Drachenkinder - Hera Lind - E-Book

Drachenkinder E-Book

Hera Lind

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Beschreibung

Der Engel von Afghanistan

Als Sybille Schnehage während einer Reise nach Tunesien das Elend der Menschen sieht, macht es klick in ihrem Herzen: Sie will helfen. Ihr Einsatz führt sie nach Afghanistan, wo sie den kriegsverletzten Dadgul kennenlernt. Sie nimmt ihn mit nach Deutschland, lässt ihn behandeln und bei ihrer Familie wohnen. Erst nach Jahren kann Dadgul in sein zerstörtes Dorf Katachel zurückkehren und mit Sybilles Hilfe Schulen und Straßen bauen. Doch dann wird aus Dadgul ihr ärgster Feind. Und Sybille muss um ihr afghanisches Dorf, um ihre Reputation, um ihr Leben kämpfen.

Eine fesselnde Geschichte um verschenktes Vertrauen und gegensätzliche Kulturen.

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Seitenzahl: 477

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HERA LIND

Drachenkinder

Roman nach der wahren Geschichte

von Sybille Schnehage

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

Originalausgabe 01/2014

Copyright © 2014 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München unter Verwendung eines Fotos von © Jane Sweeney/Robert Harding World Imagery/Corbis und shutterstock

Umsetzung eBook | Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten

978-3-641-11307-0

www.diana-verlag.de

Gewidmet Sybille Schnehages Vater, Arnold Bosse

ERSTER TEIL

1987–1996

1

Nebenan schnarchte ein dicker Opa in der prallen Sonne auf seinem Liegestuhl. Um mich herum herrschte gepflegte Langeweile im Vier-Sterne-Ressort. Die Hotelgäste blätterten träge in Illustrierten oder starrten einfach Löcher in die Luft.

Das war irgendwie nicht der Tunesienurlaub, den ich mir vorgestellt hatte.

»Komm, Micki, ich habe keine Lust, hier herumzusitzen. Hauen wir ab!«

»Mich interessieren Land und Leute auch viel mehr als dickbäuchige Touristen beim Brutzeln«, pflichtete mir mein Mann Michael bei. »Rumliegen kann ich auch zu Hause in Bergfeld.«

Wir schnappten uns die Kinder und fuhren mit dem Taxi in die nahe gelegene Hafenstadt Zarzis. Gut eingecremt und mit Sonnenhut taperten Simon und Vanessa brav an der Hand neben uns her. Staub und Dreck, Hupen, lautes Stimmengewirr, fremde Gerüche, bunte Gewürze, Ziegen, barfüßige Kinder mit dunklen Gesichtern, die uns anstarrten – all diese ungewohnten Eindrücke stürzten auf uns ein. Mich erfasste ein aufregendes Prickeln.

»So sieht die Welt also aus, wenn man nicht im Hotelgetto bleibt!«

»Achtung, Eselskarren!«

Wir schoben uns durch die Souks, wo man Souvenirs aller Art bewundern konnte. Die Kinder klammerten sich an uns, halb ängstlich, halb fasziniert. Das Geschrei der Händler, ihr Feilschen und Lachen machte uns unsicher und gleichzeitig neugierig. Dazwischen drängten sich krebsrote Touristen durch das Gewühl, die sich gierig auf Silberschmuck und Lederwaren stürzten. Wie krass die zwei Welten hier aufeinanderprallten! Plötzlich empfand ich Scham.

»Puh, hier stinkt’s!«, jammerte mein Sohn und fächerte sich mit der Hand Luft zu.

»Na ja, wir sind in die Nähe des Schlachtplatzes geraten.« Michael nahm Vanessa auf den Arm. »Ist nicht gerade appetitlich hier.«

Mehrere Männer in bodenlangen braunen Kaftanen schleiften ein frisch geschlachtetes Schaf über den steinigen Boden und zogen eine ordentliche Blutspur hinter sich her.

»Lass uns mal da rübergehen!« Ich zupfte Micki ungeduldig am Arm.

Hinter der Markthalle lag in flirrender Hitze ein staubiger Platz, auf dem es von faulenden Gemüseresten nur so wimmelte. Fliegen umsurrten die stinkenden Abfälle. Ich presste mir ein Tuch vor Mund und Nase.

»Kein schöner Anblick«, bemerkte Micki. »Lass uns zum Hafen runtergehen. Bunte Fischerboote gucken.«

»Jetzt warte doch mal!« Wie angewurzelt blieb ich stehen. »Sind das etwa … Menschen?«

Mir stockte der Atem. Die schmutzigen Haufen am Rande des Schlachtplatzes, wo sich Abwasser mit Blutlachen mischte, die hatten … Gesichter!

»Schatz, das sind Bettler.«

Mir wurde schlecht.

»Aber der hier hat keine Beine!«

»Nein, Liebling. So sind die Zustände hier.«

»Er sitzt im Dreck! Und der hier ist blind!«

»Ja, mein Schatz. Das ist traurig. Hier sitzen eine Menge Krüppel. Was sollen sie machen?«

»Und diese völlig ausgemergelte Frau, die hat doch nicht etwa … O Gott, das ist ein – Baby!«

Die ausgezehrte Gestalt presste einen winzigen Säugling an sich und streckte bittend die Hand aus. Mitten im Gewühl, kaum beachtet von Händlern und Touristen, starrte sie uns mit riesigen glanzlosen Augen an: die nette, satte Familie aus Niedersachsen, die nur mal so zum Bummeln hier war. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

»Aber Micki, wir können doch nicht einfach so weitergehen!«

»Nein, Schatz. Wir geben ihnen was.«

Ich suchte nach dem Portemonnaie und verteilte mein ganzes Bargeld an die Bettler, die mich fassungslos anstarrten. Zahnlose Münder öffneten sich, um sich zu bedanken. Ich sah entstellte Gesichter, Geschwüre und verstümmelte Gliedmaßen. Ich sah das nackte Elend. Und das Beschämende war: Es lächelte. Demütig. Ich fühlte mich miserabel.

