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Eine Idylle österreichischer Beamtenherrlichkeit. Hawel selbst gehört zu den beliebtesten volkstümlichen österreichischen Erzählern und lebte in Wien.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Dr. Thorns Lebensabend
Rudolf Hawel
Inhalt:
Rudolf Hawel – Biografie und Bibliografie
Dr. Thorns Lebensabend
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Dr. Thorns Lebensabend, R. Hawel
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849627300
www.jazzybee-verlag.de
Österreichischer Schriftsteller, geboren am 19. April 1860 in Wien, verstorben am 25. November 1923 ebenda. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend wächst er in Wiener Neustadt auf und lässt sich zum Volksschullehrer ausbilden. Diesen Beruf übt er auch von 1879 bis 1916 in Wien aus. Zählt zu den volkstümlich-realistischen Erzählern.
Wichtige Werke:
· Märchen für große Kinder (1900)
· Mutter Sorge, Theaterstück (1902)
· Die Politiker, Komödie (1904)
· Kleine Leute, Roman (1904)
· Fremde Leut, Theaterstück (1905)
· Erben des Elends, Roman (1906)
· Der Naturpark, Theaterstück (1906)
· Heimchen im Hause, Theaterstück (1907)
· Im Reich der Homunkuliden, Roman (1910)
"Dann werde ich aufleben, dann werde ich wieder jung werden", erklärte Dr. Thorn seinen Bekannten unzählige Male.
Er meinte mit dem "dann" jene schöne, von ihm so heißersehnte Zeit, da er aus den Händen seines Chefs den bewußten "blauen Bogen" erhalten werde.
"Ich bin ja nicht wie die anderen", pflegte er hinzuzusetzen, "die nicht aufhören können, sich im Dienste des Molochs Staat ewig abzurackern, weil sie sonst nicht wüßten, was sie mit der freien Zeit anfangen sollten. Wenn ich einmal pensioniert bin, werde ich alle Hände voll zu tun haben. Denn dann habe ich wieder Arbeit übergenug, wieder ein neues, schönes Amt, von dem ich hoffentlich erst in späten Jahren enthoben werde."
Und wie ein seliges Kind plauderte er dann von allem, was er während dieser köstlichen, von keinem Amte bedrängten Zeit schaffen werde, von der Neuordnung seiner Sammlungen, von seinem Garten mit dem herrlichen Rosenflor, von den Hasen, Rebhühnern und Rehböcken in seinem Jagdrevier, von den Forellen in seinem Gebirgsbach und von tausend und abertausend anderen Dingen, mit denen er sich beschäftigen wird, nicht um des Broterwerbes willen, sondern einzig zur Freude seines Herzens.
Im Amte drinnen hatten sie den alten fröhlichen Herrn sehr lieb. Das kleine Männchen mit dem roten, lustigen Gesichte verbreitete um sich her einen warmen Schimmer von Behaglichkeit; selbst der alte Oberoffizial sah um eine Nuance weniger griesgrämig drein, wenn Herr Dr. Thorn das Wort an ihn richtete.
Herr Sauer, so hieß der Oberoffizial, laborierte an einem Magenleiden, das ihm viele Beschwerden verursachte und sein Gemüt schwer verdüsterte. Er war stets verdrossen und schimpfte über alles, während Dr. Thorn selbst der widerwärtigsten Sache eine angenehme Seite abzugewinnen verstand. Ein Gespräch zwischen den beiden war für die Herren im Amte stets eine Quelle reichen Vergnügens.
"Hundewetter, vermaledeites", schimpft Sauer, indes der Novembersturm klatschend den Regen an das Fenster treibt. "Man könnte..."
"Sie wollen schon wieder aus der Haut fahren", sagte milde lächelnd Dr. Thorn. "Sehen Sie, mich freut der Regen; da schauen Sie nur, Herr Sauer, wie das Wasser in kleinen Bächlein über die Fensterscheiben läuft. Herrgott noch einmal – das war jetzt ein Windstoß – haben Sie nichts gehört – alle Fenster haben geklirrt. Und da schauen Sie auf das Dach hinauf, wie der Sturm den Regen über den Schiefer treibt! Prächtig, über die Maßen prächtig! Und da können Sie schimpfen? Und wie behaglich es jetzt da herinnen ist! Da horchen Sie, wie der Wind im Ofen singt, er möcht' gern herein und winselt vor Kälte und Regen, aber er kann nicht. Die Stube ist gut verwahrt, und es ist so behaglich da herinnen."
Der Herr Direktor rieb sich vergnügt die Hände.
"Sauer, Sie sind ein sonderbarer Mensch", setzte er dazu.
Sauer sah mißmutig von der Seite auf seinen lebensfrohen Chef hin.
"Und wenn der Herr Direktor jetzt nach Hause gehn?" fragte er mit einem Gesicht, als wenn er in eine Zitrone gebissen hätte, "wenn der Regen Ihnen ins Gesicht schlägt und der Wind so heftig bläst, daß Sie keinen Schirm aufspannen können und ihn unter dem Arm tragen müssen? Und dann mit der freien Hand den Hut halten, daß er nicht unter die Elektrische geweht wird! Und in der nächsten Seitengasse werden Sie von hinten angeregnet, das kalte Wasser fließt Ihnen beim Halskragen hinein, tropft auf den nackten Rücken, und Sie bekommen einen Schüttelfrost, – und am anderen Tag eine Lungenentzündung. Für eine solche Freude, danke ich."
Der Herr Direktor bleibt mitleidig beim Tisch stehen.
"Sauer, Sie sind ein halsstarriges Kind", sagt er in ungemein wohlwollendem Tone, "sehen Sie, ich freue mich, wenn ich hinaus komme. Je ärger der Sturm und der Regen es treiben, desto lieber ist's mir. Ich stelle den Rockkragen auf, halte mit der rechten Hand den Hut und laufe wie ein Schusterjunge. Dabei denk' ich schon, wie hübsch es zu Hause sein wird. So schön warm, das Mädchen nimmt mir den Rock und Hut ab, schimpft dabei über das Hundewetter, bringt mir die Hausschuhe und meine lange Pfeife. O, herrlich, man muß nur verstehen, sich das Leben einzuteilen."
Herr Sauer schaut mißmutig auf den jovialen Direktor. In seinem Blick liegt etwas, so als wenn er der bestimmten Ansicht wäre, der Herr Direktor gehöre in ein Sanatorium.
"Jedes Ding hat eine gute Seite", schließt gewohnterweise der Herr Direktor seine heiteren philosophischen Ausführungen. "Sehen Sie, Herr Sauer, es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen haben das hübsche Talent, allen Dingen die beste Seite abzugewinnen, das sind die lustigen, glücklichen Menschen. Zu dieser Sorte gehöre zum Beispiel ich. Sie, Herr Sauer, gehören zur anderen Sorte. Sie sind einer von jenen, die an allen Dingen immer die schlechteste Seite herausfinden; das sind die traurigen, unglücklichen Menschen, die Misanthropen, die Melancholiker – brrr! Da sehen Sie sich den Spatzen an, der dort auf dem Gesimse sitzt; da, kommen Sie nur her zum Fenster! Dort sitzt er – dort auf dem Gesimse, tropfnaß ist er, der arme Kerl. Wie glücklich wäre der jetzt, wenn er bei Ihnen am Schreibtisch sitzen könnte!"
Die anderen Herren, die im Bureau sitzen, haben höchst belustigt den Ausführungen ihres Chefs zugehört. Derselbe Streit spinnt sich mit wenig Variationen das ganze Jahr hindurch zwischen den beiden Herren ab. Im Sommer, wenn brütend der helle Sonnenschein auf den Dächern und in den Straßen liegt, beklagt sich Herr Sauer über die gräßliche Hitze und freut sich der Herr Direktor über die Kühle in seinem Arbeitszimmer.
Als Herr Dr. Thorn erklärte, er werde demnächst um seine Pensionierung einkommen, erweckte diese Nachricht bei seinen Untergebenen ein recht wehmütiges Gefühl. Wenn sonst einer der alten Herren als Pensionist aus dem Amte schied und dadurch für ungeduldig Wartende den Platz frei machte, herrschte in dem Departement stets lebhafte Freude, die in den innigsten Glückwünschen für den ferneren Lebensgang des endlich, endlich Abtretenden passenden Ausdruck fand. Anders war es, als Dr. Thorn Miene machte, seinen Schreibtisch im Departement nun für immer zu verlassen.
"Sie wollen schon aus dem Amte scheiden?" fragte fast erschrocken der Herr Hofrat. "Sie sind ja noch sehr rüstig, Herr Direktor!"
