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Matthias Naß

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Beschreibung

Während die Welt gebannt auf die Ukraine schaut, formiert sich viele tausend Kilometer entfernt ein noch viel größerer Konflikt – China und die USA sind im Indopazifik auf Kollisionskurs. Im neuen Epizentrum der globalisierten Weltwirtschaft entscheidet sich, wer im 21. Jahrhundert tonangebend sein wird, der kapitalistisch-demokratische Westen oder das staatskapitalistisch-autokratische Regime Chinas. Die Insel Taiwan, auf die China Anspruch erhebt, ist der Dominostein, dessen Fall die ganze Sicherheitsarchitektur Asiens zum Einsturz bringen würde. Matthias Naß, der seit vielen Jahrzehnten für die ZEIT über Asien und den Pazifik berichtet, schildert Ursachen und Verlauf des Konflikts und porträtiert eindringlich die beteiligten Akteure und ihre sehr unterschiedlichen Interessen. Das Säbelrasseln im Indopazifik wird immer lauter. US-Kreuzer passieren in regelmäßigen Abständen die Straße von Formosa, chinesische Militäreinheiten bauen künstliche Inseln im Ozean, deren Zweck unmissverständlich ist, und beide Seiten versuchen den Gegner mit gewaltigen Seemanövern einzuschüchtern. Die Anrainerstaaten wie Australien, Japan oder Südkorea werden zunehmend nervös und rücken aus Angst vor dem Machthunger der Volksrepublik China zusammen, während Peking ein dichtes Netz von regionalen Abhängigkeiten webt und in Hongkong schonungslos jene Dominanz ausübt, die es auch für Taiwan anstrebt. Eines ist sicher: Wer aus diesem Ringen als Sieger hervorgeht, der wird der neue globale Hegemon.

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Matthias Naß

KOLLISION

China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft im Indopazifik

C.H.BECK

Zum Buch

«Das wird kein höfliches Tennismatch.»

Mike Gallagher, Vorsitzender des China-Ausschusses im US-Kongress

Während die Welt gebannt auf die Ukraine schaut, formiert sich viele tausend Kilometer entfernt ein noch viel größerer Konflikt – China und die USA sind im Indopazifik auf Kollisionskurs. Im neuen Epizentrum der globalisierten Weltwirtschaft entscheidet sich, wer im 21. Jahrhundert tonangebend sein wird, der kapitalistisch-demokratische Westen oder das staatskapitalistisch-autokratische Regime Chinas. Die Insel Taiwan, auf die China Anspruch erhebt, ist der Dominostein, dessen Fall die ganze Sicherheitsarchitektur Asiens zum Einsturz bringen würde. Matthias Naß, der seit vielen Jahrzehnten für die ZEIT über Asien und den Pazifik berichtet, schildert Ursachen und Verlauf des Konflikts und porträtiert eindringlich die beteiligten Akteure und ihre sehr unterschiedlichen Interessen.

Über den Autor

Matthias Naß war viele Jahre Korrespondent und stellvertretender Chefredakteur der ZEIT. Asien und der Indopazifik sind sein Spezialgebiet. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Countdown in Korea» (2017) und zuletzt «Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet» (22022).

Inhalt

Einleitung

I. Das Ringen der Weltmächte

1. Demokratie oder Autokratie – In welcher Ordnung werden wir leben?

2. China – Der Traum von der Rückkehr zu alter Größe

3. Die Vereinigten Staaten von Amerika – Die Weltmacht will Nummer eins bleiben

II. Konflikte und Kriegsgefahr

1. Taiwan – Die bedrohte Demokratie

2. Südchinesisches Meer – Nuklearbomber über Atollen

3. Pazifische Inseln – Kräftemessen in der Südsee

III. Großmachtpolitik und «Mittlere Mächte»

1. Russland – Schulterschluss der Autokraten

2. Japan – Suche nach einer neuen Normalität

3. Australien – Bollwerk zwischen zwei Ozeanen

4. Indien – Stolze Unabhängigkeit

IV. Neue Allianzen

1. Quad – Eine «asiatische Nato»?

2. Aukus – Drei Westmächte rüsten auf

V. Europäische Interessen

1. Deutschland – Wird unsere Sicherheit auch am Indopazifik verteidigt?

2. Frankreich – Konfetti des Imperiums

3. Großbritannien – Weltpolitik östlich von Suez

4. Nato – Das Bündnis globalisiert sich

VI. Die Supermächte sammeln ihre Truppen

Dank

ANHANG

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

I. Das Ringen der Weltmächte

1. Demokratie oder Autokratie – In welcher Ordnung werden wir leben?

2. China – Der Traum von der Rückkehr zu alter Größe

3. Die Vereinigten Staaten von Amerika – Die Weltmacht will Nummer eins bleiben

II. Konflikte und Kriegsgefahr

1. Taiwan – Die bedrohte Demokratie

2. Südchinesisches Meer – Nuklearbomber über Atollen

3. Pazifische Inseln – Kräftemessen in der Südsee

III. Großmachtpolitik und «Mittlere Mächte»

1. Russland – Schulterschluss der Autokraten

2. Japan – Suche nach einer neuen Normalität

3. Australien – Bollwerk zwischen zwei Ozeanen

4. Indien – Stolze Unabhängigkeit

IV. Neue Allianzen

1. Quad – Eine «asiatische Nato»?

2. Aukus – Drei Westmächte rüsten auf

V. Europäische Interessen

1. Deutschland – Wird unsere Sicherheit auch am Indopazifik verteidigt?

2. Frankreich – Konfetti des Imperiums

3. Großbritannien – Weltpolitik östlich von Suez

4. Nato – Das Bündnis globalisiert sich

VI. Die Supermächte sammeln ihre Truppen

Bildnachweis

Personenregister

Karten

Für Maelle Nami

Einleitung

Es war nur ein Ballon, der Anfang Februar 2023 über die Vereinigten Staaten trieb. Er näherte sich dem Kontinent von Westen über die Aleuten, überflog Alaska, nahm den Weg südwärts über Kanada, verharrte eine Weile über einem Militärstützpunkt mit Silos für Interkontinentalraketen im US-Bundesstaat Montana, flog dann langsam weiter nach Osten. Als er im Bundesstaat South Carolina die Atlantikküste überquert hatte, schoss die US-Luftwaffe den Ballon ab. Wie ein zerknülltes Papiertaschentuch trudelte er vom Himmel. Die Lauschtechnik an Bord fiel etwas rascher herab. Die Navy barg die Überreste aus dem Meer.

