Dr. Stefan Frank Großband 17 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 17 E-Book

Stefan Frank

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2360 bis 2369 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1207

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 17

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covermotiv: © shutterstock/Konstantin Chagin

ISBN: 978-3-7517-2957-4

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 17

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2360

Lass uns mit dem Feuer spielen …

Dr. Stefan Frank 2361

Eine Praktikantin für Dr. Frank

Dr. Stefan Frank 2362

Unsere goldenen Zeiten – aus und vorbei?

Dr. Stefan Frank 2363

Heute heirate ich den falschen Mann

Dr. Stefan Frank 2364

Mein einziger Freund bist du

Dr. Stefan Frank 2365

Trügerisches Familienglück

Dr. Stefan Frank 2366

Nur in mir selbst ruht mein Glück

Dr. Stefan Frank 2367

Bleibst du bei mir, Dr. Frank?

Dr. Stefan Frank 2368

Als ein Spaziergang zum Notfall wurde

Dr. Stefan Frank 2369

Holen Sie mein Kind ins Leben, Dr. Frank

Guide

Start Reading

Contents

Lass uns mit dem Feuer spielen …

Es war nur als Affäre geplant, doch dann erwachten die Gefühle

P auline kann es nicht fassen, als bei dem Klassentreffen plötzlich Fernando vor ihr steht. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, waren sie gerade elf Jahre alt. Damals hat er ihr im verborgenen Dickicht eines goldgelben Rapsfeldes einen ersten unschuldigen Kuss gegeben, den Pauline nie vergessen hat.

Siebzehn Jahre haben sie sich seitdem nicht gesehen, denn Fernando musste kurz darauf mit seinen Eltern nach Kiel umziehen. Und nun steht er plötzlich vor ihr!

Paulines Herz schlägt ihr bis zum Hals, sie fühlt sich von dem attraktiven Mann magisch angezogen. Als er sie darum bittet, mit ihr Essen zu gehen, kann sie gar nicht anders, als Ja zu sagen. Ihrem Freund Benedikt erzählt sie davon jedoch nichts. Fernando ist mittlerweile sowieso verheiratet und hat zwei Kinder – was kann ein gemeinsames Abendessen also schon bedeuten?

Doch es bleibt nicht bei diesem Abendessen. Dr. Frank wird besorgt Zeuge, wie die junge Frau mit ihrem ehemaligen Schwarm in einem Hotel verschwindet. Der Grünwalder Arzt macht sich Sorgen um die Beziehung von Pauline und ihrem Freund Benedikt. Beide leiden an Multipler Sklerose und sind Stammpatienten in seiner Praxis. Er findet, dass die zwei ein bezauberndes Paar abgeben, aber Pauline gesteht ihrem Arzt, dass Fernando ungeahnte Gefühle in ihr weckt und dass sie dieser Leidenschaft nachgeben will. Mehr als eine harmlose Affäre wird daraus schon nicht entstehen …

Pauline Schaad ließ lauwarmes Wasser über ihre Hände fließen, und die flüssige Seife verwandelte sich in luftigen Schaum. Von dem Glas Sekt war ihr angenehm schwindelig, und die Aufregung hatte eine sanfte Röte in ihr sonst so blasses Gesicht gezaubert.

Ja, der Abend war einfach nur perfekt, und die junge Kosmetikerin hatte sich lediglich rasch auf die Damentoilette zurückgezogen, um sich ein wenig frisch zu machen.

Es war das erste Klassentreffen ihrer alten Grundschule, und die Achtundzwanzigjährige war erstaunt, wie sehr sie das Wiedersehen mit den ehemaligen Mitschülern genoss.

Den meisten von ihnen war sie seit gefühlten Lichtjahren nicht mehr begegnet. Nach der vierten Klasse hatten etliche von ihnen aufs Gymnasium gewechselt, ein Teil der Klasse war auf die Realschule gegangen, ein anderer auf die Hauptschule.

Die ein oder andere Schulfreundin hatte Pauline auch noch während ihrer Berufsausbildung getroffen. Aber im Lauf der Zeit hatte man sich auseinandergelebt, und inzwischen gab es in Paulines Alltag sowieso ganz andere Themen. Die Schulzeit lag eine gefühlte Ewigkeit zurück, und der Ernst des Lebens hatte Einzug gehalten.

Vor drei Jahren war bei der hübschen und lebenslustigen jungen Frau Multiple Sklerose diagnostiziert worden, und das hatte von heute auf morgen alles auf den Kopf gestellt. Die Erkenntnis, dass sie an einer lebensbedrohenden, unheilbaren Erkrankung des zentralen Nervensystems litt, hatte Pauline jegliche Unbeschwertheit und Sorglosigkeit genommen.

Es hatte mit einem sehr schweren Schub begonnen, drei Wochen lang war Pauline damals im Krankenhaus behandelt worden. Inzwischen ging es ihr zum Glück wieder verhältnismäßig gut. Sie konnte ihren Job im Beautysalon eines Hotels zur vollsten Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten ausüben und war seit einem Jahr außerdem mit einem großartigen Partner zusammen.

Benedikts und ihr Weg hatten sich gekreuzt, weil Benedikt das gleiche traurige Schicksal mit Pauline teilte. Auch er litt an Multipler Sklerose, wenn auch mit einem weitaus schlimmeren Verlauf als bei ihr.

Während es bei Pauline seit dem ersten Aufflackern der Krankheit zu keinem vergleichbar schweren Schub mehr gekommen war, hatte Benedikt bereits mehrere dramatische Schübe durchlaufen. Sie beide hatten sich über das Selbsthilfe-Forum kennengelernt, das Pauline wenige Monate nach ihrem erschütternden Befund gegründet hatte.

Sie hatte damals kein Interesse gehabt, den Schutzraum ihres kleinen Grünwalder Appartements zu verlassen und zu einer der Münchner Selbsthilfegruppen zu gehen. Nein, in der Zeit ihrer Krankschreibung war Paulines Welt vor allem das Internet gewesen. Sie hatte eine virtuelle MS-Gruppe gegründet, die sich vor allem an jüngere Betroffene richtete, und wo sich Mitglieder online austauschen konnten.

Die Teilnehmer gaben einander Buchtipps, empfahlen sich gegenseitig fähige Ärzte, berichteten über neue Behandlungsmethoden oder tauschten sich einfach nur über ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen aus. Einmal im Jahr gab es ein Mitgliedertreffen, bei dem sich die Teilnehmer des Forums persönlich kennenlernen konnten. Bei exakt dieser Gelegenheit war Pauline vor einem Jahr Benedikt begegnet.

Der charmante und witzige Radiosprecher war alleine zum Jahrestreffen der Gruppe gekommen, und es hatte auf Anhieb zwischen ihm und Pauline Schaad gefunkt. In der Folgezeit hatten sie sich ein paarmal fürs Kino und zum Abendessen verabredet, und irgendwann hatte Benedikt Pauline dann endlich seine Liebe gestanden.

Da sie sich ebenfalls vom Fleck weg in den Mann mit den rotblonden Locken und der unfassbar eindringlichen Stimme verliebt hatte, hatte Pauline das Geständnis unsagbar glücklich aufgenommen.

Inzwischen waren sie beide ein vertrautes Paar, und Benedikt unterstützte Pauline mit allen Kräften bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Pauline wiederum hing Tag und Nacht am Radio, in der Hoffnung, einen Beitrag ihres Liebsten zu hören. Denn regelmäßig sprach Benedikt Hörspiele ein oder moderierte seine eigene Talkshow.

Ja, ihre Beziehung hatte sich in Windeseile zu einer sehr ernsten Angelegenheit entwickelt, und nie zuvor hatte sich die junge Kosmetikerin in einer Partnerschaft derart geborgen und geliebt gefühlt. All ihre bisherigen Beziehungen kamen ihr im Rückblick kindisch und unreif vor. Der Kontakt zu Benedikt besaß eine Tiefe und Ernsthaftigkeit, die Pauline sich niemals zuvor hatte vorstellen können.

Umgekehrt schien es genauso zu sein, denn Benedikt sprach in letzter Zeit immer mal wieder das Thema „Zusammenleben“ an. Mit seinen dreißig Jahren hatte er sich bislang erfolgreich geweigert, seine kleine, hübsche Einzimmerwohnung in der Nähe des Münchner Marienplatzes aufzugeben.

Für Pauline war er bereit, diesen Schritt zu tun, und wie es aussah, würden sie sich wirklich demnächst eine gemeinsame Wohnung suchen.

Wenn Paulines Verdacht stimmte, würde Benedikt ihr außerdem bald einen Heiratsantrag machen. Sie hatte bei ihrem letzten Besuch in seiner Wohnung unbeabsichtigt eine kleine Schatulle mit einem wunderschönen Ring entdeckt. Und sie hegte keinen Zweifel daran, dass dies ihr Verlobungsring werden würde.

Ja … Pauline schien trotz ihrer schweren Krankheit vom Glück verfolgt. Und sie freute sich darauf, zu Benedikts Antrag begeistert Ja zu sagen.

Sie drehte den Wasserhahn wieder zu und kehrte endlich zurück zu der Feiergesellschaft.

Irgendetwas war während ihrer kurzen Abwesenheit passiert, denn es erwartete Pauline eine spürbar aufgeregte Stimmung.

„… wirklich eine Überraschung!“, hörte die junge Frau eine pausbäckige Klassenkollegin flüstern.

„Damit hätte ja wohl niemand gerechnet! Und dann sieht der auch noch so blendend aus!“, erwiderte ein Schulkollege, der seit ihrer letzten Begegnung eine Halbglatze bekommen hatte.

Pauline drängte sich durch die aufgelöst tuschelnden Grüppchen und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Für einen Moment stand die Welt um sie herum still. Die Wortfetzen drangen nicht mehr zu ihr vor, die Musik im Hintergrund verebbte. Sie vernahm keine einzige Bewegung im Raum, als wären alle plötzlich zu Stein erstarrt.

