Dr. Daniel 35 – Arztroman - Marie Francoise - E-Book

Dr. Daniel 35 – Arztroman E-Book

Marie Francoise

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Beschreibung

Dr. Daniel ist eine echte Erfolgsserie. Sie vereint medizinisch hochaktuelle Fälle und menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen – und einen Arzt, den man sich in seiner Güte und Herzlichkeit zum Freund wünscht.   »Du mußt hier endlich mal raus!«   Verena Seiler lauschte den Worten ihrer Freundin Dora Eichner nach. Genau das hatte sie sich selbst auch schon tausendmal gesagt. Raus aus dieser Wohnung, weg von München, von der Vergangenheit, von den Erinnerungen und – weg von Kurt!   »Hörst du überhaupt zu?«   Verena seufzte. »Ja, Dora, aber wo soll ich denn hin?«   »Komm mit mir nach Hawaii«, schlug Dora spontan vor. »Eine finanzielle Frage dürfte das für dich ja kaum sein.«   Damit hatte Dora vollkommen recht. Verena stammte aus recht wohlhabenden Verhältnissen; am Geld würde eine solche Reise also sicher nicht scheitern.   »Hawaii«, wiederholte sie dennoch gedehnt und dachte dabei unwillkürlich an Fotos vom total überfüllten Waikiki-Strand. »Ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist. Ich möchte einmal meine Ruhe haben.«   »Ja, damit du über Kurt nachgrübeln kannst.« Doras Stimme klang vorwurfsvoll. »Mensch, Verena, du bist auch keine siebzehn mehr. Hör auf, dich wie ein Teenager zu benehmen.«   »Das hat mit dem Alter gar nichts zu tun!« brauste Verena auf, und ihre blauen Augen sprühten dabei wahre Zornesblitze.   »Ich liebe Kurt… habe ihn geliebt«, verbesserte sie sich.   Aufmerksam betrachtete Dora ihre Freundin. Verena hatte alles, was sich Dora insgeheim wünschte: Charme, Intelligenz und gutes Aussehen. Ihr zartes, leicht gebräuntes Gesicht war von dichten goldblonden Locken umrahmt, die bis weit über ihren Rücken fielen. Die großen tiefblauen Augen blickten meistens verträumt in die Gegend, und um ihren sanft geschwungenen Mund lag ein Hauch von Melancholie, doch das wirkte sich eher vorteilhaft auf ihr Aussehen aus.   Wie schon so oft fragte sich Dora auch heute

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Dr. Daniel – 35 –

Sie wussten nichts von ihrer Schuld

Marie Francoise

  »Du mußt hier endlich mal raus!«

  Verena Seiler lauschte den Worten ihrer Freundin Dora Eichner nach. Genau das hatte sie sich selbst auch schon tausendmal gesagt. Raus aus dieser Wohnung, weg von München, von der Vergangenheit, von den Erinnerungen und – weg von Kurt!

  »Hörst du überhaupt zu?«

  Verena seufzte. »Ja, Dora, aber wo soll ich denn hin?«

  »Komm mit mir nach Hawaii«, schlug Dora spontan vor. »Eine finanzielle Frage dürfte das für dich ja kaum sein.«

  Damit hatte Dora vollkommen recht. Verena stammte aus recht wohlhabenden Verhältnissen; am Geld würde eine solche Reise also sicher nicht scheitern.

  »Hawaii«, wiederholte sie dennoch gedehnt und dachte dabei unwillkürlich an Fotos vom total überfüllten Waikiki-Strand. »Ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist. Ich möchte einmal meine Ruhe haben.«

  »Ja, damit du über Kurt nachgrübeln kannst.« Doras Stimme klang vorwurfsvoll. »Mensch, Verena, du bist auch keine siebzehn mehr. Hör auf, dich wie ein Teenager zu benehmen.«

  »Das hat mit dem Alter gar nichts zu tun!« brauste Verena auf, und ihre blauen Augen sprühten dabei wahre Zornesblitze.