"Ja, Gott sei Dank, das bin ich – und darüber freue ich mich auch – mir fehlt gar nichts. Aber ich werde morgen sechzig Jahre alt, und wie Herr Hofrat wissen ..."
"Ja, ja, Herr Direktor, ich lege Ihnen nichts in den Weg – nein, nein! Aber wenn Sie noch einige Jährchen geblieben wären – ich habe schon daran gedacht – ich würde eine Eingabe machen!"
"Verstehe, Herr Hofrat – meinen verbindlichsten, wärmsten Dank. Es wäre sehr hübsch, man könnte damit Staat machen. Wenn man zu Kaisers Geburtstag in die Kirche geht – mit so einem Bande im Knopfloch – da kriegen die Leute heillosen Respekt. Denn Herr Hofrat müssen wissen, ich gehe dann auf das Land mit meiner Schwester; das Haus ist nun fertig, und bis mein Pensionsgesuch erledigt sein wird, wird es auch schon gut ausgetrocknet sein!"
Der Herr Hofrat lächelte wider Willen.
"Mir ist leid um Sie, Herr Direktor", sagte er, "recht leid!"
Der Herr Hofrat hatte noch niemals in so herzlich wehmütigem Tone gesprochen.
"Sehr schmeichelhaft", erwiderte mit einer Verbeugung Dr. Thorn, "aber es ist schon alles bereit. Auch Gesellschaft habe ich dort: den Herrn Pfarrer, den Notar, den Bürgermeister, den Doktor, die Lehrer, den Förster. Letzterer ist mir besonders wichtig, sein Heger übernimmt auch mein Revier zur Beaufsichtigung. Man kommt jeden Abend punkt sieben Uhr im Gemeindegasthaus zusammen. Und dann werden der allgemeine Weltlauf und die lokalen Angelegenheiten besprochen, so bis gegen neun oder halb zehn Uhr abends – dann geht man nach Hause und legt sich friedlich aufs Ohr. Es wird sehr schön werden."
Herr Direktor Thorn sah bei diesen Worten so wundersam glücklich aus. Es war, als strahlte ein heller Schimmer von seinem Gesicht hin über den Schreibtisch, über die Aktenfaszikel, die dort lagen, und flöge leuchtend über die graue Tapete bis hinauf auf den Plafond.
"Und ist Ihnen denn so gar nicht leid, daß Sie von der Stätte, an der Sie so lange gewirkt haben, nun scheiden müssen?" fragte fast verdrossen der Herr Hofrat.
"Ja ... und nein ... wie man's nimmt. Ich werde oft daher denken und an so manches, das hier passiert ist. Aber mir ist zumute, wie in jungen Jahren, da ich noch auf dem Gymnasium war. Der letzte Tag vor den großen Ferien! Gerade so ist mir. Nun kann ich hinaus ... du lieber Gott ... wie schön ist das! Und ich hoffe, noch so manches Jahr so in Ruhe und frohem Glück dahinzuleben!"
Der Herr Hofrat war ernst geworden.
"Ich werde Ihr Gesuch befürworten. Ja, ich werde trachten, daß die Erledigung möglichst beschleunigt wird", sagte er. "Mögen Sie glücklich sein, und recht, recht lange, lange leben!"
Er wendete sich um und ging in sein Zimmer. Es war, als ob ihm der helle Sonnenschein, der auf Doktor Thorns Antlitz lag, die Tränen in die Augen gelockt hätte.
Und nun kam des fröhlichen Mannes Abschied. An dem Abend jenes Tages, da er sein Pensionierungsdekret erhalten hatte, hatte er seine Kollegen zu einer "Schlußfeier", wie er es nannte, in eines der besten Restaurants der Stadt geladen. Die Bewirtung war eine glänzende. Der Herr Hofrat war auch erschienen. Er hatte eine sehr ernste Rede gehalten, in der er der Tüchtigkeit des Scheidenden als Beamten das glänzendste Lob erteilte. In bewegten Worten hatte er erklärt, wie leid es ihm um den Herrn Direktor Dr. Thorn sei. Niemals noch war die Beamtenschaft mit dem Herrn Hofrat so einverstanden gewesen, wie an diesem Abend. Dr. Thorn hatte in seiner liebenswürdig fröhlichen Art gedankt, und als die Gläser aneinander klangen, glänzten alle Augen in Tränen. Man wußte nicht, waren es Tränen des Lachens über die lustige Rede, oder Tränen verhaltener Wehmut über den Abschied des lustigen Mannes.
Am nächsten Morgen kam der Herr Direktor noch einmal in das Amt. Er war sehr ernst.
"Lieber Herr Sauer", sagte er zu dem misanthropischen Oberoffizial, "werden Sie lustig – es kommt auf eins hinaus. Die Sachen, wenn's notwendig ist, umdrehen. Wenn etwas auf der einen Seite schwarz ist, ist es sicher auf der anderen Seite weiß, womit ich natürlich keinen Rauchfangkehrer gemeint haben will. Die sind außen ganz schwarz, innen aber doch sehr hell und freundlich, was ich von unserer Köchin weiß, die sich in unseren Distriktsrauchfangkehrer verliebt hat."
Alles lachte – alle Arbeit ruhte – die Herren umstanden gerührt den kleinen, frohseligen Mann.
"Meinen Federstiel, meine Löschrolle und mein Papiermesser nehme ich mit – und diese alte Aktentasche", sagte er. "Wenn ich meine Pensionsquittung schreibe, werde ich diese Sachen dazu verwenden, und in diesen Minuten wird mir zumute sein, als sei ich noch in Amt und Würden."
Als er diese Gegenstände einpackte, kam just der Hofrat herein. Er reichte dem Direktor bewegt die Hand.
"Also, Herr Doktor, leben Sie recht wohl", sagte er ernst.
Dr. Thorn verbeugte sich tief.
"Ich danke, danke, Herr Hofrat! Herr Hofrat werden mir gestatten, daß ich dann und wann eine Karte hieher sende. Ich werde mir, wenn ich diese Karte schreibe, einbilden, nur auf Urlaub zu sein."
Der Hofrat lächelte milde.
"Also viel Glück, recht, recht viel Glück!" sagte er und reichte dem Scheidenden die Hand.
Alles umdrängte den alten Herrn – und als er zur Tür hinaus war, eilten die Kollegen an das Fenster, um ihm nachzusehen.
Da schritt er über die Straße. An der Ecke blieb er stehen und sah nochmals zu dem alten Hause zurück. Als er die Kollegen am Fenster erblickte, schwenkte er fröhlich den Hut zu ihnen hinauf.
Die Herren gingen zu ihren Tischen zurück. Es war ihnen zumute, als sei aller Sonnenschein – alles Licht plötzlich aus dem Zimmer entschwunden.
Als Herr Doktor Thorn nach Hause kam, zeigte er ein so strahlendes Gesicht, daß sich selbst die Köchin und das Dienstmädchen, die doch an diese sonnigen Stimmungen ihres Herrn längst gewohnt waren, erstaunten.
"Der gnä Herr sind aber gut aufg'legt heut", meinte das Stubenmädchen, als sie ihm den Überzieher abnahm.
"Glaub' ich, hab' auch alle Ursache dazu, meine liebe Marie", sagte er fröhlich und nickte ihr mit seinem lachenden Gesicht zu. "Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Herrn Rechnungsdirektor in Pension Dr. Thorn. Horchen Sie mal, wie lieblich das klingt – in Pension! Es ist kein deutsches Wort, aber ein gutes, frohes, behagliches Wort."
Er rieb sich vergnüglich die Hände.
Ein riesig großer schwarzer Hund, der vorher auf einer mit einem weichen Teppich bedeckten Matratze in der Ecke gelegen war, war herbeigekommen und rieb vertraulich den schwarzen Kopf an den Beinen seines Herrn, wozu er fortwährend nieste.
"Pfui, Pascha", sagte der Herr Direktor, "ich hab' dir schon so oft gesagt, daß sich das nicht gehört. Du mußt dir eine andere Form der Begrüßung aussuchen. Diese wirkt verderblich auf die Beinkleider. Setz' dich!"
Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und hob die rechte Pfote. Der Herr Direktor drückte sie freundschaftlichst.
"So ist es recht, mein Pascha, so gehört sich's. Ja, mein lieber Pascha, jetzt geht's aus einem andern Ton. Heut sind wir in den Ruhestand getreten!"
Der Hund sprang auf und wedelte übermäßig mit dem Schweife, als wenn er voll und ganz verstände, was das heißt, in den Ruhestand zu treten.
"Ja, jetzt geht der Pascha mit seinem Herrn auf das Land. Jetzt braucht er keinen Maulkorb mehr zu tragen und kann äußerln geh'n, wann er nur will, ohne daß die Kathi oder die Marie mitgehen müssen!"