Alle Aufmerksamkeit von Pauline war auf einen einzigen Menschen gerichtet. Denn in der Mitte des Festsaals stand Fernando.

Pauline hatte den vorlauten und abenteuerlustigen Fernando zum letzten Mal an ihrem elften Geburtstag gesehen. Aber sie hatte keinen Zweifel: Er war es! Fernando, ihre erste große Liebe! Fernando, mit dem sie damals im Zeltlager gewesen war und der ihr versteckt im blühenden Rapsfeld einen ersten unschuldigen Kuss gegeben hatte.

Noch heute, siebzehn Jahre später, spürte sie den sanften Druck seiner Lippen auf ihren. Sie roch das duftende, goldgelbe Feld. Und sie vernahm das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf ihrem Nacken. Sie war damals wie benommen zurück zu den anderen Ferienkindern getaumelt und hatte ihr Herz für immer an den draufgängerischen Jungen mit den tiefbraunen Augen verloren.

Nach den Sommerferien war Fernando mit seinen Eltern nach Kiel gezogen, und seitdem hatte Pauline nie mehr etwas von ihrer ersten großen Liebe gehört.

Aber gedacht hatte sie an ihn, wieder und wieder. Pauline hatte sich immer wieder ausgemalt, zu welchem Typ Mann der dunkelhaarige Junge mit dem glutäugigen Blick wohl herangewachsen war. Sie hatte sich gefragt, ob er inzwischen geheiratet hatte oder vielleicht sogar Familienvater war. Sie hatte überlegt, ob er hin und wieder an sie und diesen ersten, verstohlenen Kuss im Rapsfeld dachte.

Und nun stand er auf einmal vor ihr, als hätte der Himmel ihn geschickt. Er stand da, in lässige Designer-Jeans gekleidet, ein ledernes Armband um das Handgelenk, das dichte dunkelbraune Haar modisch nach hinten gestrichen. Sein weißes Hemd war aufgeknöpft, und man konnte einen durchtrainierten Körper darunter erahnen.

Pauline war wie hypnotisiert. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Die Stimme versagte ihr, ihre Augen waren ungläubig auf Fernando gerichtet.

Endlich hob er seinen Kopf, und ihre Blicke bohrten sich ineinander. Ein angedeutetes Lächeln entstand in seinem schönen Gesicht. Es war der Anflug eines plötzlichen Wiedererkennens.

Er beendete das Gespräch mit seinem ehemaligen Lehrer und trat Pauline langsam gegenüber.

„So sieht man sich wieder …“, murmelte er, als wären seit ihrem unschuldigen Kuss nicht fast zwei Jahrzehnte ins Land gestrichen.

„Ja, so sieht man sich wieder …“ Paulines Stimme klang stockend und rau. Sie konnte ihren Blick nicht von Fernando lösen.

„Paula, oder?“, fragte der alte Schulkamerad. Freundschaftlich zog er Pauline zur Begrüßung an sich. Für einen Augenblick raubte der Duft seines herben Parfüms ihr den Atem. Sie spürte den muskulösen Oberkörper an ihren gepresst. Die Hand, die auf ihrer Schulter lag, übte einen sanften Druck aus, der ein Feuerwerk an Empfindungen durch Paulines Körper schickte.

Sie löste sich benommen aus der Umarmung und versuchte, sich ihre Verwirrung und Aufgeregtheit nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Sie hatte schließlich einen Freund! Sie hatte einen Freund, der ihr sicherlich bald die Frage aller Fragen stellen würde. Und Fernando selbst war bestimmt ebenfalls längst vergeben. Ein Mann wie er blieb definitiv nicht allein.

„Pauline …“, verbesserte die Kosmetikerin endlich. Sie fand es nicht schlimm, dass Fernando sich falsch an ihren Namen erinnerte. Solche Kleinigkeiten zählten doch nicht. Was zählte, war die Erinnerung an ihre Geschichte. Eine süße, rauschhafte Erinnerung an einen zärtlichen Kuss und eine Liebe, die vorzeitig beendet worden war, weil die Eltern andere Pläne für ihren Sohn gehabt hatten.

Wie sehr hatte Pauline damals geweint! Sie hatte den Verlust ihrer ersten großen Liebe überhaupt nicht fassen können.

„Natürlich …“ Fernando klang eindringlich und ein wenig verwegen. „Pauline … Wie konnte ich das nur vergessen?“ Einen Moment lang sagte keiner von beiden etwas. Sie standen sich lediglich gegenüber, in den Anblick des jeweils anderen versunken. „Du siehst unglaublich gut aus …“, durchbrach Fernando schließlich das Schweigen. „Aber schon damals zu Schulzeiten warst du unfassbar hübsch!“

Pauline errötete. Es gefiel ihr, dass Fernando so offensichtlich mit ihr flirtete. So war er schon früher als Junge gewesen. Er hatte hemmungslos allen Mädchen schöne Augen gemacht und großzügig mit Komplimenten um sich geschmissen. Aber Pauline hatte er ernsthaft geliebt, da war sich die junge Frau absolut sicher.

„Wie es scheint, ist es dir in der Zwischenzeit sehr gut ergangen …“, fuhr Fernando fort. Sein Blick wanderte über Paulines Hand, an der kein Ring auf eine feste Bindung hindeutete. Auch Paulines Blick streifte Fernandos Hand. Er trug einen goldenen Ehering am Finger.

„Ja … nein. Ich meine …“ Eine sonderbare Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung stieg in ihr auf. Wie schaffte es dieser Mann, sie derart aus der Fassung zu bringen? Er seinerseits schien ihre Verwirrung durchaus zu spüren, denn er betrachtete sie amüsiert.

Pauline gab sich alle Mühe, sich zusammenzureißen.

„Ja, mir ist es sehr gut ergangen!“, gab sie endlich eine vernünftige Antwort. „Ich habe nach der Schule eine Ausbildung zur Kosmetikerin gemacht. Seit fünf Jahren arbeite ich im Schönheitssalon eines großen Hotels. Nicht hier in München, sondern auf dem Land, Richtung Erding.“

„Kosmetikerin? Bestimmt siehst du auch ungeschminkt umwerfend aus!“, nahm Fernando den Flirt sofort wieder auf und schenkte ihr ein eindringliches Lächeln. Sein Blick wanderte über die Träger ihres Sommerkleids und blieb sehnsüchtig auf der sanften Erhebung ihres Schlüsselbeins haften.

Pauline hatte das Gefühl, als würde er sie mit seinem Blick sanft entkleiden. Aber nicht auf eine plumpe Art. Seine Augen verrieten tiefes Begehren. Paulines Beine fühlten sich an wie Pudding. Sie bekam eine Gänsehaut und zuckte unwillkürlich zusammen. Die Luft zwischen ihnen beiden brannte.

Peggy, eine pausbäckige ehemalige Mitschülerin, trat zwischen sie.

„Na, ihr zwei Turteltauben! Ihr wart doch damals schon ein eingeschworenes Team, oder? Wie es scheint, konnte die Zeit eurer damaligen Vertrautheit nichts anhaben!“ Sie lachte schallend auf. Freundlich fielen Pauline und Fernando in das Gelächter mit ein, aber immer noch konnten sie die Augen nicht voneinander lösen.

Später gingen sie gemeinsam an die Bar, und Fernando spendierte ihr einen Wodka-Campari. Es fühlte sich seltsam an, dass sie zwei auf einmal erwachsen waren.

Sie redeten lange über ihre Berufe, Fernandos Zeit in Kiel und seine Rückkehr nach München.

Pauline sparte ihren Freund Benedikt bis auf wenige Sätze aus ihren Erzählungen aus, und Fernando sprach ebenfalls nur ansatzweise von der Ehefrau und den zwei Kindern. Auch das Thema „Multiple Sklerose“ schnitt Pauline nicht an. Sie wollte nicht, dass Fernando Mitleid mit ihr und ihrem Schicksal hatte.

Als sich die letzten Gäste nachts um halb drei auf den Heimweg machten, tauschten Pauline und Fernando Telefonnummern aus.

„Wir sollten mal in aller Ruhe zusammen Essen gehen!“, sagte Fernando zum Abschied.

„Ja!“, beteuerte Pauline. „Das sollten wir!“

***

Dr. Frank lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte das ihm gegenübersitzende Pärchen lächelnd. Er mochte Tilda und Franz Prasch, die seit vielen Jahren treue Patienten waren. Obwohl die Eheleute schon längst nicht mehr in Grünwald wohnten, kamen sie immer wieder in seiner Praxis vorbei. Und Dr. Frank beobachtete den Lebensweg der beiden Rentner mit großem Interesse.

„Sie wissen ja, dass mein Mann immer leicht kränklich ist …“, sagte Tilda liebevoll-spöttisch. „Wenn es nicht die Zähne sind, dann ist es eben die Dauererkältung!“

„Tilda!“ Kopfschüttelnd sah Franz seine Ehefrau an. „Ich bin ernsthaft krank. Das kannst du doch nicht abstreiten, oder?“

Ein sanftes Lächeln umspielte das Gesicht der Sechsundsechzigjährigen. Sie war es gewohnt, dass ihr Mann zahlreiche Beschwerden hatte. Und sie war es gewohnt, dass er hoffnungslos übertrieb. Also war sie mit dem eingebildeten Kranken heute Vormittag nach Grünwald gefahren. Dr. Frank hatte Franz ausgiebig untersucht.

„Ihr Hals ist tatsächlich etwas gerötet“, bestätigte Dr. Frank einlenkend. Franz litt wirklich an einer leichten Erkältung, aber es gab wenig, was der Grünwalder Arzt für ihn tun konnte. Er sah den ehemaligen Maschinenbauer also aufmunternd an. „Genießen Sie den herrlichen Sommer in Ihrem schönen großen Garten!“, empfahl er ihm. „Die Erkältung wird sich ganz von alleine wieder vom Acker machen!“

„Erkältung?“ Franz klang empört. „Sie wollten sicherlich Lungenentzündung sagen!“

Tilda und Dr. Frank wechselten einen raschen Blick und konnten sich beide ein Lächeln nicht verkneifen.