Der Ballon kam aus China, was in Peking niemand bestritt. Wir wollten das Wetter erkunden, behaupteten die Chinesen, leider habe der Wind das Luftschiff vom Kurs weggetrieben. Ihr habt uns ausspioniert, empörte sich die Regierung in Washington und sammelte fleißig Beweise für die Richtigkeit ihres Verdachts. Ein chinesischer Ballon über dem Herzland der USA, so groß, dass er mit bloßem Auge zu sehen war, das verstörte die sicherheitsbesessenen Amerikaner. Zumal es, wie sich nun herausstellte, nicht die erste Spionageaktion dieser Art war. Nur waren die bisherigen Ballonflüge nicht in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Rede zur Lage der Nation, die Präsident Joe Biden wenige Tage später vor dem Kongress halten musste, bot ihm eine prominente Bühne, um klarzustellen: «Wenn China unsere Souveränität bedroht, werden wir handeln und unser Land schützen. Genau das haben wir getan.»

Die Atmosphäre ist aufgeladen zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China. Es braucht nicht viel, schon knallt es. China will in der Weltpolitik «näher an die Bühnenmitte» rücken, wie es Staatschef Xi Jinping formuliert hat. Diesen Platz aber wollen die USA nicht räumen. Amerika als Nummer zwei – eine solche Zukunft lässt sich mit der eigenen Vorstellung von der Welthierarchie nicht vereinbaren.

Ein chinesischer Aufklärungsballon driftet vor der Küste von South Carolina in den Ozean, nachdem er von der US-Luftwaffe abgeschossen wurde, 4. Februar 2023.

Der «strategische Wettbewerb» mit China, den Joe Biden ausgerufen hat, ist globaler Natur. Aber das Zentrum des politischen Ringens zwischen der etablierten und der aufsteigenden Supermacht liegt im Indopazifik. Und dort wiederum im westlichen Teil des Pazifischen Ozeans. Von der koreanischen Halbinsel bis zur Straße von Malakka stoßen die Interessen der Konkurrenten hart aufeinander. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die amerikanische Hegemonie in der Region unumstritten; nun möchte China die fremde Vormacht am liebsten ganz vertreiben – die dort nach Ansicht der US-Verbündeten zur Wahrung der Machtbalance aber dringend gebraucht wird. Je stärker die Volksrepublik werde, desto mehr.Überhaupt, Amerika eine fremde Macht? Wir waren immer schon eine indopazifische Nation, sagt die Regierung in Washington, wir sind es heute und werden es bleiben. Schließlich reiche amerikanisches Territorium von der kalifornischen Küste über Hawaii bis nach Guam, weit im Westen des Pazifiks. Seit zweihundert Jahren treibe man Handel mit Asien. «Wir sind gekommen, um zu bleiben», versicherte Präsident Barack Obama im November 2011 vor dem australischen Parlament in Canberra. «Hier sehen wir die Zukunft.»

Vom «Indopazifik» war damals, 2011, allerdings noch wenig die Rede. Langsam erst machte dieser Begriff seinen Weg durch die Denkfabriken und Staatskanzleien, tauchte dann immer häufiger in den Memoranden und Reden der strategischen Planer, der Politiker und schließlich der Militärs auf. In die Debatte geworfen hatte ihn der japanische Premierminister Shinzo Abe 2007 bei einem Auftritt vor dem indischen Parlament. Abe war der Überzeugung, Indien sei unverzichtbar als Gegengewicht zu einem übermächtigen China, das seine Macht nicht nur am Pazifischen, sondern auch am Indischen Ozean ausdehnte. Vor den Abgeordneten in Delhi schwärmte er von dem «Zusammenfließen der beiden Meere», eine Formulierung, die er sich bei einem frühen Prinzen des indischen Mogul-Reiches ausgeliehen hatte. Die Parlamentarier, so schildert es ein japanischer Diplomat, waren hingerissen von der Rede: Sie «applaudierten, hämmerten auf die Tische, trampelten auf den Fußboden».[1]

Der nationalkonservative Abe, ein für japanische Verhältnisse ganz untypisch offen machtbewusster und zugleich weit vorausdenkender Außenpolitiker, sollte ein zweites Mal einen wichtigen Begriff prägen, als er bei einem Gipfeltreffen 2016 in Nairobi für einen «freien und offenen Indopazifik» warb. Wenig später übernahmen die Amerikaner die Formel. A free and open Indo-Pacific, in kaum einem westlichen Regierungsdokument, in kaum einer sicherheitspolitischen Grundsatzrede zum Thema fehlt seither diese Formulierung. Sie richtete sich von Anfang an gegen China. Der Begriff Indopazifik sei mehr als ein Wortspiel, schreibt Rory Medcalf, Professor an der Australischen Nationaluniversität. Er sei ein «Code» für eine Schwächung Chinas. Viele Nationen sähen sich im 21. Jahrhundert vor ein Dilemma gestellt: Gibt es gegenüber einem starken und oft gewaltbereiten China etwas anderes als nur die Wahl zwischen Kapitulation und Konflikt?[2]

In der Praxis, da hat die chinesische Führung schon recht, verbirgt sich hinter dem Wort vom «freien und offenen Indopazifik» eine Politik der Eindämmung. Der Westen will China die Grenzen seiner Macht aufzeigen. Zu diesem Zweck baut er an einer neuen Sicherheitsarchitektur. Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater von Joe Biden, beschreibt sie als globales «Gitterwerk» von Bündnissen und Partnerschaften. Es gehe nicht darum, die bilateralen Allianzen in Asien oder die Nato einfach «aufzumöbeln»; vielmehr müssten die bestehenden Sicherheitsstrukturen vernetzt und durch «neue Komponenten ergänzt» werden. Vor allem im indopazifischen Raum.[3] Denn daran lässt die Regierung in Washington keinen Zweifel: Das Zentrum der Weltpolitik hat sich verlagert, weg vom Atlantik, hin zum Indopazifik. Hier bündelt die Supermacht Amerika nun ihre Kräfte. Schon 2018 wurde das Pazifik-Kommando der US-Streitkräfte auf Hawaii umbenannt in Indopazifik-Kommando; es ist heute für die Operationen in beiden Weltmeeren zuständig, dem Pazifischen und dem Indischen Ozean.