»Komm Sybille, jetzt ist es gut. Im Hotel ist jetzt Kaffee- und Kuchenzeit.«

»Kaffee und Kuchen?« Ein Abgrund tat sich auf. »Wir können doch jetzt nicht einfach so in unsere Vier-Sterne-Anlage zurückgehen und so tun, als ob wir das hier nicht gesehen hätten!« Mir schossen Tränen in die Augen.

»Liebes, ich weiß dein großes Herz sehr zu schätzen.« Micki legte den Arm um mich und zog mich fort. »Aber das ist kein Anblick für Kinder. Die sind schon ganz verstört.«

Simon und Vanessa blickten mit einer Mischung aus Faszination und Ekel auf diese menschlichen Wracks. Ihnen konnte ich das nicht verdenken, schließlich waren sie erst sechs und drei. Aber die Touristen, die auch noch ihre Kameras auf dieses Elend hielten! Wie können Menschen nur so seelenlos sein! Mich quälten schlimme Schuldgefühle.

Keine halbe Stunde später saßen wir wieder auf denselben Liegestühlen wie vorher, im Schatten von bunten Schirmen. Mir war, als würde ich aus einem bösen Traum erwachen. Hatte ich dieses Grauen wirklich gesehen? Musik dudelte aus den Lautsprechern, Kinder planschten im Pool, neben uns wurden Krimis gelesen oder Kreuzworträtsel gelöst. Livrierte Hotelangestellte servierten Drinks, Eis für die Kinder und verteilten Tücher, mit denen man sich die rote Rübe kühlen sollte. Wie dekadent! Am Buffet drängelte man sich um Torten und Kuchen. Aus dem Lautsprecher tönte ein bekannter Schlager: »Aber bitte mit Sahne!«

Mir wurde übel.

»Ich hatte Cola light bestellt«, herrschte eine Frau meines Alters den tunesischen Kellner an. »Hans-Joachim, ich habe in diesem Urlaub bestimmt schon drei Pfund zugenommen, weil die Kellner so blöd sind! Wenn wir zu Hause sind, musst du mich mit ’ner Sackkarre zum Auto bringen.«

»Dann mach doch einen Fitnesskurs!« entgegnete Hans-Joachim und wälzte sich auf seinem Liegestuhl wie ein Seeelefant, um seiner Gattin den Rücken zuzukehren. »Hör auf zu jammern!«

Jammern. Die verkrüppelten Gestalten auf dem Schlachtplatz hatten nicht gejammert.

Ich drehte mechanisch den Kopf. Wohin ich auch sah, wohlgenährte Körper. Weiter hinten am Strand begann gerade die Aerobicstunde. Ein entsetzlich gut gelaunter Vorturner in schrillem Fitnessdress brüllte zu lauter, rhythmischer Musik ins Mikrofon: »Uuuund: Knie heben, Knie senken, rechtes Bein hoch, und Hüfte drehen, Step vor, Step zurück …« Ein paar mollige Muttis in bunten Badeanzügen versuchten kichernd ihren Urlaubsspeck loszuwerden. Einige Bikinischönheiten stellten ihre makellosen Körper zur Schau.

Micki kümmerte sich währenddessen um unsere kleinen Mäuse, die gerade mit Schwimmflügeln im Kinderbecken herumtobten. Es war gut, sie abzulenken, damit sie das eben Gesehene möglichst schnell wieder vergaßen.

Auf Udo Jürgens folgte Bobby McFerrin, »Don’t Worry, Be Happy« – damals der Hit schlechthin.

Vielleicht sollte ich das jetzt auch tun: Mir keine Gedanken mehr machen. Vergessen. Spaß haben. Aber die Eindrücke von vorhin hatten sich mir regelrecht eingebrannt. Wie konnte man danach einfach so zur Tagesordnung übergehen? Wie sollte man lachend gegen den Wohlstandsspeck anhopsen, wenn man gerade nagendem Hunger und nacktem Elend ins Auge geschaut hatte?

Plötzlich machte es klick in meinem Kopf. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass das schreiende Unrecht auf dieser Welt niemals enden wird, wenn nicht einer anfängt, etwas dagegen zu tun.

2

»Vati, schau mal, diese Rollstühle! Die sind doch noch ganz gut in Schuss!«

Mein Vater und ich stöberten auf einem Schrottplatz in der Nähe von Wolfsburg herum. Da wir gerade an unserem Haus in Bergfeld bauten, sahen wir uns an den Wochenenden gern hier um – immer auf der Suche nach brauchbaren Dingen, die andere achtlos entsorgt hatten.

»Liebchen, wozu brauchen wir denn Rollstühle!« Mein Vater kam, die Hände in den Hosentaschen vergraben, gemütlich angeschlendert.