„Sie wissen, dass ich viel von Ihnen halte!“, beschwerte sich der stämmige Mann. „Aber dass Sie mich nun ohne Rezept wegschicken wollen, das ist die Höhe!“

Nun musste Tilda doch lachen.

„Franz, du tust gerade so, als würde dich unser Doktor sterbenskrank nach Hause schicken. Aber Dr. Frank hat recht. Lass uns wieder heim in unser gemütliches Haus und den wunderbaren Garten fahren. Und um deinen Genesungsprozess zu beschleunigen, rühre ich dir später ein paar Bachblüten an.“

Kopfschüttelnd wandte sich Franz an seinen Arzt.

„Hören Sie das, Dr. Frank? Sie will mich ernsthaft mit Bachblüten therapieren! Erst wird mein Zustand völlig verharmlost, und jetzt soll eine ausgewachsene Lungenentzündung allen Ernstes mit irgendwelchen Natur-Mittelchen behandelt werden? Dr. Frank, sagen Sie doch endlich was! Retten sie einen Patienten vor einer Kräuterhexe!“

Dr. Frank schmunzelte. So regelmäßig Franz Patient in seiner Praxis war, so sehr weigerte sich seine Frau Tilda, sich schulmedizinisch beraten zu lassen. Seit langer Zeit beschäftigte sie sich mit Heilstoffen aus der Natur und setzte sich mit Bachblüten, Globuli und Kräutertees auseinander.

Sie war auch esoterisch sehr interessiert und glaubte an Schutzengel und die Macht von heilenden Steinen. Das war ein Thema, über das Dr. Frank und sie sich häufig austauschten und mitunter heftig diskutierten.

Dr. Frank war durchaus aufgeschlossen, was den Einsatz von alternativen Heilmethoden betraf. Aber die langen Berufsjahre hatten ihn auch gelehrt, dass es Fälle gab, in denen eine konventionelle Behandlung überlebenswichtig war und bei denen weder Kräutertees noch Rosenquarz Besserung brachten.

Allerdings hing Franz’ Leben nicht am seidenen Faden, und der Grünwalder Arzt hatte nichts gegen die ärztliche Konkurrenz in Gestalt von Tilda einzuwenden.

„Ich vertraue Ihrer Frau voll und ganz!“, sagte er nun also zu Tildas Überraschung. „Lassen Sie sich auf die liebevolle Behandlung Ihrer Frau ein, und warten Sie geduldig ab, bis die Erkältung verschwindet. Schaden können Bachblüten sicherlich nicht, und ich möchte Ihnen ungern Tabletten verschreiben.“

Erleichtert griff Tilda nach Franz’ Hand und drückte sie zärtlich. Aber Franz entzog sich der Berührung seiner Frau sichtlich genervt und starrte missmutig auf die Tischplatte vor sich.

„Kann ich sonst noch etwas …“ Dr. Frank wollte den Satz zu Ende sprechen, aber unvermittelt stand Franz auf. Der selbstmitleidige Patient schüttelte stur den Kopf und verschwand mit einem gemurmelten Abschiedswort hinaus ins Freie.

Verwirrt sah Dr. Frank seinem Stammpatienten hinterher.

„Oh, wie es scheint, habe ich unseren eingebildeten Kranken diesmal ernsthaft beleidigt!“, sorgte er sich.

Aber Tilda Prasch schüttelte beruhigend den Kopf.

„Nehmen Sie es nicht persönlich, Dr. Frank. Es gibt gerade einen kleinen Familienstreit. Das ist sicherlich auch der Grund, weshalb mein Mann sich derart in seinen Zustand hineinsteigert.“

Dr. Frank wollte nicht neugierig wirken, aber offenbar hatte die ehemalige Kindergärtnerin Redebedarf. Noch ehe er eine vorsichtige Frage stellen konnte, hatte sie selbst auch schon mit ihrer Erklärung begonnen.

„Sie wissen ja, dass wir zwei sehr liebe Söhne haben …“ Dr. Frank nickte. „Und Sie wissen, dass unser jüngerer Sohn Philipp einen Partner hat.“

Erneut nickte Dr. Frank. Damals, als sich der jüngste Sohn als homosexuell geoutet hatte, war es für Franz ein sichtlicher Schock gewesen. Aber seither waren viele Jahre ins Land gezogen, die Zeiten hatten sich geändert, und das Thema war kein peinlicher Tabubruch mehr.

Gerade fanden in München die Vorbereitungen zum jährlichen Christopher Street Day statt. Der CSD war eine groß angelegte Parade für die Rechte von Homosexuellen und ging durch die ganze Stadt. Zahlreiche Plakate kündigten das bunte Spektakel an, und Schwester Martha, die letztes Jahr zufällig in den Marsch geraten war, hatte von ausgefallenen Kostümen und herrlich geschmückten Festwagen berichtet.

Aber darum ging es im Moment nicht. Tilda wirkte ernsthaft in Sorge.

„Philipp ist seit einer gefühlten Ewigkeit mit seinem Freund Korbinian zusammen …“, fuhr sie fort. „Mein Mann hat sich längst damit abgefunden. Nein, mehr noch. Der Partner unseres Sohnes ist ihm sehr ans Herz gewachsen. Korbinian gehört inzwischen fest zur Familie.“

Das klang recht harmonisch und nicht nach einem Konflikt. Dr. Frank war gespannt, womit Tilda den Zwist also begründete.

„Nun hat unser Sohn uns völlig überraschend eröffnet, dass er noch in diesem Jahr heiraten will. Er und Korbinian möchten sich endlich verpartnern und auch vor dem Gesetz als Paar anerkannt sein. Es soll ein großes Fest werden mit Goldringen, Tanz und mehrstöckiger Torte. Um es kurz zu machen: Er plant eine richtig große Hochzeit.“

In München war es für Männer- und Frauenpaare möglich, die Lebenspartnerschaft auf dem Standesamt eintragen zu lassen, und natürlich nutzten viele der Paare den Anlass zu einem rauschenden Fest. Aber Tilda und ihr Mann schienen nicht allzu glücklich über die angekündigte Feier zu sein.

„Haben Sie und Ihr Mann etwas gegen die Verpartnerung der beiden?“, bohrte Dr. Frank vorsichtig nach. „Ich weiß, dass es älteren Leuten sehr schwer fällt, diese gesellschaftlichen Veränderungen zu akzeptieren.“

Tilda Prasch schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, das ist es nicht. Wie gesagt sind die beiden schon so lange zusammen. Im Grunde finde ich es gut, wenn die zwei sich auch vor dem Gesetz zueinander bekennen. Aber mein Mann hat etwas dagegen, dass es derart öffentlich ausgetragen und gefeiert werden muss. Philipp will die gesamte Verwandtschaft dabeihaben. Meine vier Geschwister und deren Familien stehen auf der Gästeliste.“

Sie seufzte leise.

„Alte Freunde und Bekannte sind auch dabei. Sogar unsere ehemaligen Nachbarn sollen eine Einladung erhalten. Ich bin kein großer Fan von Feierlichkeiten, aber natürlich freue ich mich für unseren Sohn und werde ihn nach allen Kräften bei der Vorbereitung unterstützen. Franz jedoch stellt sich absolut stur. Er findet, es reicht, wenn sich die zwei Buben in aller Stille verpartnern lassen.“

Dr. Frank nickte. Nun verstand er das Dilemma.

„Denken Sie, Sie können Ihren Mann noch umstimmen?“, fragte er fürsorglich. Es tat ihm leid, dass der Haussegen bei den sympathischen Praschs schief hing. Vor allem, weil der Auslöser ein eigentlich erfreuliches Ereignis war.

Hoffnungslos zog Tilda die Schultern nach oben.

„Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Er ist gegen alle Argumente immun, und er und Philipp haben sich ziemlich gestritten. Aber ich setze voll und ganz auf die Wirkkraft der Natur und auf die Unterstützung von Mutter Erde. Ich bin zuversichtlich, dass mein Mann mit Hilfe von Bachblüten oder Globuli aufgeschlossener und toleranter wird. Ich freue mich so auf das Familienfest! Ich will nicht, dass mein Mann die schönen Pläne unseres Sohnes gefährdet.“

„Geister und Globuli …“ Sie waren also bei ihrem alten Diskussionsthema gelandet. Dr. Frank seufzte lächelnd. „Ich kann Ihnen nur viel Glück bei Ihrer geheimen Mission wünschen!“, sagte er amüsiert. „Ich persönlich würde es mit einem Gespräch versuchen.“

***

„Oh, Pauline! Ich habe Sie erst morgen erwartet!“ Erstaunt schüttelte Stefan Frank der hübschen jungen Frau die Hand.

„Ja, ich weiß“, entschuldigte sich die Patientin. „Aber ich war gerade beim Einkaufen um die Ecke, und da dachte ich mir, ich schaue gleich heute bei Ihnen vorbei. Natürlich hat mich Schwester Martha erst zu Ihnen vorgelassen, nachdem klar war, dass keine Patienten mehr im Wartezimmer sind!“

Dr. Frank freute sich über Schwester Marthas strenges Regiment. Seine Mitarbeiterin wusste den Laden wirklich zu schmeißen, und manchmal ertappte sich der Arzt bei der bangen Frage, was er ohne die resolute Berlinerin machen würde!

„Es geht also um die Jahresversammlung Ihrer MS-Selbsthilfegruppe“, fiel Dr. Frank gleich mit der Tür ins Haus. Sie mussten die Zeit nutzen. Sobald der nächste Kranke kam, hatte das natürlich Vorrang.

„Ja. Sie sind doch nach wie vor als Gast-Redner dabei?“, fragte Pauline mit leichter Sorge in der Stimme.

