist.“

In dem Moment, in dem ich dankbar nickte, wirbelte ein roter Lichtstreifen um Ambers linke Hand. „Pass auf, dass du dich nicht verbrühst, wenn du den Tee aufgießt“, sagte ich.

Sie schaute mich kurz irritiert an, dann verließ sie den Raum. Ich schloss die Augen. Heute würde ein schlimmer Tag werden. Ich war unausgeschlafen. Die Farben tanzten wild und grell vor meinem goldenen Auge. Ich öffnete die Augen erst wieder, als ich hörte, wie der Vorhang beiseitegeschoben wurde. Amber trat ein. Sie hielt einen Becher in der rechten Hand. Die linke war mit einem feuchten Stofftuch umwickelt. Ohne ein Wort zu sagen, stellte sie den Becher neben mir auf einen kleinen Tisch. Dort blieb sie stehen, hielt sich die verhüllte Hand und schaute eine Weile schweigend auf diese herab. Dann sah sie mich an. Durch ein buntes Farbenmeer aus Verwirrung, Überraschung, Skepsis und Bewunderung. „Ich habe mir beim Teekochen die Hand verbrannt“, sagte sie. Sie stellte diese Tatsache einfach in den Raum. Doch ein gewisser Unterton verlangte eine Erklärung, als wäre ich schuld daran, dass sie sich verletzt hatte.

Beschämt schaute ich auf meine Bettdecke.

„Doran, wusstest du, dass ich mich verbrennen würde?“

Ich reagierte nicht.

„Du bist ein Seher! Bei der Feuergöttin Fulvia! Weißt du, wie selten deine Gabe ist?“

Je begeisterter Amber klang, desto unwohler fühlte ich mich.

„Was kannst du noch alles sehen?“, fragte sie mich.

Nun verkrampfte sich endgültig alles in mir. „Mal dies, mal das“, antwortete ich ausweichend. Ich sehe, was die Leute lieben. Ich sehe, was sie hassen. Ich sehe, wie sie heißen. Ich sehe, wo sie herkommen. Ich sehe ihre Zukunft. Ich sehe ihren Tod.

Zum Glück schien Amber endlich zu merken, dass ich ihre Begeisterung nicht teilen konnte. „Kann ich dir noch etwas Gutes tun?“

Ich schüttelte den Kopf.

„In Ordnung, Doran. Dann lasse ich dich erst einmal wieder allein. Ich hoffe, du kannst nach dem Tee noch ein wenig schlafen.“ Amber wartete noch kurz auf eine Antwort. Als ich ihr keine gab, ging sie langsam hinaus. Ich nahm den Tee von meinem Tisch und pustete, um das Getränk abzukühlen. So saß ich da, nahm immer mal wieder kleine Schlucke und beobachtete dazwischen den vom Becher aufsteigenden Dampf, bis es draußen hell wurde und der Becher leer war.

„Frühstück!“ Kaya kam hereingeschneit und brachte ein Tablett mit einer Schüssel und einem Becher darauf mit. Sie stellte es mir auf den Schoß. In der Schüssel erkannte ich Haferbrei mit Beeren und der Becher war erneut mit Tee gefüllt. „Wie fühlst du dich?“, fragte Kaya.

„Müde“, antwortete ich knapp und nahm den Löffel neben der Schale in die Hand, um damit im Brei herumzurühren.

Kaya entging die Geste nicht. „Magst du keinen Haferbrei?“

„Doch.“ Ich nahm einen Löffel. Eigentlich mochte ich Haferbrei wirklich. Mutter hatte ihn oft gekocht. Vielleicht schmeckte er mir genau deshalb diesen Morgen nicht.

„Hm… Fühlst du dich bereit, deine Schwester zu besuchen?“

Auf einmal war ich hellwach. „Darf ich denn?“

Kaya lächelte und nickte. „Wenn du möchtest, können wir nach dem Frühstück gemeinsam zu ihr gehen, Ich komme einfach gleich wieder, wenn du…“

„Warte!“, unterbrach ich sie und schaufelte plötzlich so schnell wie möglich den Haferbrei aus der Schale.