»Tunesien! Ich hab dir doch von den verkrüppelten Bettlern dort erzählt!«

»Ach, Schatz!« Mein Vater schüttelte seufzend den Kopf. »Du hast wirklich ein weiches Herz! Denk mal zur Abwechslung an dich und deine Familie! Hier!« Er hielt mir ein blaugelbes Kinderfahrrad unter die Nase. »Das wär doch was für Simon! Das Tretlager ist kaputt, aber das kriege ich wieder hin!« Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Das repariere ich für meinen Enkel, dann braucht ihr kein Geld für ein Neues auszugeben!«

Ich straffte die Schultern. »Vati ich meine es ernst! Diese beiden Rollstühle hier, kannst du die wieder flottmachen?«

Der Besitzer der Schrotthandlung, ein feister Kerl in speckiger Lederjacke, kam rauchend näher. »Für beide zusammen hundert Mark.«

»Hundert Mark?« Entrüstet starrte ich ihn an. »Die hat jemand weggeworfen!«

»Neunzig.« Der Kerl zog die Nase hoch. »Die sind noch tadellos. Muss man nur das Rad hier austauschen.«

»Die sind für arme Obdachlose in Tunesien!«, entrüstete ich mich.

»Mir doch egal!« Der Schrotthändler warf seinen Zigarettenstummel weg und zog erneut die Nase hoch. »Achtzig. Mein letztes Wort.«

»Arschloch!«, entfuhr es mir.

Mein Vater legte das Kinderfahrrad beiseite und sah mich liebevoll an. »Du meinst es ernst, was?«

Dankbar sah ich meinen Mitstreiter an. »Ja, Vati. Ich meine es ernst. Ich kann einfach nicht untätig bleiben.«

Vater drehte sich zum Schrotthändler um und streckte ihm die Hand hin.

»Sechzig. Mein letztes Wort.«

»Na meinetwegen!« Der Kerl sackte die Kohle ein und stapfte kopfschüttelnd davon.

Stolz zogen wir mit unserer Ausbeute ab. Immerhin: Das Kinderfahrrad hatten wir auch noch dazubekommen.

Nur drei Tage später stand Vati mit dem Ergebnis seiner Bemühungen bei uns am Gartenzaun: »Schaut mal hier, fährt wieder.« Stolz führte er uns den Rollstuhl vor.

»Ich will!«

»Ich will auch mal!«

Simon und Vanessa ließen sich hineinplumpsen und einmal um unser Grundstück schieben.

»Und wohin jetzt damit?« Michael kratzte sich am Kopf.

»Nach Tunesien!«

»Adresse?«, fragte Michael amüsiert. »Bettler ohne Beine, Schlachtplatz, Zarzis?!«

Wütend raufte ich mir die Haare. »Kinder, hört auf zu streiten, ich muss nachdenken!«

»Ihr Lieben, ich hab eine Adresse!« Mein Vater faltete mit gewichtiger Miene einen Zettel auseinander. »Habt ihr gestern zufällig die ZDF-Sendung über Afghanistan gesehen?«

Micki und ich zuckten die Achseln. »Nö.«

»Grauenvolle Zustände da! Was die Russen mit ihren Sprengsätzen und Granaten da angerichtet haben …« Er schüttelte den Kopf, und seine Lippen wurden ganz schmal. »Die armen Menschen! Hungernde Flüchtlinge, schlimme Kriegsverletzungen, Kinder ohne Eltern …«

»Vati …« Betroffen legte ich meine Hand auf seine Schulter. Er war sichtlich mitgenommen.

»Hilfe für Afghanistan.« Mein Vater zeigte auf den Zettel. »Die haben eine Adresse in Berlin eingeblendet. Dorthin kann man spenden.«

»Geld haben wir keines«, wandte Micki ein. »Wir bauen gerade ein Haus und haben nur ein Gehalt.«

Als die Kinder kamen, hatte ich meinen Beruf als Diplomphysikerin aufgegeben, um ganz für sie da zu sein.

»Aber dieser Rollstuhl!« Mein Vater zeigte auf sein Meisterwerk. »Den könnte man dorthin schicken.«

»Ach, Schwiegervater!« Micki stieß ein unfrohes Lachen aus. »Mit der Post oder was?« Er warf die Hände in die Luft: »Adresse: armer Krüppel in Afghanistan.«

»Micki«, rief ich entrüstet aus. »Wenn alle so denken würden, ändert sich nie was auf dieser Welt!«

»Es DENKEN alle Leute so.« Micki strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Jeder sagt, ach, das hat doch sowieso keinen Zweck. Jeder beruhigt sein Gewissen, indem er ein paar Mark spendet, an Weihnachten vielleicht, und wenn möglich, setzt er seine Spende von der Steuer ab. Und dann steckt er den Kopf in den Sand und kümmert sich wieder um seine eigenen Angelegenheiten.«

»Bis wieder so eine Dokumentation im Fernsehen kommt«, seufzte mein Vater. »Dann sind alle ganz furchtbar betroffen und schütteln die Köpfe, schimpfen auf die Kriegsverbrecher und Machthaber dieser Welt.«

»Und gehen zur Tagesordnung über«, sagte ich anklagend. »Vanessa, Simon, nicht so wild! Ihr macht mir ja den Rollstuhl schon wieder kaputt!«

»Also, ich lass euch jetzt eure Kinder erziehen.« Vater winkte mit dem Zettel: »Ihr hört von mir!«

Eine Woche später – ich schälte gerade Kartoffeln und spähte immer mal wieder aus dem Fenster, um die Kinder im Blick zu behalten – fuhr ein alter, klappriger VW-Bus mit Berliner Kennzeichen bei uns in Bergfeld vor.