Dr. Frank nickte. „Natürlich bin ich noch dabei! Ich habe meinen Vortrag auch längst vorbereitet. Wann bin ich im Programm vorgesehen?“

Sie setzten sich an Dr. Franks Arbeitstisch und studierten gemeinsam den Ablaufplan.

„Die Eröffnungsrede halte wie auch in der Vergangenheit ich …“, erklärte Pauline. „Denn ich bin ja die Gründerin und Organisatorin des Online-Forums.“

„Nicht nur die Gründerin und Organisatorin!“, schaltete sich Stefan Frank dazwischen. „Sie sind das Herz dieser virtuellen Selbsthilfegruppe. Es ist unglaublich, mit wie viel Liebe und Begeisterung Sie dieser Tätigkeit nachgehen. Und das alles neben Ihrem Beruf und mit der heimtückischen Krankheit im Nacken. Wie geht es übrigens Ihrem Freund Benedikt? Zeigt die verlaufsmodifizierende Therapie mit Interferonen irgendeine Wirkung?“

Ein Schatten legte sich über Paulines Gesicht. Etwas unwirsch schob sie Dr. Frank den Ablaufplan hinüber.

„Ich würde mich, ehrlich gesagt, lieber über das Jahrestreffen unterhalten“, sagte sie knapp. „Aber ich kann Sie beruhigen. Benedikt geht es gut. Der letzte Schub liegt sechzig Tage zurück, und er hat zurzeit keinerlei Beschwerden.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Die nach Benedikts letztem schweren Schub angeordnete Kortison-Stoß-Therapie hatte zwar rasch zu einer Verbesserung geführt, und die vorübergehende Gesichtslähmung war gänzlich verschwunden. Aber Benedikt litt wie viele MS-Betroffene an schrecklicher Fatigue. Das war eine quälende, bleierne Müdigkeit und eine typische Folge der schlimmen Erkrankung.

Mit leiser Verunsicherung musterte Dr. Frank seine Patientin. Seit der Diagnosestellung nahm er großen Anteil am Leben von Pauline Schaad. Er hatte sie durch ihren ersten dramatischen Schub begleitet und mitbekommen, mit wie viel Tatendrang und Mut sie sich ihrer unheilbaren Erkrankung stellte.

Er war von Anfang an eingeweiht gewesen in ihre Pläne, eine Internetseite für MS-Kranke zu gestalten. Und er hatte die Trennung von ihrem letzten Partner miterlebt. Dieser hatte überhaupt nicht mit Paulines Krankheit umgehen können und wenig Verständnis für ihr ehrenamtliches Engagement gezeigt.

Umso mehr hatte sich Dr. Frank gefreut, als Benedikt Hofstetter aufgetaucht war. Der im Münchner Raum durchaus bekannte Radiomoderator litt selbst an Multipler Sklerose und hatte Pauline auf der Jahresversammlung ihrer Selbsthilfegruppe kennengelernt.

Die beiden waren rasch zusammengekommen, und wenn man Stefan Franks Meinung hören wollte, so waren die zwei füreinander geschaffen. Sie kümmerten sich aufopferungsvoll umeinander und schätzten, respektierten und liebten sich.

Pauline bewunderte Benedikts tiefe Sprecherstimme und seine Arbeit beim Radio, und sie unternahm viel, um ihm das Leben schön und angenehm zu gestalten. Und Benedikt, dem es gesundheitlich wesentlich schlechter ging als ihr, tat dennoch alles, um sich einen Platz in Paulines Herz zu sichern. Hatte er sie nicht im Frühling überraschend nach Paris entführt? Ja, Dr. Frank konnte sich genau erinnern.

Pauline hatte von dem romantischen Kurztrip in allen Einzelheiten erzählt und war vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen gewesen. Umso erstaunlicher war, dass sie heute derart kurz angebunden war und offenbar nicht das Bedürfnis hatte, über ihren Partner zu sprechen.

Dr. Frank vertiefte sich wieder in den Ablaufplan.

„Ah, die Referentin von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft wird natürlich die Hauptrede übernehmen“, murmelte er. „Dann gibt es eine Kaffeepause. Und dann komme ich mit meinem Kurzvortrag über Frederick d’ Este, den ersten dokumentierten MS-Kranken der Geschichte.“

Pauline nickte. „Ja, es soll ein fünfzehnminütiger Kurzbericht über die interessanten Tagebuchaufzeichnungen dieses Cousins von Queen Victoria sein“, wiederholte sie, was sie im Vorfeld vereinbart hatten. „Als eine Art interessantes historisches Hintergrundwissen. Eine kleine Zeitreise sozusagen – ins Jahr 1822!“

„Oh, was ist mit diesem grau schraffierten Wolkensymbol gemeint, das unter meinem Namen steht?“ Dr. Frank stutzte.

Ein Lächeln zauberte sich in Paulines angespanntes Gesicht.

„Zum Abschluss des Treffens zeigen wir einen tollen Film. Er trägt den Titel „Kleine graue Wolke“. Die Regisseurin schildert darin ihre eigene Erkrankung. Ich bin sicher, dass alle bleiben werden, um diese großartige und ergreifende Dokumentation über Multiple Sklerose zu sehen.“

„Ich auf jeden Fall!“, versprach Dr. Frank.

Pauline verstaute ihre Unterlagen in ihrer Umhängetasche und sah den Arzt mit plötzlicher Offenheit an.

„Was ich Ihnen noch erzählen wollte, Dr. Frank: Am Wochenende war ich tatsächlich bei dem Klassentreffen! Wir haben uns doch darüber unterhalten, ob ich hingehen soll und das Thema ‚MS‘ zur Sprache bringen sollte …“

Dr. Frank erinnerte sich. Pauline hatte keine Lust darauf gehabt, in ein betroffenes Gesicht nach dem anderen zu blicken. Also hatte er ihr geraten, sich für diesen einen Abend eine Auszeit von ihrer Erkrankung zu nehmen. Ja, die Multiple Sklerose bestimmte den Großteil ihres Lebens. Aber das hieß nicht, dass Pauline nur noch aus dieser Krankheit bestand. Es gab noch andere Themen.

Es gab ihren schönen Beruf in dem hübschen Vier-Sterne-Hotel. Es gab einen sehr liebevollen Partner. Es gab Hobbys, Freunde und Interessen. Dr. Frank fand es okay, wenn Pauline an diesem einen Abend einmal nicht ihre Krankheit ins Zentrum rückte.

Offenbar hatte Pauline ihn beim Wort genommen.

„Und? Haben Sie es durchgehalten? Oder haben Sie doch dem ein oder anderen von der MS erzählt?“

Heftig schüttelte Pauline den Kopf.

„Um ehrlich zu sein, habe ich den ganzen Abend über kaum daran gedacht. Ich habe mich plötzlich wieder jung, gesund und fröhlich gefühlt, wie damals zu Schulzeiten und vor meiner Erkrankung!“ Ein träumerischer Zug schlich sich in ihre Mimik. „Es war großartig, all die vertrauten Gestalten wiederzusehen. Und stellen Sie sich vor, sogar meine erste große Liebe war darunter.“

Noch ehe sie den Satz ganz zu Ende gesprochen hatte, färbte eine verräterische Röte Paulines Wangen dunkel. Sie wich Dr. Franks Blick aus und wirkte für einen Moment verlegen.

Der Arzt wusste nicht so recht mit der Situation umzugehen. Was genau wollte Pauline ihm signalisieren? Er räusperte sich.

„Die erste große Liebe, sagen Sie? Sie wissen ja, ich bin ein heilloser Romantiker! Verraten Sie mir, wie es war, Ihrer Jugendliebe nach all den Jahren wiederzubegegnen?“

Pauline rang nach Atem, sie wirkte aufgeregt.

„Es war verstörend …“, gab sie schließlich zu. „Denn ich habe ihn tatsächlich ganze siebzehn Jahre nicht mehr gesehen. Und dennoch habe ich Fernando sofort wiedererkannt. Auch das alte Gefühl war sogleich wieder da. Das altbekannte Kribbeln auf der Haut setzte ein, und die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten Tango!“

Dr. Frank gefiel das Bild, aber dennoch bedrückte ihn etwas. Pauline kam ihm viel zu schwärmerisch und aufgekratzt vor. Es machte nicht den Anschein, als würde sie von einer alten Liebe erzählen. Es wirkte eher so, als hätte sie sich am Wochenende vom Fleck weg neu verliebt!

Vielleicht war das der Grund, weshalb sie seiner Frage nach ihrem Freund Benedikt ausgewichen war.

Pauline bemerkte Dr. Franks Zögern. Sie sah ihn wieder direkt an.

„Falls Sie sich Gedanken wegen mir und Benedikt machen, seien Sie völlig unbesorgt! Diese Begegnung hat rein gar nichts mit meiner Beziehung zu tun. Nein, Benedikt ist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will. Er ist derjenige, der mich besser kennt als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Er ist der Mann, vor dem ich keine Geheimnisse habe, der mich immer durchschaut und dem ich alle meine Seiten zumuten kann. Sogar die ungeschminkten und hässlichen Anteile meines Charakters darf ich ihm zeigen.“

Dr. Frank sah seine Patientin liebevoll an.

„Ach, Pauline. Wie könnten Sie hässliche Persönlichkeitsanteile haben!“, nahm er sie in Schutz. „Aber ich weiß natürlich, was Sie mir sagen wollen. Sie können von Glück reden, dass Sie und Benedikt sich begegnet sind.“

Pauline nickte.

„Und trotzdem habe ich mich mit Fernando verabredet“, sprach sie endlich die unbequeme Wahrheit aus. „Wir gehen heute Abend gemeinsam Essen.“

Die Beichte verunsicherte Dr. Frank. Wollte Pauline etwa seinen Segen haben? Sie hatte ihn damals wegen des Klassentreffens um Rat gefragt, und es war dem Mediziner sehr leicht gefallen, eine Empfehlung zu geben. Jetzt aber fühlte er sich unbehaglich.