„Ganz in Ruhe. Verschluck dich nicht!“, mahnte Kaya. Doch da hatte ich mein Frühstück bereits verputzt.

„Fertig!“, sagte ich, nachdem ich auch den Tee ausgetrunken hatte. Ich stellte das Tablett auf den Tisch, schlug die Bettdecke zur Seite und sprang auf. Mir wurde schummrig.

Kaya umklammerte meinen Arm, als ich zur Seite taumelte, um mich zu stützen. „Nicht so hastig, junger Mann! Ich lasse dich nur zu deiner Schwester, wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein und auf dich zu achten.“

Ich nickte. „Entschuldigung.“

Sie begleitete mich hinaus. Mit nackten Füßen trat ich in weiches, tiefgrünes Gras. Vor mir erstreckte sich eine grüne Landschaft mit hohen Bäumen, in denen teilweise Baumhäuser hingen. Und zwar waren das keine gebauten Häuser. Sie waren in die Bäume hineingewachsen, bestanden aus ineinander verschlungenen Ästen und Zweigen. Inmitten der Baumschar ragte ein felsiger Berg zum Himmel empor. Es war der Feuerberg. Er war so hoch, dass man ihn sogar von der Stadt aus sehen konnte. Doch von hier aus wirkte er noch sehr viel imposanter. Ich war ein einziges Mal im Tal der Feuergeister gewesen. Mein Vater hatte mich mal mitgenommen. Da war ich drei Jahre alt gewesen. Ich konnte mich nicht wirklich daran erinnern.

Kaya führte mich an einer Reihe identisch aussehender Hütten vorbei. Am Ende der Reihe blieben wir stehen. Vorsichtig schob Kaya den roten Vorhang beiseite. „Hallo, Lilly. Ich habe Besuch mitgebracht.“

Kaya winkte mich heran. Unsicher betrat ich die Hütte. Erschrocken blieb ich im Eingang stehen, als ich das kleine Mädchen auf dem Bett sitzen sah. Sie starrte mich aus großen braunen Augen an. Ihre rechte Gesichtshälfte war eine einzige Wunde. Die Haut leuchtete teils rot, teils war sie weiß verfärbt. Und ihre Haare waren kürzer, als ich es in Erinnerung hatte.

„Bruder“, sagte sie leise.

Ich ging langsam zu ihr und setzte mich neben sie auf einen Hocker. Ich nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin da. Wir sind in Sicherheit.“

„Ist Cuinn auch hier?“, fragte Lilly hoffnungsvoll.

Ich antwortete nicht. Musste ich auch nicht. Lilly verstand mich auch ohne Worte.

„Wie geht es dir?“, fragte ich sie stattdessen.

„Besser als gestern“, sagte sie.

Doch den dunklen Farben, bis hin zu schwarz, die sie umgaben, konnte ich ablesen, dass das immer noch weit entfernt von gut war.

„Er ist weggelaufen“, murmelte Lilly so leise, dass ich mich anstrengen musste, um sie zu verstehen. „Ich war nicht schnell genug.“ Jetzt fing sie an zu schluchzen. Tränen rannen über ihr verbranntes Gesicht. „Ich musste ihn loslassen, weil ich nicht schnell genug war. Ich hätte ihm folgen müssen, aber ich habe es nicht geschafft.“

Vorsichtig rutschte ich von meinem Hocker auf ihre Bettkante und nahm sie in den Arm, wohl bedacht darauf, ihre Wunde nicht zu berühren. Etwas unbeholfen strich ich ihr über den Kopf, um sie zu trösten. Eigentlich hatte Cuinn das immer gemacht, wenn es Lilly nicht gut ging. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich der einzige große Bruder zu sein. „Mach dir keine Vorwürfe. Jetzt ist alles gut.“

„Glaubst du, er sucht nach uns?“, fragte Lilly und schniefte.

„Bestimmt tut er das“, versuchte ich, Lilly zu beruhigen. Ich hoffte es. Ich hoffte so sehr, dass er noch am Leben war und wir ihn wiedersehen würden.

Lilly und ich saßen eine ganze Weile so da, Arm in Arm. Bis Kaya uns unterbrach.

