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Matthias Naß

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

CHINA - TRIUMPH UND WIDERSPRÜCHE DER NEUEN SUPERMACHT

Chinas Aufstieg fasziniert die Welt – und lehrt sie das Fürchten. Unter Parteichef Xi Jinping erlebt das Land einen Rückfall in die Diktatur. Gleichzeitig dehnt es seinen globalen Einfluss immer weiter aus. Nicht nur in Amerika, auch in Europa wächst das Unbehagen an der neuen Weltmacht und an ihren Methoden. Droht ein neuer kalter Krieg oder sogar ein chinesischer Triumph über den Westen? Zeit-Korrespondent Matthias Naß gibt einen spannenden Einblick in das Land, das sich anschickt, zur Führungsmacht des 21. Jahrhunderts zu werden.

Pekings Machthaber perfektionieren die Überwachung ihrer Bevölkerung und errichten ein System aus Belohnungen und Strafen, mit dem sie regimekonformes Verhalten durchsetzen. Minderheiten wie die Uiguren werden brutal verfolgt und in Lagern «umerzogen». In Hongkong soll die Opposition zum Schweigen gebracht werden, während im südchinesischen Meer Chinas militärische Präsenz zielstrebig ausgebaut wird. Mit dem Riesenprojekt der «Neuen Seidenstraße» schafft China neue Abhängigkeiten im Mittleren Osten, Afrika und in Europa. Doch es gibt auch Probleme. Manches spricht dafür, dass China diesen Expansionskurs weder ökonomisch noch politisch auf Dauer durchhalten kann. Massive Umweltprobleme kommen hinzu. Und die Corona Krise hat vielen westlichen Ländern gezeigt, dass die Abhängigkeit von China ein kritisches Ausmaß erreicht hat. Matthias Naß kennt China so gut wie nur wenige andere und zieht in diesem Buch eine ebenso sachlich fundierte wie fesselnde Bilanz.

  • Der Führungsanspruch Chinas im 21. Jahrhundert und was diese Entwicklung für uns bedeutet
  • Klarer Blick auf die Widersprüche in der Politik der neuen Supermacht
  • Erste Brückenköpfe der «Neuen Seidenstraße» auch in Europa
  • Von einem der erfahrensten China-Korrespondenten

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Matthias Naß

DRACHENTANZ

Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet

C.H.Beck

Zum Buch

Chinas Aufstieg fasziniert die Welt – und lehrt sie das Fürchten. Unter Parteichef Xi Jinping erlebt das Land einen Rückfall in die Diktatur. Gleichzeitig dehnt es seinen globalen Einfluss immer weiter aus. Nicht nur in Amerika, auch in Europa wächst das Unbehagen an der neuen Weltmacht und an ihren Methoden. Droht ein neuer kalter Krieg oder sogar ein chinesischer Triumph über den Westen? ZEIT-Korrespondent Matthias Naß gibt einen spannenden Einblick in das Land, das sich anschickt, zur Führungsmacht des 21. Jahrhunderts zu werden.

Über den Autor

Matthias Naß ist internationaler Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat bei C.H.Beck zuletzt das Buch «Countdown in Korea» (2017) veröffentlicht.

Inhalt

Vorwort

I. Corona: Heimsuchung und Weltkrise

II. Revolution, Reform und Restauration

1. Mao Zedongs despotisches Gesellschaftsexperiment

2. Deng Xiaopings vorsichtige Öffnungspolitik

3. Xi Jinpings Rückfall in die Diktatur

III. Kommunistische Partei: Mechanismen der Herrschaft

IV. Überwachungsstaat: Auf dem Weg zur totalen Kontrolle

V. Xinjiang: Verfolgung und Umerziehung

VI. Hongkong: Das Sterben einer freien Stadt

VII. Taiwan: Die demokratische Alternative

VIII. Die «Neue Seidenstraße»: Globalisierung nach chinesischen Regeln

IX. Europa: Das Ende der Naivität

X. Deutschland: Die Geschäfte gehen vor

XI. Rivalität mit Amerika

1. Politische Annäherung und Entfremdung

2. Technologische Konkurrenz und neue Kommunistenfurcht

3. Wirtschaftliche Abhängigkeit und Entkopplung

4. Militärische Aufrüstung und neue Allianzen

XII. Auf dem Irrweg

ANHANG

Karten

Literatur

Anmerkungen

I. Corona: Heimsuchung und Weltkrise

II. Revolution, Reform und Restauration

III. Kommunistische Partei: Mechanismen der Herrschaft

IV. Überwachungsstaat: Auf dem Weg zur totalen Kontrolle

V. Xinjiang: Verfolgung und Umerziehung

VI. Hongkong: Das Sterben einer freien Stadt

VII. Taiwan: Die demokratische Alternative

VIII. Die «Neue Seidenstraße»: Globalisierung nach chinesischen Regeln

IX. Europa: Das Ende der Naivität

X. Deutschland: Die Geschäfte gehen vor

XI. Rivalität mit Amerika

XII. Auf dem Irrweg

Bildnachweis

Personenregister

Für Lisa, Sarah Mie und Stefan Akio

Vorwort

Vierzig goldene Jahre? Das ist natürlich übertrieben. Aber für China waren die vier Jahrzehnte von 1979 bis 2019 eine gute Zeit. Sie dürften zu den besten in der chinesischen Geschichte gehören. Kein Umsturz, kein Bürgerkrieg, keine Hungersnot. Stattdessen ein wirtschaftlicher Aufschwung, wie ihn das Land nie zuvor gesehen hatte. Die Freiheitsräume im privaten Leben der Menschen wurden größer. Das Land befreite sich aus seiner selbstgewählten Isolation. Bewundernd blickte die Welt auf das Wiedererstarken einer großen, fünftausend Jahre alten Nation.

Mit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings Ende 1978 ließ China die wirren gesellschaftlichen Experimente Mao Zedongs hinter sich, deren leidvolle Folgen die Bürger der Volksrepublik im Elend des «Großen Sprungs nach vorn» und in den Gewaltexzessen der «Großen Proletarischen Kulturrevolution» ertragen mussten. Es kehrte Ruhe ein im Leben der Menschen. Die Kinder gingen wieder zur Schule. Die Bauern durften ihr eigenes Land bewirtschaften. Privateigentum wurde nicht mehr verteufelt. Im Gegenteil, es galt nun die Devise Deng Xiaopings: «Es ist ruhmvoll, reich zu werden.» Und viele Chinesen wurden reich, einige sogar sehr reich. Sie kauften sich Wohnungen in Singapur oder Vancouver, schickten ihre Töchter und Söhne auf teure amerikanische Universitäten. Von Venedig bis Paris, überall drängten sich jetzt chinesische Touristen.

Alles andere als goldene Jahre waren es für jene, die politisch anderer Meinung waren als die Machthaber. Sie wurden ausgespäht, verfolgt und mundtot gemacht. Dennoch meldeten sie sich immer wieder zu Wort: auf Wandzeitungen, in literarischen Zeitschriften, bei Demonstrationen. 1989 erfasste eine Demokratiebewegung das ganze Land. Die Menschen versammelten sich friedlich, bis die Armee den Protest in der Nacht zum 4. Juni am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens mit einem Blutbad beendete. Ein Trauma, das bis heute nicht weicht.

Schon in den Jahren, die auf das Tiananmen-Massaker folgten, wurde die Überwachung der Bevölkerung immer ausgeklügelter. Die «große chinesische Firewall» schottete die Bürger vom freien Zugang zum Internet ab. Die Zensur erstickte jede Kritik am Regime. Zwischen der kleinen Freiheit im Privaten und der großen Freiheit in der Politik verlief eine tiefrote Linie. Nur sehr Mutige überschritten sie und zahlten dafür einen hohen Preis.

Und doch, das Leben der vielen, die sich von der Politik fernhielten, besserte sich. Dies war ja der Deal, den die Kommunistische Partei den Bürgern anbot: Haltet den Mund, dann lassen wir euch in Ruhe Geld verdienen. Eine stille Übereinkunft, auf die sich die meisten einließen. Kritik aus dem Ausland fand das Regime zwar lästig, maß ihr aber keine große Bedeutung zu. Die Wirtschaftsführer im Westen, die mit China Geschäfte machen wollten, schauten ohnehin nicht so genau hin. Kein Markt der Welt war verführerischer, alle wollten dabei sein. Den Diebstahl geistigen Eigentums, den erzwungenen Technologietransfer, die Joint Ventures wider Willen nahmen sie hin. Sie konnten es sich nicht leisten, die chinesische Bonanza zu verpassen.