Der Hund gab einen seltsamen Laut von sich – es klang fast wie ein sehnsüchtiges Heulen.
"Aber Gustav!"
Die Zimmertür hatte sich geöffnet, eine Dame in schwarzer Kleidung mit einem unendlich feinen, blassen, von grauen Haaren umrahmten Gesicht sah heraus.
"Pardon, Pauline, aber ich muß Pascha doch erzählen, was jetzt kommt!"
Und er kehrte sich wieder zu dem Hunde, der vor ihm auf den Hinterbeinen saß, und abwechselnd die rechte und die linke Pfote hob.
"Ja, der Pascha", fuhr Dr. Thorn fort, "bekommt eine Villa, eine grün angestrichene Villa. Die steht unter dem großen Hollerbusch und hat eine Portiere, die aus einem persischen Teppich gemacht ist. Großartig, sag ich dir, Pascha."
Der Hund sprang auf und lief zur Spiegelwand, im Vorzimmer hin, wo auf einem Haken der Stock seines Herrn hing. Er stellte sich in ganzer Große auf und versuchte, den Stock mit den Zähnen zu fassen.
"Schau, was er macht", klagte lächelnd Frau Pauline.
"Er will gleich hingeh'n in seine Villa!" rief das Dienstmädchen und schlug die Hände zusammen.
"Pascha, laß das, komm her da!" rief der Herr Direktor. "Du mußt noch warten!"
Der Hund kam winselnd herbei.
"Ja, ja, mein Pascha, ich habe fünfunddreißig Jahre auf diesen schönen Moment warten müssen. Nur Geduld, du schwarzer Kerl, in acht bis vierzehn Tagen sind wir draußen. Ein Porzellanschild mit der Aufschrift ›Pascha‹ werde ich sogar an deiner Villa anbringen lassen, und das Frauerl muß in die Portiere mit Seide ein großes ›P‹ sticken!"
Er drehte sich um und ging zur Zimmertür. Er gab der alten Dame die Hand. Der Hund drängte nach.
"Na, ein wenig darfst du herein da, du willst wohl zuhören?"
Die alte Dame setzte sich in den Erker zu einem kleinen Tischchen, der Hund legte sich vor sie auf den Teppich und sah unverwandt mit den klugen, braunen Augen auf die beiden.
"Pascha ist neugierig", sagte Thorn. "Na, hör nur zu!"
"Also jetzt hast du endgültig Abschied genommen?" fragte Frau Pauline.
"Ja, liebe Schwester, mit dem heutigen Tag hat das Amt begonnen, für mich eine Erinnerung zu sein. In acht bis vierzehn Tagen geht's dann hinaus auf das Land. Ist dir nicht doch leid – in diese Einsamkeit zu gehen? Es ist ein großes Opfer, das ich von dir verlange!"
Die alte Dame schüttelte den Kopf und lächelte. Es war, als ob der wehmütige Schimmer der scheidenden Sonne eine stille Landschaft verklärte.
"Beruhige dich, Gustav", sagte sie. "Es war ja auch hier einsam. Und draußen bist du bei mir, so wie da."
"Und Pascha ist da – und deine Kanarienvögel werden da sein, die Marie und die Kathi – und Blumen wirst du in Hülle und Fülle haben – hundertmal mehr als da!"
"Nein, mache dir keine Sorgen, ich freue mich schon unendlich darauf, hinauszukommen. Denn hier mahnt so vieles an die böse Vergangenheit ..."
"Ach, laß das, das ist vorüber", sagte Dr. Thorn, "draußen am Lande wirst du das alles vergessen!" Er nahm ihre Hand und tätschelte sie. "Wenn wir einmal all das Gerassel und Gerummel nicht mehr hören, wird es auch Frieden werden in dir! Ja! Du, Pauline, weißt, wie mir zumute ist? Wenn heute jemand ›Herr Direktor‹ zu mir sagt, werde ich grob. Ich würde den Titel zurücklegen, wenn er nicht in so innigem Zusammenhange mit der Pension stünde, und in solchen Sachen muß man vorsichtig sein. Also in acht Tagen brechen wir auf?"
"Ja – auch früher – wie du willst", meinte Pauline.
"Nein, es ist Zeit genug in acht Tagen – du würdest dich sonst ganz zusammenrackern!"
"Aber Gustav", warf Pauline ein.
"Kein aber", sagte der kleine Herr streng und lachte dabei mit dem ganzen Gesicht.
Der Herr Direktor ging hinüber in sein Zimmer. Es war ein mäßig großer Raum mit einem einzigen, sehr hohen und breiten Fenster, das fast die ganze Schmalseite des Zimmers ausfüllte. Neben dem Fenster stand auf einem Bambustischchen ein Vogelbauer. Darin saß dick und frech ein Kernbeißer. Als Thorn eintrat, drehte er mißmutig den Kopf nach ihm, rückte zwei Schritte auf dem Sitzstängelchen naher und sperrte den dicken breiten Schnabel auf.
"O – Herr Sauer!" Thorn hatte ihm diesen Namen gegeben, weil der Vogel einen ebenso sauertöpfischen Charakter hatte wie der Herr Oberoffizial. "Nein, Herr Sauer, ich habe vom letzten Male genug – ich weiß schon, daß Sie tüchtig zwicken können. Aber ich bin nicht rachsüchtig. Vielleicht einige Kirschkerne gefällig?"
Thorn nahm aus einem Schächtelchen einen Kern heraus und reichte denselben, ihn vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger haltend, dem Vogel bin. Der Kernbeißer rückte näher, packte den Kern, ein Knacks, und die Splitter der harten Schale fielen auf den Boden hinab.
"Gut hast du das gemacht", sagte zufrieden Thorn. "Also, lieber Herr Sauer, wir ziehen auf das Land. Herr Sauer werden fortan immer im Grünen stehen, was Ihren Gemütszustand beträchtlich heben wird."
In diesem Augenblick geschah ein Wunder. Der Vogel fing leise zu zwitschern an.
"O bravo! Ja, wir verstehen uns. Großartig ist der Gesang nicht. Gesang aber ist es immerhin und Zeichen fröhlichen Gemütszustandes. Bravo! Herr Sauer wird auf dem Land sogar ein lustiger Mann werden!"
Er gab dem Vogel noch einige Kirschkerne in den Futternapf hinein, welch wohltuendes Gebaren er mit tiefem Interesse beobachtete.
Dann ging Thorn, die Arme über dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Musterhafte Akkuratesse und Reinlichkeit herrschten in dem Raum, alles spiegelte und glänzte, es schien, als läge ein Abglanz von dem fröhlichen Gemüt des Besitzers auf den blanken Möbelstücken, auf den blinkenden Goldrahmen der Bilder, auf dem mannigfachen, sauber geordneten Gerät, auf dem Schreibtisch und auf den Goldzieraten der Bücherrücken im großen Glasschrank.
Vor vier mit Spiegelscheiben versehenen Schränken im Zimmer blieb Thorn sinnend stehen. Drinnen lagen in verständiger Aneinanderreihung jene köstlichen anthropologischen Schaustücke, die er durch fünfunddreißig Jahre in kärglich bemessenen Urlaubswochen sich in stiller Herzensfreude zusammengetragen hatte. Messer, Pfeilspitzen, Dolche, Sägen, Äxte und Hämmer aus Feuerstein, große und kleine Töpfe aus Ton, Tonscherben mannigfaltigster Art, zierliche Fibeln, Trümmer von Hals- und Armschmuck, bearbeitete Tierknochen und das Prunkstück der Sammlung, ein Bronzegefäß, das er einst selbst unverständigen Kroaten, die es gelegentlich eines Bahnbaues aus der Erde gefördert hatten, um verhältnismäßig wenig Geld abgekauft hatte. Daß er damals die Sache nicht ordnungsgemäß höheren Ortes angezeigt hatte, hatte seine Ursache darin, daß der Grund, darin das seltsame Stück gefunden wurde, einst dem Vater des Herrn Dr. Thorn gehört hatte und diesem auf dem Weg der Expropriation von der Regierung abgenommen wurde, da sich die Behörde partout einbildete, die Eisenbahn müsse über den Acker des Herrn Thorn senior gehen.
Mit stiller Freude besah er den uralten Tand, und alle Lust und frohe Glückseligkeit, die er einst empfunden hatte, als er Stück für Stück zusammengetragen hatte, fingen wieder an, sich in seinem Herzen zu regen. Und aus diesem stillen Denken an jene ferne Zeit wendete sich dann fröhlich sein Gemüt der Gegenwart zu. Ihm war, als hätte er plötzlich die schöne Gegenwart vergessen; es fiel ihm auf einmal ein, daß er nun frei sei – frei wie ein Jüngling; es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er vor dem Kasten aufgejauchzt wie ein wilder Bergbub.