„So, ihr beiden. Ihr solltet euch wieder ausruhen. Doran, wenn du magst, kannst du heute Abend noch einmal nach deiner Schwester sehen. Wie klingt das?“

Langsam löste ich mich von Lilly und nickte Kaya zu. „Ja, gerne.“

„Ich will hier nicht alleine sein“, schluchzte Lilly. „Kann mein Bruder nicht bei mir bleiben?“

Kaya ließ ihren Blick von Lilly zu mir und von mir durch den Raum schweifen. „Unsere Hütten sind leider nur für ein Bett gemacht, aber wir könnten probieren, ob zwei hier…“

„Schon gut“, wandte ich ein. „Macht euch keine Umstände.“ Ich schaute zu Lilly. „Ich komme einfach heute Abend wieder.“

Lilly griff nach meiner Hand und hielt sie fest.

„Lilly“, seufzte ich. Ich spürte tatsächlich, dass ich mich selbst auch ausruhen musste. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. „Kannst du noch bis zwanzig zählen?“, fragte ich sie.

Sie legte den Kopf schief. „Ja. Eins, zwei, drei, vier, acht, ähm… sieben… nein, sechs…“

Ich lächelte sie ermutigend an. „Vier, fünf, sechs, sieben, acht… Mir scheint, du musst noch ein wenig üben. Wenn ich heute Abend wiederkomme, zählst du mir alle Zahlen bis zwanzig auf, in Ordnung? Ich weiß, dass du das kannst.“

Lilly nickte entschlossen. „Ja, bis heute Abend kann ich das, versprochen!“

„Prima.“ Als ich daraufhin aufstand, ließ sie endlich meine Hand los. Mir wurde etwas schwindelig beim Aufstehen. Vorsichtig tappte ich zu Kaya. Wir verabschiedeten uns von Lilly und gingen zurück in mein Zimmer, wo ich mich sofort erschöpft ins Bett verkroch.

„Du bist ein guter großer Bruder“, lobte Kaya mich, während sie die Decke ordentlich über meine Beine legte. „Es ist schön, dass du für deine kleine Schwester da bist.“

„Mhm…“, machte ich nur. Ein guter großer Bruder.

„Woran denkst du?“, fragte Kaya.

Ich schaute von meinen Beinen auf und blinzelte ein paarmal. „An meinen Bruder.“

Mitfühlend zog Kaya die Augenbrauen zusammen und setzte sich neben mich. „Du vermisst ihn sehr, oder?“

„Ja.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Aber ich bin auch wütend.“

„Warum?“

„Weil er versprochen hat, dass wir entkommen würden. Gemeinsam. Er hat versprochen, uns zu beschützen. Und dann ist er weggelaufen.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, dass meine Knöchel weiß wurden.

„Doran. Ich bin mir sicher, dass dein Bruder das nicht böse meinte. Er hatte sicher auch große Angst. Und wenn man Angst vor etwas hat, dann läuft man oft davor davon“, meinte Kaya.

„Ich wäre nicht ohne Cuinn und Lilly davongelaufen“, entgegnete ich matt.

Kaya legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das glaube ich dir. Und du darfst auch wütend sein. Aber zu viel Wut kann dich krank machen.“

„Und was kann ich gegen die Wut machen?“

„Was hast du denn bisher gemacht, wenn du wütend warst?“, wollte Kaya wissen.

„Wenn ich wütend auf Cuinn war, habe ich ihn entweder angeschrien oder ihn ignoriert. Aber das kann ich beides nicht tun, weil er nicht da ist.“

Kaya schmunzelte. „Da hast du recht. Aber weißt du, was du auch machen kannst, wenn er nicht da ist?“

„Was?“, fragte ich erwartungsvoll.

„Ihm verzeihen. Vergebung ist die beste Medizin gegen Wut.“

Vergebung? Wie sollte ich Cuinn verzeihen, dass er Lilly und mich verlassen hatte? Und überhaupt war es mir ein Rätsel, wie Vergebung gegen Wut helfen sollte.

Kaya schien zu merken, dass ich über ihre Worte nachgrübelte und erhob sich, um mich mit meinen Gedanken alleine zu lassen.