Der junge, hochgewachsene dunkelhaarige Mann, der kurz darauf an der Tür klingelte, stellte sich in nicht ganz akzentfreiem Deutsch als Geschäftsführer des Vereins »Hilfe für Afghanistan«, kurz HFA vor.

»Hallo, Khalid Wakili mein Name. Ich hab gehört, hier ist ein Rollstuhl abzuholen?«

»Oh. Ja. Ähm … Simon und Vanessa, hört auf im Garten Rennen zu fahren und bringt das Ding mal her!«

Maulend schoben die beiden Kamikazefahrer ihr lieb gewordenes Spielzeug über den noch neuen Rasen. »Och, Mann eh! IMMER muss ich gleich alles wieder abgeben!«

»Der macht so’n Spaß!«, lispelte Klein Vanessa.

»Ja, aber andere Menschen können ihn besser gebrauchen!« Khalid Wakili ging in die Hocke und erklärte den Kindern, wie schlecht es manchen Menschen ging, die keine Beine mehr hatten.

Die Kinder nickten verständig. Sie erinnerten sich noch sehr gut an die armen Bettler in Tunesien. Bereitwillig trennten sie sich von ihrem Gefährt.

Khalid Wakili verlud den Rollstuhl in seinen Bus. »Leider habe ich keine Zeit mehr, Frau Schnehage. Aber Sie können mir glauben, die Not in den Flüchtlingslagern im angrenzenden Pakistan und Iran ist unvorstellbar groß. Ich versichere Ihnen, Ihr Rollstuhl kommt jemandem zugute, der ihn wirklich braucht.«

Er tätschelte den Kindern die Wangen und gab mir die Hand. »Toll, dass es wenigstens vereinzelt noch so engagierte Menschen wie Sie und Ihre Familie gibt!«

»Ist doch Ehrensache«, murmelte ich beschämt.

Khalid Wakili, der schon den röchelnden Motor angeworfen hatte, lehnte sich noch einmal aus dem Autofenster: »Sagen Sie, Frau Schnehage, wenn Sie noch mehr Rollstühle auftreiben könnten … Das wär echt super!« Er sah mich mit seinen großen dunklen Augen an.

»Sie meinen, ich soll … Ich könnte …?«

»Ja, das meine ich!« Khalid Wakili legte grüßend zwei Finger an die Stirn. »Ich muss weiter. Vielleicht höre ich von Ihnen! Tschüs, Kinder!«

Mit knatterndem Auspuff tuckerte der Bus vom Hof.

Ein paar Wochen später hielt ich ein Foto in den Händen und konnte kaum glauben, was ich da sah: Ein junger Mann ohne Beine saß in »unserem« Rollstuhl und winkte dankbar in die Kamera.

3

»Hallo? Spreche ich mit der Lokalredaktion?«

»Ja bitte? Was kann ich für Sie tun?«

»Wir suchen Rollstühle für afghanische Flüchtlinge in Pakistan«, erklärte ich dem jungen Redakteur, während Simon auf das Klavier einhämmerte und Vanessa mit viel Spucke in ihre bunte Kinderblockflöte blies. »Kinder, seid doch mal leise! Können Sie nicht einen Spendenaufruf machen? Die Rollstühle kommen wirklich an! Dafür sorge ich persönlich!«

Der nette Redakteur wollte gern ein Foto von meinem bastelnden Vater veröffentlichen – so nach dem Motto: »Wackerer Rentner wird nicht müde, für den guten Zweck zu arbeiten.«

Na, daran sollte es bestimmt nicht scheitern. Ich schickte ein Foto von Vati im Drillich – und weil ich gerade so gut in Form war, gleich auch noch eines an ein Hausfrauenmagazin (auf das ich gerade Kartoffeln geschält hatte).

So. Der Anfang war gemacht, ich hatte wirklich etwas getan. Beschwingt widmete ich mich wieder der Hausmusik meiner Kinder in Dresch-Moll und Blech-Dur.

Der junge Lokalredakteur hielt Wort: Es erschien ein anrührender Artikel über den »unermüdlichen Rentner Arnold B., der eigenhändig auf dem Schrottplatz brauchbares Material für die Ärmsten der Armen zusammensucht. Natürlich erschien auch das Foto von dem armen Flüchtling im Rollstuhl. Es trieb einem die Tränen in die Augen. Wow!

Vati war stinksauer, weil sich sein Kegelverein über ihn kaputtlachte und ihm der Männergesangsverein schon einen Heiligenschein an den Hut gesteckt hatte – aber damit konnte ich leben. Denn zu meinem grenzenlosen Erstaunen klingelte es von da an in regelmäßigen Abständen bei uns an der Haustür, und jede Menge ausrangierte Rollstühle wurden abgegeben. Schon bald türmten sich an die hundert Exemplare in unserer Garage! Mickis Familienkutsche musste draußen stehen.

Leicht verärgert, aber auch voller Bewunderung nahm mein Mann mein neues Engagement zur Kenntnis.