Im vierten Jahrzehnt nach Beginn der Reformen kippte die Stimmung. Der Unmut wuchs über ein China, das die Chancen des liberalen Weltwirtschaftssystems nutzte, aber weiterhin nach den eigenen Regeln spielen wollte. Das sich weigerte, der erhoffte «responsible stakeholder» zu werden – ein verlässlicher und verantwortungsvoller Mitgestalter der internationalen Ordnung. Diese Kritik war in Europa genauso zu hören wie in Amerika. Aber es brauchte die Skrupellosigkeit eines Donald Trump, um China wegen seiner Regelverstöße gleich den Handelskrieg zu erklären. Mit dem Spürsinn eines Raubtiers sah er die Schwächen des Rivalen und trieb die Volksrepublik vor sich her. Trump drohte mit einer «Entkopplung» der beiden größten Volkswirtschaften der Welt und tat alles, um ein Vorzeigeunternehmen wie den Technologiekonzern Huawei in den Ruin zu treiben.

Die Europäer waren sich in ihrer Haltung der Volksrepublik gegenüber nicht einig, jedes Land trachtete nach dem eigenen Vorteil. Und die Führung in Peking tat das Ihre, um Europa zu spalten. Zugleich einte sie die Europäer mit ihrem Verhalten wieder. Bei einigen Regierungen waren es Pekings leere finanzielle Versprechen, die zu einem Umdenken führten, bei anderen die aggressiven Einkaufstouren chinesischer Investoren, bei fast allen die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen. Dies alles summierte sich nach Jahren der China-Euphorie zu einer tiefen Desillusionierung.

Als Xi Jinping seine Ämter als Parteichef (2012) und als Staatspräsident (2013) antrat, galt er als Reformer. Welch ein Irrtum. Unter Xi legte Chinas Politik ideologisch den Rückwärtsgang ein. Die KP startete eine Kampagne gegen «westliche Werte», verschärfte noch einmal die Zensur, stärkte die Staatsbetriebe auf Kosten der Privatunternehmen, unterdrückte die muslimischen Minderheiten, setzte Hongkongs vertraglich zugesicherte Autonomie außer Kraft und drohte Taiwan mit gewaltsamer Wiedervereinigung.

Dann trat von Wuhan aus das Coronavirus seinen tödlichen Weg um die Welt an. Peking bekämpfte, nach anfänglichem Vertuschen, die Pandemie mit rücksichtsloser Härte – und war damit erfolgreich. Kaum war das Schlimmste überstanden, erklärte die Regierungspropaganda, der Sieg über das Virus beweise die Überlegenheit des chinesischen Systems. Nur wollte die Welt vom «Modell China» nichts wissen. Sie fühlte sich vielmehr abgestoßen vom herrischen Auftreten der chinesischen Diplomaten, die sich unter dem Beifall der chauvinistischen Presse daheim in «Wolfskrieger» verwandelt hatten.

Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sanken auf einen Tiefpunkt. Washingtons Außenminister rief den Westen zu einer «Allianz der Demokratien» gegen China auf. Daran mochte sich Europa nicht beteiligen. Überhaupt wollte es sich nicht in die Rivalität der beiden Giganten hineinziehen lassen. Von einer wirtschaftlichen «Entkopplung» hielten die Europäer auch nichts, es wuchs bei ihnen aber der Wunsch, sich aus der allzu großen Abhängigkeit von China zu lösen, nicht nur bei Schutzmasken und Medikamenten.

China wiederum schien den Streit regelrecht zu suchen. Ausgerechnet im Jahr der Coronakrise legte sich die Volksrepublik mit der halben Welt an. Die Führung in Peking erpresste Australien mit Embargodrohungen, nahm zwei kanadische Bürger in eine Art Geiselhaft, beschimpfte die Regierungen Schwedens, Tschechiens sowie Großbritanniens, lieferte sich zu allem Überfluss ein Grenzscharmützel mit Indien.

Und wunderte sich, als sich Widerstand regte. Australien, Indien, Japan und die Vereinigten Staaten intensivierten ihre Kooperation in der «Quad», jenem lockeren Verbund, der vor allem eines verhindern will: eine Vorherrschaft Chinas im Indo-Pazifischen Raum. Japan überlegte, ob es den «Five Eyes» beitreten sollte, jenem Zusammenschluss fünf angelsächsischer Länder (USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland), die ihre nachrichtendienstlichen Erkenntnisse untereinander austauschen. Sogar die Nato begann sich mit China zu beschäftigen. In Berlin legte die Bundesregierung «Indo-Pazifik-Leitlinien» vor; die Große Koalition sah in Chinas wachsender Macht eine Gefahr für die Stabilität der Region und plädierte für eine engere Zusammenarbeit mit traditionellen Partnern wie Japan, Indien und Australien.

Es war eine eindrucksvolle Phalanx von Ländern, die Peking gegen sich aufgebracht hatte. Aber die Machthaber in der Volksrepublik blieben gelassen, sie mussten schon ganz andere Herausforderungen bestehen. Und doch waren sie irritiert. Denn in der weltweiten Kritik offenbarte sich Chinas vielleicht größte Schwäche: der Mangel an politischer Anziehungskraft, an Soft Power. Die Volksrepublik hat wenig Freunde und keine Verbündeten von Gewicht. Wenn China zur zweiten ebenbürtigen Supermacht neben den USA aufsteigen will, dann wird das Land auf diesem Weg ziemlich einsam sein.

Aber hat China diesen Ehrgeiz überhaupt? Will es zu den Vereinigten Staaten aufschließen, gar an ihre Stelle treten? Will es die weltpolitische Verantwortung einer Supermacht tragen? Blickt man auf die Geschichte des Landes, spricht wenig für solche Ambitionen. Nichts lag China in der Vergangenheit ferner, als seine Ordnung anderen Ländern aufzuzwingen oder in fremden Weltgegenden Streit zu schlichten. Das ist heute nicht viel anders. In der friedlichen Entwicklung des eigenen Landes zu auskömmlichem Wohlstand sieht Pekings Führung ihren wichtigsten Beitrag zur internationalen Stabilität.

In Asien und im Westpazifik allerdings soll keine andere Macht den Ton angeben. Hier tritt China als eine Hegemonialmacht auf, die ihre Interessen mit aller Härte durchsetzt. Die Gefahr eines militärischen Konflikts im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan darf deshalb niemand unterschätzen.

Für Europa geht von der Volksrepublik keine militärische Bedrohung aus. Sehr wohl aber ist sie, wie es die Europäische Kommission formuliert hat, ein «systemischer Rivale». Der autoritäre Staatskapitalismus Chinas lässt sich mit Europas Vorstellungen von freiheitlicher Demokratie und liberaler Marktwirtschaft nicht vereinbaren. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron forderte deshalb zu Recht ein «Ende der Naivität». Reiner Spaß wird der zu erwartende Drachentanz mit dem Konkurrenten China nicht sein.

Die Arbeit an diesem Buch hat knapp anderthalb Jahre gedauert. Meine journalistische Beschäftigung mit China aber reicht zurück bis zum Beginn der achtziger Jahre. Das Studium der Sinologie hat mich darauf vorbereitet. Meine Professoren Rolf Trauzettel (Göttingen), Daniel Kwok und John DeFrancis (Honolulu) sowie Wolfgang Franke und Liu Mau-Tsai (Hamburg) waren wunderbare Lehrer, denen ich bis heute dankbar bin. Und nie ist das Gespräch über China mit meinem Freund und Lehrer Kuan Yu-Chien abgerissen.

Seit 1983 habe ich in der ZEIT den Wiederaufstieg Chinas beschrieben und kommentiert. Auf vielen Reisen durch das Land war ich Zeuge einer atemberaubenden Erfolgsgeschichte, aber auch dramatischer Rückschläge. Es war ein großes Glück, in all diesen Jahren zum Thema China in der ZEIT-Redaktion zwei eminent kluge und erfahrene Gesprächspartner zu haben: Theo Sommer und Helmut Schmidt. Theo Sommer hat vor zwei Jahren die Summe seines Nachdenkens über China in dem Buch «China First» vorgelegt, das ebenfalls im Verlag C.H.Beck erschienen ist. Er hat auch das Manuskript dieses Buches gelesen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen. Dafür, und für unsere fortwährende Freundschaft, danke ich ihm sehr.

Ein genauer und aufmerksamer Leser des Manuskripts war auch mein Freund Hans Janus, für dessen Hinweise und Ergänzungen ich sehr dankbar bin. Wir sind einander seit Jahrzehnten in enger Freundschaft verbunden.

Den Anstoß zu diesem Buch hat Detlef Felken gegeben, der Cheflektor von C.H.Beck. Er hat die Arbeit am Manuskript von Beginn an mit seinen Anregungen und kritischen Nachfragen, mit Ansporn und Ermutigung begleitet. Ihm gilt dafür mein großer Dank.

Bettina Spyrou hat auch dieses Manuskript mit liebevoller Sorgfalt betreut. Mit ihr seit vielen Jahren zusammenarbeiten zu dürfen, ist ein Geschenk.