Rund ein Dutzend westliche Regierungen sowie die Europäische Union haben inzwischen «Indopazifik-Strategien» veröffentlicht, in denen sie die Grundzüge ihrer Politik gegenüber der Weltregion formulieren. Manche dieser Strategien sind von Vorsicht geprägt, wie die deutsche. Andere, etwa die kanadische, kündigen einen kämpferischen Kurs an und gehen hart mit der Volksrepublik ins Gericht. «China ist eine zunehmend disruptive globale Macht», heißt es in dem Dokument aus Ottawa. Kanada werde sich immer für die universellen Menschenrechte einsetzen, auch die der «Uiguren, Tibeter und anderer religiöser und ethnischer Minderheiten. Kanada wird weiterhin Schulter an Schulter mit den Menschen Hongkongs stehen.»[4]

Die im September 2021 noch von der damaligen großen Koalition in Berlin verabschiedeten «Leitlinien zum Indo-Pazifik» beschreiben die deutsche Politik viel zurückhaltender. Zwar sei Deutschland «bereit, einen Beitrag zur Durchsetzung von Regeln und Normen in der Region zu leisten». Aber die Bundesregierung halte «Eindämmungs- und Entkopplungsstrategien für nicht zielführend».[5] Das ist immer noch die Haltung Berlins und die der meisten anderen europäischen Regierungen. Doch die Beziehungen zwischen China und Europa sind schwierig geworden. Die Volksrepublik hat in den vergangenen Jahren eine rücksichtslose Machtpolitik betrieben, sie hat die Repression im eigenen Land verschärft und die eigenen Interessen nach außen mit aller Härte durchgesetzt, selbst gegenüber einem so kleinen Land wie Litauen, nur weil ihr dessen freundliche Haltung zu Taiwan nicht gefiel. Sie hat mit dem guten Willen, der China aus Europa entgegengebracht wurde, Schindluder getrieben. Das rächt sich nun. Und eint den Westen. Auch wenn die Europäer den amerikanischen Konfrontationskurs bisher nicht mitgehen.

Von Washington aus gesehen, hat der zweite Kalte Krieg längst begonnen. Demokraten und Republikaner mögen sich über alles streiten, in einem Punkt herrscht Konsens: Die fünfzig Jahre lang gemeinsam betriebene Politik einer Einbindung Chinas in das westlich geprägte internationale System ist gescheitert. Sie habe nur eines bewirkt: Die Volksrepublik sei stärker geworden. Etwa durch die auch von den USA unterstützte Aufnahme in die Welthandelsorganisation, für die China die Voraussetzungen gar nicht erfüllt habe. Zugleich habe Amerikas Politik des engagement die eigene Wirtschaft geschwächt, weil man der Subvention staatlicher Unternehmen durch Peking oder dem Diebstahl geistigen Eigentums jahrzehntelang tatenlos zugesehen habe. Millionen Jobs seien verloren gegangen. Nun will Joe Biden sie, wie schon sein Vorgänger Donald Trump, nach Amerika zurückholen.

Die lange für unmöglich gehaltene «Entkopplung» in der Weltwirtschaft hat begonnen. In Schlüsselindustrien wie der Halbleiterfertigung oder der Telekommunikation schotten die USA ihren Markt durch Exportkontrollen und Investitionsverbote gegen die chinesische Konkurrenz ab. Begründet wird dies nicht nur mit einer Verzerrung des Wettbewerbs, sondern auch mit Gefahren für die nationale Sicherheit. Und diese Sorge ist nicht unberechtigt. Das chinesische System kennt keine klare Trennung zwischen Staats- und Privatwirtschaft. Zivile und militärische Firmen arbeiten eng zusammen, auch private Unternehmen können gezwungen werden, für die Armee oder die Nachrichtendienste tätig zu werden.

Aber in den USA gibt es auch gewichtige Stimmen, die vor einer Deglobalisierung warnen. Zu ihnen gehört der ehemalige Finanzminister Henry M. Paulson, der in der Weltfinanzkrise 2008 eng mit der chinesischen Führung zusammenarbeitete und so einen totalen Kollaps der Märkte verhinderte. Zwischen den USA und China dürfe kein «wirtschaftlicher eiserner Vorhang» niedergehen, schreibt Paulson. Die Volksrepublik bleibe ein riesiger Markt, den Amerika nicht seinen Konkurrenten überlassen dürfe. Schon heute sei China die größte Handelsnation der Welt. Zwei Drittel aller Länder betrieben mehr Handel mit der Volksrepublik als mit den Vereinigten Staaten. Bei der Hochtechnologie allerdings, räumt Paulson ein, sei «ein gezieltes Entkoppeln absolut notwendig».[6]

Besorgniserregender als die Gegensätze in der Wirtschaftspolitik sind allerdings die wachsenden militärischen Spannungen. Das gilt für die Vereinigten Staaten, es gilt aber auch für deren Verbündete in Asien wie in Europa. China rüstet dramatisch auf, bei der Marine, den Raketenbeständen, die schon heute die größten der Welt sind, und bei den Nuklearwaffen. Das militärische Potential der Volksrepublik wird zunehmend als bedrohlich empfunden. In Japan wie in Indien oder in Australien. Selbst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat ein ums andere Mal vor Chinas Langstreckenraketen und seinen militärischen Aktivitäten im All und im Cyberraum gewarnt.