Ob Cuinn da draußen irgendwo durch den Wald lief? War er überhaupt wirklich entkommen? Ich zerbrach mir den ganzen Vormittag den Kopf darüber. Bis Kaya wieder mein Zimmer betrat. Die nächste Mahlzeit des Tages stand an. Es war öde, den ganzen Tag über nur von Mahlzeit zu Mahlzeit zu leben. Mein Mittagessen bestand aus Graupen und Gemüse.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Kaya, während sie meinen Becher mit Wasser füllte.

„Gut“, antwortete ich. Das stimmte sogar einigermaßen. Körperlich fühlte ich mich von Stunde zu Stunde besser.

„Möchtest du nach dem Essen die Gegend ein wenig erkunden? Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen. Natürlich nur so weit du es schaffst“, bot Kaya mir an.

„Ja!“, antwortete ich hastig. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Draußen durch das Grün zu streifen, klang nach einer guten Alternative zum Krankenbett.

„Notfall!“, hörte ich plötzlich jemanden von draußen schreien.

„Entschuldige mich, bitte.“ Kaya hatte die Worte kaum ausgesprochen, da war sie schon hinter dem Vorhang verschwunden.

Artig aß ich mein Mittagessen, Löffel für Löffel, obwohl es sich anfühlte, als hätte der Notruf Steine in meinen Magen gelegt. War womöglich Lilly etwas passiert?

Als Kaya wiederkam, hatte ich meine Schale leer gelöffelt. Die Pflegerin trug einen dunklen Farbschleier mit sich in den Raum. Ausnahmsweise waren es mal keine grellen Farben, die mir Kopfschmerzen bereiten. Eher war es der groteske Kontrast zwischen den dunklen Farben, die Kaya umgaben, und dem Lächeln, das sie im Gesicht trug.

„Wenn du möchtest, können wir jetzt spazieren gehen“, schlug sie vor.

Doch plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob sie den Spaziergang mir zuliebe machen wollte oder ihn selbst viel dringender brauchte. „Was ist passiert?“, fragte ich. Ich brachte die Worte kaum über die Lippen. Denn ich wusste längst, was geschehen war. Die Farben flüsterten mir zu.

„Es ist alles in Ordnung“, wich Kaya aus. „Hat das Essen geschmeckt?“ Sie nahm das Tablett von meinen Beinen und stellte es auf den Tisch neben dem Bett. Dann reichte sie mir eine Hand, um mir aufzuhelfen.

Ich nahm sie nicht, schaute sie stattdessen nur misstrauisch an. „Warum lügst du mich an? Mutter hat mir immer gesagt, man darf nicht lügen.“

Kaya lächelte mir müde zu. „Recht hat sie gehabt.“ Sie hockte sich neben mich und strich mir die braunen Strähnen aus dem Gesicht, die vor meinem goldenen Auge hingen. „Manchmal verwenden Leute aber kleine Notlügen, um es sich selbst oder anderen leichter zu machen.“ Sie betrachtete mein goldenes Auge. „Aber mir scheint, dass ich dir nichts vormachen kann, Seher.“ Ihr entfuhr ein tiefes Seufzen, während sie ihre Hand zurückzog und sich wieder aufrichtete. „Ich fürchte, deine Schwester und du seid nun die einzigen Halbblute, die übrig geblieben sind.“ Betrübt senkte sie den Blick. „Es tut mir leid.“

Mein Mund wurde trocken, als sie die Worte aussprach. Obwohl ich bereits gewusst hatte, dass sie soeben mit angesehen hatte, wie ein Halbblut seinen Verletzungen erlegen war. „Lilly und ich… sind die Einzigen?“

Kaya nickte.

Ich dachte an die vielen Kinder, die mit uns gemeinsam eingesperrt gewesen waren. Die mit uns gemeinsam gelitten hatten. Mit denen ich mich teilweise angefreundet hatte. Leon. Sie alle sollten… tot sein? Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Mir wurde schlecht.