Ohne meine Frau Lisa gäbe es dieses Buch nicht. Sie ist stets meine erste – und kritischste – Leserin. Sie hat mich auf unschätzbare Weise bei der Recherche unterstützt und Tag für Tag geholfen, in der Flut des Materials nicht unterzugehen. Ihr und unseren beiden Kindern Sarah Mie und Stefan Akio ist das Buch gewidmet.

Hamburg, im September 2020

I. Corona: Heimsuchung und Weltkrise

Ahnungslos, voller Vorfreude brechen im Januar 2020 Abermillionen Chinesen in den Neujahrsurlaub auf. Sie steigen in die Bahn, den Bus, das Flugzeug. Das halbe Land macht sich auf den Weg, um Eltern und Großeltern zu besuchen. Chinesisch-Neujahr ist ein Familienfest wie Weihnachten in Deutschland oder Thanksgiving in Amerika, nur viel wichtiger. Nichts wissen die Reisenden davon, dass viele von ihnen ihr eigenes Heim erst Wochen, ja Monate später wiedersehen werden. Dass sie zurückkehren werden in eine Welt, die nicht mehr dieselbe ist.

Am 23. Januar, zwei Tage vor dem Neujahrsfest, wird die zentralchinesische Stadt Wuhan abgeriegelt, kurz darauf die gesamte Provinz Hubei mit fast 60 Millionen Einwohnern. Rund vierhundert Menschen haben sich zu diesem Zeitpunkt mit einem unbekannten Virus infiziert. Und während die Wissenschaftler noch debattieren, ob das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei, hat der Krankheitserreger bereits seinen zerstörerischen Weg rund um den Globus angetreten. Thailand meldet am 13. Januar den ersten Erkrankten. Am 28. Januar wird in Bayern bei einem Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto das neue Virus diagnostiziert. Im Herbst 2020 werden sich auf der Erde mehr als 50 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt haben, werden fast 1,5 Millionen Menschen an der vom Virus ausgelösten Krankheit Covid-19 gestorben sein.

Die Pandemie verschont kein Land. Sie verändert alles – wie die Menschen arbeiten, wie sie feiern, wie sie an Schulen und Universitäten lernen, wie sie einkaufen, reisen und gemeinsam essen, wie sie einander auf der Straße begegnen und wie sie sich von ihren Toten verabschieden. Regierungen nehmen Unsummen an neuen Schulden auf, um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Dennoch verlieren Millionen ihren Arbeitsplatz, schließen Fabriken, Büros, Restaurants, Hotels und Museen. Flugplätze und Fußballstadien verwaisen. Gläubige müssen auf Abstand gehen, wenn sie gemeinsam in der Kirche beten, und niemand gibt sich zur Begrüßung mehr die Hand. Eine Heimsuchung ohne Beispiel. Wie konnte es dazu kommen? Und wie blickt die Welt auf China, das Land, in dem die Krise ihren Ausgang nahm?

Rekonstruktionen des zeitlichen Ablaufs ergeben, dass der erste Mensch vermutlich im November 2019 an Covid-19 erkrankte («Patient null»), ein 55 Jahre alter Mann aus der Provinz Hubei. Im Dezember häufen sich die Infektionen in der Nähe des Huanan-Marktes in Wuhan. Dort werden nicht nur Fische und Meeresfrüchte verkauft, sondern auch Schlangen, Gürteltiere, Reptilien und Fledermäuse. Die Ärztin Ai Fen, Leiterin der Notaufnahme in Wuhans Zentralkrankenhaus, berichtet von Patienten mit auffälligen, nicht zu erklärenden Symptomen. Sie wird gezwungen, über das Gesehene zu schweigen. Am 30. Dezember schreibt der Augenarzt Li Wenliang im sozialen Netzwerk WeChat über ein unbekanntes Virus in seiner Klinik. Ein Screenshot seines Posts verbreitet sich rasend schnell. Noch in derselben Nacht wird Li von der Polizei einbestellt. Sie wirft ihm vor, gefährliche «Gerüchte» verbreitet zu haben, und zwingt ihn, ein Geständnis über sein «illegales Verhalten» zu unterschreiben. Wenige Tage später erkrankt der Arzt selbst an Covid-19.

Zum Jahreswechsel hat Chinas Gesundheitsbehörde 27 Krankheitsfälle registriert. Sie informiert das Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Peking. Am 1. Januar wird in Wuhan der Huanan-Markt geschlossen. Auch die Regierung der Vereinigten Staaten wird nun vom Auftauchen des neuen Virus in Kenntnis gesetzt. Nur die eigene Bevölkerung erfährt nichts. Am 7. Januar tagt in Peking das Politbüro. Parteichef Xi Jinping ordnet an, den Kampf gegen das Virus aufzunehmen, um eine drohende Epidemie abzuwenden. Aber erst am 20. Januar wird Xi in einer Rede die Öffentlichkeit informieren. Am selben Tag bestätigt der von vielen Chinesen verehrte Arzt Zhong Nanshan, der 2003 die vom Staat vertuschte Lungenkrankheit Sars publik machte, die Übertragbarkeit des neuartigen Coronavirus von Mensch zu Mensch.

Die WHO hat sechs Tage vorher noch verkündet, chinesische Untersuchungen hätten keine klaren Belege für eine Übertragung von einem Menschen auf den anderen ergeben. An der Spitze der Genfer UN-Behörde steht der Äthiopier Tedros Adhanom Ghebreyesus, ehemals Außenminister in Addis Abeba, der mit Unterstützung Chinas auf den neuen Posten gewählt wurde. Seine Organisation lobt die Pekinger Regierung für ihre Transparenz und Führung. Der WHO-Chef persönlich bescheinigt China, mit der Reaktion auf den Ausbruch einen «neuen Standard» gesetzt zu haben. Bei einem Treffen mit Xi Jinping Ende Januar rühmt er seinen Gastgeber überschwänglich: «China hat bereits Unglaubliches geleistet, um die Übertragung des Virus auf andere Länder einzuschränken.»[1]

Eine detaillierte Recherche der Nachrichtenagentur AP ergibt später genau das Gegenteil. Danach beklagten WHO-Mitarbeiter, zu Beginn der Krise aus Peking nicht die benötigten Informationen erhalten zu haben. Besonders heftig fiel internen Unterlagen zufolge die Kritik von Michael Ryan aus, dem Notfall-Beauftragten der WHO. «Im Kongo ist das nicht passiert», sagte Ryan mit Blick auf den Ebola-Ausbruch in dem afrikanischen Land wenige Jahre zuvor. Und er forderte: «Wir müssen die Daten sehen. Das ist jetzt von absoluter Wichtigkeit.»[2] Erst am 30. Januar 2020 ruft die WHO den internationalen Notstand aus. Im Rückblick eine verheerende Fehlentscheidung.

Wertvolle Zeit ist verstrichen. Zeit, in der die Behörden in Wuhan und die chinesischen Medien die Gefahr leugneten oder herunterspielten. Es empört die Einwohner der Stadt, von ihrem Bürgermeister zu hören: «Als lokaler Regierungskader muss ich, wenn ich diese Art von Informationen erhalte, auf Autorisierung warten, bis ich sie veröffentlichen kann.» Erst als Parteichef Xi Jinping zum Kampf gegen das Virus aufruft, beginnt Ende Januar der Feldzug gegen die Krankheit, mit einer militärisch inszenierten Mobilmachung und mit nationalem Pathos. China zieht in den «Volkskrieg». In Windeseile werden zwei Behelfskrankenhäuser mit jeweils mehr als tausend Betten errichtet. Ärzte und Krankenschwestern aus dem ganzen Land eilen nach Wuhan, Parteimitglieder und Nachbarschaftskomitees organisieren die Versorgung der in ihren Wohnungen eingesperrten Millionenbevölkerung.

Die Krise offenbart die Stärken wie die Schwächen des chinesischen Systems. Die Kommunistische Partei kann eine ungeheure Mobilisierungs- und Kampagnenfähigkeit entfalten. Bis es aber so weit ist, bleiben die Behörden viel zu lange untätig. Weil es keine unabhängigen Medien gibt, die vor Gefahren warnen. Weil lokale Funktionäre es nicht wagen, ohne Befehl von oben die Initiative zu ergreifen. Weil Stabilität das oberste Gebot ist und Zweifel an der Führung durch die Partei nicht erlaubt sind.