  »Ich liebe Kurt… habe ihn geliebt«, verbesserte sie sich.

  Aufmerksam betrachtete Dora ihre Freundin. Verena hatte alles, was sich Dora insgeheim wünschte: Charme, Intelligenz und gutes Aussehen. Ihr zartes, leicht gebräuntes Gesicht war von dichten goldblonden Locken umrahmt, die bis weit über ihren Rücken fielen. Die großen tiefblauen Augen blickten meistens verträumt in die Gegend, und um ihren sanft geschwungenen Mund lag ein Hauch von Melancholie, doch das wirkte sich eher vorteilhaft auf ihr Aussehen aus.

  Wie schon so oft fragte sich Dora auch heute wieder, warum Verena ein solches Pech mit Männern hatte. Nun, vielleicht nahm sie jede Beziehung zu ernst. Verena hatte nicht Doras unbeschwerte Art.

  Mit ihren Sommersprossen auf dem Stupsnäschen und dem etwas zu dünnen dunklen Haar war Dora keine ausgesprochene Schönheit, aber sie war lieb und anschmiegsam. Sie kostete jede Beziehung zu einem Mann voll aus, machte keine Zukunftspläne, sondern lebte von heute auf morgen.

  »C’est la vie«, war ihr einziger Kommentar, wenn wieder einmal eine Beziehung zerbrach.

  Aber wahrscheinlich habe ich noch nie wirklich geliebt, dachte Dora, und das stimmte sie ein wenig melancholisch, doch dieser Anflug von Traurigkeit war nur von kurzer Dauer.

  »Verena, du sollst auf Hawaii ja keinen Mann aufreißen«, erklärte Dora endlich. »Du sollst dich ablenken, flirten und dein Selbstbewußtsein ein bißchen aufmöbeln. Vor allem aber sollst du dich erholen. Bitte, komm doch mit, sonst muß ich ja ganz allein fliegen.«

  Verena mußte Doras Dackelblick belächeln. Und im Grunde hatte die Freundin ja auch recht. Seit Kurt mit ihr – Verena – Schluß gemacht hatte, war sie wirklich kaum noch aus ihren vier Wänden herausgekommen. Sie hatte sich regelrecht verkrochen, sämtliche Kontakte abgebrochen, und der einzige Mensch, den sie in den letzten Wochen – abgesehen von Arbeitskollegen – gesehen hatte, war Dora gewesen.

  »Also gut«, stimmte sie schließlich zu. »Ich wollte dem kalten Winter dieses Jahr sowieso entfliehen.« Sie lächelte. »Wahrscheinlich wäre ich auf den Kanaren gelandet, aber bevor ich allein dorthin fliege, begleite ich dich lieber nach Hawaii.«

  »Prima!«

  Begeistert klatschte Dora in die Hände, ihr Gesicht strahlte vor Freude.

  »Eigentlich wollte ich ja mit Jürgen fliegen«, erzählte sie jetzt, »aber seit einer Woche ist Schluß zwischen uns.«

  »Wie kannst du das nur so leicht nehmen?« fragte Verena kopfschüttelnd.

  Ein Schulternzucken war Doras einzige Antwort.

*

  »Guten Morgen. Mein Name ist Nico Gerstner«, stellte sich der junge Mann in nahezu akzentfreiem Englisch vor.

  Betont langsam sah der Hotel-manager Alan Chambers von seinen Papieren auf und musterte den Dreiundzwanzigjährigen, der vor seinem Schreibtisch stand, dann lehnte er sich zurück, zündete sich gelassen eine Zigarette an und inhalierte mehrere Male tief, ehe er Nico mit einer lässigen Handbewegung Platz anbot.