»Wenn du dir etwas in deinen hübschen blonden Kopf gesetzt hast, ziehst du das auch durch!«

»Klar!« Ich strahlte meinen Micki an. »Dich habe ich mir schließlich auch in den Kopf gesetzt, Herr Doktor Physikus!«

Während ich das Abendessen auf den Tisch stellte, erzählte ich Micki, dass sich heute Nachmittag bei mir eine junge Afghanin mit ihrem deutschen Ehemann eingefunden hatte, um weitere Hilfsgüter für Pakistan bei uns zwischenzulagern.

»Die beiden sind durch den Zeitungsartikel auf uns aufmerksam geworden, wir wollen zusammenarbeiten!«

»Aaah, meine Frau hat also Mitstreiter gefunden?!« Micki gab mir einen Kuss. »Solange das Essen nicht angebrannt ist, habe ich nichts dagegen einzuwenden«, sagte er augenzwinkernd.

»Na, das wäre ja noch schöner! Ich bin so aufgeregt!«

»Wieso? Bist du verliebt?«, zog mich mein Mann auf.

»Ja, du Knallkopp – in DICH! Aber das alles ist so neu für mich und voller Abenteuer.« Ich küsste Michael einen Klecks Tomatens0ße aus dem Mundwinkel.

Die Kinder grinsten uns mit ihren verschmierten Mündern an.

»Apropos voll – und wie kriegst du das ganze Zeug wieder aus der Garage, Frau Physika?«

Micki nahm sich noch eine zweite Portion Spaghetti aus der Schüssel.

»Du wirst es nicht glauben.« Ich verteilte Tomatensoße. »Deine Frau KANN schon telefonieren. Ich habe bei der Bundesbahn angerufen.«

»Bei der Bundesbahn?« Micki hörte auf zu kauen.

»Ja, was denkst denn du? Dass ich den ganzen Tag mit Bauklötzen spiele? Nö! Zwischendurch mach ich auch mal was SINNvolles«, sagte ich im O-Ton Loriot. »Dann hab ich was Eigenes.«

»Und was hat der Herr Bundesbahn gesagt?« Micki zwinkerte Simon und Vanessa belustigt zu.

»Dass die Bundesbahn die Hilfsgüter gratis zur HFA nach Berlin schafft.« Triumphierend streckte ich Micki die Zunge heraus.

»HFA ist noch mal was?«

»Der Verein ›Hilfe für Afghanistan‹.« Ich drehte meine Spaghetti mit der Gabel kunstvoll auf dem Löffel. »Ich bin schließlich nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen.«

Mickis Augen ruhten halb belustigt, halb bewundernd auf mir. »Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Das bist du weiß Gott nicht.«

Am selben Abend kuschelte ich mich in Mickis Armbeuge, und er knipste die Nachttischlampe aus. »Weißt du, was mir Samira, die junge Afghanin, erzählt hat?«

»Nein, Liebes« Mein Mann strich mir übers Haar. »Wollen wir jetzt nicht schlafen?«

»Ich kann nicht schlafen, Micki. Das kann einen doch nicht kaltlassen!«

»Also.« Micki setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe wieder an. »Was hat sie dir denn erzählt?«

»Die Kinder, Micki! Die Kinder!« Ich stützte mich auf. Mit brennenden Augen schaute ich auf meinen müden Liebsten herunter. »Die Minen haben ihre Beine zerfetzt!«

»Liebes, dein Mutterherz kann solche Informationen natürlich gar nicht ertragen. Jetzt wo Simon und Vanessa so klein und schutzbedürftig sind.«

Wir hatten die süßen Mäuse gerade gemeinsam gebadet und ins Bett gebracht. Und weil sie Angst hatten, die Tür wie immer einen Spaltbreit offen gelassen.

»Micki, mir will einfach nicht in den Kopf, dass ein paar Tausend Kilometer weiter südöstlich genau solche kleinen schutzbedürftigen Kinder mit offenen Wunden, ohne medizinische Versorgung, ohne sauberes Trinkwasser, ohne genügend zu essen vor sich hin vegetieren! Viele von ihnen sind Vollwaisen, weil ihre Eltern erschossen wurden! Die Kinder sind komplett traumatisiert. Man muss doch HELFEN!«

Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. »Wer dreht sich denn gemütlich im Bett um und schläft seelenruhig ein, wenn er so etwas weiß!«

Micki sah mich nachdenklich an. »Die meisten, Sybille. Wenn du mich fragst, neunundneunzig Prozent. Denn uns geht es gut, und unsere Kinder haben ein warmes Bett.«

Eine unbändige Welle der Wut schlug über mir zusammen.

»Aber MIR ist das nicht gleichgültig, Micki!« Ich schlug die Bettdecke zurück, weil mir so heiß geworden war. »Die Kinder dort leiden an infektiöser Knochenentzündung – kannst du dir diese SCHMERZEN vorstellen?«

»Nein. Entsetzlich.« Micki schloss gequält die Augen.

»Osteomyelitis. Das ist dort vor Ort nicht zu behandeln. Die Kinder verfaulen bei lebendigem Leib!«

»Aber was willst du dagegen tun, Sybille?«, wandte Micki zaghaft ein.

»Ich habe mir Folgendes überlegt: Morgen recherchiere ich, welche Ärzte auf diesem Gebiet tätig sind, und telefoniere sie alle einzeln ab. Ich werde eine kostenlose Behandlung für diese Kinder erbetteln. Und wenn meine Telefonrechnung sechsstellig wird!«

»Wo? Hier in Deutschland? Wie sollen die verletzten Kinder denn herkommen?«

»Ich kann einfach an nichts anderes mehr denken!« Hastig wischte ich mir eine Träne aus den Augen.