Die Wuhaner Schriftstellerin Fang Fang beginnt zwei Tage nach der Abschottung ihrer Stadt, ein Tagebuch zu schreiben. Jeden Tag veröffentlicht sie ihre Beobachtungen und ihre Gedanken im Microblogging-Dienst Weibo. Rund zehn Millionen Leser folgen ihr. Gleich am zweiten Tag ihrer Aufzeichnungen empört sie sich über das Versagen des Staates. «Die Achtlosigkeit und Untätigkeit der Wuhaner Behörden in der Frühphase der Epidemie und die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Funktionäre vor und nach der Verhängung der Abriegelung, haben in der Bevölkerung eine gewaltige Panik ausgelöst und allen Wuhaner Bürgern Schaden zugefügt. (…) Es sind die üblen Folgen der Negativauslese in der Beamtenschaft, des leeren, politischen Geschwätzes und der Missachtung von Tatsachen, die üblen Folgen des Verbots, die Wahrheit auszusprechen, die Verhinderung der Medien, den wahren Sachverhalt zu berichten, die wir jetzt auszubaden haben.»[3]

Die Behörden lassen die Autorin gewähren. Zwar werden ihre Einträge regelmäßig gelöscht. Aber sie kann weiterschreiben. Fang Fang berichtet über das Leben der eingeschlossenen Familien, die Sorgen um die Erkrankten und die Trauer um die Toten. Sie schildert den Heroismus der Ärzte und der Pflegerinnen, die Hilfsbereitschaft der Nachbarn und Freunde. Sie lobt die Behörden, wo sie es verdienen, und kritisiert sie, wo sie versagen. Als «Gewissen von Wuhan» wird sie zur Stimme einer 76 Tage lang von der Welt abgeschirmten Stadt, in der sich neun Millionen Menschen befinden. Die Stimmung schlägt um, als Fang Fangs Aufzeichnungen übersetzt werden und im Ausland als Buch erscheinen. Da wird die Schriftstellerin zur «Verräterin», die ihr Land vor der Welt bloßstelle und dessen Gegner munitioniere. Patriotismus kippt in China heute schnell um in galligen Nationalismus, es bedarf dafür keines bedeutsamen Anlasses und keiner Scharfmacher aus der Partei.

Im Andenken an den Arzt Li Wenliang, der frühzeitig vor dem neuartigen Coronavirus warnte, legen Menschen Blumen vor dem Zentralkrankenhaus Wuhan ab.

Am 7. Februar stirbt Li Wenliang. Der Augenarzt, der sich im Zentralkrankenhaus von Wuhan mit dem Virus ansteckte, wird nur 34 Jahre alt. Sein Tod löst im ganzen Land Bestürzung aus. Selbst die Behörden, die ihn eben noch zum Schweigen brachten, erklären ihn nun zum Volkshelden und entschuldigen sich offiziell bei seiner Familie. Mit seinem mutigen Handeln hat er ein Zeichen gesetzt, für das ihm die Menschen nun auf anrührende Weise ihren Dank abstatten. Das Internet wird zur Klagemauer. Viele tausend Zuschriften sammeln sich auf der Kommentarfunktion zu Li Wenliangs letztem Post bei Weibo vom 1. Februar. Er lautet: «Der Test heute war positiv.» In ihrer Traurigkeit wenden sich die Schreibenden über Wochen hinweg direkt an den Verstorbenen. «Dr. Li, wie ist es im Himmel?» – «Dr. Li, die Kirschbäume blühen.» – «Dr. Li, ich habe mich in ein Mädchen verliebt.» – «Dr. Li, meine Katze ist heute gestorben.» – «Der Tag wird kommen, an dem die Menschen den Untersuchungsbericht über Sie umschreiben werden.» – «Dr. Li, der Lockdown in Wuhan ist vorbei. Er ist vorbei!»[4]

Zur Trauer kommt der Zorn. Im Netz entlädt sich einige Tage lang die Wut auf die Partei. Die Menschen sind der Lügen überdrüssig. Den Ärzten, den Schwestern und Pflegern, die bis zur Erschöpfung arbeiten, sind sie von Herzen dankbar. Aber den Kadern zeigen sie ihre Verachtung. Als die stellvertretende Ministerpräsidentin Sun Chunlan die Stadt besucht, schallt es ihr von den Balkonen der Hochhäuser entgegen: «Schwindel, alles Schwindel!»[5]

Ausländische Korrespondenten, die in Wuhan recherchieren, nachdem am 8. April die Abriegelung der Stadt aufgehoben worden ist, finden in ihren Hotelzimmern ein schmales weißes Buch mit dem Titel «Der chinesische Weg». Darin taucht der Name Li Wenliang nicht auf. Wohl aber enthält das Bändchen eine genaue Chronologie der Ereignisse – aus Pekinger Sicht. So heißt es unter dem Datum 24. März über die Aktivitäten von Staats- und Parteichef Xi Jinping: «Xi betonte, die internationale Gemeinschaft erkennt an, dass China im Kampf gegen Covid-19 enorme Opfer gebracht und der Welt damit wertvolle Vorlaufzeit geschenkt hat.»[6] Damit ist der Ton gesetzt für die offizielle Erzählung von der Überlegenheit des chinesischen Systems. Es ist eine Erzählung von verantwortungsvoller politischer Führung und schnellem Handeln, von Selbstlosigkeit und Heroismus: Kein anderes Regierungssystem wäre in der Lage gewesen, sich der Herausforderung so schnell, so diszipliniert und wirkungsvoll zu stellen.[7]

Aber China verlässt sich nicht allein auf Propaganda. Die Führung in Peking weiß, wie sehr der Ausbruch des Virus Chinas Ansehen geschadet hat. Großzügige Hilfe im Ausland soll dieses Bild aufhellen. Und so gehen ganze Flugzeugladungen mit Masken und Schutzanzügen, Beatmungsgeräten und Schnelltestsätzen in alle Welt – nach Europa, Afrika, selbst in die Vereinigten Staaten. Es dient der Reputation Chinas nicht, dass manches, was da geliefert wird, minderwertig oder schadhaft ist und in den Krankenhäusern rasch wieder aus dem Verkehr gezogen werden muss. Andere Hilfsleistungen dagegen sind hochwillkommen. China schickt Ärzte in Länder, die der Epidemie nicht Herr werden und sich von ihren Nachbarn im Stich gelassen fühlen.

China erwartet allerdings eine Gegenleistung, das ist der Kern seiner «Maskendiplomatie»: Die Empfänger sollen ihre Dankbarkeit bezeugen, vor den Kameras und Mikrofonen der Fernsehsender und sozialen Netzwerke. Der Wunsch ist etwas plump und aufdringlich, aber manche Regierung kommt ihm nach, weil sie entweder wirklich dankbar für die Hilfe ist oder weil es ihr opportun erscheint, sich mit China gutzustellen. Niemand macht dabei einen tieferen Diener als der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der seinen Dank an Peking mit einer zornigen Attacke auf die EU verbindet. «Europäische Solidarität existiert nicht. Das war ein Märchen auf Papier.» Und so habe er sich an Xi Jinping gewandt, den «lieben Freund» und Bruder – «nicht nur meinen persönlichen, sondern einen Bruder dieses Landes».[8] Auch Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte bedankt sich bei Xi für «die wertvolle Unterstützung und Hilfe Chinas während dieser schwierigen Zeit». Der erwidert, sein Land sei bereit, eine «Seidenstraße der Gesundheit» zu bauen. Ein Jahr zuvor war Italien als erstes G7-Land der «Neuen Seidenstraße» beigetreten, dem von Xi Jinping vorangetriebenen gigantischen Infrastrukturprojekt.[9]

Wird die chinesische Führung ein Opfer der eigenen Propaganda? Man könnte meinen, sie glaube wirklich, die Welt schulde ihr Dank und Anerkennung für den Sieg im «Volkskrieg». Pekings Außenpolitik legt jedenfalls ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag. Und ergreift bisweilen sonderbare Initiativen. Roger Roth, der Präsident des Senats im US-Bundesstaat Wisconsin, erhält eine E-Mail des chinesischen Generalkonsuls in Chicago. Daran angehängt ist der Text einer Resolution, die Roth doch bitte im Parlament verabschieden lassen möge. Die Resolution lobt China dafür, wie erfolgreich das Land mit dem Coronavirus fertig geworden sei. Ein Witz? Nein, der Absender meint es ernst. Er hat offenbar nicht bedacht, dass Roth ein knochenharter Republikaner ist, Ex-Militär und Veteran des Irakkrieges, der die Kommunistische Partei Chinas von ganzem Herzen hasst. Die Resolution, die Roger Roth dann tatsächlich im Senat von Wisconsin zur Abstimmung stellen lässt, wirft der KP Chinas vor, die Welt absichtlich über das «Wuhan-Coronavirus» getäuscht zu haben. So kann es gehen.[10]

In diesen Krisenmonaten tritt ein neuer Typus des chinesischen Diplomaten in das Licht der Öffentlichkeit. Niemand verkörpert ihn besser als Zhao Lijian, einer der drei Sprecher des chinesischen Außenministeriums, der zuvor an der Botschaft seines Landes in Pakistan tätig war. Zhao stellt auf Twitter die These zur Diskussion, möglicherweise hätten amerikanische Soldaten das Virus eingeschleppt, als sie im Oktober 2019 an den Weltspielen der Militärs in Wuhan teilnahmen. Der chinesische Botschafter in Washington nennt diese Mutmaßung «verrückt». Aber das Außenministerium in Peking ruft seinen Sprecher nicht zur Ordnung. So wie es auch die chinesische Botschaft in Paris nicht stoppt. Die hatte auf ihrer Website französische Altenpfleger beschuldigt, sie hätten ihren Arbeitsplatz verlassen und die ihnen anvertrauten Menschen «an Hunger und Krankheit sterben» lassen.