  »Sie wurden mir schon angekündigt«, erklärte der Manager, dann sah er Nico mit scharfem Blick an. »Warum wollen Sie hier arbeiten?«

  »Ich habe in München eine Ausbildung als Hotelfachmann absolviert und möchte jetzt ein wenig Erfahrung in der Praxis sammeln.«

  Wieder betrachtete Alan Chambers Nico sehr eingehend. Er war ihm irgendwie unsympathisch, doch das hatte nichts zu bedeuten, denn Chambers fand jeden Menschen unsympathisch, der das hatte, was ihm fehlte – Jugend und Schönheit. Und Nico war nicht nur ein junger, sondern auch ein ausgesprochen gutaussehender Mann.

  Er brachte es zwar kaum auf mehr als einssiebzig, war aber schlank und sehnig, sein Körper wirkte muskulös und durchtrainiert. Das dichte schwarze Haar umrahmte ein gutgeschnittenes Gesicht, in dem die sanften rehbraunen Augen dominierten, und der gepflegte Schnauzbart ließ ihn ein wenig älter erscheinen, als er war.

  »Also gut, Herr Gerstner«, erklärte Alan Chambers wie beiläufig. »Sie können als Portier arbeiten.«

  Chambers hatte kaum ausgesprochen, da vertiefte er sich wieder in seine Schriftstücke, die wild verstreut auf seinem Schreibtisch lagen. Er machte den Eindruck eines schwer arbeitenden Managers, doch Nico verstand die Geste so, wie sie gemeint war. Chambers wollte seine Ruhe haben.

  Ein wenig befremdet drehte sich Nico um und verließ das Büro. So kalt und herzlos war er noch nie empfangen worden, und fast wünschte er, die drei Monate, die er hier würde arbeiten müssen, wären schon vorbei.

  »Na, wie findest du den Alten?«

  Der Portier Tom Chary stand grinsend vor Nico. Ein wenig hilflos zuckte der junge Mann die Schultern. Da gab Tom ihm einen sanften Stoß.

  »Nimm’s nicht so schwer, Junge. Der mag nur einen Menschen – sich selbst. Daran mußt du dich gewöhnen. Chambers wird dir den Aufenthalt hier schwermachen, aber das Personal hält felsenfest zusammen. Da stehen im Zweifelsfall alle hinter dir. Das weiß Chambers, und er weiß auch, daß er gegen diese Übermacht nichts ausrichten kann. Er hat’s schon versucht, aber ohne Erfolg. Und jetzt komm, Kollege.«

  Tom grinste wieder, und nun brachte auch Nico ein Lächeln zustande. Vielleicht würde der Aufenthalt hier doch nicht so schlimm werden, wie es anfangs noch ausgesehen hatte.

*

  »So, und jetzt nichts wie runter an den Strand!« erklärte Dora unternehmungslustig.

  Vor einer Stunde waren sie auf der Hawaii-Insel Oahu gelandet, und jetzt standen sie in dem Zimmer, das sie in den nächsten drei Wochen bewohnen würden.

  »Ich finde, wir sollten erst mal auspacken«, meinte Verena mit einem nachsichtigen Lächeln.

  Doch Dora winkte ab. »Ach was, das machen wir später. Ich muß jetzt einfach sofort ins Meer hüpfen! Bitte, Verena, komm doch mit.«

  Da konnte die Freundin nicht widerstehen.

  »Also schön«, stimmte sie zu. »Gehen wir erst mal baden.«

  Kurz darauf liefen die beiden mit je einem Handtuch bewaffnet am hoteleigenen Swimming-pool vorbei und erreichten kurz darauf den belebten Waikiki-Strand. Minuten später waren sie im Wasser und schwammen weit hinaus. Sie waren erstklassige Schwimmerinnen, denen auch verhältnismäßig hohe Wellen nicht viel anhaben konnten.

  »Na, nun bist du doch froh, daß du mitgekommen bist«, stellte Dora grinsend fest.