Auch seinem Gewehrschrank gönnte er manchen liebevollen Blick, und dabei stiegen die entzückendsten Zukunftsbilder vor ihm empör. Du lieber Gott, welch köstliche Tage werden nun kommen? Ja – er wird noch einmal jung werden!
In seinem Bauer begann der Kernbeißer wieder sein einfaches Liedchen.
"Was?" fragte Thorn, "auch du? Sonst ein Misanthrop der schlimmsten Sorte – tückisch und undankbar. Auch dein Herz ist heute fröhlichen Regungen zugänglich? Ja, mein Thorn, heute ist ein gottgesegneter, herrlicher Tag!"
*
In den nächsten acht Tagen hatte Herr Dr. Thorn alle Hände voll zu tun.
"Ich spüre derzeit noch nichts davon, daß ich in Pension bin", sagte er schweißtriefend zu seiner Schwester Pauline. "In meinem Amt hatte ich viel weniger zu tun!"
Aber wie genau er auch seine Arbeit machte. Jedes Stück der anthropologischen Sammlung, jede Pfeilspitze, jeder Tonscherben ward vorsichtig in graues Konzeptpapier gewickelt und säuberlich die Katalognummer auf das Päckchen geschrieben. Diese Arbeit nahm ihn drei Tage lang in Anspruch. Unterdessen ließ Frau Pauline alle Bilder abnehmen, die Teppiche vom Boden abheben, die Möbel mit Überzügen aus Sackleinwand versehen und den sonstigen Hausrat in umfangreiche Kisten verpacken. Die Wohnung Dr. Thorns glich dem Magazin eines Spediteurs. Die Mahlzeiten wurden zum größten Teil in einem nahe gelegenen Restaurant eingenommen. Kurzum, es war sehr ungemütlich. Aber daß es die Laune des Herrn Dr. Thorn verdorben hätte? Keine Spur!
"Gustav!" rief Frau Pauline, "komm herein und hilf da!"
Gehorsam humpelte Gustav in den Salon hinüber. Die wehmütige Gangart hatte er sich damit eingewirtschaftet, daß er sich beim Rücken eines Kastens den Fuß desselben auf seine große Zehe gestellt hatte.
"Was gibt es?" fragte er.
"Hilf uns die Kiste wegschieben! Was diese Bücher für ein Gewicht haben!"
Gustav schob mächtig an. Als die Kiste auf dem vorgeschriebenen Platze stand, richtete er sich schnaufend auf und rieb sich mit dem Sacktuche Gesicht, Hals und .Kopf.
"Sehr anstrengend! Ich kenne angenehmere Beschäftigungen als die eines .Möbelpackers!"
"Ich werde froh sein, wenn dies eine Mal alles vorüber ist!" sagte verzagt Pauline.
"Du bist ungeschickt", sagte Gustav,, "denk doch an all das, was nach diesen Mühen und Plackereien kommt! Diese Ruhe in unserem Landhause! Es wird dort sein wie in einer Kirche! Aber nicht so feierlich, sondern fröhlich, gemütlich und über die Maßen behaglich. Ich bin eigentlich schon müde, muß ich dir aufrichtig sagen, sobald ich aber anfange, zu merken, daß ich verdrießlich werde, denke ich schnell an unser Landhaus, und der Gedanke flößt mir sofort neue Kraft und Freude ein."
Endlich waren alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen. Am nächsten Morgen wurde der Möbelwagen erwartet, der alles zur Bahn bringen sollte.
"Nachmittags machen wir Johann den Abschiedsbesuch", schlug Gustav vor.
"Ja selbstverständlich! Wir müssen uns doch vom Bruder empfehlen", sagte Frau Pauline.
"Ja, ja ..." erwiderte eifrig Gustav. "Aber das muß ich dir sagen, lieber möchte ich noch einmal von vorne anfangen, einzupacken!"
"Aber Gustav!" verwies Frau Pauline.
Gustav gab keine Antwort.
"Den Hund nimmt Marie mit. Sie schläft die beiden Tage bei ihrer Mutter!"
"Wer wird ihn füttern?"
"Nun, Marie! Du weißt doch, du kannst da vollständig ruhig sein, eher verhungert, sie, als daß sie den Hund hungern läßt. Und ihr Vater ist ja so riesig stolz, wenn er mit Pascha spazieren gehen darf!"
"Ja, das ist wahr", sagte Dr. Thorn, und aus seinem Gesicht schwand der leichte Schatten, der bei der Erwähnung des Abschiedsbesuches bei seinem Bruder sich auf seinem Gesicht gelagert hatte.
"Marie ist sehr brav und ihr Vater ist ein guter, tierfreundlicher Mensch ...! Die beiden Zimmer für uns habe ich im Hotel bereits aufgenommen. Sie sind sehr einfach – aber recht freundlich –, wir werden uns denken, wir seien auf einer großen Reise begriffen."
Nachmittag schickte man sich an, den Abschiedsbesuch bei Herrn Rechnungsrat Johann Thorn zu machen. Als Dr. Thorn seinen Hut aufsetzte, sagte er: "Heute habe ich mir Gewalt antun müssen, ich wäre beinahe unwirsch geworden. Aber da fiel mein Blick zufällig auf Herrn Sauer ..."
"Aber Gustav, du solltest dem Vogel doch keinen Menschennamen geben – das gehört sich nicht ..." verwies Frau Pauline.
"Laß mir die Freude – er erinnert mich so stark an meinen Kollegen. Also, Sauer saß. dick und breit in seinem Käfig und sah aus wie die fleischgewordene Misanthropie. Ich rief ihn an. Nicht einmal den Kopf wendete er nach mir. Nun ging ich zum Käfig hin, steckte den Zeigefinger zwischen den Gitterstäben durch und wollte ihm freundlich zureden, aber sofort sträubte er die Halsfedern und hackte nach dem vorgehaltenen Finger. Ich zog den Finger eilig zurück. ›Du bist nicht gut gelaunt, das sieht häßlich aus‹, sagte ich, und dabei fiel mir ein, daß ich selber nicht gut gelaunt sei, nahm mich zusammen und versuchte, wieder ein freundliches Gesicht zu machen, was so leidlich gelang."
"Du und Johann habt euch nie gut vertragen", warf Frau Pauline ein.
"Da magst du recht haben – aber Abschied müssen wir doch nehmen von ihm. Morgen geht's dann hinaus – na, das tröstet mich!"
Er ließ durch das Mädchen einen Einspänner besorgen. Als der Einspänner nach längerer Fahrt bei der Wohnung des Bruders anlangte, schritt gerade ein hagerer Mann mit blassem, fast fahlem Gesicht, eine Aktentasche tragend, auf das Haustor zu. Das große Ereignis, daß vor dem alten Haus ein Komfortabel stehen bleibe, veranlaßte ihn ebenfalls, stehen zu bleiben. Dr. Thorn kletterte aus dem Wagen und half in höchst ritterlicher Weise seiner Schwester beim Aussteigen. Der lange, hagere Mann sah mit maßloser Verwunderung auf das Paar.
"Bist du's, Gustav ...? Ach, Pauline ..." sagte er.
"Ach, da ist ja Johann", sagte Dr. Thorn, "das trifft sich gut! Kommst du jetzt erst aus dem Amte?"
Die Begrüßung der Geschwister gestaltete sich sehr formell.
"Ja, ich komme jetzt erst aus dem Amte. Du kannst dir wohl denken, daß ich mich abrackern muß. Ich mach' Überstunden wie ein Fabriksarbeiter. Kommt ihr zu uns?"
"Wen sollt' ich denn in diesem Hause besuchen?" fragte etwas geärgert Dr. Thorn. "Wir ziehen morgen weg von Wien!"
"Also Abschiedsbesuch!" sagte Johann und schüttelte mißbilligend sein stark angegrautes Haupt; "und wie Ihr das Geld hinauswerft – dort oben ist gleich eine Haltestelle der Elektrischen. Die Einspännerkutscher wissen nie, was sie verlangen sollen. Aber du warst immer so!"
Er ging voran.
"Wir wohnen natürlich im dritten Stock. Aufzug ist keiner im Hause. Für Leute, die an Asthma leiden, ist das sehr unangenehm. Ich hoffe, es wird dir nicht zu viel werden, Pauline!" sagte er grämlich, indem er sich auf der Stiege nach dem Besuch umdrehte.
"O, ich hab noch genug Atem, sei unbesorgt", tröstete Pauline.