Das Ministerium lässt auch den Botschafter in Canberra gewähren. Australiens Regierung hatte eine internationale, unabhängige Untersuchung des Ursprungs der Pandemie verlangt. Daraufhin droht Chinas Vertreter Cheng Jingye mit einem Wirtschaftsembargo. «Normale Bürger könnten fragen: Warum sollen wir australischen Wein trinken? Warum australisches Rindfleisch essen?» Touristen und Studenten könnten überlegen, ob Australien noch das richtige Ziel für sie sei. Hu Xijin, der immer auf Krawall gestimmte Chefredakteur des Parteiblatts Global Times, heizt die Stimmung auf seine Art an: «Australien macht immer nur Ärger. Ich finde, es ist ein bisschen wie Kaugummi, das an Chinas Schuhsohlen klebt. Manchmal braucht man einen Stein, um es abzukratzen.»[11]

Erpressen und beleidigen lässt man sich in Canberra nicht so gern. Schon vorher hatte in der australischen Politik eine Debatte begonnen, ob die Abhängigkeit von China, des mit Abstand wichtigsten Handelspartners, nicht allmählich zu groß geworden war. Im Jahr 2019 kaufte China Waren für 87 Milliarden US-Dollar in Australien ein – das entsprach gut einem Drittel aller australischen Ausfuhren, mehr als das Land nach Japan, Südkorea und in die Vereinigten Staaten zusammen exportierte. Hinzu kommt, dass sich rund 150.000 chinesische Studenten an Australiens Hochschulen eingeschrieben haben und mit Studiengebühren von rund zwölf Milliarden US-Dollar ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden sind. Auf all dies will man nicht verzichten. Aber auf die Androhung ökonomischen Zwangs reagieren die Australier allergisch.

Die Regierung in Peking kümmerte dies wenig. Gesten der Einsicht oder gar der Demut waren von ihr nicht zu erwarten, auch nicht im Jahr der Coronakrise. Im Gegenteil, China trat herrisch und anmaßend auf. Seine Botschafter schienen genau zu wissen, welcher Ton von ihnen erwartet wurde, wenn ihre Gastgeberländer China nicht mit der gebührenden Hochachtung begegneten. Und so traten sie dann auf. Als «Wolf Warriors» wurden die forschen Diplomaten daheim gerühmt, so benannt nach zwei Rambo-Filmen aus den Jahren 2015 und 2017, in denen chinesische Spezialeinheiten gegen westliche Söldnertrupps kämpfen. Motto: Wer sich mit China anlegt, muss dafür zahlen.

Noch hässlicher war der Rassismus, wie er sich nach Ausbruch der Krise in der südlichen Metropole Guangzhou zeigte. Dort lebende Afrikaner wurden aus ihren Wohnungen und Hotelzimmern geworfen und mussten auf der Straße schlafen, weil sie angeblich Träger des Virus waren. Der Außenminister Ghanas beklagte die «unmenschliche Behandlung» der Afrikaner in China. Und eine Gruppe afrikanischer Botschafter in Peking verurteilte in einem Brief an das Außenministerium die «Stigmatisierung und Diskriminierung» ihrer Bürger.[12] Die fremdenfeindlichen Übergriffe standen in krassem Gegensatz zum Bild des großherzigen Helfers, um das sich China in Afrika bemüht. Immerhin haben die Finanzinstitute des Landes, darunter die Chinesische Entwicklungsbank, zwischen 2000 und 2018 Darlehen in Höhe von 152 Milliarden US-Dollar an 48 afrikanische Staaten gegeben. Um Afrika wirbt China auch mit gewaltigen Bauprojekten im Rahmen der «Neuen Seidenstraße». Doch in der Coronakrise gewann es dort keine neuen Freunde.

Die außenpolitischen Folgen der Krise waren für China gravierend. Vor allem die Spannungen mit den Vereinigten Staaten nahmen noch einmal dramatisch zu. Donald Trump, der beim Kampf gegen Covid-19 vollkommen versagte, versuchte seine Unfähigkeit zu kaschieren, indem er China zum Alleinschuldigen an der Pandemie erklärte. Beharrlich sprach er vom «chinesischen Virus», das an der Quelle hätte gestoppt werden müssen. Nun hat die Führung in Peking den Ausbruch der Krankheit tatsächlich verschleiert. Aber dann hat sie deren Ausbreitung im eigenen Land umso entschiedener bekämpft – mit Methoden, die so im Westen nicht möglich wären. Jeder noch so kleine Infektionsherd wurde mit einem harten Lockdown eingedämmt. Und es hat funktioniert: Schon im Frühjahr 2020 wurden kaum noch neue Erkrankungen gemeldet. In den USA hingegen geriet Covid-19 völlig außer Kontrolle. Im Herbst hatten sich schon rund zwölf Millionen Menschen mit dem Virus angesteckt, 250.000 Erkrankte waren gestorben. Eine Tragödie. Auf die Trump aber nicht mit Einsicht reagierte, sondern mit immer neuen Attacken gegen China. Pekings Politik bot ihm dafür, ganz unabhängig von der Coronakrise, genügend Anlässe.

Beispiel Südchinesisches Meer. Als Reaktion auf Chinas aggressives militärisches Ausgreifen dort erhöhte die US-Navy die Zahl ihrer «Freedom-of-Navigation-Operations». Im Sommer 2020 schickte sie gleich zwei Flugzeugträger in das von China beanspruchte Seegebiet, durch das etwa ein Drittel des weltweiten Seehandels geht. Die Regierung in Washington wollte demonstrieren: Wenn es um die Freiheit der internationalen Schifffahrt geht, scheuen wir die Konfrontation mit Peking nicht. Schon gar nicht akzeptieren wir Chinas Anspruch auf Souveränität über das Südchinesische Meer und seine Bodenschätze. Diesen Anspruch hatte im Jahr 2016 bereits der Ständige Schiedshof in Den Haag zurückgewiesen. Verhielten sich die USA im Gebietsstreit zwischen China und seinen südostasiatischen Nachbarn wie Vietnam oder den Philippinen viele Jahre neutral, so bezog Außenminister Mike Pompeo im Juli 2020 eindeutig Position: Die Ansprüche Chinas seien «vollkommen rechtswidrig». Die Welt werde nicht dulden, dass «Peking das Südchinesische Meer wie sein maritimes Empire behandelt».

Beispiel Xinjiang. Aus Protest gegen die Unterdrückung muslimischer Minderheiten in der autonomen Region im Nordwesten Chinas verhängten die USA Sanktionen gegen hohe Parteifunktionäre, unter ihnen Xinjiangs KP-Chef Chen Quanguo. Peking antwortete darauf mit einem Einreiseverbot für amerikanische Parlamentarier, darunter die beiden republikanischen Senatoren Marco Rubio und Ted Cruz. Das US-Handelsministerium wiederum setzte elf chinesische Unternehmen, denen es Zwangsarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen vorwarf, auf eine schwarze Liste. Unter den Firmen waren Textilfabriken, aber auch Zulieferer von IT-Giganten wie Apple, Amazon und Microsoft.

Beispiel Hongkong. Am 30. Juni 2020 trat in der ehemaligen britischen Kronkolonie das neue «Nationale Sicherheitsgesetz» in Kraft. Faktisch endete damit der seit 1997 geltende Autonomiestatus der Stadt, mit dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme» war es nun vorbei. Denn das Gesetz erstickt mit seinen Strafandrohungen wegen Sezessionismus, Terrorismus, Subversion und Zusammenarbeit mit fremden Mächten jede Opposition. Der Ruf nach Unabhängigkeit der Stadt kann als sezessionistischer Akt mit lebenslanger Haft bestraft werden.

Als Antwort auf das Sicherheitsgesetz hob die amerikanische Regierung die Handelsprivilegien auf, die Hongkong bis dahin genoss. Die Stadt werde nun als «ein Teil Chinas» betrachtet und auch so behandelt, sagte Präsident Trump zur Begründung. Wenig später verhängte das US-Finanzministerium Sanktionen gegen elf führende Repräsentanten Hongkongs. Zu ihnen gehörten Regierungschefin Carrie Lam, der Polizeipräsident und sein Vorgänger. Ihr Vermögen in den USA, soweit vorhanden, wurde gesperrt, sie durften nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen. Die Sanktionen trafen auch Pekings höchsten Vertreter in der Stadt, Luo Huining. «Die Vereinigten Staaten stehen auf Seiten des Volkes in Hongkong», sagte US-Finanzminister Steven Mnuchin, «und wir werden unsere Mittel und unsere Befugnisse einsetzen, um jene zu treffen, die seine Autonomie unterminieren.»