Wann wird sich Peking stark genug fühlen, um mit dem Gebrauch seiner Waffen zu drohen oder sie tatsächlich einzusetzen? Durch den Ukrainekrieg ist diese Frage dringlicher geworden. Wenn Wladimir Putin ohne jeden Grund und im tiefsten Frieden die Ukraine überfällt, warum soll dann nicht auch Xi Jinping Taiwan angreifen? China hat die Anwendung von Gewalt gegen die 160 Kilometer vor seiner Küste liegende Insel niemals ausgeschlossen und drängt immer ungeduldiger auf die Wiedervereinigung, auch wenn die Bürger Taiwans davon nichts wissen wollen. Im Jahr 2022 sind chinesische Militärjets 1700-mal in die Luftverteidigungszone Taiwans eingedrungen. Eine gezielte Provokation. Das Überfliegen der «Mittellinie» zwischen dem Festland und Taiwan, die beide Luftwaffen voneinander fernhalten soll, gilt inzwischen als das «neue Normal».

Obwohl der Ukrainekrieg alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, haben Europäer und Amerikaner die im Indopazifik drohende Eskalation keineswegs aus den Augen verloren. Im Gegenteil, Putins Aggression hat den Blick für die im Fernen Osten heraufziehende Gefahr geschärft. Vor allem natürlich in der Region selbst. In Japan hat er zu einer Neuausrichtung der Verteidigungspolitik geführt, ähnlich der deutschen «Zeitenwende». Australien hält auch nach dem Regierungswechsel von den Konservativen zu Labour 2022 an der Beschaffung von atomgetriebenen U-Booten mit Hilfe der USA und Großbritanniens fest. Die Philippinen, die sich Peking zugewandt hatten, verstärken nun wieder die militärische Zusammenarbeit mit den USA. Indien, das stets größten Wert auf seine Neutralität und Blockfreiheit gelegt hat, arbeitet mit den USA, Japan und Australien in einem Sicherheitsdialog («Quadrilateral Security Dialogue» – Quad) auch militärisch immer enger zusammen. China sieht in der Kooperation dieser vier Staaten den Kern einer «asiatischen Nato», aber von einer formellen Allianz kann bisher keine Rede sein.

Und doch, das «Gitterwerk» der Bündnisse und Partnerschaften, von dem Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan spricht, nimmt Gestalt an. Der Ukrainekrieg wirkt wie ein Katalysator. Peking hat dem Terror Wladimir Putins gegen die Zivilbevölkerung ohne ein einziges öffentliches Wort der Kritik zugeschaut, die Schuld an dem Krieg hat es allein den Vereinigten Staaten und der Nato gegeben. Gerade bei den Osteuropäern, die einst voller Hoffnung auf China schauten, hat Peking damit fast allen Kredit verspielt. «China ist im Augenblick kein freundliches Land», sagte Tschechiens neugewählter Präsident Petr Pavel im Februar 2023, «sein Regime ist unvereinbar mit den Zielen und Prinzipien westlicher Demokratien.» Pavel fand Pekings Verhalten von Beginn des Ukrainekriegs an verwerflich. «Zweifellos hatte China die Chance, Russlands Entscheidungen mit starker Stimme zu beeinflussen, hat diese Gelegenheit aber nicht genutzt. Sie sind weggeblieben.»[7]

Noch zerfällt die Welt nicht wie im ersten Kalten Krieg in feindliche Blöcke. Aber es formieren sich erneut zwei Lager. In der Auseinandersetzung mit den Autokratien China und Russland wächst ein «globaler Westen» heran. Länder wie Japan, Südkorea, Australien oder Singapur beteiligen sich an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Die Regierungschefs aus Tokio, Seoul, Canberra oder Wellington nehmen inzwischen ganz selbstverständlich an den Gipfeltreffen der Nato teil. Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland beteiligen sich an Manövern im Indischen oder Pazifischen Ozean. Die neue Einheit dieses «globalen Westens» – sie ist auch das Werk Wladimir Putins und Xi Jinpings. Ohne die autokratische Herausforderung wäre er so zerstritten wie eh und je.

Nach Ansicht des chinesischen Politikwissenschaftlers Wang Jisi kann die Rivalität zwischen China und Amerika «von längerer Dauer sein, umfassender und intensiver als jeder andere internationale Konkurrenzkampf der modernen Geschichte, einschließlich des Kalten Krieges». Die Ähnlichkeiten zum ersten Kalten Krieg sind frappierend: Lagerbildung, Aufrüstung, politische Feindbilder, atomare Drohgebärden. Zugleich sind die Unterschiede offenkundig: Der Kommunismus ist Geschichte, die Großideologien des vergangenen Jahrhunderts haben abgewirtschaftet, China und der Westen sind wirtschaftlich und finanziell auf das Engste miteinander verflochten.

Doch der nationalistische Furor ist manchmal stärker als der Wunsch nach Frieden und nach Wahrung des Wohlstands. In der Ukraine hat Putin alle Hoffnungen, er werde sich am Ende rational – und human – verhalten, mit kalter Erbarmungslosigkeit zunichte gemacht. Xi Jinping, heißt es, sei besonnener und pragmatischer. Aber auch für ihn ist die Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland eine heilige patriotische Pflicht. «Um uns herum zieht ein Sturm auf», warnte Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong im August 2022 in düsterer Vorahnung. «Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Lage bald bessern wird.»[8]

I. Das Ringen der Weltmächte

1. Demokratie oder Autokratie – In welcher Ordnung werden wir leben?

«Amerika ist wieder da!» Mit dieser Botschaft zog Joe Biden im Januar 2021 ins Weiße Haus ein. Dieser Präsident, signalisierte der Demokrat Biden Verbündeten und Gegnern gleichermaßen, werde nach den vier Jahren unter seinem unberechenbaren republikanischen Vorgänger Donald Trump amerikanische Außenpolitik wieder im gewohnten Koordinatensystem betreiben. Glaubwürdigkeit und Einfluss, die unter Trump verspielt worden seien, müssten zurückgewonnen werden, zuallererst dadurch, dass die Vereinigten Staaten ihre eigene Demokratie erneuerten. In einem Grundsatzartikel für die Zeitschrift Foreign Affairs hatte Biden ein Versprechen abgegeben: Innerhalb des ersten Jahres seiner Amtszeit werde er einen «globalen Gipfel für Demokratie» organisieren.[1] Drei Aufgaben setzte er auf die Tagesordnung dieses Gipfels: den Kampf gegen die Korruption, die Verteidigung gegen den Autoritarismus und die Förderung der Menschenrechte. Nach Trumps populistischem Getöse des «America first» sollte klar sein, die Vereinigten Staaten wollten sich neu auf ihre politischen und moralischen Maßstäbe besinnen. Wer, wenn nicht wir, kann Freiheit und Demokratie auf der Welt schützen – so der hohe Ton des Artikels. Biden, konnte man zwischen den Zeilen lesen, werde gewiss nicht mit Diktatoren wie Nordkoreas Kim Jong-un kuscheln und treue Alliierte verächtlich behandeln.