"Nein, dich habe ich nicht gemeint", sagte Johann, "Gustav wird es etwas schwer werden. Denn ich glaube, er leidet schon etwas an Arterienverkalkung. Was natürlich bei seinem Leben kein Wunder wäre. Er hat immer gut gegessen und getrunken, und das rächt sich dann in seinen Jahren."
Unter solch lieblichen Gesprächen stieg Johann die Treppe empor. Ziemlich verdrossen folgten die beiden nach.
Johann sperrte die Wohnungstür auf.
"Charlotte wird sehr überrascht sein", sagte er, als der Schlüssel im Vexierschloß knackste. "Wir haben nämlich gerade Waschtag. Du hast dir das gut ausgewählt – infolge der vielen Arbeit ist an einem solchen Tage meine Frau immer sehr nervös."
Als sie in die Wohnung traten, kam eben Frau Charlotte aus der Küche heraus. Auch sie war lang und hager und hatte ein schmerzliches, mageres Gesicht.
"Gustav und Pauline machen uns einen Besuch", sagte Johann zögernd.
"Heute – am Waschtag?" Frau Charlotte schlug entsetzt die Hände zusammen.
"Nun, wir werden euch nicht lange aufhalten", sagte Gustav. "Aber ich hab' mir eben gedacht – wir müssen doch noch früher zu euch kommen!"
"Ja, man sollte das glauben", sagte pikiert Johann.
"Wir wollen nicht stören", drängte sich Pauline vor; "den guten Willen habt ihr gesehen, also lebt wohl – laßt's euch gut gehen!"
Sie reichte beiden die rechte Hand hin. Mechanisch folgte Gustav ihrem Beispiel.
"Nein, nein, kommt nur herein da – das Vorzimmer ist wirklich nicht der Ort dazu. Schließlich sind wir ja doch Geschwister!"
Johann machte die Zimmertüre auf und bestand darauf, daß die beiden eintraten.
Das Zimmer sah ungemütlich und verstaubt aus. Das Rouleau an dem einen Fenster War schief in die Höhe gezogen; eine Schnur war abgerissen.
"Das solltest du doch einmal machen lassen", bemerkte etwas verlegen Johann.
"Ja, ja, kaum bist du zur Tür herein, fängst du schon an, zu knurren. Ich glaube – ich plage mich genug den ganzen Tag – wenn andere Leute hier sind, könntest du wohl den Mund halten." Frau Charlotte ging hinaus.
Es trat eine bange Stille ein.
"Also – du bist jetzt pensioniert, Gustav?" fragte Johann.
"Ja, Gott sei Dank!"
"Mir ist das aber nicht recht. Denn du hast mir dadurch einen Schaden zugefügt, einen großen Schaden. Wie ich gehört habe, warst du sehr beliebt im Amte – bei all deinen Vorgesetzten. Du wärst in wenigen Jahren Hofrat geworden, ja – auch einen Orden hättest du bekommen. Weißt du, daß du direkt ein Verbrechen an deinem Bruder begangen hast? Nun ja, wir sind eben Stiefbrüder."
In sprachloser Verwunderung sah Gustav seinem Stiefbruder ins Gesicht.
"Wieso ... wieso? ..."
"Wenn du Hof rat geworden wärst – und dazu einen Orden – du hättest etwas für mich tun können!"
In diesem Augenblick kam Frau Charlotte herein. Ihre Neugierde hatte über ihre Erregung gesiegt. Sie setzte sich zu ihnen zum Tisch nieder.
"Also ihr geht auf das Land! Für immer?"
"Ja", sagte Pauline.
"Da sind wir arme Narren!" sagte Charlotte seufzend und warf einen furchtbaren, fragenden Blick zum Plafond empor.
"Ihr werdet uns doch öfter besuchen", fragte Gustav.
Charlotte schüttelte energisch das Haupt.
Johann sagte schmerzlich: "Nein, Gustav, das kannst du von uns nicht verlangen. Mir würde das Herz zerbrechen. Wir sitzen da in Sorgen und Kummer, du bringst deine Tage im Wohlleben dahin ...! Das anzuschauen, würde ich nie übers Herz bringen!"
Die Tür ging auf, und ein Knabe von ungefähr vierzehn Jahren trat ein. Es war ein hübscher Bursch, aber in seinem Gesicht lag ein seltsamer, lauernder Zug.
"Eugen", sagte Johann, "Onkel und Tante sind da!" Eugen machte eine Verbeugung und reichte den beiden Respektpersonen die Hand.
"Grüß dich Gott, Eugen", sagte Gustav, froh, daß durch das Erscheinen des Knaben die wehmütige Rede seines Bruders unterbrochen wurde, "wie geht's dir?"
"Frage nur das nicht", krächzte Bruder Johann weiter, "das ist auch so ein Sorgenquell."
"Wieso ...?" fragte Frau Pauline.
"Lernt er nicht gut?" fragte erschrocken Gustav.
"Das ist keine Frage, lieber Bruder, Eugen ist sicher einer der fleißigsten und fähigsten Schüler der Anstalt, ungemein pflichteifrig. Charlotte kann es nicht anders sagen. Aber die Professoren!"
"Die Professoren!" klagte auch Frau Charlotte, zog ein Taschentuch von, unbestimmter Farbe aus ihrem Rock und drückte es an die Augen.
"Hat es was gegeben?" fragte Dr. Thorn.
"Erzähle, Eugen!" befahl der Vater.
Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit begann Eugen: "Ja, in der Klasse war ein fürchterlicher Tumult vor der Schule, daß der Schuldiener den Direktor holen mußte. Ich war der einzige, der ruhig in der Bank gesessen ist, die anderen schrien und lärmten, und als der Direktor kam, zeigten sie mich an, daß ich den Lärm gemacht habe!"
Er warf, wie wenige Minuten vorher seine Mutter, einen schmerzlichen Blick zum Plafond empor.
"Und was sagte der Herr Direktor?"
Da brach Eugen in furchtbares Weinen aus, wobei er ebenfalls ein Taschentuch von höchst unbestimmter Farbe an seine Augen drückte. Frau Charlotte stand auf, drückte den Sohn an ihren mütterlichen Busen und sagte: "Mach' dir nichts draus, Eugen, komm', trink da draußen in Ruhe deinen Kaffee – da herin ist es nicht möglich!" Plötzlich faßte sie eine furchtbare Wut.
"Weißt du, Schwager, wenn du nur herkommst, um Ärger und Verwirrung in die Familie zu bringen, dann ist es mir schon lieber, du bleibst draußen. Ich kann .eure Protzerei überhaupt nicht leiden!"
Sie ging mit dem heulenden Eugen hinaus.
Es war eine peinliche Pause, die nach dem Abgang der beiden entstand. Dr. Thorn erhob sich.
"Komm, Pauline", sagte er.
"Du mußt nicht böse sein über ihre harten Worte", wollte Johann begütigen, "sie ist eben Mutter. Ihr Herz blutet unter dem Unrecht, das man ihrem Kinde zufügt. Und dann ist es mit einer schweren materiellen Schädigung verbunden. Eugen verliert zum mindesten die Schulgeldbefreiung – bitte – ohne die mindeste Disziplin-Widrigkeit begangen zu haben. Es ist sogar noch fraglich, ob er in der Schule bleiben kann."
"Wenn er nichts getan hat ...?"
Dr. Thorn schüttelte zweifelnd den Kopf.
"Vielleicht hat er sich ein wenig an dem Rumor beteiligt, das kann ja schon sein", gab Bruder Johann zu, "aber die Strafe ist zu grausam. Eugen ist ein lebhaftes, aufgewecktes Kind – er ist kein Duckmäuser!"
Johann verschwieg die eigentliche Ursache des Schüleraufstandes. Der aufgeweckte Eugen war außergewöhnlich früh in die Schule gekommen und hatte Stiegen, Gänge und den Boden seiner Klasse mit den abgebrochenen Köpfchen roter Zündhölzchen bestreut, die die erfreuliche Eigenschaft besitzen, unter Stiefelsohlen mit einem durchdringenden Krach zu explodieren. Der Einzug der Schüler vollzog sich unter fortwährenden Detonationen, die bei den jungen Herren lebhafte Heiterkeit erregten. Noch ehe der erschreckte Direktor dem Schuldiener den Befehl geben konnte, die Sprengkörper abzukehren, war schon größeres Unheil angestiftet worden. Einer Mama, die besorgten Herzens zu irgendeinem Professor gekommen war, um Nachrichten über das Verhalten des Sohnes einzuholen, war auf der Schleppe des Unterrockes ein brennendes Zündholzköpfchen kleben geblieben, und beinahe wäre die Dame von hinten verbrannt worden. Sogar der seidene Unterrock hatte hell aufgeflammt und bei den liebevollen Bemühungen, den Brand zu löschen, hatten sich zwei herbeigeeilte Professoren, der Direktor und der Schuldiener die Hände tüchtig verbrannt. Die Dame war in Ohnmacht gefallen und mußte mit der Rettungsgesellschaft nach Hause geführt werden.