Er kannte und mochte Benedikt Hofstetter, und er empfand die beiden als ein wunderbares Paar. Sollte er ihr wirklich gut zureden, sich mit einer verflossenen Liebe zu treffen?

„Weiß Benedikt von der Verabredung mit Ihrem Exfreund?“, fragte Dr. Frank also frei heraus. „Und umgekehrt: Weiß dieser Fernando, dass Sie einen festen Partner haben?“

Pauline winkte lächelnd ab.

„Exfreund ist übertrieben!“, spielte sie die Sache herunter. „Wir waren beide erst elf Jahre alt. Es war nichts weiter als ein romantisches Sommermärchen. Außer diesem einen Kuss ist nie etwas zwischen uns passiert.“

„Gerade deshalb mache ich mir Sorgen!“, gab Dr. Frank zu. „Unerfüllte Liebesgeschichten sind ziemlich gefährlich. Wir Menschen neigen dazu, ungenutzte Möglichkeiten im Geiste zu erhöhen. Und so, wie Sie von der Vergangenheit sprechen, sind offensichtlich noch Gefühle im Spiel!“

Verunsichert starrte Pauline zu Boden.

„Darum geht es doch gar nicht …“, behauptete sie. „Ich bedaure es nicht, dass Fernando und ich nie ein wirkliches Paar geworden sind. Und ich bin unsagbar glücklich mit Benedikt. Von dem Abendessen mit Fernando habe ich ihm trotzdem nichts gesagt. Ich will ihn nicht unnötig eifersüchtig machen.“

„Unnötig?“, hakte Dr. Frank nach. „Denken Sie nicht, dass er allen Grund hat, sich Sorgen zu machen?“

„Ach, Unsinn!“ Pauline machte eine abwehrende Handbewegung. „Es gibt überhaupt keinen Zweifel an meiner tiefen Liebe zu Benedikt. Aber lassen Sie einer jungen Frau ihren Spaß und ihr winzig kleines Geheimnis. Sie wissen, dass mein Leben seit der Diagnose belastend genug ist. Und es handelt sich wirklich nur um einen unbedeutenden Flirt.“

„Eben haben Sie noch behauptet, keine Geheimnisse vor Benedikt zu haben“, erinnerte Dr. Frank sie. „Und nur zu oft wandelt sich ein scheinbar unbedeutender Flirt zu einer ernsthaften Geschichte. Sie müssen im Hinterkopf behalten, was auf dem Spiel steht und was Sie zu verlieren haben. Ich will mich nicht als Moralapostel aufspielen, aber es wäre ein allzu großer Verlust, wenn Sie durch eine aufgekochte alte Romanze ihr neues Liebesglück zerstören würden. Und womöglich hat auch dieser Fernando eine Partnerin, der es ähnlich geht …“

Zerknirscht nickte Pauline.

„Fernando ist verheiratet und hat zwei Kinder …“, gab sie zu. „Aber gerade deshalb mache ich mir gar keine Sorgen. Fernando ist schon vergeben! Mehr als eine harmlose Affäre könnte also sowieso nie zwischen uns sein …“

Im gleichen Moment, in dem sie den letzten Satz aussprach, stürmte Schwester Martha ins Sprechzimmer. Sie sah verwirrt von Dr. Frank zu der jungen Patientin.

„Draußen wartet ein kleiner Notfall, Chef!“, sagte sie. „Ick fürchte, jemand hat Ihr Auto angefahren.“

Dr. Frank seufzte. „Auch das noch. Gibt es Zeugen?“

„Nein, leider Fahrerflucht. Tut mir leid, dass ick Sie beide bei einem offenbar hochinteressanten Gespräch unterbreche. Ja, ja. Harmlose Affären … Man hört ja viel davon. Alle Welt scheint irgendeine schnieke Liebschaft zu haben. Sie glauben ja nicht, Chef, wie viele meiner Freundinnen bereits Affären mit ihren Vorgesetzten hatten!“

Sie sah Dr. Frank spitzbübisch an.

„Ich hoffe, das war kein verstecktes Angebot, Schwester Martha!“, ging Dr. Frank auf die scherzhafte Anspielung ein. Dann stand er auf, um den Schaden an seinem Auto zu betrachten.

***

„Schatz, kümmerst du dich darum, dass Clara ihre Zähne putzt? Und Amanda muss unbedingt noch ihren Eisensaft nehmen!“ Bettinas Befehl weckte Fernando aus seinem unruhigen Schlummer. Er war tatsächlich auf dem Sofa eingenickt, während die zwei Töchter im Wohnzimmer Verstecken spielten. Es war fast sieben und tatsächlich Zeit für die beiden, ins Bett zu gehen.

„Los, ihr Monster!“, schmetterte er und griff sich links und rechts eines der Mädchen. Er drückte seine Töchter liebevoll an sich und schob sie trotz ihres lauten Protests Richtung Bad. Im Vorbeigehen sah er, wie Bettina in ihrem Arbeitszimmer vom Tisch aufstand und leicht genervt die Türe zuzog.

Sie hatte einen wichtigen Abgabetermin einzuhalten. Eine angesehene Zeitschrift hatte ihr eine mehrseitige Reportage über den Pflegenotstand abgekauft, und morgen Mittag musste der Text endgültig stehen.

„Arbeitet Mami noch?“, fragte Clara, während Fernando seinen zwei Töchtern rotweiße Zahnpasta auf ihre Kinderzahnbürsten drückte.

Fernando nickte verdrossen. Seit Bettina diesen Preis für Nachwuchs-Journalistinnen gewonnen hatte, konnte sie sich vor Anfragen kaum noch retten. Einige der bekanntesten deutschen Zeitungen und Zeitschriften hatten wegen einer Zusammenarbeit angefragt, und nach Jahren der finanziellen Schieflage rollte plötzlich der Rubel.

Für Fernando war die Situation ungewohnt. Bislang hatte er mit seinem Job als Gas- und Wasserinstallateur die Familie ernährt. Aber plötzlich war Bettina zur Hauptverdienerin geworden. Fernando hatte wegen Bettinas plötzlichem Erfolg Stunden reduziert, um sich mehr um die Kinder kümmern zu können. Und Bettina verbrachte jede freie Sekunde am Computer.

„Liest du uns noch was vor, Papa?“, fragte Amanda, die kleinere der beiden Zwillingsmädchen. Sie sah ihren Vater aus Hundeaugen an. Fernando schmolz dahin. Seinen Töchtern würde er nie einen Wunsch abschlagen können.

„Aber klar!“, sagte er. „Geht schon mal vor und sucht euch ein Buch raus. Ich mache mir noch rasch einen Espresso.“

Er stiefelte müde in die unaufgeräumte Küche und machte sich einen starken Kaffee. Das Chaos würde er morgen früh beheben. Heute Abend hatte er Besseres vor. Er hatte eine Verabredung mit Pauline! Fernando hatte die ehemalige Mitschülerin am Wochenende auf dem Klassentreffen seiner Grundschule wiedergetroffen.

Eigentlich war er nur hingegangen, um alte Kontakte in München aufzufrischen. Er war viele Jahre weg gewesen und hatte den Bezug zu seiner alten Heimatstadt völlig verloren.

Bettina und er waren aus eher sentimentalen Gründen hierhergezogen. Die letzten fünf Jahre hatten sie in Hamburg gelebt, aber auch Bettina stammte gebürtig aus München, und sie hatten beide beschlossen, dass ihre Kinder spätestens ab der Einschulung ebenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt aufwachsen sollten.

Als Pauline ihm gegenübergestanden hatte, hatte Fernando sie zunächst überhaupt nicht erkannt. Aber dann hatte er sich daran erinnert, dass er schon zu Schulzeiten völlig vernarrt in ihr rehbraunes Haar gewesen war, das sie meist offen und glänzend getragen hatte. Noch immer trug sie die gleiche Frisur, und sie war zu einer unglaublich schönen Frau geworden. Fernando dachte an das überarbeitete und müde Gesicht seiner Gattin Bettina.

Als sie später an der Bar gesessen hatten und Pauline leicht angetrunken gewesen war, hatte sie ihm von einem unvergesslichen Kuss berichtet. Ein Kuss, den er ihr offenbar während des Zeltlagers gegeben hatte. Fernando hatte auch diese Episode vergessen. Vermutlich, weil er in besagtem Sommer viele Mädchen an verschiedenen Orten abgeknutscht hatte.

Er hatte sich damals einen Sport daraus gemacht, den hübschesten Mädchen in seiner Umgebung einen Kuss abzuluchsen. Pauline war wohl eine davon gewesen. Dann hatte sein Vater recht überstürzt ein Jobangebot in Kiel angenommen, und Fernando hatte fortan dort die Schule besucht. Die wilde Küsserei hatte Fernando in der neuen Heimat schnell beendet, und Pauline war mit dem Wegzug aus München völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden.

Seit dem Wochenende aber verging kaum eine Stunde, in der er nicht an sie dachte. Sie hatte diese geheimnisvollen, dunkelbraunen Augen, die Fernando bei Frauen schon immer anziehend gefunden hatte. Und sie hatte eine ungemein feminine Art. Es passte zu ihr, dass sie ihren Alltag mit Kosmetik verbrachte.

Von ihrem Freund hatte Pauline nur kurz erzählt. Vermutlich war es nicht so ernst, sie genoss ihr Leben offenbar in vollen Zügen.

Fernando biss sich auf die Lippe. In einer Stunde sollte er Pauline treffen, und noch immer hatte er Bettina nichts davon erzählt.

War er überhaupt verpflichtet, seine Frau zu informieren? Immerhin handelte es sich um ein völlig bedeutungsloses Treffen. Er hatte Pauline ehrlich gesagt, dass er verheiratet war. Aber natürlich hatte er dennoch mit der attraktiven ehemaligen Mitschülerin geflirtet.