„Komm, wir gehen spazieren.“ Kaya streckte erneut ihre Hand nach mir aus. Diesmal nahm ich sie zögerlich und ließ mich von ihr aus dem Bett ziehen. Ich folgte ihr hinaus in die grüne Landschaft. Die Aussicht beruhigte mich ein wenig. Ich spürte neugierige Blicke auf mir, während wir durch das Tal liefen. Wir trafen auf einige Feuergeister, die Kaya freundlich grüßten. Sie zeigte mir den Marktplatz, auf dem sich die Bewohner des Tales nur so tummelten. Am Stand eines Holzschnitzers blieb ich stehen. Bewundernd beobachtete ich, wie der Mann in seinem Standzelt auf einem Hocker saß, inmitten von Holzspänen, und mit einem Messer die detailreichsten Figuren schnitzte.

„Gefällt dir das?“, fragte Kaya.

Ich nickte. Mittlerweile erkannte ich, dass der Mann gerade eine Drachenfigur anfertigte, die etwa so groß wie seine Hand war. „Das möchte ich auch können.“

Der Mann hielt inne und schaute von seiner Arbeit auf. Obwohl er mich mit einem warmen Lächeln begrüßte, spannte ich mich unter seiner Aufmerksamkeit an. „Soll ich dir ein paar Handgriffe zeigen, Junge?“

Ich war überrascht von seinem Angebot. Unsicher schaute ich zu Kaya.

„Möchtest du?“, fragte sie.

Wieder nickte ich.

„Na, dann komm mal her.“ Der Mann winkte mich zu sich. Er erhob sich kurz, um das Kissen, auf dem er auf dem Hocker saß, hervorzuziehen und vor sich auf den Boden zu legen. „Setz dich nur.“

Ich tat, wie mir geheißen und machte es mir auf dem Kissen gemütlich.

„Was hältst du davon, wenn ich dich hier zum Abendessen wieder abhole?“, fragte Kaya.

Ich schielte zu dem Schnitzer. Denn ich war der Meinung, dass nicht ich das zu entscheiden hatte, sondern er.

„Meinetwegen kannst du so lange bleiben, wie du magst“, sagte er.

Kaya deutete mein daraufhin aufblitzendes Lächeln richtig: „Dann sehen wir uns später wieder, Doran.“

Ich schaute ihr nach, wie sie über den Markt zurück zu den Heilerhütten ging. Als ich mein Gesicht wieder dem Mann zuwandte, schwebte direkt vor meiner Nase ein Holzgriff. Er gehörte zu einem kleinen Schnitzmesser, das der Mann mir entgegenstreckte. Ich starrte unsicher darauf.

„Nimm nur! Ohne Messer gestaltet sich das Schnitzen schwierig“, lachte der Mann.

Ich legte meine Hand um den hölzernen Griff und nahm das Messer entgegen. Die Sonne ließ die scharfe Klinge aufblitzen. Ich dachte daran, dass diese Klinge nahezu wie ein Schmuckstück war: Rein und funkelnd wie ein Diamant.

„Doran ist also dein Name“, sagte der Mann ruhig.

Ich nickte.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Doran. Ich bin Bryos. Hast du schon einmal so ein Werkzeug in der Hand gehabt?“

Ich schaute wieder auf das Messer in meiner Hand. „Ich glaube, noch keines war so scharf wie dieses.“

Bryos lächelte. „Hier kommt deine erste Lektion: Ein guter Holzschnitzer kümmert sich gut um seine Messer. Eine gut geschärfte Klinge schneidet durch Holz wie Butter. Eine stumpfe Klinge bringt dem besten Schnitzkünstler nichts.“

Ich nickte.

Bryos deutete auf einen großen, robust aussehenden Sack, der neben ihm stand. „Such dir ein Stück Holz aus.“

Ich krabbelte zu dem Sack und wühlte darin herum. Bryos besaß Holzstücke in etlichen Formen und Größen. Ich entschied mich für ein nicht zu kleines, aber dennoch handliches, quaderförmiges Stück und setzte mich damit zurück auf mein Kissen.