Beispiel Huawei. Mit immer neuen Sanktionsbeschlüssen verschärfte die Regierung Trump ihre Kampagne gegen den Handyhersteller und Netzwerkausrüster. Mit aller Härte forderte sie von Amerikas Verbündeten, den Technologiekonzern aus Shenzhen vom Bau des superschnellen Mobilfunknetzes 5G auszuschließen. Huawei beteilige sich nicht nur an der Überwachung der Bevölkerung in China; wegen der Nähe des Unternehmens zur KP und zu den chinesischen Sicherheitsbehörden gehe von ihm auch eine Bedrohung durch Spionage und Sabotage aus. In den USA bekam Huawei schon lange keine öffentlichen Aufträge mehr.

Nach Huawei nahm Trump die Video-App Tiktok und das soziale Netzwerk WeChat ins Visier. Beide, argumentierte er, lieferten die Daten amerikanischer Bürger in die Volksrepublik. Deshalb wollte Trump sie in den Vereinigten Staaten verbieten lassen, es sei denn, amerikanische Unternehmen kauften sie auf.

Die Nerven lagen blank zwischen Washington und Peking. Es ging nun Schlag auf Schlag. Chinesische Studenten mit Verbindungen zur Volksbefreiungsarmee durften nicht mehr in die USA einreisen. Wissenschaftler mit Nähe zur VBA, die in den USA arbeiteten, wurden festgenommen und des Landes verwiesen. Chinesischen Journalisten wurde die Aufenthaltsdauer gekürzt. Diplomaten wurde das Gepäck durchwühlt. Trauriger Höhepunkt des immer giftigeren Konflikts war die Schließung des chinesischen Generalkonsulats in Houston. Innerhalb von 72 Stunden mussten die Mitarbeiter das Land verlassen. Man habe die diplomatische Vertretung geschlossen, erklärte das State Department, «um amerikanisches geistiges Eigentum und private Informationen zu schützen». Dahinter verbarg sich der Vorwurf der Wirtschaftsspionage, etwa das Ausspähen moderner medizinischer Zentren im Großraum Houston. Im Gegenzug schloss China das amerikanische Generalkonsulat in Chengdu und beraubte die USA damit eines wertvollen Beobachtungspostens für die Unruheregionen Xinjiang und Tibet.

Langfristig am bedrohlichsten für das Verhältnis der beiden Mächte aber war die demonstrative Hinwendung Washingtons zum alten Verbündeten Taiwan. Im Jahr 1979, als die USA diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik aufnahmen, hatten sie die offiziellen Verbindungen zu Taiwan gekappt. An der von Peking geforderten und von Washington seit einem halben Jahrhundert akzeptierten «Ein-China-Politik» sollte sich zwar nichts ändern. Aber Taiwans vorbildliches Verhalten in der Coronakrise trug der Inselrepublik in Washington neue Sympathien ein.

Nicht nur in Washington. Während sich das Bild Chinas in der Krise verdüsterte, hellte sich das Image Taiwans auf. Noch vor den Behörden auf dem Festland hatte die Regierung in Taipei am 31. Dezember 2019 bei der WHO Alarm geschlagen. Dabei gehört Taiwan der WHO gar nicht an. Auf Verlangen Pekings hat die Weltgesundheitsorganisation die Insel ausgeschlossen. In den Jahren 2009 bis 2016, als in Taipei die um ein gutes Einvernehmen mit Peking bemühte Kuomintang die Regierung stellte, durfte Taiwan zumindest an der jährlichen Weltgesundheitsversammlung teilnehmen. Aber auch damit war es vorbei, als die nach Eigenständigkeit strebende Demokratische Fortschrittspartei unter Präsidentin Tsai Ing-wen 2016 wieder die Macht übernahm.

Taiwan konnte die Zahl der Corona-Kranken auf sehr niedrigem Niveau halten. Zur Eindämmung des Virus bedurfte es keines diktatorischen Machtapparats. Disziplin und Transparenz erwiesen sich als ebenso erfolgreicher Weg. Aus aller Welt gab es für die Regierung in Taipei viel Lob. Aber keine Regierung wollte sich mit Solidarität und Sympathie für Taiwan zu weit hervorwagen und den Zorn Pekings auf sich ziehen. Nur die USA lobten bei jeder Gelegenheit das Krisenmanagement der Insel. Im August 2020 schickte die Regierung Trump sogar Gesundheitsminister Alex Azar nach Taipei. Er war der ranghöchste Besucher aus Washington seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1979. Peking ließ sich von seiner Visite nicht aus der Reserve locken, aber ein kleines, nicht zu übersehendes Zeichen setzte die chinesische Führung doch. Gleich am ersten Tag des Besuchs von Azar stiegen Kampfbomber auf und überquerten die Mittellinie in der Straße von Taiwan, die beide Seiten als faktische, nicht zu überquerende Meeresgrenze akzeptieren. Nur für einen Moment flogen die Militärjets durch die ihnen verbotene Zone, aber lange genug, um Chinas Machtanspruch zu dokumentieren.[13]

Obwohl Pekings Machthaber die Epidemie viel schneller in den Griff bekamen als viele andere Regierungen, war das Jahr 2020 außenpolitisch für China ein Debakel. Der Druck aus Washington offenbarte die Verwundbarkeit des Landes. Trump trieb die Führung in Peking regelrecht vor sich her. Die reagierte konsterniert. Sie wollte nicht nachgeben, aber auch nicht mit gleicher Münze heimzahlen, weil sie die Folgen einer stetig eskalierenden Konfrontation mit der Supermacht fürchtete.

Es blieb nicht beim Konflikt mit Amerika allein. Als suchte Chinas Führung den Streit, legte sie sich während der Coronakrise mit der halben Welt an. Im Juni 2020 starben bei einem Grenzgefecht in der Himalaya-Region Ladakh zwanzig indische Soldaten; die Zahl der Toten auf chinesischer Seite blieb unbekannt. Indiens Regierung reagierte auf den Zwischenfall mit dem Verbot von 59 chinesischen Apps, darunter auch die bei indischen Jugendlichen äußerst beliebte Tiktok-App. Premierminister Narendra Modi schloss chinesische Firmen von Regierungsaufträgen aus. Und er erhöhte die Zahl der Truppen in der umstrittenen Grenzregion um 30.000 Soldaten. «Unser Blick auf China hat sich grundlegend verändert», sagte ein früherer Botschafters Delhis in Peking.[14]

Auch zwischen Australien und China nahmen die Spannungen weiter zu. Aus den Drohungen des chinesischen Botschafters in Canberra wurden konkrete Verbote und Zollerhöhungen beim Import von Wein, Gerste und Rindfleisch. Australiens Premierminister Scott Morrison, der sich im Streit mit China rückhaltlos auf die Seite Amerikas stellte, sagte in einer Rede, sein Land müsse sich auf eine Welt nach Corona vorbereiten, «die ärmer ist, gefährlicher und ungeordneter». Höhere Verteidigungsausgaben seien unvermeidlich.

Mit Japan gab es neuen Ärger um die zwischen beiden Ländern umstrittenen Senkaku-Inseln (chinesisch: Diaoyu). Vietnam war empört über die Versenkung eines Fischerboots durch die chinesische Küstenwache. Großbritannien gab dem Wunsch Washingtons nach und lehnte eine Beteiligung von Huawei am Aufbau seines 5G-Netzes ab. Dem Beispiel Londons folgten nach Besuchen von US-Außenminister Mike Pompeo auch Kopenhagen, Prag und Warschau. Schließlich musste wegen der Epidemie auch ein Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs mit Xi Jinping abgesagt werden, der unter deutscher Präsidentschaft in Leipzig geplant war. Als Ersatz gab es eine zweistündige Videokonferenz Xi Jinpings mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel.