Für einen Moment stellte er sich vor, wie seine Hand sanft durch das seidige Haar von Pauline strich. Er malte sich aus, wie sein Mund an ihrem Hals hinab glitt und seine Finger langsam die Knöpfe ihrer Bluse öffneten. Er schloss die Augen.

„Papa? Kommst du bald?“

Ertappt riss Fernando die Augen wieder auf. Seine Tochter stand mit ihrem zerzausten Plüschteddy vor ihm.

„Ja, klar.“ Er fasste hektisch nach seiner Espresso-Tasse, und der Inhalt ergoss sich schmerzhaft über seine Hand. „Scheiße!“

Amanda kicherte erschrocken auf, und Bettina kam in die Küche.

„Wir haben doch vereinbart, dass wir vor den Kindern bestimmte Formulierungen vermeiden!“, raunte sie ihm vorwurfsvoll zu. Fernando hielt die Hand unter eiskaltes Wasser.

„Das gilt aber nicht, wenn ich mir die Hand verbrühe!“, gab er gestresst zurück.

„Amanda, ich lese euch vor!“, machte Bettina einen plötzlichen Vorschlag. Sie hatte bemerkt, dass ihr Mann überlastet war, und Fernando reagierte auf die spontane Unterstützung mit einem dankbaren Nicken. In solchen Momenten wusste er wieder, weshalb er Bettina über alles liebte.

Sie würde die Kinder geduldig zu Bett bringen und Fernando zuliebe eine Nachtschicht einlegen. Vermutlich würde sie noch stundenlang an ihrer Reportage feilen.

Es wäre nur gerecht gewesen, wenn er die Mädchen zu Bett gebracht hätte. Bettina hatte sich schon das gesamte letzte Wochenende um die Kleinen gekümmert.

„Danke …“ Er sah Bettina zärtlich an und zog seine Frau heftig an sich. Er vergrub seinen Kopf in ihrem blonden Haar und sog genießerisch den Duft ihres Shampoos ein.

Sein Handy vibrierte, und er ließ seine Ehefrau los. Eine leicht erhitzte Röte lag auf ihren Wangen. Sie hatten sich schon lange nicht mehr geliebt, und Fernando erkannte bei ihr eine fast schon vergessene Sehnsucht.

Sein Blick huschte über das Display des Handys. Es war Pauline, die ein Restaurant ausgewählt hatte.

„Wer ist es?“ Bettina schob sich verwirrt von dem plötzlichen Gefühlstaumel eine Strähne hinter das Ohr.

„Ach …“ Fernando hatte die Nachricht zu Ende gelesen. „Einer meiner Kollegen ist krank, und mein Chef bittet mich, die Spätschicht zu übernehmen. Offenbar gibt es einen Notfall in einem Altenheim. Das ganze Haus hat seit Stunden kein warmes Wasser …“

Er wunderte sich, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam. Noch nie zuvor hatte er Bettina belogen.

Betroffen sah sie ihn an.

„Musst du ehrlich noch mal los? Um diese Uhrzeit?“, fragte sie. „Du hast zwei kleine Kinder und brauchst deinen Feierabend zur Erholung!“

Fernando seufzte. „Ich will meinem Chef die Arbeit nicht allein zumuten. Und ich kann die alten Bewohner des Heims nicht hängen lassen. Stell dir mal vor – kein warmes Wasser!“

Bettina dachte an ihren Artikel über Pflegenotstand. Es war sowieso schlimm genug, alt und abhängig von der Hilfe anderer zu sein. Da durfte man zumindest erwarten, dass man ein warmes Essen und eine heiße Dusche bekam. Sie freute sich, dass Fernando so mitfühlend war und an das Befinden der alten Heimbewohner dachte.

„Zisch schon ab!“, sagte sie. „Ich muss später sowieso zurück an den Schreibtisch. Und falls du rechtzeitig nach Hause kommst, freue ich mich über körpereigene Glückshormone.“ Sie lächelte ihn verlegen an und sah auf einmal wieder aus wie ein junges Mädchen.

Sie hatten kürzlich einen Fernsehbeitrag über die positive Auswirkung von Sexualität auf die Gesundheit gesehen. Angeblich schüttete Sex drogenähnliche Stoffe aus, die zu tiefem Glück, einem starken Bindungsgefühl und Wohlbefinden führten. Interessiert sah Amanda ihre Eltern an, ohne auch nur ein Wort des zweideutigen Dialogs zu begreifen.

Körpereigene Glückshormone … Schon wieder wanderten Fernandos Gedanken zu Pauline.

„Kann sein, dass es spät wird …“, murmelte er bedauernd. Er drückte seinen Töchtern und seiner Frau einen hastigen Kuss auf die Wange, schnappte sich den Rucksack mit seinen Arbeitsklamotten und verließ mit schlechtem Gewissen die Wohnung.

***

Mit einem gerührten Lächeln auf den Lippen klickte sich Tilda durch die Fotodatei, die ihr Sohn Philipp ihr vor einer halben Stunde zugemailt hatte. Er hatte seine Mutter telefonisch gebeten, ihn und seinen Freund bei der Auswahl des Bildes für die Einladungskarte zu unterstützen, und nun saß Tilda gebannt am PC und arbeitete sich durch die Bildersammlung ihres jüngsten Sohnes.

Man sah Philipp und Korbinian bei ihrem Sommerurlaub auf Kreta und breit grinsend auf dem Deck eines englischen Reisebusses. Es gab eine etwas künstlerische Aufnahme der beiden jungen Männer vor der Kulisse des Ammersees, und mehrere Schnappschüsse, die die beiden eng umschlungen in der Disco oder sich zärtlich küssend auf einem Sommerfest zeigten.

Tilda vertiefte sich in einen der Schnappschüsse. Ein küssendes Männerpaar hatte noch Anfang der Neunzigerjahre für einen Eklat in der deutschen Fernsehlandschaft gesorgt. In einer Folge der Serie Lindenstraße hatten sich zum ersten Mal zwei Männer geküsst. Die Konsequenz waren Morddrohungen an die Darsteller gewesen – und die Androhung eines Bombenattentats auf das Filmstudio.

Tilda musste schwer schlucken, als sie an das Attentat dachte, das vor einigen Monaten in Orlando verübt worden war. Fünfzig junge Frauen und Männer eines Clubs, den vor allem Homosexuelle besuchten, waren von einem fanatischen Mann kaltblütig erschossen worden. Sie dachte an fünfzig Mütter wie sie – die jetzt ihre ermordeten Kinder beweinten.

„Träumst du?“ Franz war unbemerkt hinter Tilda getreten. Als er das Foto von Philipp und Korbinian auf dem Computerbildschirm sah, runzelte er die Stirn.

„Also, wenn ich auch ein Wörtchen mitzureden habe, dann bitte ich euch, wenigstens nicht so ein Knutschbild zu nehmen! Es gibt doch auch Bilder, auf denen die beiden einfach nett nebeneinanderstehen!“

Aufgebracht sah Tilda ihren Mann an.

„Ach … Damit auch ja niemand auf den Gedanken kommt, dass die beiden sich ernsthaft lieben könnten?“

„So habe ich das doch gar nicht gemeint!“, verteidigte sich Franz zögernd. „Aber es ist einfach ungewohnt, wenn …“

Das Telefon klingelte, und Tilda klickte das Foto ihres Sohnes weg. Es verschwand in den Untiefen des Computers. Am anderen Ende der Leitung war ihr älterer Sohn Holger.

„Holger!“ Sie merkte, wie sie sich freute. Er rief nicht gerade häufig an, denn wegen der zwei Kinder hatte er viel um die Ohren. Sie redeten über die Neuigkeiten und natürlich auch über Philipps Hochzeitspläne. „Ich helfe ihm gerade, das Foto für die Einladung herauszusuchen“, erzählte Tilda. „Aber dein Vater findet, es sollte ein möglichst neutrales Bild sein.“

Holger wirkte verwirrt.

„Was meinst du denn mit ‚neutral‘?“

Tilda sah deprimiert zu Franz hinüber. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und sah nun die Tagesschau, die von den Entwicklungen in der Welt berichtete.

„Na ja, eben nicht gerade ein Foto, auf dem die zwei sich küssen.“

Holger überlegte. „Also … Bea und ich haben uns auf unserer Einladungskarte zur Hochzeit doch auch geküsst. Ziemlich leidenschaftlich, wenn ich mich richtig erinnere!“ Er lachte erheitert.

Auch Tilda konnte sich erinnern. Sie hatte das damals etwas unangebracht, aber nicht moralisch verwerflich gefunden. Aber schließlich waren die beiden ja auch ein normales Paar. Auf der anderen Seite – was war schon normal? Jedes Paar war doch letztlich völlig anders und unterschiedlich.

Sie beendeten das kurze Gespräch, und Tilda setzte sich zu ihrem Mann auf das Sofa. Im Fernsehen wurde soeben über den CSD in Berlin berichtet. Das war ein großer Marsch von Homosexuellen. Fand nicht auch bald ein vergleichbarer Protestzug in München statt? Tausende von Menschen tanzten am Brandenburger Tor, und Tilda sah gebannt auf die Bilder.

Franz rollte mit den Augen.

„Toleranz ist schön und gut. Aber gibt es denn überhaupt keine anderen Themen?“, fragte er sichtlich genervt und wechselte auf einen anderen Sender. Enttäuscht von seiner trotzigen Haltung stand Tilda auf. Sie ging zum Buchregal und griff nach dem dicken Bachblüten-Wälzer. Es war wirklich höchste Zeit, dass Franz etwas entspannter wurde.

Stehend suchte sie das Inhaltsverzeichnis nach dem passenden Schlagwort ab, während sich Franz in eine Reportage über Albatrosse vertiefte. Als der Sprecher berichtete, dass sich manche Albatross-Weibchen zu lebenslangen Paaren zusammenschlossen, schaltete Franz wortlos aus.