Der Gipfel fand am 9. und 10. Dezember 2021 statt. Die Welt nahm nicht viel Notiz davon. Und es wäre noch ruhiger um das Treffen gewesen, hätte nicht China, das außen vorgeblieben war, vor Wut geschäumt. Seit Jahren hörte die Führung in Peking den Westen von einer «systemischen Rivalität» sprechen, nun schien sie entschlossen zu sein, in die Offensive zu gehen und den Wettbewerb um das bessere System aufzunehmen. Denn für sie steht die Überlegenheit der «chinesischen Ordnung» über das «westliche Chaos» außer Frage. Gleich zwei Grundsatzpapiere veröffentlichte die chinesische Regierung am Wochenende vor dem Gipfel. «China. Demokratie, die funktioniert», hieß das erste. «Zur Lage der Demokratie in den Vereinigten Staaten», das zweite.[2]

«Demokratie, die funktioniert» – die chinesischen Staatsmedien listeten Tag für Tag Beispiele auf, was damit gemeint war: die Eindämmung der Covid-19-Pandemie, der Kampf gegen die Korruption, die Selbstbehauptung im Handelskrieg mit den USA, die Niederschlagung des «Aufruhrs» in Hongkong 2019. All dies zeige, wie effektiv das chinesische Modell arbeite. Und wie gerecht es sei. Im Gegensatz zur amerikanischen Alternative. Die Beispiele für dessen Versagen: der Sturm des von Trump aufgehetzten Pöbels auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021, die Hunderttausende Corona-Toten, die Gewalt gegen Schwarze; aber auch der globale «Krieg gegen den Terror» mit seinen fehlgeschlagenen Interventionen im Irak und in Afghanistan. Das amerikanische System sei «ernsthaft krank», resümierte die Parteipresse. Und dennoch, so lautete ihr Vorwurf, beanspruchten die Vereinigten Staaten gleichsam ein Monopol bei der Definition dessen, was eine richtige Demokratie sei, belehrten andere Länder, mischten sich in deren Angelegenheiten ein und suchten Vorwände, um fern der eigenen Grenzen militärisch zu intervenieren.

Was Chinas Medien unterschlugen: Die Regierung Biden hatte die demokratischen Defizite im eigenen Land keineswegs verschwiegen. Im Gegenteil: Sie verstand die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft, die sich in der Wahl Trumps spiegelte, als einen Weckruf. Außenminister Antony Blinken sprach von einer «Erosion der Demokratie» in den USA, von «strukturellem Rassismus» und «Desinformation».

Kein Präsident vor Donald Trump hatte je die Legitimität freier Wahlen in Frage gestellt. Über die Vertrauenskrise daheim wollte die Regierung Biden auf dem Gipfel ausdrücklich Rechenschaft ablegen. Und diese Bereitschaft zur Selbstkritik unterschied sich dann doch auffällig von der Selbstgerechtigkeit der chinesischen Führung, die von eigenen Fehlern und Schwächen nichts wissen wollte und will.

Es war aber gar nicht so sehr der Streit über das richtige System, der in Peking für Empörung sorgte. Vielmehr war es die Tatsache, dass auf der Liste der 110 eingeladenen Länder der Name Taiwan auftauchte, gleich hinter der Schweiz. Damit hatte die Regierung Biden eine rote Linie überschritten. Denn die «Insel Taiwan» ist aus Pekinger Sicht kein souveräner Staat, sondern eine abtrünnige Provinz der Volksrepublik. Für die chinesische Führung hatte der Gipfel vor allem einen Zweck: Er sollte den auf Taiwan regierenden «Sezessionisten» eine Bühne bieten. Im Übrigen sei alles bloß der Versuch einer «kleinen antichinesischen Clique», die Volksrepublik einzudämmen.

Nur: Taiwan hat sich seit Ende der achtziger Jahre tatsächlich zu einer lebendigen Demokratie entwickelt, mit freien Wahlen, friedlichen Regierungswechseln, einer kritischen Presse und einer offenen Zivilgesellschaft. Taiwan ist der beste Beweis dafür, dass chinesische Kultur und demokratische Freiheiten miteinander harmonieren können. Jene, die in den achtziger Jahren gegen das Kriegsrechtsregime der 1949 vom Festland auf die Insel geflohenen Kuomintang aufbegehrten, kamen auf demokratischem Weg an die Macht; und die ehemals Mächtigen fanden sich, wenn auch zähneknirschend, mit der Oppositionsrolle ab.

Demonstranten schützen sich mit Regenschirmen bei einer Protestveranstaltung in Hongkong, 29. September 2019.

Nachdem Peking in den Jahren 2019 und 2020 die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen hat, ist Taiwan zum Zufluchtsort bedrohter Dissidenten geworden. Nichtregierungsorganisationen wie Reporter ohne Grenzen oder die Friedrich-Naumann-Stiftung haben ihre asiatischen Regionalbüros nach Taipei verlegt, weil sie hier ungestört arbeiten können. Nirgendwo in Ostasien sind die gesellschaftlichen Freiräume heute größer. Was der wirtschaftlichen Entwicklung nicht geschadet hat: Auf der kleinen Insel mit ihren 23,5 Millionen Einwohnern werden heute die modernsten Mikrochips der Welt produziert.