„Gut. Halt das Messer so, siehst du?“ Er beugte sich zu mir und zeigte mir, wie sein Messer in seiner Hand lag. „So ist es gut. Und schneide von deinem Körper weg. Ich möchte dich nachher nicht mit neuen Wunden an Kaya übergeben. Hast du dir überlegt, was du schnitzen möchtest?“

Ich zeigte mit dem Finger auf einen Wolf, der auf dem Verkaufstisch stand. „Den finde ich schön.“

Bryos lachte. „Da hast du dir aber was vorgenommen. Vielleicht solltest du mit etwas Leichterem anfangen.“

Doch ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich möchte einen Wolf schnitzen.“

Bryos hob eine Augenbraue. „Na gut, wie du willst. Dann schnitzen wir jetzt zusammen einen Wolf.“ Er zeigte mir zunächst ein paar verschiedene Schnitztechniken. Dann ließ er mir die Freiheit, mich einfach auszuprobieren. „Aber ich will kein Gejammer hören, wenn dein Wolf Klumpfüße bekommt.“

Ich grinste. Ich mochte Bryos. Auch wenn er sich lustig über mich machte. Ich mochte die Farben, die ihn umgaben. Manche Wesen trugen ein grell leuchtendes Farbfeuer mit sich herum, dass es schmerzte, sie anzusehen. Bryos aber saß dort vor mir zwischen warmen Rot-, Orange- und Violetttönen, die allesamt weich und sanft waren, sodass ich mich mit jeder Minute wohler in seiner Nähe fühlte. Es war lange her, dass ich mich an einem Ort sicher gefühlt hatte. Doch hier tat ich das. Während ich das Messer durch das Holz gleiten ließ und Schicht für Schicht von meinem Holzklotz abtrug, vergaß ich alles um mich herum. Ich vergaß die Zeit, ich vergaß, dass ich nicht zu Hause war, ich vergaß, dass ich vor wenigen Tagen noch auf einem Scheiterhaufen gefesselt gewesen war und ich vergaß meine Wut auf meinen Bruder. Zwischendurch registrierte ich, wie Bryos seinen Platz verließ, um Interessenten zu begrüßen, zu beraten und seine Ware zu verkaufen. Aber in keiner Sekunde wandte ich meinen Blick vom Holz ab. Ich hatte den Wolf vor Augen. Ich konnte ihn ganz genau in diesem Stück Holz sehen. Den Kopf mit den spitzen Ohren, die Struktur des Fells auf seinem Körper. Ich wusste nicht, wie lange ich an meinem ersten Werk saß. Als ich glaubte, fertig zu sein, hielt ich die Holzfigur in der Hand und drehte sie hin und her, um sie von allen Seiten zu betrachten und auf noch vorhandene Mäkel zu untersuchen. Ich wurde unterbrochen, als Bryos mir die Figur aus der Hand nahm. Überrascht und etwas erschrocken schaute ich zu ihm auf.

Er studierte die Figur wie ich zuvor aus jedem Winkel. Dann sah er mich an. „Du hast ein gutes Auge. Und beachtliches handwerkliches Geschick.“ Er stellte meinen Wolf neben den, der noch immer auf dem Tisch stand. Hätte ich nicht gewusst, welcher meiner war und wären die Holzstücke nicht unterschiedlich gemasert gewesen, hätte ich sie nicht voneinander unterscheiden können.

„Und du hast wirklich noch nie geschnitzt?“, hakte Bryos noch mal nach.

„Nein, wirklich nicht“, schwor ich.

Bryos lächelte und gab mir den Wolf zurück. „Dann hast du meinen größten Respekt, mein Junge. Schau mal, Kaya erwartet dich.“ Er nickte zum Marktplatz.

Tatsächlich kam Kaya gerade auf uns zu. „Hallo Doran! Und hast du Spaß gehabt?“

„Schau mal, was ich gemacht habe!“ Stolz stand ich auf und streckte ihr den hölzernen Wolf entgegen.