Ach ja, „Gelassenheit“, da war es. Aufmerksam glitt Tildas Blick über die Zeilen. Englische Ulme, Heckenrose, Springkraut und Espe versprachen, Abhilfe zu schaffen. Grübelnd musterte Tilda ihren Mann. Ja, sie würde es mit einer kleinen, heimlichen Bachblüten-Kur versuchen. Wenn alles gut ging, würde Franz sich bald schon riesig auf Philipps Heirat mit Korbinian freuen! Und lesbische Albatrosse waren ihm dann völlig egal.

***

Dr. Frank klingelte bei Pauline Schaad, und kurz danach betrat er ihre kleine Wohnung. Die Kosmetikerin hatte ein Single-Appartement im Zentrum Grünwalds, das nur aus eineinhalb Zimmern bestand. Es gab eine winzige Küche und einen noch kleineren Balkon. Die eineinhalb Zimmer waren Schlafraum, Arbeitszimmer und Wohnzimmer in einem.

Dr. Frank legte seine Unterlagen auf den Schreibtisch, auf dem sich schon Berge von Artikeln, Zeitschriften und Fachbüchern stapelten.

„Es tut mir leid …“, entschuldigte sich Pauline. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, aufzuräumen.“

„Überhaupt kein Problem!“, beruhigte sie der Arzt. Für ihn war am wichtigsten, dass es seiner Patientin gesundheitlich gut ging. Ob sie ihre Wohnung klinisch rein hielt oder das pure Chaos herrschte, war ihm letztlich ziemlich egal.

Verlegen räumte die MS-Betroffene ein paar alte Kleidungsstücke vom Stuhl und bat ihren Arzt, sich zu setzen.

„Danke, dass Sie extra vorbeigekommen sind!“, wiederholte Pauline zum bestimmt dritten Mal. „Ich wüsste gar nicht, was ich in dieser verzwickten Situation ohne Sie machen sollte!“

„Ach, Sie übertreiben!“ Dr. Frank schüttelte lachend den Kopf. Seine Stammpatientin hatte sich heute Morgen völlig aufgelöst bei ihm gemeldet. Die Referentin der Multiple Sklerose Gesellschaft hatte wegen einer Blinddarmentzündung sehr kurzfristig abgesagt, und wie es schien, würden Sie auf die Schnelle keinen Ersatz für die erkrankte Rednerin finden.

In ihrer Not hatte Pauline einfach bei Dr. Frank nachgefragt. Er war kein Experte auf dem Gebiet der MS, aber er war perfekt vernetzt mit zahlreichen Ärzten. Er kümmerte sich seit der Diagnose intensiv und umfassend um Pauline und kannte die verschiedenen Formen der Erkrankung. Wenn jemand spontan einen Vortrag über diese komplexe Autoimmun-Erkrankung halten konnte, dann er.

Pauline hatte ihn direkt darum gebeten, und Dr. Frank hatte spontan seine Hilfe zugesagt. Er war aus eigenem Interesse auf dem neuesten Stand der Forschung, was zahlreiche medizinische Themen betraf. Und er las sich in seiner raren Freizeit gerne in Fachartikel und Studien ein. Insofern bedeutete der kurzfristig anberaumte Vortrag kaum Zeitaufwand für ihn.

Außerdem wollte er Pauline bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit unterstützen. Ein Jahrestreffen ohne Hauptredner wäre einfach fatal!

„Nachdem alle Anwesenden im Grunde bereits kleine Experten auf dem Gebiet der MS sind, da sie die Krankheit selbst haben, werde ich mich bei meinem Vortrag auf das Thema des ganzheitlichen Therapieansatzes stützen. Es wird darum gehen, das Selbstmanagement der Kranken zu stärken.“

Stefan Frank lächelte.

„Wer sich gut mit seinem individuellen Krankheitsbild auskennt, hat bessere Chancen, die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen und vorzusorgen. Nicht umsonst wird Multiple Sklerose als die Krankheit mit den tausend Gesichtern bezeichnet. Jeder Fall ist unterschiedlich, und es ist für Betroffene enorm wichtig, alle Facetten der eigenen Erkrankung zu kennen.“

„Dr. Frank, Sie sind wirklich meine Rettung!“ Die junge Frau wirkte erleichtert. Erst jetzt bemerkte Dr. Frank, dass Pauline recht erschöpft aussah. Sie hatte sichtbare Augenringe, und ihr Haar wirkte stumpf und ungepflegt. Irgendetwas schien sie zu belasten. Ob es etwas mit dieser Jugendliebe zu tun hatte? Vor ein paar Tagen war doch die Verabredung der beiden gewesen, und seitdem hatte Dr. Frank Pauline nicht mehr gesehen.

Noch ehe der Grünwalder Arzt den Gedanken zu Ende gedacht hatte, ging ein Schlüssel im Schloss, und völlig überraschend stand Benedikt Hofstetter vor ihnen.

„Ertappt!“, sagte er auf seine humorvolle Art. Dann zog er seine Freundin liebevoll an sich.

„Wir besprechen die Jahresversammlung“, erklärte Pauline barsch. „Ich habe dir ja schon gesimst, dass die Hauptrednerin absagen musste.“

Benedikt nickte und ließ Pauline wieder los. Stattdessen reichte er Dr. Frank die Hand und begrüßte den Arzt seiner Freundin mit einem einnehmenden Lächeln.

Sie waren einander bereits bei unterschiedlichen Gelegenheiten vorgestellt worden. Seit Benedikt mit Pauline zusammen war, war Dr. Frank außerdem auch zu seinem Hausarzt geworden.

„Ja, das ist eine wirklich blöde Situation mit der erkrankten Referentin!“, sagte Benedikt. „Umso großartiger, dass Sie spontan einspringen, Herr Doktor!“

Dr. Frank lächelte. „Es ist mir eine Selbstverständlichkeit, Ihre Freundin bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit zu unterstützen!“, betonte er. „Ich finde ihr Engagement nämlich einfach nur vorbildhaft!“

„Ja!“, bestätigte Benedikt. „Das geht mir genauso. Ich wache jeden Morgen auf und bin sprachlos, dass ich eine so tolle Frau abbekommen habe.“ Mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht sah er Pauline an, die unbehaglich auf Ihre Hände starrte.

„Sagt mal …“ Benedikt schien das Unbehagen, das seine Partnerin ausstrahlte, überhaupt nicht zu bemerken. „Habt ihr eigentlich schon was getrunken oder gegessen? Es ist Mittagszeit, und ihr opfert doch gerade beide eure Mittagspause.“

Erschrocken sah Pauline ihn an. Daran hatte sie bei all der Aufregung gar nicht gedacht. Vor lauter Stress verspürte sie überhaupt keinen Hunger!

Aber natürlich traf Benedikts Frage einen wahren Kern, denn tatsächlich hatte Dr. Frank seine kurze Mittagspause genutzt, um hinüber zu Paulines Wohnung zu fahren. Da war es nur angebracht, dass sie ihm zumindest ein Glas Wasser und eine Kleinigkeit zu essen anbot. Sie wurde rot und sah ihren Arzt entschuldigend an.

„Ach, Quatsch!“, beruhigte Dr. Frank sie. „Meine Freundin Alexandra hat rein gar nichts dagegen, wenn ich mehr auf meine Figur achte und das Mittagessen einmal ausfallen lasse!“

Pauline lachte angestrengt. Man merkte ihr an, wie sehr sie sich schämte.

„Alexandra hin oder her …“, entschied Benedikt spontan. „Ich flitze rasch rüber zum Italiener und organisiere uns allen ein paar kalte Spezialitäten. In zehn Minuten bin ich wieder zurück.“

Pauline entspannte sich wieder. Die Idee war großartig, und sie war froh, dass Benedikt überraschend vorbeigeschaut hatte. Aber sie wollte ihren gesundheitlich angeschlagenen Partner auf keinen Fall überanstrengen. Er sollte sich eigentlich viel mehr schonen, und das Haus, in dem Pauline lebte, hatte keinen Lift.

Also schnappte sie sich den Hausschlüssel, drückte Benedikt einen angedeuteten Kuss auf die Wange und machte sich selbst auf den Weg zum Feinkostladen gegenüber.

In der Zwischenzeit holte Benedikt Saft aus dem Kühlschrank und schenkte Dr. Frank großzügig ein.

„Geht es Ihnen wieder besser?“, fragte Stefan Frank den jungen Mann. „Pauline hat erzählt, dass die Interferon-Therapie gut anschlägt und Sie schon seit Längerem keinen Schub mehr hatten!“

Benedikt nickte. „Ja. Die Immunsuppression scheint bei mir der richtige Weg zu sein. MS ist ja leider nicht heilbar, aber das Ziel der Behandlung ist es, die Schwere und die Häufigkeit der Schübe zu verringern. Parallel läuft die Immunmodulation. Aber die Müdigkeit ist unerträglich. Ich muss mich tagsüber immer mal wieder hinlegen, so schlimm ist es.“

Der junge Mann seufzte.

„Na ja, ich bin froh, dass meine Einschränkung noch keine Auswirkung auf meine Arbeit genommen hat. Die Auftragslage für die Hörspiele ist immer noch gut. Und auch meine Radio-Sendung wird es weiterhin geben.“

„Da bin ich erleichtert!“, murmelte Dr. Frank. Einer der schlimmsten Aspekte der Krankheit MS war die stete Ungewissheit. Kein Betroffener wusste, wann der nächste Schub zu erwarten war, welche Beeinträchtigungen er mit sich brachte und wie die Situation anschließend aussah. Man schwebte in ständiger Gefahr, von einem Tag auf den anderen Fähigkeiten einzubüßen, blind, gelähmt oder inkontinent zu sein.

Bei manch einem Patienten blieb es bei einem einzigen Schub. Aber bei vielen Betroffenen kam es in längeren oder kürzeren Abständen immer wieder zu Krankheitsphasen, in denen nur eine Kortison-Stoß-Therapie half. Drei Tage in Folge erhielten die Erkrankten intravenöse Infusionen, die im Idealfall dazu führten, dass die Beschwerden ganz oder zumindest teilweise wieder verschwanden.