Demokratie oder Autokratie – dieser Wettbewerb wird keineswegs nur, wie einst im Kalten Krieg, zwischen Ost und West ausgetragen, sondern auch zwischen asiatischen Staaten und innerhalb ihrer Gesellschaften. Japan machte sich nach seiner verheerenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg auf den Weg zur Demokratie. Südkorea überwand die Militärdiktatur 1987, im selben Jahr hob auf Taiwan Präsident Chiang Ching-kuo das Kriegsrecht auf. Auf den Philippinen zwang 1986 die Protestbewegung «People Power» den Diktator Ferdinand Marcos ins Exil. Die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen die Osteuropäer ihre Freiheit erkämpften, waren auch in Ostasien eine Zeit des Aufbruchs. Sogar in China regte sich Protest, doch am 4. Juni 1989 bereitete das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking allen Hoffnungen auf eine politische Liberalisierung ein brutales Ende.

In den achtziger und neunziger Jahren stritten viele asiatische Gesellschaften über ihren künftigen politischen Weg. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten strotzten vor Selbstbewusstsein. Nach dem staunenswert erfolgreichen Japan waren weitere Staaten auf Wachstumskurs gegangen. Vor allem die «Vier kleinen Tiger» (Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong) beeindruckten die Welt mit ihrem ökonomischen und technologischen Fortschritt. Warum holte Asien plötzlich so schnell auf? Warum begann der Westen, der doch seit der industriellen Revolution in der Weltwirtschaft den Ton angegeben und die Maßstäbe gesetzt hatte, plötzlich ebenso bewundernd wie furchtsam vom heraufziehenden «asiatischen Jahrhundert» zu sprechen? Lagen die Gründe dafür auch in den Traditionen Asiens, in seinem Denken?

Die Suche nach Erklärungen mündete in eine leidenschaftliche Debatte über die «asiatischen Werte», die nie allein ein intellektueller Streit, sondern von Anbeginn auch eine politische Auseinandersetzung war. Im Kern ging es um die Frage, ob der asiatische Gemeinsinn, der soziale Zusammenhalt, die Verpflichtung gegenüber Familie und Gesellschaft dem westlichen Individualismus nicht überlegen seien. Ob die Freiheitsrechte des Einzelnen vor allem in den Vereinigten Staaten nicht längst in Libertinage und Dekadenz abgeglitten seien. Davon überzeugt waren die beiden prominentesten Vertreter der «asiatischen Werte», der Premierminister von Malaysia, Mahathir Mohammed, und der Gründervater des modernen Singapurs, Lee Kuan Yew. Mahathir legte gemeinsam mit dem nationalistischen japanischen Politiker Shintaro Ishihara ein Buch vor mit dem Titel «The Asia That Can Say No», eine Attacke auf den Überlegenheitsdünkel des Westens. In die antiwestlichen Tiraden Mahathirs mischten sich auch antisemitische Töne.

Da war Lee Kuan Yew besonnener. Aber auch er rechnete hart mit den vermeintlichen Schwächen des Westens ab. Unvergessen ist mir ein Interview, das ich mit Lee im Jahr 1994 führte. Er trug damals den Titel «Senior Minister». Ich traf Lee, der über Singapur dreißig Jahre lang mit harter Hand geherrscht hatte, im «Istana». Der weiße Kolonialprachtbau liegt inmitten eines weitläufigen Parks, einst hatten die britischen Gouverneure in ihm residiert. Die Atmosphäre in Lees Arbeitszimmer im zweiten Stock war eisig, nicht nur wegen der auf Kühlschranktemperatur heruntergedrehten Klimaanlage. Kein Lächeln, kein Smalltalk. Nur der Blick: Kommen Sie bitte zur Sache!

In Singapur war gerade ein junger Holländer hingerichtet worden, der mit vier Kilo Heroin im Gepäck erwischt worden war. Dass diese Hinrichtung viele Europäer schockiert hatte, focht Lee nicht an. «Die Tatsache, dass er Holländer ist, schützt ihn nicht vor Strafe, wenn er Drogen nach Singapur bringt», erklärte Lee kühl. «Ich kann nichts dabei finden, dass er hängen musste. Warum nicht?» Lee redete sich in Rage: «Können Sie sich vorstellen, welche Mühen es uns bereitet, unsere Drogenabhängigen zu rehabilitieren? Haben Sie sie jemals gesehen? Wir haben hier Lager für sie. Sie sind zerstörte Menschen, zerstört! Ich sage, wir hängen die Drogenhändler auf. Und jeder weiß das.»

Aber ich wollte mit Lee Kuan Yew nicht über die Todesstrafe sprechen, sondern über die asiatischen Werte. Meine Frage an ihn: Ist Entwicklung möglich ohne Demokratie? Seine Antwort: «Wenn Sie Demokratie nach amerikanischem oder deutschem Muster meinen, dann würde ich sagen: Ja, es kann Entwicklung ohne Demokratie geben. Sie brauchen nicht unbedingt Wahlen, widerstreitende Ansichten und regelmäßige Wechsel von Parteien in der Politik.«[3] Hier sprach ein selbstbewusster Autokrat, in dessen Regierungszeit Singapur von einer malariaverseuchten, sozial und ethnisch zerrissenen Hafenstadt zum Finanz- und Technologiezentrum Südostasiens aufgestiegen war. Westliche Belehrungen wollte er sich nicht anhören.

Der Stolz auf das Geleistete war in Städten wie Singapur und Kuala Lumpur, in Seoul, Taipei oder Hongkong gewaltig. Und er fand im Westen viel Widerhall, vor allem unter Geschäftsleuten, die begeistert waren vom Tempo in den aufstrebenden Ländern Asiens, von der Effizienz und der Entscheidungsfreude, auf die sie dort trafen. Ein Modell, von dem Europa und Amerika lernen könnten, meinten sie. Ralf Dahrendorf, der Soziologe und große Liberale, sprach damals von der «autoritären Versuchung», die manchen Bewunderer des Aufstiegs Asiens erfasst hatte. Dahrendorf sann nach über die Fragen, die sich aus den asiatischen Erfolgen ergaben. «Heißt also die Alternative der modernen Gesellschaft: Wirtschaftliches Wachstum und politische Freiheit ohne sozialen Zusammenhalt – oder Wirtschaftswachstum und sozialer Frieden ohne Freiheit? Gibt es am Ende eine Alternative zum westlichen Modell? Eine, die genauso funktionsfähig ist? Für einige sogar attraktiver, wenn auch für andere inakzeptabel?»[4]