  »Stimmt«, antwortete Verena wahrheitsgemäß, dann blinzelte sie in die Sonne. »Nur die Zeitumstellung macht mir noch ein wenig zu schaffen.«

  »Daran wirst du dich schon gewöhnen«, entgegnete Dora. »Du wirst sehen, dieser Urlaub tut dir sicher gut.«

  Verena war versucht, ihr zu glauben. Schon im Flugzeug hatte sie sich so leicht und frei gefühlt, nicht mehr so bedrückt wie in ihrer Wohnung in München. Und die Sonne hier auf Oahu, das Meer, Doras gute Laune – das alles tat ihr wirklich gut.

  Verena ließ sich in den Sand fallen und sah zum strahlend blauen Himmel.

  »Ich glaube, du hast recht, Dora«, meinte sie.

  »Natürlich habe ich recht«, bekräftigte die Freundin. »Weißt du was, jetzt sind wir so toll erfrischt, da könnten wir eigentlich doch noch die Koffer auspacken.«

  »Du bist eine Kanone!« lachte Verena. Ja, sie lachte – und das zum ersten Mal seit Monaten.

*

  »Du bist wirklich ein echtes Sprachgenie«, erklärte Tom Chary bewundernd. Gerade hatte er ein Gespräch zwischen Nico und einer französischen Familie, die hier im Hotel abgestiegen war, mitbekommen.

  »Ach was«, murmelte Nico verlegen.

  Er hatte sich sein Leben lang für Sprachen interessiert, und er wußte auch, daß er tatsächlich eine ausgesprochene Begabung besaß, fremde Sprachen zu erlernen. Aus diesem Grund hatte er den Beruf eines Hotelfachmannes ergriffen. Und irgendwann…

  »Bist du eigentlich gebunden?« Toms Frage riß Nico aus seinen Gedanken. »Ich meine, hast du drüben in Deutschland eine feste Freundin?«

  Nico schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe andere Pläne. In den nächsten Jahren werde ich noch keine Zeit zum Heiraten haben.«

  Tom lachte. »Aber, Junge, wer spricht denn gleich vom Heiraten?«

  »Ich«, erwiderte Nico kurz, und als Tom einen Einwand machen wollte, hob er abwehrend die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, und ich kenne auch deine Einstellung gegenüber den Mäd-chen. Du bist hier der Hotelcasanova, das habe ich in den vergangenen zwei Monaten schon gemerkt.«

  »Aber daß du dabei bist, mir den Rang als bestaussehender Mann im Hotel abzulaufen, das hast du wohl noch nicht bemerkt.«

  Erstaunt sah Nico den jungen Portier an.

  »Jetzt bist du sprachlos, was?« Tom lachte. »Ich glaube, du weißt gar nicht, wie gut du aussiehst und wie sehr dich alle Mädchen anhimmeln.«

  »Mich?« fragte Nico entgeistert.

  »Ja, Nico, dich. Seit einer Woche hatte ich kein Rendezvous mehr, geschweige denn…« Tom deutete mit einem vielsagenden Blick an, was er meinte, aber Nico hätte ihn auch so verstanden. »Und stell dir vor, als ich mit der kleinen Schwedin von 412 letzte Woche aus war, da fragte sie mich doch tatsächlich nach dir. Damit war der Abend natürlich gelaufen. Mein ganzer Charme hat nichts genutzt. Die Kleine wollte nur dich.«

  Völlig fassungslos schüttelte Nico den Kopf.

  »Jeden Tag könntest du…«

  »Hör auf, Tom«, unterbrach Nico ihn heftiger, als er es eigentlich gewollt hatte. »Auf solche Bekanntschaften lege ich keinen Wert. Für mich ist Liebe mehr als nur ein Wort.«

*

  »Mann, bin ich jetzt satt«, stöhnte Dora.

  »Ich auch«, stimmte Verena zu, dann schlug sie vor: »Machen wir doch einen kleinen Strandspaziergang.«

  »O ja!« rief Dora begeistert. »Und nachher setzen wir uns dann noch auf die Hotelterrasse.«

  Daß das Doras eigentliches Ziel war, bemerkte Verena sehr rasch, denn der Sparziergang hätte kaum kürzer ausfallen können, da zog es Dora auch schon wieder zurück.