Die Europäer hatten sich vorgenommen, bei dem virtuellen Minigipfel Klartext zu reden. Sie wollten nicht nur über die Handelspolitik und den Klimaschutz sprechen, sondern auch über die kritischen Themen: Hongkong, Xinjiang, Taiwan. Vor allem wollten sie mit ihrem geschlossenen Auftreten in Peking Eindruck machen. «Europa muss zu einem Spieler werden, nicht zu einem Spielfeld», sagte Ratspräsident Michel. Ob die drei bei Xi Jinping wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben? Seine Reaktionen deuteten nicht darauf hin. Das chinesische Volk akzeptiere beim Thema Menschenrechte keinen «Oberlehrer» und wende sich gegen «Doppelmoral». Und es dulde keine «Kraft, die Instabilität, Abspaltung und Unruhen in China befördert».[15]

Dabei hatte Bundeskanzlerin Merkel gehofft, das in Leipzig geplante Treffen werde die eingetrübte Stimmung zwischen Europa und China aufhellen können. Stattdessen herrschten mehr denn je Missvergnügen, gegenseitiges Misstrauen und wachsende Entfremdung. Die EU-Kommission warf Peking «Desinformationskampagnen» vor, die Bundesregierung in Berlin beklagte unangemessene Einflussversuche. Die Coronakrise habe «in einer Geschwindigkeit und Dramatik, die ich nicht erwartet hätte, zu einer massiven Verschlechterung der europäisch-chinesischen Beziehungen geführt», schrieb der grüne Europa-Abgeordnete Reinhard Bütikofer, der die China-Delegation im EU-Parlament leitet, in einem Blog. «Chinas Führung versuchte in den letzten Monaten, die Coronakrise auszunutzen, um Xi Jinpings internationalen Führungsanspruch massiv auszubauen. Dabei hat sie sich, wie es aussieht, ins eigene Knie geschossen.»[16]

Auch wenn sich Chinas Wirtschaft nach dem strengen Lockdown im Winter 2020 rasch erholte, waren die ökonomischen Folgen der Krise doch gravierend. Vielen Ländern war bewusst geworden, wie abhängig sie von Produkten aus der Volksrepublik geworden waren, gerade bei medizinischer Schutzkleidung und Medikamenten. So stammten 70 Prozent aller Schutzmasken in den Vereinigten Staaten aus China. Die Europäische Union, die USA und Japan begannen ihre Lieferketten zu überprüfen. Die Regierung in Tokio stellte japanischen Firmen sogar einen Fonds von 2,2 Milliarden US-Dollar zur Verfügung, um die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus China zu finanzieren. Umfragen der Amerikanischen und der Europäischen Handelskammer in Peking zeigten allerdings, dass nur wenige ausländische Unternehmen daran dachten, sich aus China zu verabschieden. Der Markt von 1,4 Milliarden Menschen war einfach zu wichtig.

Und doch belebte sich in diesem Krisensommer die Debatte über ein «Entkoppeln» der Volkswirtschaften. Dieses «decoupling» hatte schon vorher viele Anhänger bei den China-Kritikern in den USA. Nun fand die Idee über die Vereinigten Staaten hinaus Unterstützung. Indiens Premier Modi etwa legte ein Programm vor, wonach sich das Land stärker auf die eigenen Kräfte verlassen sollte. Der chinesische Botschafter in Delhi wies darauf hin, dass dies nicht leicht werden würde. 92 Prozent der indischen Computer und 82 Prozent der Fernseher stammten aus China. «Ob es Ihnen passt oder nicht, der Trend ist schwer umzukehren.»[17]

Aber vielleicht war es gerade diese Selbstgewissheit, die in der Coronakrise einen Dämpfer bekam. China hatte es sich mit allzu vielen Ländern verdorben. Von einem «Modell China» wollte die Welt nichts wissen. Die Pandemie ließ auch Chinas ehrgeizigstes Projekt ins Stocken geraten, die «Neue Seidenstraße». Nun, da in vielen Partnerländern die Wirtschaft einbrach, konnten diese ihre Schulden nicht bedienen, und die Regierung in Peking musste sich darauf einstellen, Kredite in Milliardenhöhe abzuschreiben. Bitten um Zahlungsaufschub, Umstrukturierung und Schuldenerlass kamen aus Pakistan, Kirgistan, Sri Lanka und mehreren afrikanischen Ländern. Das gigantische Infrastrukturprojekt, mit dem China seinen Einfluss in Zentralasien und im Mittleren Osten bis hin nach Europa und Afrika festigen wollte, drohte zu einem Fiasko zu werden.[18]

Während Chinas Fabriken bald wieder auf Hochtouren arbeiteten und die Kurse an den Börsen in Shanghai und Shenzhen das Niveau vor Ausbruch der Krise erreichten, hatte das Ansehen der Volksrepublik im Ausland nachhaltig Schaden genommen. Befremdet und furchtsam blickten viele Menschen auf dieses riesige Land, das von Jahr zu Jahr einen größeren Schatten auf die Welt wirft. Ein Land, das seine Erfolge feiert, aber Fehler nicht zugeben kann. Das Kritik nicht duldet. Das keine Verbündeten hat und glaubt, sich Freunde kaufen zu können. Das mit seinem Rückfall in die Diktatur die Errungenschaften von vierzig Jahren Reformpolitik gefährdet. Und das mit seiner neuen Großspurigkeit die Bewunderung der Welt für den beispiellosen Wiederaufstieg einer stolzen alten Kulturnation aufs Spiel setzt.

II. Revolution, Reform und Restauration

1. Mao Zedongs despotisches Gesellschaftsexperiment

Die Dämmerung hatte sich schon über Peking gelegt an diesem Abend im Mai 1989. Seit Wochen nun demonstrierten die Studenten. Sie riefen nach Freiheit, verlangten politische Reformen, so wie Michail Gorbatschow sie in der Sowjetunion durchzusetzen versuchte. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatten Tausende ihr Lager aufgeschlagen, in ihrer Mitte ein Kern besonders Entschlossener, die zur Durchsetzung ihrer Forderungen in den Hungerstreik getreten waren. Krankenwagen mit Blaulicht rasten alle paar Minuten auf den Platz, um jene ins Krankenhaus zu bringen, die vom Hunger geschwächt in Ohnmacht gefallen waren.

Lange konnte die Kommunistische Partei die offene Rebellion im Herzen der Hauptstadt nicht mehr dulden. Wann würde sie mit ihrer Polizei, gar mit dem Militär zuschlagen?

Die Changan Avenue, die zwischen dem Platz des Himmlischen Friedens und der Verbotenen Stadt verläuft, war an diesem Abend voller Menschen. Fahrräder, Lastenkarren, Busse, dazwischen viele Fußgänger. Wie an den Vorabenden hatten sich die Pekinger aufgemacht, von Unruhe getrieben die einen, voller Sorge über das, was kommen sollte, andere in argloser Neugier.

Ich ließ mich vom Strom der Menschen mitziehen. Direkt vor dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Tiananmen, plötzlich Bewegung in der Menge. Fahrradfahrer stoppten, Passanten reckten die Köpfe. Alle starrten auf das Porträt Mao Zedongs, das direkt über dem Eingang zur Verbotenen Stadt hängt, sechs mal viereinhalb Meter groß, eine Ikone des chinesischen Kommunismus. Und dann sah ich es: Auf dem heiligsten Bild der Volksrepublik prangten drei große, dunkle Flecken. Demonstranten hatten Farbeier gegen das Antlitz des Vorsitzenden Mao geschleudert – ein unerhörtes Sakrileg.

Weit kamen die Übeltäter nicht. Sicherheitskräfte hatten sie in Windeseile ergriffen. Die Menge aber stand wie gelähmt. Wenn selbst das Bild Maos am Tiananmen nicht mehr unantastbar war, dann drohte wirklich Unheil. Dann konnte die Kraftprobe zwischen den Demonstranten und dem Regime nicht friedlich enden.

Am nächsten Morgen in der Frühe machte ich mich wieder auf den Weg zum Tiananmen-Platz. Ein makelloses Porträt hing dort, das beschmutzte Bild war über Nacht ausgetauscht worden. Es gab immer genügend Gemälde in Reserve. Nicht weil das Regime mit Anschlägen rechnete. Die schlechte Luft in der Hauptstadt setzte den Gemälden zu, die deshalb mindestens einmal im Jahr erneuert wurden, meistens vor den Festlichkeiten zum Nationalfeiertag.

Genau hier, auf der Tribüne des Tiananmen, hatte Mao Zedong, umringt von seinen engsten Kampfgefährten, am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China ausgerufen. Im kräftigen Dialekt der Provinz Hunan gab er die Zusammensetzung der künftigen Zentralregierung bekannt. Umstritten ist, ob er tatsächlich die Worte ausrief, die seither in alle Geschichtsbücher eingingen: «Das chinesische Volk ist aufgestanden!»

Auch wenn die Propaganda sie Mao erst später in den Mund gelegt haben sollte: Zu groß waren diese Worte nicht. Sie trafen die Empfindungen von Millionen Chinesen, die ausgelaugt und traumatisiert von Jahrzehnten des Bürgerkriegs, von japanischer Besatzung und von erbärmlichem Elend den Frieden herbeigesehnt hatten. Die endlich durchatmen und Kraft für den Neuanfang schöpfen wollten.