Aber der Streit um die «asiatischen Werte» war keineswegs nur eine Ost-West-Debatte, es war ebenso sehr ein innerasiatischer Disput. So warf Kim Dae Jung, der südkoreanische Oppositionsführer und spätere Staatspräsident, Lee Kuan Yew vor, ideologisch zu argumentieren. Mit seiner Behauptung, das westliche Konzept von Demokratie und Menschenrechten eigne sich aus kulturellen Gründen nicht für Asien, wolle er nur die eigene autoritäre Herrschaft rechtfertigen. Die Demokratie sei dem asiatischen Denken keineswegs fremd, im Gegenteil, es gebe «ein reiches Erbe an demokratisch orientierten Philosophien und Traditionen». Kim nannte beispielhaft den chinesischen Philosophen Menzius (372–289 v. Chr.) und die koreanische Religion Tonghak. «Asien sollte bei der dauerhaften Einführung von Demokratie und der Stärkung der Menschenrechte keine Zeit verlieren», fasste Kim Dae Jung seine Kritik an den Kündern der «asiatischen Werte» zusammen. «Das größte Hindernis ist nicht sein kulturelles Erbe, sondern der Widerstand autoritärer Führer und ihrer Gefolgsleute.»[5]

Zu denen, die bis heute vehement im Sinne Lee Kuan Yews argumentieren, gehört der singapurische Ex-Diplomat, Politikwissenschaftler und Publizist Kishore Mahbubani. In etlichen Büchern und Hunderten von Artikeln beschwor er die Überlegenheit des asiatischen Modells. Der Wiederaufstieg Asiens, insbesondere die Rückkehr Chinas als führende Macht, stellen für ihn die historische Normalität wieder her. In immer neuen Wendungen hält Mahbubani dem Westen seine Verblendung vor, er verzweifelt geradezu an dessen fehlender Einsicht in seinen unabweisbaren Niedergang. Gern zitiert er den britischen Historiker Angus Madison, der errechnet hat, dass China und Indien bis zum Jahr 1820 die beiden größten Wirtschaftsnationen der Welt waren. «Die vergangenen zwei Jahrhunderte welthistorischer Dominanz des Westens waren die Ausnahme, nicht die Regel in zwei Jahrtausenden globaler Geschichte», bekräftigt Mahbubani.[6]

Kritik aus dem Westen, zumal aus den Vereinigten Staaten, an Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefiziten in China weist Kishore Mahbubani als anmaßend zurück. «Wenn künftige Historiker eines Tages zurückschauen, werden sie sich meiner Meinung nach wundern, wie der Westen erwarten konnte, dass ein Land wie die USA mit nicht einmal 250 Jahren Geschichte ein Land wie China mit 4000 Jahren politischer Geschichte glaubte verändern zu können. Die Vorstellung, der Rest der Welt werde sich im Laufe der Zeit genauso entwickeln wie der Westen, ist arrogant.«[7]

Auf intellektueller Ebene wird der Streit um die Demokratie, über die Vorzüge des westlichen oder des östlichen Modells, über das Erbe des Kolonialismus oder die Universalität der Menschenrechte in Asien seit vielen Jahren leidenschaftlich geführt. Politisch jedoch, zwischen den Regierungen, gilt das Prinzip strikter Nichteinmischung. Weiterentwicklungen des Völkerrechts wie eine zwischenstaatliche Schutzverantwortung (responsibility to protect) bei schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar der Ruf nach «humanitären Interventionen» werden rundum abgelehnt. Schon offene Kritik an den politischen Zuständen in den Nachbarländern gilt als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten.

Auch der 1967 gegründete südostasiatische Staatenbund Asean (Association of Southeast Asian Nations) hält am Prinzip der Nichteinmischung fest. Er wäre sonst wohl auch längst auseinandergeflogen, zu heterogen sind die Regierungssysteme seiner zehn Mitgliedsländer. Als Werteunion hat sich Asean nie definiert. Immerhin, als am 1. Februar 2021 in Myanmar das Militär putschte, waren plötzlich neue Töne zu hören. Malaysias Regierung zeigte sich «tief besorgt». Indonesiens Außenministerin Retno Marsudi erklärte, die Demokratie sei genauso wichtig wie das Prinzip der Nichteinmischung. Und Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong, Lee Kuan Yews ältester Sohn, beklagte in einem Interview mit der BBC den Verlust von Menschenleben auf den Straßen der Städte Myanmars.

Bewaffnete Truppen werfen einen friedlichen Protest in Myanmar nieder, Februar 2021.

Die Armee Myanmars, die schon von 1962 bis 2011 diktatorisch geherrscht und sich danach die Macht geteilt hatte mit der im Volk hochverehrten Ikone der Demokratie, der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, reagierte mit dem Umsturz auf den Erdrutschsieg von Suu Kyis Nationaler Liga für Demokratie bei den Parlamentswahlen. Die Generale sprachen von «Wahlfälschung» und brachen das demokratische Experiment ab. Mehr als 700 friedlich protestierende Bürger wurden in den ersten beiden Monaten nach dem Putsch von den Sicherheitskräften erschossen. Das Militär errichtete Standgerichte und ließ politische Gefangene foltern.

Solidarisch mit der in den Untergrund gezwungenen «Bewegung des zivilen Ungehorsams» Myanmars zeigte sich in mehreren asiatischen Ländern eine Gruppe von Aktivisten: Die «Milk Tea Alliance» hatte sich nach dem Staatsstreich des Militärs in Thailand 2014 zusammengefunden, mit der Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong durch das Pekinger Regime war sie weiter gewachsen. Anhänger der «Milchtee-Allianz» protestierten in Bangkok, Hongkong und Taipei gegen den Putsch in Myanmar – in den sozialen Netzwerken und auf der Straße. Sie fanden Zuspruch in Indonesien, Malaysia, Indien und Australien. Die «Alliance» war der zarte Spross einer panasiatischen Solidaritätsbewegung, die Freiheit und Demokratie in ihren Ländern und auf ihrem Kontinent mit dem gleichen Ernst verteidigen wie Menschenrechtsaktivisten im Westen.