Die zahlreichen Nebenwirkungen wie Wassereinlagerungen und Übelkeit nahmen die meisten Patienten zähneknirschend in Kauf. Wenn die Standardtherapie nicht half, musste eine Blutwäsche in Betracht gezogen werden. Aber auch solch eine Plasmapherese war nicht ohne, und keine dieser Behandlungen besiegte die Multiple Sklerose.

Voller Respekt vor dem reifen Umgang seines Patienten mit der Erkrankung sah Dr. Frank den Radiosprecher an. Sowohl er als auch Pauline litten zum Glück nicht an einer progredienten, also fortschreitenden Multiplen Sklerose. Das hieß, dass viele der Beschwerden irgendwann wieder verschwanden.

Bei seinem letzten Schub hatte der optimistische Benedikt Hofstetter Gesichtslähmungen gehabt und zeitweilig nicht mehr sprechen können. Beides hatte sich im Lauf der Behandlung zum Glück wieder gelegt.

„Aber lassen Sie uns von erfreulicheren Dingen sprechen!“, unterbrach Benedikt Hofstetter Dr. Franks trübe Gedanken. „Sie sind der Erste, der es erfährt. Ich werde Pauline einen Heiratsantrag machen!“

Der Themenwechsel kam ziemlich abrupt. Eben war Stefan Frank im Geiste noch bei der zerstörerischen Krankheit gewesen, und auf einmal brachte Benedikt die Liebe ins Spiel.

Mit gemischten Gefühlen hob Dr. Frank die Augenbrauen nach oben. Eigentlich freute er sich über Benedikts Entschluss, und er hatte schon länger damit gerechnet. Aber der Zeitpunkt war absolut falsch gewählt. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Pauline einer alten Jugendliebe nachtrauerte und Geheimnisse vor Benedikt hatte, wollte er um ihre Hand anhalten? Dr. Frank hielt das für keine gute Idee.

Benedikt bemerkte Dr. Franks Zögern.

„Was ist mit Ihnen? Freuen Sie sich überhaupt nicht?“ Enttäuschung schwang in der Stimme des Radiosprechers mit.

Hastig schüttelte Dr. Frank den Kopf.

„Doch, doch. Natürlich freue ich mich. Und ich finde, dass Sie zwei wirklich gut zusammenpassen. Trotzdem würde ich mit dem Antrag noch ein paar Tage warten …“

Er ärgerte sich über den sonderbaren Rat, den er ungebeten gegeben hatte. Hatte er überhaupt das Recht dazu? Aber nun war der Satz schon in der Welt, und Dr. Frank musste erklären, was er damit meinte.

Verunsichert sah Benedikt ihn an.

„Pauline hat momentan wegen der anstehenden Jahresversammlung alle Hände voll zu tun …“, erfand Dr. Frank hastig eine Lüge. „Jetzt fällt auch noch die Hauptrednerin aus, und das erzeugt zusätzlichen Druck und weitere Arbeit. Aktuell hat Pauline vermutlich wenig Sinn für Romantik. Ich würde mir an Ihrer Stelle einen besseren Zeitpunkt für einen romantischen Antrag suchen. Warten Sie einen passenden Augenblick ab! Einen Moment, in dem Sie beide den Kopf wieder frei haben, weniger überarbeitet sind und sich wieder mehr Zeit füreinander nehmen können …“

Benedikt dachte nach.

„Ja …“, gab er zu. „Da sagen Sie ein wahres Wort. Tatsächlich haben Pauline und ich in letzter Zeit unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten. In den letzten Tagen haben wir keinen einzigen Abend zusammen verbracht, weil Pauline entweder müde war oder die Jahresversammlung vorbereiten musste.“

Dr. Frank dachte an Paulines Rendezvous mit ihrem Schwarm Fernando. Offenbar hatte sie ihrem Freund Benedikt tatsächlich kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Ein Kloß entstand in seiner Kehle. War Pauline womöglich längst heimlich mit Fernando zusammen? Hatte sich mehr aus dem Abendessen entwickelt? Führten die beiden womöglich eine heimliche Affäre, und Benedikt war der gehörnte Partner?

Dr. Frank wünschte sich sehnlichst, dass es nicht so war. Nein, das Schicksal durfte keinen Keil zwischen diese beiden Liebenden treiben! Aber in Wahrheit war es natürlich nicht das Schicksal, sondern die Entscheidung Paulines, die das Glück der zwei gefährdete.

In eben diesem Moment kam die Kosmetikerin von ihrem Einkauf zurück. Sie hatte eine Tragetasche mit Parmaschinken, eingelegten Tomaten, Brot und Oliven dabei. Es würde ein kleines, leckeres Mahl ergeben. Dr. Frank folgte ihr in die winzige Küche.

Während Pauline sorgfältig die Köstlichkeiten auf Teller verteilte, beugte sich Dr. Frank vertraulich zu ihr. Es war nicht seine Art, seine Patienten auszuquetschen oder sich in ihre Angelegenheiten zu mischen. Aber die Sache bedrückte und verstörte ihn. Er wollte die Gewissheit, dass Pauline den netten und sympathischen Benedikt nicht mutwillig verletzte.

„Wie lief das Treffen mit Ihrem Fernando?“, fragte er so leise, dass der fröhlich vor sich hin pfeifende Benedikt im Nebenraum es keinesfalls hören konnte.

Hitze schwappte in Paulines Gesicht, ihre Ohren glühten verräterisch, und ihre Bewegungen wurden fahrig.

„Ich gebe zu, dass es wunderschön war …“, sagte sie die traurige Wahrheit. „Er ist immer noch so sprühend, gut aussehend und verwegen, wie er das schon früher war. Er ist einfach ein Mann zum Verlieben …“

Dr. Franks Herz krampfte sich zusammen.

„Und – haben Sie sich in Fernando verliebt?“

Endlich sah Pauline ihn an.

„Um ehrlich zu sein, ein bisschen schon …“, gab sie stockend zu. „Aber es ist nichts passiert. Es war nur ein absolut harmloses Abendessen.“

***

„Was hältst Du denn von diesem Blauton? Es muss doch nicht immer schwarz oder dunkelgrau sein. Und der Anzug hier passt perfekt zu deinen schönen Augen!“

Tilda sah ihren Sohn begeistert an, und die blonde Verkäuferin nahm vorsichtig das edle Kleidungsstück von der Stange. Es war ein aufwändig gefertigter Hochzeits-Anzug, der neben all den anderen deutlich herausstach.

Anerkennend nickte die Verkäuferin.

„Eine gute Wahl!“, lobte sie die Mutter des Bräutigams. „Wie ich merke, haben Sie Ahnung!“

Tilda freute sich über das Lob, aber es war nicht ihre Art, in Komplimenten zu baden.

„Ach, ich habe ja zwei Söhne aufgezogen“, tat sie ihren Sinn für Farbe und Stil bescheiden ab. „Da bekommt man irgendwann einen Blick für Männerbekleidung.“

Die Verkäuferin hielt das schöne Kleidungsstück vor ihren Kunden, und Philipp musterte sich kritisch im Spiegel.

„Das Besondere an dieser Kollektion ist die italienische Schnittführung“, erklärte die Blondine mit angenehmer Stimme. „Wie Sie auf einen Blick erkennen, ist der Anzug sehr körperbetont. Es werden übrigens nur ausgesprochen hochwertige Materialien verwendet. Lassen Sie mich mal sehen … ja genau. Es handelt sich um einen Wolle-Seide-Mix. Achten Sie doch mal auf das Futter und die auffällige Schneidernaht! Es sind solche kleinen Details, die diesen Anzug zu einem wahren Hingucker machen.“

Philipp verschwand in der Umkleidekabine und trat kurz darauf in dem eleganten Anzug wieder heraus.

Sein Vater, der sich kurzfristig hatte überreden lassen, mitzukommen, nickte bestätigend.

„Alle Achtung! So schick habe ich dich das letzte Mal bei deiner Kommunion gesehen!“

Tilda lachte. „Der steht dir wirklich perfekt!“, lobte sie. „Wenn du dir dazu noch hochwertige blaue Schuhe und ein schickes Tuch aussuchst … Ach, Philipp! Dass ich dich mal als Bräutigam erleben würde!“

Vater, Mutter und Sohn sahen sich vertraut an und lachten einvernehmlich. Gerührt musterte die Verkäuferin das eingeschworene Team.

„Vielleicht wollen Sie trotzdem noch mal was ganz Klassisches ausprobieren?“, schlug sie vor. „Einen Herrenanzug, der nie aus der Mode kommt. Auch das könnte Ihnen wirklich gut stehen! Auf der anderen Seite …“ Sie musterte ihn kritisch.

„Ich bin diesbezüglich aufgeschlossen!“, beteuerte Philipp. Die Verkäuferin half ihrem Kunden aus der teuren Jacke und legte sie vorsichtig auf den Tisch.

„Darf ich fragen, in welche Richtung das Kleid der Braut gehen wird?“, fragte sie. „Trägt die Herzdame ein klassisches Brautkleid oder ist sie der eher sportliche Typ? Dann würde ich eventuell einen lässigen Anzug eines jungen britischen Designers empfehlen. Diese topmodische Serie hängt allerdings hinten im Laden.“

Philipps Eltern wechselten einen verlegenen Blick.

„Meine Herzdame ist ein Mann“, sagte Philipp höflich.

Verwirrt starrte die Verkäuferin ihn an.

„Burschikos meinen Sie?“

Jetzt musste Philipp lachen.

„Nein, verzeihen Sie den dummen Witz. Ich feiere eine Verpartnerung mit meinem langjährigen Partner. Ich bin mit einem Mann zusammen. Natürlich wollen wir optisch zusammenpassen, was die Bekleidung auf unserer Hochzeit betrifft. Mein Freund wird in den nächsten Tagen selbst hier vorbeischauen und sich mit Ihnen beraten.“