Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus - László F. Földényi - E-Book

Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus E-Book

László F. Földenyi

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Beschreibung

Wir wissen: Geschichte wird geschrieben von den Siegern. Aber nicht die Besiegten sind die Opfer der Geschichte. Denn schlimmer als besiegt zu sein, ist es, des Besiegtwerdens nicht wert zu sein. Die wahren Opfer der Geschichte sind die, deren Existenz uns nicht einmal bekannt ist. Ausgehend von der Schilderung Dostojewskis Verbannung in Sibirien richtet Földényi in diesem eleganten Essay voll leiser Sprengkraft den Blick auf den blinden Fleck der Geschichte. Seine Überlegungen lesen sich wie ein kritischer Kommentar zur Gegenwart: Was aber, wenn man sie zu Ende denkt? "László Földényi hat einen wunderbar intelligenten und stilistisch brillanten Essay verfasst, der sich zum Plädoyer für die Denkfreiheit weitet." Frankfurter Allgmeine Zeitung vom 7.04.2008

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László F. Földényi

Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki

Fröhliche Wissenschaft

Inhalt

Das Sibirien des Geistes. Vorwort

Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus

Anmerkungen

Alberto Manguel

Das Sibirien des Geistes. Vorwort

Die Entdeckung László Földényis verdanke ich Cees Nooteboom, der mich in seinen Briefen immer wieder vorwurfsvoll auf ihn hinwies. Er bestand darauf, dass ich ihn lesen solle und sandte mir eine spanische Übersetzung eines seiner Essays. Unter den vielen Wegen, die zur Lektüre eines Buchs führen (von denen alle etwas Geheimnisvolles an sich haben) findet sich einer, der über den Titel führt. Wir werden vielleicht nicht sofort von einem Buch angezogen, das sich »La divina comedia« nennt oder »Les contemplations«. Aber nur eine Seele aus Stein kann einem Titel wie »Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus« widerstehen. Ich begann sofort zu lesen, ohne Unterbrechung. Und dann eine weiteres Mal und schließlich glücklicherweise noch einmal. Der Inhalt übertrifft noch den großartigen Titel. Die völlige Unkenntnis des Ungarischen beschränkte meine Möglichkeit Földényi zu lesen auf einige wenige Texte, die ins Spanische oder Deutsche übersetzt waren. Sie reichten aus, um zu erkennen, dass es sich hier um einen brillanten, originären und scharfen Denker handelte, dessen philosophischen, geschichtlichen und ästhetischen Einsichten ich glücklich folgte. Seine Bücher über die Melancholie, Literatur und Kunst sind Meisterwerke.

Vor langer Zeit verschob Kopernikus’ Entdeckung die Vorstellung einer geozentristischen Welt an einen Ort, der seither immer weiter an den Rand des Universums geriet. Die Erkenntnis, dass wir Menschen kontingent sind, winzig, eine zufällige Ansammlung selbstreproduktiver Moleküle, berechtigt nicht wirklich zu großen Hoffnungen oder Ansprüchen. Und dennoch ist auch das, was Nicolà Chiaromonte den »nagenden Wurm des Bewusstseins« nannte, ein Teil unseres Seins, so dass, wie ephemer und unbedeutend wir auch sind, nichts als Teilchen eines Sternennebels, wir doch auch Spiegel sind, in denen sich alle Dinge, uns eingeschlossen, reflektieren. Dieser bescheidene Ruhm sollte uns genügen. Es ist uns aufgegeben, unsere Vergänglichkeit (und, in bescheidenem Ausmaß, die Vergänglichkeit des Universums mit uns) zu bezeugen: ein geduldiger und nutzloser Aufwand nahm seinen Anfang, als wir zuerst begannen, die Welt zu lesen. Was wir Geschichte nennen, sind die fortlaufenden Geschichten, die wir zu entziffern vorgeben, während wir sie in Wirklichkeit schreiben. Dostojewski war sich darüber völlig im Klaren, als er sagte, dass, sollte unser Glaube in die Unsterblichkeit zerstört sein, »alles erlaubt« sein würde. Wie die Geschichte muss auch die Unsterblichkeit nicht wahr sein, um an sie glauben zu können.

Seit ihren Ursprüngen besteht Geschichte aus von ihren Zeugen erzählten Geschichten, seien sie wahr oder erfunden. In Buch VIII der Odyssee lobt Odysseus den Barden, der vom Unglück der Griechen singt »als ob er dabei gewesen wäre oder es von jemandem gehört hätte, der dabei gewesen war«. Auf dieses »als ob« kommt es an: Geschichte ist die Erzählung von etwas, von dem wir behaupten es sei passiert, selbst wenn die Begründungen, mit denen wir unsere Zeugenschaft rechtfertigen, keiner Prüfung standhalten, so sehr wir uns auch bemühen. Jahrhunderte später, in einem staubigen deutschen Klassenzimmer, sollte Hegel die Erfindung dessen, was stattgefunden hat, in drei Kategorien einteilen: (1) Geschichte, die von den vermutlich direkten Zeugen geschrieben wurde (»ursprüngliche Geschichte«). (2) Geschichte, die über sich selbst nachdenkt (»reflektierende Geschichte«). (3) Geschichte als Philosophie (»philosophische Geschichte«), die schließlich in das mündet, was wir vereinbarungsgemäß »Welt-Geschichte« nennen, diese niemals endende Erzählung, die sich selbst miterzählt. Immanuel Kant hatte sich zuvor zwei unterschiedliche Konzepte unserer kollektiven Entwicklung ausgedacht: »Historie« als reine Nacherzählung von Daten und Fakten, und »Geschichte«, ein Nachdenken über diese Fakten und Daten – und sogar eine »a priori Geschichte«, die Chronik des vorausgesagten Verlaufs der bevorstehenden Ereignisse. Was für Hegel zählte, war das Verstehen (oder das vermeintliche Verstehen) des gesamten Laufs der Ereignisse als Ganzes, einschließlich des Flussbetts und seiner Beobachter am Ufer, und, um sich besser auf das Wesentliche konzentrieren zu können, schließt er bei der Betrachtung dieses gewaltigen Stroms die Augen vor seinen Seitenarmen, Überflutungsgebieten und Mündungen.

Földényi weist in einem wundervollen Einfall darauf hin, dass genau darin das Grauen liegt, das Dostojewski entdeckt: Die Geschichte, als deren Opfer er sich weiß, ignoriert seine Existenz, sein Leiden wird unbemerkt weitergehen, oder, noch schlimmer, sein Leiden dient keinem Zweck im Verlauf der Menschheitsgeschichte. Was Hegel vorschlägt, ist in Dostojewskis (und in Földényis) Augen, was Kafka später zu Max Brod sagen wird: »Es gibt unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.« Hegels Vorbehalt