Kayas Augen weiteten sich. „Den… hast du

DIE FARBEN DER NACHT

Ich saß mit Lilly zusammen auf ihrem Bett und löffelte Milchsuppe. Kaya hatte mir erzählt, dass Lilly die letzten Tage schlecht gegessen hatte. Also ermutigte ich meine Schwester nun zum Essen. Und auch wenn sie ihr Essen zunächst nur widerwillig beäugt hatte, nahm sie die Mahlzeit nun mit mir gemeinsam ein. Wir redeten und lachten, trotz aller Umstände. Ich ließ Lilly mehrmals von eins bis zwanzig und rückwärts zählen. Das Essen schien dabei in den Hintergrund zu rücken und nebenbei zu geschehen. Als Kaya unser Geschirr abräumte, flackerte ein zufriedenes helles Blau in ihrer Umgebung auf. Sie freute sich darüber, dass ich Lilly dazu gebracht hatte, aufzuessen.

„Tut das eigentlich sehr weh?“, fragte ich Lilly, sobald wir wieder alleine waren und deutete auf meine eigene rechte Gesichtshälfte.

Nicht nur Lillys Gesicht, sondern ihre gesamte Aura trübte sich. „Es geht“, antwortete sie. „Aber ich bin hässlich. Hoffentlich ist das bald wieder weg.“

Es fiel mir schwer, ihr aufmunternd zuzulächeln. Denn die trüben Farben offenbarten mir nicht nur ihre Gefühle, sie verrieten mir, dass die Verbrennungen in ihrem Gesicht Narben hinterlassen würden. Lillys Gesicht würde nie wieder wie früher aussehen. Darum sagte ich ihr auch nicht, dass die Wunde sicherlich bald verschwinden würde. „Für mich wirst du immer das schönste Mädchen sein. Schließlich bist du meine Schwester.“

Lilly begann zu strahlen. Mit ihrem Lächeln, mit ihren leuchtenden Augen und den sonnigen Tönen, die ihren Körper umhüllten. Dann mischte sich in ihr Lächeln eine verschmitzte Note. „Und wenn du dich verliebst?“

Ich zog eine Grimasse. „Ich verliebe mich nicht.“

Lilly kicherte. „Mama hat mal gesagt, wenn man in jemanden verliebt ist, wird derjenige zum schönsten Menschen auf der ganzen Welt.“

„Wer ist denn verliebt?“ Kaya hatte das Ende unseres Gesprächs mitbekommen.

„Niemand“, antwortete ich.

„So, so.“ Kaya zündete eine Öllampe auf dem Tisch an. Es war dunkel draußen geworden. „Schlafenszeit, ihr zwei. Doran, geh doch schon mal rüber. Ich schaue gleich noch einmal nach dir.“

Ich nickte und krabbelte vom Bett. „Gute Nacht, Schwesterherz. Träum schön.“

„Du auch.“ Lilly winkte mir zu, bevor ich den Vorhang beiseiteschob und hinaus in den späten Abend trat.

Ich schaute hinauf zum klaren Himmel. Die Sterne funkelten wie Diamanten und es fühlte sich an, als würden sie über mich und das gesamte Tal wachen. Während ich zu meiner Hütte tappte, begegnete ich einigen bunten Farbtupfern. Für mich wurde die Welt nie vollkommen dunkel. Solange es Lebewesen gab, schwirrte immer irgendwo ein farbenfrohes Licht, und wenn es nur eine Motte oder eine Mücke war. An manchen Abenden genoss ich es, die tanzenden Farben zu beobachten. An anderen wiederum nervten sie mich. Wie die Nacht wohl für andere Menschen aussah? Für normale Menschen? Es musste beruhigend sein, die Landschaft im Dunkeln zu durchstreifen. In absoluter Stille. Aber für mich war es nie still. Die Farben redeten unaufhörlich. Ich bekam nur meine Ruhe, wenn ich die Augen schloss. Doch selbst dann konnte ich manchmal nicht aufhören, über die verschiedenen Farbtöne nachzudenken.

Ich kroch in mein Bett und stellte den hölzernen Wolf auf meinem Nachttisch ab.

Es dauerte nicht lang, da kam Kaya zu mir. „So, Adlerauge…“

„Nenn mich nicht so!“, fuhr ich sie an.

Erschrocken blieb sie im Eingang stehen.

Scham erfüllte mich. Warum hatte ich sie so angegangen? Sie hatte mir doch gar nichts getan. „T… tut mir leid“, stammelte ich. „Es ist nur… Ich mag den Namen nicht.“