  »Du bist vergnügungssüchtig«, hielt Verena ihr lächelnd vor, doch wirklich böse war sie nicht. Im Grunde freute auch sie sich auf einen dieser tropisch-bunten Cocktails und auf die fremdartige Musik, die von einer hawaiianischen Band gespielt wurde.

  Zusammen traten sie auf die Terrasse und setzten sich an einen der freien Tische. Neugierig sah sich Dora um, betrachtete die anderen Hotelgäste und begann schon kurz darauf mit einem jungen Mann zu flirten, der mit seinem Freund an einem Nebentisch saß.

  »Der sieht doch unheimlich süß aus«, flüsterte sie Verena zu.

  »Du bist wirklich unmöglich«, gab ihre Freundin zurück. »Wir sind gerade ein paar Stunden hier, und du versuchst schon…«

  »Dürfen wir uns zu euch setzen?«

  Der Süße stand grinsend neben den beiden Mädchen und sein Freund war ihm dicht gefolgt.

  »Natürlich«, stimmte Dora bereitwillig zu.

  Mit wenigen Blicken hatte sie die Erscheinung der beiden Männer in sich aufgenommen. Der Süße war groß, schlank, hatte glattes blondes Haar und blaue Augen, die unternehmungslustig blitzten. Sein Freund war nur wenig kleiner als er, schwarzhaarig und dunkeläugig.

  Jetzt setzten sich die beiden jungen Männer, und der Blonde winkte sofort einem Ober.

  »Vier Mai-Tai«, bestellte er, dann wandte er sich an die beiden Mädchen. »Ich heiße Raimund, und das ist mein Freund Kurt.«

  Wie elektrisiert fuhr Verena hoch.

  »Entschuldigt mich bitte«, stammelte sie hastig, dann stürzte sie ins Hotel.

  Verblüfft sahen Raimund und Kurt ihr nach.

  »Was hat sie denn?« wollte Raimund wissen.

  Sekundenlang kämpfte Dora mit sich. Sollte sie nun die Wahrheit sagen oder doch besser eine Ausrede für Verena erfinden? Sie kannte die beiden Männer ja gar nicht. Trotzdem entschloß sich Dora spontan für die Wahrheit.

  »Verena hat Liebeskummer. Ihr Freund hat sie vor ein paar Wochen sitzenlassen, und – er hieß Kurt.«

  Raimund und sein Freund wechselten einen vielsagenden Blick. Ein trauriges Seelchen auf Hawaii, das war eigentlich das Letzte, was sie hier kennenlernen wollten.

  Langsamer Rückzug, signalisierte Raimund.

  Währenddessen war Verena zur Rezeption gelaufen.

  »329«, verlangte sie leise.

  In ihren großen Augen glitzerten Tränen, und mit einer Mischung aus Erstaunen und Besorgnis musterte sie der junge Portier.

  »Alles in Ordnung, gnädiges Fräulein?« fragte er in einem Deutsch, aus dem man den bayerischen Dialekt nur ganz schwach heraushörte. Verblüfft sah Verena den jungen Mann an, dann nickte sie knapp, griff hastig nach dem Schlüssel und lief die Treppe hinauf.

  Minuten später warf sie sich in ihrem Zimmer auf eines der beiden Betten und begann haltlos zu schluchzen. Die Hawaii-Inseln – das Paradies auf Erden. Was sollte sie hier? Sie hätte wissen müssen, daß das nicht das Richtige für sie war. Hawaii war etwas für Verliebte oder aber für so unbeschwerte Mädchen wie Dora. Sie würde sich hier bestimmt amüsieren, und sekundenlang wünschte sich Verena, daß sie ein bißchen so sein könnte wie ihre Freundin. Dora nahm alles so leicht – das Leben, die Liebe…

  Wenn ich das doch auch könnte, dachte Verena verzweifelt.