In der Konferenz war beschlossen worden, Eugen Thorn aus der Anstalt auszuschließen.
Der Papa des unglücklichen Kindes wischte sich die Augen aus.
"Ja", sagte er, "das Leben wird, einem schwer gemacht!" Da ging die Tür auf – ein junges, etwa siebzehnjähriges Mädchen stürmte herein. Es war, als fiele wunderhelles, schimmerndes Leuchten in die dämmernde, staubige Stube. Die schlanke, feine Gestalt mit den großen dunklen Augen ... wie kam die in diese Familie herein?
"Siehst du nicht, Elise, daß Onkel und Tante hier sind?" fragte verweisend der Papa. Er sah dabei sehr ernst drein.
"Ja ... Onkel, ... Tante! ... Ja, seid ihr's wirklich?" fragte Elise, "...ah, das ist schön ... Das ist ja mehr als ein Jahrhundert her, daß ihr nicht dagewesen seid! Und ihr geht schon?"
Und sie begrüßte die beiden mit heller, stürmischer Freude. Darauf setzte sich der Herr Rechnungsdirektor i. P. noch einmal nieder.
"Ja ... wir haben Abschied genommen!" sagte er. "Wir gehen auf das Land!"
"Du, Onkel", sagte stürmisch das schöne Fräulein, "und du, Tante ... bitt' schön, bitt' schön, gelt, ich darf dann zu den Ferien zu dir auf das Land gehen. Gelt, Onkel, auf einige Wochen nur ... nur vierzehn Tage ... höchstens drei Wochen ... bitt' schön, bitt' schön!"
Und sie faltete so reizend die Hände, und das liebe Gesicht leuchtete so innig.
"Elise ... schäm dich!" verwies aufs neue der Vater.
"Warum nicht? ... einige Wochen kann sie immerhin bei mir bleiben!"
"Die Mutter wird sich schwer von dem Kinde trennen", sagte pathetisch der Vater.
Elise sah mit einem sonderbaren Blick auf ihren Vater.
"Nein, nein, Onkel – Papa wird dir's ja erzählt haben – wir gehen heuer gar nicht aufs Land. Denk' dir, Onkel, das Kleid der Dame, das durch Eugens Schuld verbrannt wurde, kostet 296 Kronen. Und die muß Papa bezahlen."
"Wie?" fragte erstaunt Dr. Thorn.
"Was?" fragte Pauline.
"Elise ... rede nicht so dumm daher!" sagte wütend der Vater.
Die Tür ging auf, die Mama steckte den schlecht frisierten Kopf ins Zimmer herein.
"Ah ... bist du da, Elise?" fragte sie. "Geh gleich hinaus in die Küche und trink deinen Kaffee, sonst wird er kalt. Und du", wendete sie sich zum Herrn Gemahl, "könntest ihn auch am besten gleich draußen trinken. Oder soll ich dir ihn hereinbringen?"
"Ja ... hast du für Gustav und Pauline nicht eine Schale Kaffee?" fragte betreten der Herr Gemahl.
"Wieso ... woher? Ich war ja gar nicht vorbereitet. Ich müßte jetzt Milch holen lassen!"
"Ich hol' sie", sagte entschlossen das schöne Mädchen, "gib mir nur einen Topf..."
"Nein, nein", sagte Gustav und stand auf. "Komm, Pauline, wir müssen gehen."
"Du bist doch nicht böse?" fragte betreten Johann.
"Nein ... nein ... wir haben noch einen Besuch zu machen ..." log Frau Pauline.
"Ich müßte erst Feuer machen ..." entschuldigte sich Frau Charlotte.
Der Abschied war kühl. In wortreicher Rede beneidete Johann noch auf dem Gang draußen den glücklichen Bruder.
"Also, Lisel ... du kommst zu den Ferien!" sagte Dr. Thorn.
"Ja, komm', komm', Lise", lud Pauline ein.
"Ich glaube, für Eugen wäre es notwendiger", meinte Frau Charlotte.
Da stieg der Herr Direktor Dr. Thorn eiliger die Stufen hinab. Von der Höhe des Stiegenabsatzes winkten der Bruder und Frau Charlotte den beiden nach.
Elise ging mit zum Wagen.
"Komm' nur, komm' nur in den Ferien", luden sie Gustav und Pauline nochmals ein. "Ich schick' dir das Reisegeld."
"Ja, das mußt du tun, Onkel ... sonst könnt ich nicht kommen. Die daheim haben ja nie eine Krone übrig!"
Der Wagen rollte fort. Das schöne Mädchen blieb am Trottoir stehen und winkte, so lange der Wagen noch in Sicht war.
Dr. Thorn und Frau Pauline saßen stumm im Wagen nebeneinander.
"Hätten wir nicht doch Charlotte und Eugen einladen sollen, auf das Land zu kommen?" fragte ganz ernsthaft Gustav.
"Ich danke", sagte ruhig Frau Pauline.
"Ja, wir werden es schön haben", fing Gustav wieder zu schwärmen an, "jetzt, nachdem ich meinen Bruder besucht habe, sehe ich erst ein, wie glücklich wir sind, Pauline."
"Was es nur mit dem Kleide, von dem Elise gesprochen hat, für eine Bewandtnis haben muß?" fragte Frau Pauline.
Dr. Thorn zuckte die Achseln.
"Soweit ich den LackI kenne, steckt sicher irgendeine Spitzbüberei Eugens dahinter. Um Lisel ist mir leid, die arme Kleine verkommt unter denen. O, wie schön wird es da draußen sein, nur Licht und Glanz, Lust und Freude und stille, wohltuende Behaglichkeit."
Im Hotel wurde genachtmahlt. Gustav war in angeregtester Stimmung. Er traf zwei Bekannte aus dem Amt, und in längerer begeisterter Rede entwickelte er ihnen sein glänzendes Zukunftsprogramm.
Um halb elf Uhr begab sich Frau Pauline in ihr Zimmer.
Gustav blieb noch eine Weile sitzen; sein Herz war so warm geworden, daß er den beiden Herren noch einen Abschiedstrunk offerierte, Gumpoldskirchner von der besten Sorte.
Die Dinge nahmen eine fröhliche Entwicklung. Dr. Thorn ward so aufgeräumt, plauderte, lachte, ja, er versuchte sogar zu singen, daß die anderen Wirtshausgäste ganz vergnügt auf den lustigen alten Herrn mit der goldenen Brille und den roten Wangen hinsahen.
"Das Ende war gut", sagte Dr. Thorn zu sich, als er in mitternächtiger Stunde sein Schlafgemach im Hotel aufsuchte, "hoffentlich wird der Anfang morgen auch sehr gut sein. Noch eine Nacht – sie wird kurz sein, Bettschwere ist in genügendem Maße vorhanden."
Mit Rücksicht auf die in "genügendem Maß vorhandene Bettschwere" läutete er vorsichtshalber doch noch einmal dem Zimmerkellner und gab ihm, als er erschien, in liebreichen Worten den strengen Auftrag, ihn ja morgen um dreiviertel sechs Uhr zu wecken.
Der nächste Morgen ließ sich für Herrn Dr. Thorn zuerst etwas mißlich an. Die Bettschwere vom vorigen Abend hatte sich während der Nacht im Kopfe festgesetzt. Nur der Gedanke, daß es nun hinausgehe in die sonnige Freiheit, in sein Heim ... in jenen gesegneten Ort, wo er, wie er so oft pathetisch ausgedrückt hatte: "auf freiem Grund als freier Mensch stehen werde", hielt ihn aufrecht. Nachdem ihm Schwester Pauline ein Aspirinpulver gereicht hatte, begannen die Schatten des gestrigen Abends zu schwinden, und als der Wagen am Bahnhof landete, sah Herr Dr. Thorn schon wieder sehr fröhlich in die Welt hinein.
Als sie im Zuge in die Nähe ihrer zukünftigen Heimat kamen, unterließ es Dr. Thorn nicht, der Schwester jedes Dorf, jeden Weiler zu nennen, der vom Waggon aus sichtbar wurde. Und er zeigte eine erstaunliche Ortskenntnis. Er hatte sich diese im Laufe der zwei Jahre erworben, da er zu öfteren Malen wegen des Hausbaues in St. Ruprecht zu tun gehabt hatte.