Micki legte sanft die Hand unter mein Kinn und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Ich kenne dich, Sybille. Das ist jetzt keine vorübergehende Laune. Wenn du wirklich helfen willst …« Er sah mich lange und liebevoll an. »Meinen Segen hast du.«

Okay. Er hatte es gesagt. Ich hatte seinen Segen. Das bedeutete, dass er am Wochenende bei den Kindern blieb, während ich wild entschlossen durch die Berliner Innenstadt stapfte. Ja, genau, ich hatte mich in den Zug gesetzt und war von Wolfsburg dorthin gefahren. Es sah aus wie ein Einkaufsbummel, war es aber nicht. »Hilfe für Afghanistan«, murmelte ich vor mich hin. Die Adresse war leicht zu finden. »Ab jetzt bin ich mit im Boot.«

Khalid Wakili arbeitete noch zu fortgeschrittener Stunde in seinem Büro. Seine Frau und die beiden Töchter leisteten ihm Gesellschaft.

»Ich brauche Röntgenbilder und Krankenberichte der Kinder«, platzte ich gleich mit meinem Vorhaben heraus. »Dann kann ich Ärzte und Krankenhäuser anschreiben und ganz konkret um eine kostenlose Behandlung bitten.«

Der hagere Afghane sah mich fassungslos an. »Das wollen Sie wirklich tun?« Gleich darauf griff er zum Hörer und rief, wie er sagte, Peshawar an.

»Wer ist Peshawar?«, fragte ich flüsternd seine Frau.

»Die Stadt mit den riesigen Flüchtlingslagern in Pakistan! Dort sind Millionen Afghanen untergebracht!«

In einer mir völlig unverständlichen Sprache erklärte Khalid Wakili unser Anliegen. Es kam mir vor, als ließe jemand ein Tonband rückwärts ablaufen, aber egal. In seinen Augen sah ich ein Leuchten, als er nickte, mitschrieb und schließlich den Hörer auflegte.

»Sie schicken Röntgenbilder.«

»Na bitte!«, sagte ich und wünschte noch einen schönen Abend.

4

»Das ist ja ein Kinderbauch voller Splitter!«, sagte der Chirurg der Kinderklinik Hannover, Professor Norbert Meyer, dem ich das erste Röntgenbild unter die Nase hielt. Er kniff die Augen zusammen und hielt die Aufnahme gegen das Licht. »Himmel, Herrgott! Wie kann ein Kind so etwas überleben!«

»Dort im Flüchtlingslager in Peshawar jedenfalls nicht«, sagte ich mit Nachdruck.

Der Arzt warf mir einen bedauernden Blick zu.

»Das Kind lebt nicht mehr lange«, sagte er. »Es müsste im Grunde morgen hier sein.«

Ich schluckte.

Der Chirurg betrachtete das Röntgenbild wie einen seltenen Schmetterling.

»Das ist eine medizinische Herausforderung. Aber ich kann es versuchen.«

Das ist ja toll!, hämmerte es zwischen meinen Schläfen. Ich erreiche etwas! Er macht es! Er macht es umsonst! Fragen kostet nichts! Er will es versuchen! Wie großartig ist DAS denn? Vielleicht kann ich dem Kind das Leben retten! Entschuldigung. Ich meine natürlich: ER.

Noch während ich ungeduldig in seinem Sprechzimmer saß, rief Professor Meyer den Aufsichtsrat seiner Klinik an, um das Finanzielle absegnen zu lassen.

Entschuldigend sagte er: »Formalitäten. Deutsche Bürokratie.«

»Macht ja nichts.« Ich strahlte. »Hauptsache, es tut sich was!« Meine Gedanken überschlugen sich. Das war schon mal geschafft. Aber jetzt musste es verdammt schnell gehen. Wie brachte ich dieses Kind nur bis morgen hierher? Konzentriert presste ich die Fäuste gegen meine Schläfen. Los, komm schon! Finde eine Lösung! Irgendwer Wichtiges ist da doch zuständig! Denk an die Fernsehbeiträge über Afghanistan!

Plötzlich spuckte mein Gehirn eine Information aus.

»Jürgen Todenhöfer«, murmelte ich laut. »Der Bundestagsabgeordnete!«

»Bitte!« Der Chirurg zeigte auf seinen Stuhl und das Telefon. »Wenn Sie die Reise des kleinen Patienten mit ihm absprechen wollen …« Anschließend vertiefte er sich wieder in das Röntgenbild.

Mit laut klopfendem Herzen rief ich im Bundestag an und ließ mich mit dem Bundestagsabgeordneten verbinden: »Es geht um Leben und Tod!«

Jürgen Todenhöfer zögerte nicht lange. Er war ein Mann der Tat. Schon nach kurzer Zeit rief er mich zurück und gab sein Okay: »Das Kind wird morgen früh um sieben von einer Maschine der Bundeswehr in Peshawar abgeholt. Sorgen Sie dafür, dass es pünktlich bereitsteht.«

»Äh, klar, Mensch, also … ähm … Ich meine, danke!«, stammelte ich und legte auf. »Wie soll ich das nur machen?« Verdattert sah ich den Chirurgen an, der mir fast amüsiert zugesehen hatte.