Und es war Mao Zedong, der ihnen diesen Neuanfang verhieß. Am 26. Dezember 1893 war Mao im Dorf Shaoshan in der südchinesischen Provinz Hunan zur Welt gekommen, Sohn eines recht wohlhabenden Bauern. Es waren die letzten Jahre der Qing-Dynastie. Konservative Reformer versuchten, die Kaiserherrschaft noch einmal zu stabilisieren, doch deren Fundamente waren morsch geworden. Hilflos standen die seit zweieinhalb Jahrhunderten herrschenden Mandschus der Übermacht der westlichen imperialistischen Staaten gegenüber; in den Augen des Volkes hatten sie das Mandat des Himmels längst verloren. 1911 dankte der letzte Kaiser ab. China wurde Republik. Doch die Macht des ersten Präsidenten Sun Yat-sen reichte über den Süden Chinas nie hinaus.

Die Hoffnungen auf eine geistige und kulturelle Erneuerung des Landes, wie sie in der 4.-Mai-Bewegung des Jahres 1919 ihren Ausdruck fanden, zerschellten bald an den Machtkämpfen der Warlords, unter denen das Reich der Mitte in zahllose größere und kleinere Herrschaftsgebiete zerfiel. Sun Yat-sens Nationalistische Partei, die Kuomintang, wurde zur stärksten politischen und militärischen Kraft; unter Chiang Kai-shek dehnte sie ihren Einfluss in den zwanziger Jahren bis weit in den Norden aus. Doch auch sie vermochte China nicht zu einen. Kriegerische Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung und Korruption wurden zum Nährboden radikaler Ideologien.

Der Bauernsohn Mao, der kein Interesse an der Landwirtschaft zeigte und von Jugend auf ein Bücherwurm war, kam als Hilfsbibliothekar an der Universität Peking in Kontakt mit einem Kreis marxistischer Denker, die sein Denken prägen sollten. Zu ihnen gehörten Li Dazhao, Leiter der Bibliothek an der Pekinger Universität, und Chen Duxiu, Dekan der Philosophischen Fakultät und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Neue Jugend. Beide wurden zu Vordenkern der Kommunistischen Partei Chinas, die 1921 in Shanghai gegründet wurde.

Vier Jahre nach der Oktoberrevolution war die junge Sowjetunion Inspiration und Vorbild der chinesischen Kommunisten. Doch war diesen klar, dass im eigenen Land nicht die Arbeiterschaft die führende revolutionäre Kraft sein konnte, sondern nur die zahlenmäßig viel größere Landbevölkerung. Li Dazhao appellierte an seine Anhänger: «Unser China ist eine ländliche Nation, deren arbeitende Klasse sich größtenteils aus Bauern zusammensetzt. Wenn sie nicht befreit werden, wird unsere ganze Nation nicht befreit; ihre Leiden sind die Leiden unserer ganzen Nation; ihre Unwissenheit ist die Unwissenheit unserer ganzen Nation; die Vorzüge und Mängel ihrer Lebensweise sind die Vorzüge und Mängel unserer gesamten Politik. Geht hinaus, klärt sie auf und bringt ihnen bei, ihre Befreiung anzustreben, über ihre Leiden zu sprechen, ihre Ignoranz abzulegen und ihr Leben selber zu planen.»[1]

Als Mao nach dem Aufenthalt in Peking in seine Heimatprovinz Hunan zurückkehrte, begann er alsbald, unter den Bauern kommunistische Gruppen zu organisieren. Was später gern die «Sinisierung» des Kommunismus genannt wurde, hatte hier seine Wurzeln – die Erkenntnis, dass im Unterschied zu den industrialisierten Ländern die revolutionäre Avantgarde nicht aus dem Proletariat rekrutiert werden konnte, sondern nur aus der Masse der an ihr Land gefesselten, verelendeten Bauern.

In seinem legendären «Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan» schrieb der junge Agitator Mao im März 1927: «Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltiges Ereignis. Es dauert nur noch eine sehr kurze Zeit, und in allen Provinzen Mittel-, Süd- und Nordchinas werden sich Hunderte Millionen von Bauern erheben; sie werden ungestüm und unbändig wie ein Orkan sein, und keine noch so große Macht wird sie aufhalten können. Sie werden alle ihnen angelegten Fesseln sprengen und auf dem Weg zur Befreiung vorwärtsstürmen. (…) Soll man sich an ihre Spitze stellen, um sie zu führen? Soll man hinter ihnen her trotten, um sie wild gestikulierend zu kritisieren? Oder soll man ihnen in den Weg treten, um gegen sie zu kämpfen? Es steht jedem Chinesen frei, einen dieser drei Wege zu wählen, aber der Lauf der Ereignisse wird dich zwingen, rasch deine Wahl zu treffen.»[2]

Mao war entschlossen, sich an die Spitze der revolutionären Bauern zu stellen. Er tat dies mit Geschick und äußerster Brutalität. Millionen von wohlhabenden Bauern, von Grundherren und Gutsbesitzern sollten im Laufe der kommenden Jahrzehnte Opfer kommunistischer Gewalt werden. Maos Herrschaft begann 1931 im Jinggangshan, einer unwirtlichen Bergregion im Grenzgebiet der Provinzen Hunan und Jiangxi, in dem bis dahin Räuber ihr Unwesen getrieben hatten. Sie festigte sich im «Langen Marsch» der Jahre 1934/35, der die kommunistische Rote Armee bis in die Lösshöhlen von Yenan in der Provinz Shaanxi führte. Und niemand konnte Mao die Macht mehr streitig machen, als er im Bürgerkrieg die Nationalisten niederrang und Chiang Kai-shek mit seinen verbleibenden Truppen zur Flucht nach Taiwan zwang.

Es war eine Bauernarmee, die 1949 in Peking einmarschierte. Sie hatte die Städte Chinas von den Dörfern her eingekreist – eine Strategie, die sich später auch in der Außenpolitik des Regimes, in seiner Unterstützung zahlreicher Aufstandsbewegungen gegen die «Metropolen» der Welt wiederfand. Als die Kommunisten die Macht in ganz China übernommen hatten, setzten sie ihre Vorstellungen umgehend in die Tat um. Etwa 40 Prozent des Nutzlandes der Grundherren wurde konfisziert. Wer sich der Enteignung entgegenstellte, hatte sein Leben verwirkt. «Insgesamt dürfte die bei den Reformen geübte Gewalt den grausameren Etappen des Kampfes gegen Japaner und Kuomintang nicht nachgestanden sein.»[3]

Dieser Kampf hatte die Kommunisten gestählt und sie zu der unerbittlichen Kraft gemacht, die nach der Machtübernahme in China bei der gesellschaftlichen Umwälzung kaum einen Stein auf dem anderen ließ. Die KP hatte sich nach ihrer Gründung 1921 der Komintern angeschlossen, war Teil der kommunistischen Weltbewegung geworden. In Moskau blickte man anfangs skeptisch auf die chinesischen Kommunisten, die sich nach Zahl und Stärke nicht messen konnten mit der Kuomintang Sun Yat-sens und Chiang Kai-sheks. China, analysierten die sowjetischen Ideologen, befand sich erst im Stadium der «bürgerlich-nationalen» Revolution. Sie befahlen den chinesischen Genossen, mit der Kuomintang eine Einheitsfront einzugehen.

Widerstrebend fügten sich diese. Aber es wuchs kein Vertrauen zwischen den Kommunisten und den Nationalisten. Verrat und politischer Mord waren an der Tagesordnung. Beide Seiten bauten ihre Armeen aus, Mitte der zwanziger Jahre herrschte offener Bürgerkrieg. Erst Japans Okkupation in den dreißiger Jahren zwang die verfeindeten Parteien wieder in eine nationale Einheitsfront. Mao, seit 1935 die dominierende Figur an der Spitze der KP, fügte sich dem Willen Stalins und der Komintern, die Angriffe auf die Nationalisten einzustellen und die Kräfte gegen den Aggressor Japan zu bündeln. Chiang Kai-shek blieb für Mao ein Feind und Verräter, aber in der Stunde der Bedrohung von außen musste man zusammenstehen. In den Worten Maos: «Was wir brauchen, ist die revolutionäre nationale Einheitsfront, die dem japanischen Imperialismus, den Kollaborateuren und den Landesverrätern den Todesstoß versetzen wird.»

Der Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg über eine zunehmend korrupte und zerrissene Kuomintang ließ Mao Zedong zu einem der mächtigsten Führer im Weltkommunismus werden. Stalin schaute voller Misstrauen auf den chinesischen Bauernrevolutionär, der sich erkennbar schwertat, die Autorität des sowjetischen Parteiführers anzuerkennen. Der sowjetische Parteichef hatte stets voller Skepsis auf die von Mao proklamierte «Massenlinie» geblickt. Aber nun hatte der chinesische Revolutionär die Macht im riesigen Nachbarstaat übernommen; entsprechend selbstbewusst trat Mao auf.