"Und siehst du ... dort fängt mein Revier an ... und jetzt ... die Brücke führt über meinen Forellenbach ... aber da sind keine Forellen mehr darinnen ... denn zehn Minuten weiter oben hat ein Gerber sein Atelier, und die Forellen sind durchaus keine Freunde von Tannin und Gerbsäure. Und da, da ... siehst du dort die drei Hügel ... ich wette, das sind Tumuli ... dort werde ich graben lassen, bei dem Bürgermeister habe ich mich bereits wegen der Bewilligung erkundigt ... man wird mir nicht das geringste Hindernis in den Weg legen."
So plauderte er unablässig fort, voll Freude, munter, wie ein Schuljunge, der auf Ferien geht.
Im Bahnhof ward ihm eine große Enttäuschung zuteil. Er hatte geglaubt, die Freunde würden ihn alle dort erwarten. Niemand war da, ein Diener, den er gar nicht kannte, nahm ihm die Fahrkarten ab. Eben, als er mit Pauline den Perron verließ, entdeckte er, daß der Stationsvorstand in fluchtartiger Eile sich aus dem Bahnhofgebäude entfernte.
Mißmutig schüttelte er den Kopf.
"Das ist nicht schön!" brummte er vor sich hin.
Wortkarg ging er neben Pauline in den Markt hinein. Ein Bahnbediensteter führte ihm in einem Schiebkarren das Reisegepäck nach.
Frau Pauline war sehr erschrocken.
Aber sein Mißmut schwand, als er in die Nähe des Hauses kam. Dort standen sie ja alle, schon aus weiter Ferne winkten sie ihm zu. Auf einmal huschten dort zwei weiße Rauchwolken empor – zwei kurze Detonationen folgten nach.
"Es sind blinde Schüsse!" beruhigte Gustav. "Der Förster und der Heger waren es. Und jetzt seh' ich auch die anderen. Dort der kleine Dicke, das ist der Herr Bürgermeister und – welche Ehre – auch der Herr Pfarrer sind erschienen; und dort der mit der Glatze, wie eine Tonsur schaut sie aus, eine lange Pfeife raucht er, das ist der Oberlehrer. Auch der Herr Postmeister ist da, und Donnerwetter, der Stationsvorstand, er hat wegen meiner Ankunft seine Amtspflichten versäumt."
Die beiden waren noch fünfzig Schritte vom Hause entfernt, da erklang schon aus der Gesellschaft ein donnerndes Hurra, Hoch! Die Gewehre krachten noch einmal, und es fehlte nur, daß der Herr Pfarrer Befehl gegeben hätte, alle Glocken läuten zu lassen.
Der Empfang war ein ungemein herzlicher. Frau Pauline wurde mit möglichster Eleganz, so weit diese Eigenschaft den Freunden Dr. Thorns zu Gebote stand, bewillkommt. Gustav wurde etwas burschikos begrüßt, wie sich's für solche alte Knaben geziemt.
Die Herren traten durch den mit einem Laufteppich bedeckten Flur in den Hofraum ein, dessen Mitte ein riesiger Kastanienbaum schmückte. Im kühlen Schatten stand ein weißgedeckter Tisch, darauf in einem Kübel voll Eis eine stattliche Weinflasche, und um das Kühlgerät herum waren feingeschliffene Weingläser geschmackvoll arrangiert. Der Herr Bürgermeister zog die Flasche aus dem Kübel, goldiger Schein flog über die Tische, und als die Gläser gefüllt waren, bot das Arrangement einen ungemein prachtvollen und herzerhebenden Anblick.
"Ich bitte die Herrschaften, die Gläser in die Hand zu nehmen", gebot die weltliche Obrigkeit. Dann trat der Herr Pfarrer vor. Die Herren entblößten in alter Gewohnheit das Haupt.
"Meine lieben Freunde!" begann der alte, würdige Herr, "es ist uns Freude widerfahren, nicht nur unserem kleinen Freundeskreise, nein, auch unserer Gemeinde. Einen guten, klugen, fröhlichen Mann uns zu eigen zu wissen, ist ein großer Gewinn. Er mehrt unsere Freude in den schönen Tagen des Glückes und mildert die Tage der Trauer durch weisen Rat und fröhlichen Zuspruch. Möge Ihnen, Herr Dr. Thorn, durch die Güte des Allmächtigen beschieden sein, lange Jahre voll stillen, behaglichen Glückes in diesen Räumen, die Sie sich für den Abend Ihres Lebens erbaut haben, zu verleben, und mag es Ihnen, gnädige Frau, hier gelingen, in dem stillen, truglos gleitenden Leben das herbe Leid zu verwinden, das Sie in der Großstadt erlitten. Und noch eine Bitte, Herr Dr. Thorn: bleiben Sie uns immerdar ein wohlgesinnter, fröhlicher Freund" – Dr. Thorn reichte gerührt dem Herrn Pfarrer die Hand – "und nun, meine Herren, lassen Sie die Gläser aneinanderklingen zur Begrüßung unseres Freundes in der neuen Heimat. Gott segne, schütze und bewahre ihn, seine Lieben und sein neues Heim!"
Die Gläser klangen aneinander, unzählige Heils, Prosits und Willkommen erklangen.
Der Förster wollte eine Ehrensalve abgeben, schoß aber diesmal allein, da der Heger just das Weinglas in der Hand hatte. Er schoß eine halbe Minute später nach, was allgemeines Lächeln erregte, worauf der Heger um seine Verlegenheit zu verbergen, das Glas des Herrn Bürgermeisters leer trank.
Aber auch die weltliche Obrigkeit trat vor, erhob das neueingeschenkte Glas und fing zu sprechen an.
"Indem, daß ich hier der Bürgermeister bin, alsdann der Leiter der politischen Angelegenheiten dieses Ortes – nämlich der Marktgemeinde St. Ruprecht und mehrerer Orte und Rotten und als solcher die Pflicht habe, nach Gerechtigkeit und beschworenen Gesetzen ..." er stockte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, trank sein Glas aus – "und jede Ungesetzlichkeit ... die man ... die man..."
Der Herr Pfarrer lächelte milde. Es war immerdar sein Bestreben als geistliche Obrigkeit die weltliche zu unterstützen, er erhob nochmals sein Glas und rief: "Also nochmals hoch und herzlich willkommen", und im neuerlichen Jubel blieb die Verlegenheit des Bürgermeisters unbeachtet. Und dies um so mehr, als eine sehr exakte Salve folgte, deren Krach Frau Pauline bald einen Nervenchok zugezogen hätte.
"Aber jetzt, meine Herren, lassen wir die Neuangekommenen allein", mahnte der Herr Pfarrer.
Die Kommission verließ unter nochmaligen lebhaften Ehrenbezeigungen das Haus.
Die Zimmer waren schon leidlich in Ordnung, und todmüde setzte sich Frau Pauline in einen beim Fenster stehenden Fauteuil.
"Ja, wo sind denn Marie – die Köchin – und Pascha?" fragte erregt Dr. Thorn. "Wir haben sie in diesem Trubel ganz vergessen."
In diesem Moment erklangen eilige Schritte draußen auf dem Flur, dazu das Winseln eines Hundes, "'s Herrl ist da, Pascha!" rief eine Frauenstimme.
"Ah, da sind sie ja!" rief befriedigt Dr. Thorn und öffnete die Tür, und der schwarze Hund stürmte herein. Er war wie toll vor Freude, sprang ungestüm an Doktor Thorn hinauf, riß Frau Pauline fast in ihrem Fauteuil um, ergriff schließlich Dr. Thorns silberbeschlagenen Spazierstock mit den Zähnen und fuchtelte mit diesem in höchst gefährlicher Weise herum, so daß sich die beiden Mädchen, die mit strahlenden Gesichtern bei der Tür standen, gar nicht getrauten, einzutreten.
Mit vieler Mühe war der Hund gebändigt, und als er endlich keuchend mit lappender Zunge am Boden lag, fragte Frau Pauline erstaunt: "Ja, wo wart ihr denn?"
Das Rätsel war bald gelöst. Die Damen hatten sich geniert, unter solch hochhonoriger Gesellschaft zu erscheinen und hatten mit Pascha im Garten die Ankunft ihrer Herrschaft erwartet.
"Und die Schießerei kann ich überhaupt nicht vertragen, ich tu so viel erschrecken", erklärte die Köchin noch näher den Sachverhalt.
Während die Köchin ein kleines Gabelfrühstück bereitete, zeigte Dr. Thorn der Schwester die Wohnung.
Rechts vom Flur lagen zwei hübsche Zimmer, die Küche und die Speisekammer.