Ja, wie machte ich das denn mit MEINEN Kindern? Waschen, kämmen, Köfferchen packen, Butterbrotdose, Äpfelchen, Trinkfläschchen mit Strohhalm und ab?

»Da bringen Sie aber einen Stein ins Rollen«, sagte der Professor anerkennend. »Sind Sie ein Verein oder so was?«

»Nein«, sagte ich schlicht. »Ich bin einfach nur ein Mensch. Eine ganz normale Hausfrau und Mutter von neununddreißig Jahren.«

»Mit einem Herz aus Gold!«, sagte der Arzt beeindruckt.

»Quatsch. Mit ganz normalem Mitgefühl«, gab ich bescheiden zurück. »Kann ich noch mal telefonieren?«

Über Khalid Wakili erreichte ich, dass meine Mitstreiter, Samira samt Ehemann, die gerade zufälllig vor Ort waren, den Knaben am nächsten Morgen um sieben in die Bundeswehrmaschine setzen würden.

Prompt klingelte einen Tag später bei mir in Bergfeld das Telefon: »Knabe lebt noch, in Hannover abgegeben, ist bereits im OP.«

Ich konnte es nicht fassen. Weil ich nicht lockergelassen hatte, bekam dieses Kind noch eine Chance!

Jubelnd tanzte ich erst mal eine Runde im Nachthemd durch unser selbst gefliestes Bad.

Micki, der sich gerade rasierte, ließ den Pinsel sinken. »Großartig, Sybille.« In seinen Augen war so ein Leuchten. »Mein Gott, wie stolz ich auf dich bin!« Wie hatte Micki in der ersten Zeit unserer Verliebtheit immer gesagt? »Wo Derbheit sich mit Grazie paart, beginnt manch edlen Ritters Fahrt.« (Wobei ich entschieden von mir weise, derb zu sein. Außer beim Fliesenlegen oder bei gröberen Maurerarbeiten oder so.)

»Micki, ich will es sehen!« Mit der Zahnbürste in der Hand hüpfte ich aufgeregt auf und ab. »Los, wir fahren nach Hannover!«

»Jetzt?« Micki sah verdattert auf seine Armbanduhr.

»Na, klar!« Mit Schaum im Mund stand ich vor ihm. »Wenn es von Pakistan nach Hannover nur zwölf Stunden gebraucht hat, wann glaubst du, will ich es sehen? Nächste Woche?«

»Ja, also …« Micki schabte sich den Rasierschaum von der Wange. »Eigentlich hätte ich heute ganz normal Dienst in der Firma …«

»Heute ist kein normaler Tag!«

»Und die Kinder?«

»Gehen zu Oma und Opa!« Ich verschluckte mich fast an meiner Zahnpasta.

Micki sah mich gerührt an. »Du hast recht, Florence Nightingale. Heute ist kein normaler Tag. Wir fahren!«

Und als ich ihm stürmisch um den Hals fiel, murmelte er in meine Halsbeuge hinein: »Wo Derbheit sich mit Grazie paart …«

»… beginnt Sybille Schnehages Fahrt«, rief ich grinsend und drückte ihm einen Pfefferminzkuss ins Gesicht.

Natürlich hatte ich Schiss, als wir über den Krankenhausflur schlichen. So ein zerfetzter Bauch ist ja nichts, was man so vor dem Frühstück gerne besichtigt. Armer, kleiner afghanischer Patient! Würde er wach sein? Ansprechbar? Sich in Schmerzen winden? Unter Schock nach all den Strapazen? Lauter fremde Gesichter? Ohne Mama?

Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte mit Herzklopfen ins Krankenzimmer.

Navid Nurak saß kerzengerade in seinem Bett. Blass und verkrampft starrte er uns an.

»Wieso kann der sitzen?«, flüsterte ich fragend über die Schulter.

»Keine Ahnung,« gab Micki ebenso leise zurück. »Ich sehe jedenfalls weit und breit keine Wunde an seinem Bauch.«

»He, Kleiner, was ist los? Hast du Aua am Bauch?« Ich kniete mich vor den etwa siebenjährigen Jungen und nahm seine magere, kalte Hand.

Er starrte mich an. Klar – für den sprach ich ja auch rückwärts.

»Guten Tag, Frau Schnehage«, ließ sich Professor Norbert Meyer vernehmen.

»Wunderheilung?« Ich starrte ihn ehrfürchtig an.

»Nee, Frau Schnehage. Gucken Sie mal!« Der Arzt reichte mir eine Krankenakte.

»Richtiger Name, richtiges Alter, aber die falsche Verletzung.«

Ich verstand gar nichts mehr. »Äh … wie?«

»Na ja, der kleine Bursche hier hat Splitter im Bein, nicht im Bauch.«

»Aber das Röntgenbild?«

»Stammt wohl leider von einem anderen Kind.«

Ich schluckte. Das war jetzt bestimmt tot. Wütend wirbelte ich zu Micki herum. »Ich glaub, mein Schwein pfeift!«

»Sybille, bitte!« Micki kratzte sich verlegen am Kopf. »Entschuldigung, Herr Doktor, aber meine Frau ist manchmal ein wenig temperamentvoll.«

»Das habe ich auch schon gemerkt.« Der Arzt grinste. »Schauen Sie …« Vorsichtig zog er die Schlafanzughose des kleinen Jungen hoch, und entsetzt zuckten wir zurück.