  Nur langsam wurde sie wieder ruhiger. Das heftige Schluchzen verebbte, die Tränen liefen nicht mehr unaufhörlich über ihr zartes Gesicht.

  Entschlossen stand Verena auf, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, dann trat sie auf den kleinen Balkon. Ohne große Anstrengung konnte sie ihre Freundin beobachten, die sich mit den beiden jungen Männern amüsierte. Im Moment tanzte sie fröhlich und ausgelassen mit dem blonden Raimund, und wieder fühlte Verena etwas wie Neid aufsteigen. Natürlich gönnte sie Dora diese Verliebtheit und einen glücklichen Urlaub von Herzen, aber sie wünschte auch, daß sie etwas von Doras Leichtlebigkeit und Unbeschwertheit haben könnte.

  Jetzt verließen Dora und Raimund Hand in Hand die Tanzfläche. Die Musik schwieg für kurze Zeit. Fröhliches Geplauder und ausgelassenenes Lachen drangen zu Verena herauf. Traurig wandte sie sich um, ging in ihr Zimmer zurück und zog sich aus, dann legte sie sich wieder auf das Bett. Sie schloß die Augen, aber an Schlaf war nicht zu denken. Zuviel schwierte ihr im Kopf herum.

  Irgendwann in der Nacht schlich Dora ins Zimmer. Verena hörte sie zwar, stellte sich aber schlafend. Mit einem wohligen Seufzer rollte sich Dora auf dem anderen Bett zusammen und war schon bald darauf eingeschlafen.

  Hätte ich diesem Urlaub nur nie zugestimmt, dachte Verena, und eine entsetzliche Traurigkeit überfiel sie, die ihr wieder die Tränen in die Augen trieb. Ganz fest preßte sie ihr Gesicht in das Kopfkissen, damit Dora ihr herzzerreißendes Schluchzen nicht mitbekam.

*

  »Verena Seiler«, stand in flüssiger Schrift auf dem Anmeldeformular.

  »Verena Seiler.«

  Sehr langsam und deutlich sprach Nico den Namen aus, und dabei sah er wieder dieses zarte Gesicht vor sich, die großen tiefblauen Augen, in denen Tränen geglitzert hatten. Tränenfeuchte Augen im Urlaub – so etwas hatte Nico noch nie gesehen, und er fragte sich, was die junge Frau wohl so sehr bedrücken mochte, daß sie im Urlaub weinte.

  »Verena Seiler.«

  Unbemerkt war Tom hinter ihn getreten, hatte ihm über die Schulter gesehen und den Namen ausgesprochen. Nico erschrak zutiefst und errötete.

  »Oho«, grinste Tom. »Der Eisblock taut allmählich.«

  »Unsinn«, widersprach Nico ein wenig zu heftig.

  »Gib’s zu, du bist verliebt«, bohrte Tom weiter.

  Nico gab nicht sofort Antwort – vor allem, weil er die Antwort selbst nicht so genau wußte. War

er wirklich verliebt? Ausschließen konnte er es jedenfalls nicht, aber das mußte Tom ja nicht unbedingt erfahren.

  »Sie hatte Tränen in den Augen«, wich er daher aus.

  Tom seufzte und hob theatralisch beide Hände. »O Gott, Nico, an dir ist ein Dichter verlorengegangen.« Dann schüttelte er den Kopf. »Sei realistisch, Junge, das war bestimmt der Alkohol.«

  »Unsinn!« brauste Nico auf. »Ich bin doch kein Idiot, Tom! Ich kann Traurigkeit von Alkohol unterscheiden, verlaß dich darauf! Dieses Mädchen hat Probleme! Und nun laß mich bitte in Ruhe!«

  Ein wenig erschrocken wich Tom zurück. Nico schien wirklich wütend zu sein. Die buschigen Brauen zogen sich bedrohlich zusammen, die sanften braunen Augen wurden fast schwarz und funkelten dabei gefährlich.