"Hier ist das Departement der Frau Pauline", sagte Gustav mit vieler Wichtigkeit. "Hier dieses lichte, freundliche Gelaß ist das Wohnzimmer und gleichzeitig die Stätte, wo feine Handarbeiten angefertigt, Romane gelesen und Briefe geschrieben werden. Ein lichter, heller Raum ... nicht wahr? Wenn hier einmal alles in der richtigen Ordnung ist und die Blumen am Fenster stehen, wird es da herrlich sein. Die Fenster gehen auf den Hauptplatz, auf dem sich alle weltbewegenden Ereignisse, die den Ort treffen, abspielen: die Feuerwehrtage, die Fronleichnamsprozession und so weiter. Und wenn ein Zirkus in den Ort kommt, so kann man von hier aus gratis, wie in einer Loge, die Darbietungen der Trapez- und sonstigen Luftkünstler bewundern. Pantomime, Parterreakrobatik und den Clown gratis zu sehen, ist leider unmöglich, da eine mächtige graue Leinwand die Kunststätte unten umgibt. Und hier ist das Schlafzimmer. Das Muster der Tapeten ist ein sehr ruhiges, auch werden mannigfache schöne Kunstwerke an den Wänden angebracht: Bilder, Statuetten und, was unbedingt nötig ist, ein ›Haussegen‹."
Frau Pauline lächelte.
"O, ich habe an alles gedacht ..." setzte Dr. Thorn mit stolzer Befriedigung fort.
"Und hier ..." er hatte die Schwester in die Küche geführt, wo ein Kachelherd neuester Konstruktion prangte. Kathi machte eben die Eierspeise.
"Brennt er gut?" fragte Dr. Thorn.
"Ja ... brennte gut", sagte die Köchin, "viel besser wie in Wien."
"Na also!" erwiderte Dr. Thorn, "wenn zur Ausstattung des Raumes noch was fehlen sollte, wird es ergänzt."
"Bitt dich, das ist ja ohnehin eine Hotelküche ..."
"Stimmt, stimmt", antwortete vergnügt der Bruder, "ich wollte eben alles so wohlhabend gestalten, als es nur anging."
Dann zeigte er die Speisekammer mit dem neuesten Eiskasten und schließlich das Mägdezimmer.
"Die Fenster sind mit Eisengittern verwahrt und gehen in den Garten. Wie ich gehört habe, wird hier im Orte seitens der jungen Burschen weiblicher Tugend sehr eifrig nachgestellt."
In diesem Moment meldete die Köchin, daß das Gabelfrühstück schon fertig sei. Gustav befahl, im Hofe, unter dem Kastanienbaum zu decken.
"Ach, diese Ruhe ... wundervoll", sagte er, als er mit Pauline in den Hof trat.
Aus seiner großen Hundehütte kam Pascha hervor und schmiegte schmeichelnd seinen Kopf an Dr. Thorn an.
"Hatte schon ganze Nacht in Hundshütte g'schlaf'n, g'fallte ihm recht gut dort!" sagte Kathi, als sie das Essen in den Hof brachte.
"Ja, auch Pascha ist Hausherr geworden", erklärte Dr. Thorn und streichelte des Hundes großen Kopf.
"Köstlich ... ausgezeichnet!" rief ein- über das anderemal Thorn aus, als er die Eierspeise verzehrte. "Und diese Luft ... ah ... großartig ... was, Pauline?"
"Jetzt müssen wir aber einmal mein Departement besuchen ..." meinte er dann und stand auf.
"Aber laß mich doch noch essen!" sagte vorwurfsvoll Pauline.
"Ja ... ja ... es schmeckt dir ... so ist es recht. Ich warte schon."
Dann wurden die Appartements des Dr. Thorn besichtigt.
"Hier das Wohn- und zugleich das Besuchszimmer. Von der Ausschmückung sieht man noch nichts. Nur die Schlafräumlichkeiten wurden instand gesetzt. Und hier, dieser große, fast fürstliche Raum" – es war ein Zimmer im Ausmaße von etwa achtzehn Quadratmeter – "wird das Museum aufnehmen!"
An der Wand standen die vier Kästen mit den Spiegelgläsern und mitten im Zimmer drei enorme Kisten, die die anthropologischen Schätze enthielten.
"Ich werde in den nächsten Tagen viel, sehr viel Arbeit haben, um alles dies zu ordnen. Davon, daß ich in den Ruhestand versetzt bin, werde ich wohl monatelang nichts verspüren. Aber es ist recht so!"
"Mein Schlafzimmer wird sehr einfach sein ... das Messingbett, ist aufgestellt, der Waschkasten und so weiter. Die Hauptsache ist und bleibt das Museum."
So waren sie plaudernd und bunte Zukunftsträume spinnend durch die spiegelblanken Räume des Hauses gegangen.
"Den Hof kennst du ja, den Kastanienbaum hat der Förster auf vierzig bis fünfzig Jahre geschätzt. Es wäre mir lieber gewesen, eine Linde stünde da. Lindenduft und Bienengesumm liebe ich über alles. Aber ich kann da keine Linde setzen lassen ... bis sie so groß ist, wie ich Linden liebe, spür ich längst von Lindenduft und Bienengesumm nichts mehr. Und wenn im Mai der Kastanienbaum blüht, sieht er ungemein prächtig aus, wie ein Christbaum, auf den man statt Kerzen lauter Lampen aufgesteckt hat. Ich bin auch mit dem Kastanienbaum zufrieden!"
Frau Pauline kam gar nicht zum Reden, sie konnte nur "ja, ja, freilich, freilich" zu allem sagen.
"Die Hütte ist groß genug für Pascha ... nicht? Aber einen besseren Vorhang aus irgendeinem Teppichstoff mußt du machen. Und das große gestickte ›P‹ vergiß nicht!"
"Soll ich das ›P‹ in Gold sticken?" fragte schalkhaft Frau Pauline.
"Ja, aber es müßten echte Goldfäden sein, da Kompositionen dem Witterungswechsel nicht gewachsen sind und das ›P‹ nur allzu bald die Farbe Paschas annehmen würde. Nimm hellgelbe Seide!"
Den Hof schloß eine graue Planke ab, durch die eine Tür ins Freie führte.
"Diese häßliche Planke wird kassiert, denn sie verschließt mir den Ausblick in mein liebliches Heiligtum, in den Garten. An ihre Stelle kommt ein Eisengitter mit Lanzenspitzen, um Turnern, die unmoralische Absichten hegen, den Eintritt in das Haus zu verwehren."
Sie gingen durch das schmale Pförtchen in den Garten hinaus. Es war ein alter, verwilderter Bauerngarten, die Wege mit Gras und gelbem Huflattich verwuchert, auf den Beeten wuchsen neben verkümmerten Gartenpflanzen alle möglichen Kräuter, wie sie draußen in Feld und Wald vorkommen. Ein mäßiger Hügel an der Plankenecke war botanisch besonders interessant. Denn hier sprossen mehrere Stauden des giftigen Stechapfels empor, und am Rande blühte sogar das häßliche Bilsenkraut.
"Hier hat mein Vorfahr sicher einen mäßigen Schutthaufen angelegt gehabt, dieses Giftgewächs gibt Zeugnis davon", sagte Gustav; "der Garten gleicht überhaupt einer Wüstenei – sieh nur, diese alten verkrüppelten Obstbäume! Aber groß ist er, wir müssen gut zehn Minuten gehen, bis wir an sein Ende kommen. Es sieht traurig aus, aber ich habe mir vorgenommen, aus dieser Wüste ein Paradies hervorzuzaubern. Bis hierher wird sich der Blumengarten erstrecken, in dem ich die köstlichsten und neuesten Sorten, die die Firma Schmidt in Erfurt in Handel bringt, pflanzen werde. In erster Linie Rosen in einer hier nie gesehenen Pracht – es wird ein Flor werden, daß meine guten Mitbürger hier, nicht nur die Augen, sondern auch den Mund aufreißen werden. Eine Taxushecke wird sehr schön den Blumengarten vom Nutzgarten abschließen."
"Na, das wird Arbeit genug geben, ich danke", sagte kopfschüttelnd die Schwester.
"Ja wohl, geliebte Pauline", stimmte Gustav zu, "aber frohe, freudige, gesunde Arbeit; Arbeit, deren Erfolg man täglich kommen sieht und deren Segen man an sich verspürt."
Er war ganz glücklich.
"Also hier wird der Nutzgarten beginnen. Du kannst dir doch denken, daß ich nur das auserlesenste Gemüse hier pflanzen werde und die besten Obstsorten: Die Wege werden eingesäumt mit Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern, natürlich ebenfalls hochedle Sorten. Diesem Teil des Gartens ist der größte Raum gewidmet." Sie gingen weiter. Der Boden steigt etwas an, Sand und Steine zeigten sich und der Pflanzenwuchs wurde seltener.