Das Bein war von Splittern durchsetzt und deutlich verkürzt. Der ganze Unterschenkel war so dünn wie ein Fünfmarkstück.

»Unbrauchbar?«, flüsterte ich.

»Behandelbar«, gab der Arzt zurück. »Ein Jahr werden wir brauchen.« Er erklärte uns seinen Plan, der mehrere Knochentransplantationen vorsah. Anschließend würde er eine Orthese, also eine stiefelartige Beinstütze, anfertigen lassen und den Jungen durch eine langfristige Therapie daran gewöhnen. Sein Versprechen stand. Er machte es gratis.

Na toll, dachte ich. EINJAHR!

Ratlos sah ich in das verschüchterte Kindergesicht, das genauso ratlos zurückschaute. Aber ein winziger Funke Vertrauen glomm in den dunkelbraunen Augen. Der kleine Navid war völlig verwirrt. Er war in einem sauberen (!) Krankenhaus, lag in einem sauberen (!) Bett, hatte etwas im Magen (!) und lauter besorgte, liebevolle Blicke ruhten auf ihm. Hätte er damals schon gewusst, dass er mit deutscher Unterstützung einmal selbst Arzt werden würde, wäre er wohl noch verwirrter gewesen.

Der nächste kleine Patient war Rahim, den Khalid Wakili von der HFA eines Tages höchstpersönlich bei mir ablieferte. Der Junge hatte eine gelbe Gebetsmütze auf dem Kopf und heulte Rotz und Wasser. Kein Wunder, bestimmt hatte er schreckliche Schmerzen: Eine furchtbare Knochenentzündung fraß sich unter seinem Gipsbein immer tiefer.

»Kleiner, ich helfe dir. Verlass dich auf mich!« Kurz entschlossen packte ich das brüllende Bündel, schnallte es in Simons Kindsitz fest und raste zum Wolfsburger Krankenhaus. »Junge, hol doch mal Luft!« Los, Allah, dein Auftritt: Sag ihm dass ich eine von den Guten bin! »Ich tu doch, was ich kann!« Vor dem Krankenhaus blieb ich im Halteverbot stehen und trug den brüllenden Knaben zur Notaufnahme. »Können Sie uns vorlassen, wir können hier unmöglich warten!« Schweißgebadet steckte ich meinen Kopf in das kleine Glasfenster bei der Anmeldung. »Der Junge hat Schmerzen!«

»Erst mal müssen Sie diese Formulare hier ausfüllen!« Eine Hand schob mir gefühlte sieben Din-A-4-Seiten hin. »Krankenkasse, Name, Adresse, behandelnder Hausarzt …«

»Das ist ein Flüchtlingskind aus Afghanistan«, schrie ich gegen den Krach an, den das Flüchtlingskind machte. »Mit akuten Verletzungen!«

»Wir tun, was wir können.«

Dennoch saß ich unter den bösen Blicken der anderen Mütter eine gefühlte Ewigkeit im Wartezimmer und versuchte, den fremden kleinen Terroristen auf meinem Schoß zu bändigen. Verständlicherweise hatte er weder Lust auf Pippi Langstrumpf noch auf pädagogisch wertvolle Bauklötze. Auch mit einem Kinderschokoladeriegel konnte ich ihn nicht zum Schweigen bringen. Wie ich später lernen sollte, ekeln sich kleine Afghanen nämlich vor Schokolade: Sie wollen Zuckermandeln und getrocknete Feigen. Aber die gab’s hier gerade nicht.

Endlich wurden wir in den kleinen Behandlungsraum vorgelassen, und der Anblick, der sich mir nach dem Aufschneiden des Gipsbeins bot, war einfach nur grausam. Zu viert mussten wir den wild um sich schlagenden kleinen Kerl festhalten. Widerlicher Verwesungsgeruch schlug uns entgegen, und ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte. Grüner Eiter quoll aus den Wunden, der Knochen lag blank. Ich rang nach Luft, musste den Kopf wegdrehen. Jetzt bloß nicht schlappmachen, Sybille!, schnauzte ich mich selber an. Los, reiß dich zusammen! Du hast das Kind hergeholt, und jetzt stehst du ihm auch bei! Schweißgebadet presste ich den Kleinen an mich und versuchte, mir das blanke Entsetzen nicht länger anmerken zu lassen. Lächeln, Sybille! Trösten, gut zureden, streicheln.

Erst als der Knabe auf Station E 6 in seinem Gitterbettchen lag, hörte er auf zu schreien. Völlig fertig mit der Welt schlich ich zu meinem Wagen zurück, an dem – natürlich – ein Knöllchen steckte. Eingeschränktes Halteverbot! 70 Mark!

Danke fürs Helfen, Sybille.

Ach, wie wichtig, ach, wie nichtig, dachte ich völlig erschöpft, ist doch die deutsche Bürokratie!

Als ich eine Viertelstunde später beim Kindergarten vorfuhr, waren meine beiden Prinzenkinder not amused.

»Mama, wo warst du? Wir warten schon, wie siehst du überhaupt aus? Bäh, du stinkst.«

Na also. Das war doch ein gelungener Vormittag gewesen.

5

Treu und brav besuchte ich »mein« afghanisches Schreikind täglich im Krankenhaus, und immer wenn Rahim mich sah, ging das nervenaufreibende Gebrüll wieder los. Ich war für ihn logischerweise die Horrorhexe, die ihm Schmerzen zugefügt hatte und damit an all seinem Elend schuld.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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