Mehrmals bin ich in Asien Zeuge geworden, wie sich die Menschen erhoben gegen erstarrte Strukturen, gegen Willkür und Anmaßung, gegen den Raub ihrer Freiheit.

Auf den Philippinen, wo «People Power» 1986 den Diktator Ferdinand Marcos stürzte. Junge katholische Nonnen, nur mit einem Rosenkranz bewaffnet, stellten sich auf den Stadtautobahnen Manilas den Soldaten und ihren Panzern entgegen. Die sanfte Corazon Aquino, Witwe des ermordeten Oppositionsführers Benigno Aquino, wurde damals von der Woge des Protests in den Präsidentenpalast getragen. Doch der demokratische Aufbruch blieb Episode. An den Machtstrukturen des katholisch geprägten Landes, an der Herrschaft weniger reicher Familien (zu denen auch die Aquinos gehörten) änderte sich wenig. Auch nicht an der Armut der großen Mehrheit. Und das Amt des Präsidenten übernahm dreißig Jahre später Rodrigo Duterte, ein Killer, der sich in seinem Krieg gegen Drogenhändler und Drogensüchtige über Recht und Gesetz stellte und Tausende töten ließ. Bevor dann 2022 mit der Wahl von Ferdinand Marcos Jr. zum Präsidenten wieder die Familie des ehemaligen Diktators an die Macht kam.

In Südkorea, wo 1987 eine selbstbewusste, zu bescheidenem Wohlstand gelangte Mittelschicht das Militär in die Kasernen zurückschickte. Als sich die Studenten im Stadtzentrum von Seoul Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, bis die Tränengasschwaden über die Klimaanlagen in die Büros der Konzernzentralen zogen, hatten sie längst die Angestellten auf ihrer Seite. Die Südkoreaner brauchten die Generale an der Spitze des Staates nicht mehr. Sie wussten, gewählte Politiker würden das Land besser regieren. Und wenn sich das in manchen Fällen als Irrtum herausstellte, wenn Präsidenten der Korruption und des Amtsmissbrauchs überführt wurden, dann schickten unabhängige Richter sie ins Gefängnis. Hier siegte die Demokratie.

In China, wo sich 1989 Zehntausende mit dem Ruf nach politischem Wandel auf Pekings Platz des Himmlischen Friedens versammelten. Wo die Entschlossensten unter den Demonstranten in einen Hungerstreik traten, um die Parteiführung zum Dialog mit ihnen zu zwingen. Wo Studenten der Pekinger Kunstakademie eine «Göttin der Demokratie» nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue errichteten, wenige Meter vor dem Porträt Mao Zedongs am Eingang zur Verbotenen Stadt. Wo schließlich in der Nacht zum 4. Juni 1989 die Panzer der Volksbefreiungsarmee den friedlichen Protest niederwalzten. Bis heute weiß niemand, wie viele Menschen damals starben. Niemand in China darf der Toten vom Tiananmen-Platz öffentlich gedenken, für die Staatspropaganda war ihr friedlicher Protest ein «konterrevolutionärer Aufruhr».

Doch patriotische Studenten, die in Sorge um ihr Land die eigenen Interessen und das eigene Wohl zurückstellen, genossen in den konfuzianisch geprägten Ländern Asiens schon immer ein hohes Ansehen, in China und Korea galten sie als «Gewissen der Nation». In dieser Tradition standen die Tiananmen-Proteste 1989 ebenso wie die gewaltigen Demonstrationen in Hongkong 2019.

Nein, die Asiaten brauchen in Sachen Demokratie keine Lehrmeister aus dem Westen. Wohl aber verdienen sie dort, wo sie für ihre Freiheit kämpfen, Unterstützung und Solidarität. Eines hat die Geschichte ein ums andere Mal gelehrt: Der Wandel muss im eigenen Land, von der eigenen Bevölkerung erkämpft werden. Demokratie kann nicht exportiert werden. Schon gar nicht kann sie einer Gesellschaft gewaltsam aufgedrängt werden. Es gilt das Diktum des frühen deutschen Demokraten Georg Friedrich Rebmann von 1798: «Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten.» Deshalb war der noble Gedanke «humanitärer Interventionen» wohl auch von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Zumal es die reine, uneigennützige Einmischung von außen nie gibt; immer mischen sich in den Wunsch nach Hilfe auch politische, wirtschaftliche oder strategische Interessen.

Besonders deutlich zeigte dies der Afghanistan-Einsatz, den die Vereinigten Staaten im Sommer 2021 unter chaotischen Umständen beendeten. Die USA, unterstützt von der Nato, hatten in dem Land am Hindukusch aus einem konkreten Grund interveniert: Sie wollten der Terrororganisation Al-Kaida, die am 11. September 2001 New York und Washington angegriffen hatte, ihr von den Taliban geschütztes Rückzugsgebiet nehmen. Dieses Ziel war spätestens mit dem Tod Osama bin Ladens 2011 erreicht. Und dennoch blieben die westlichen Verbündeten ein weiteres Jahrzehnt im Land. Denn sie hatten den Kampf gegen den Terrorismus stets mit dem Versprechen eines nation building politisch überhöht – mit der Hilfe beim Aufbau demokratischer, zivilgesellschaftlicher Strukturen, die vor allem den Frauen in Afghanistan ein Leben in Würde und Selbstbestimmung ermöglichen sollten. Dieser Versuch war dramatisch gescheitert. Nach dem Abzug der Nato-Truppen fiel das Land binnen Wochen zurück in die islamistische Despotie.

Der für den überstürzten Abzug viel kritisierte US-Präsident Joe Biden hatte dieses Scheitern früh kommen sehen. Bereits 2009, damals Vizepräsident unter Barack Obama, widersprach er einer Aufstockung der amerikanischen Truppen. Zu Recht hielt er die Regierung in Kabul nicht für einen verlässlichen Partner. Zum Präsidenten gewählt, machte Biden sich daran, Amerikas längsten Krieg zu beenden, und ließ sich von seinem Entschluss auch durch die abzusehenden fürchterlichen Folgen eines Abzugs nicht mehr abbringen. An ein erfolgreiches nation building hatte er nie geglaubt. Für Biden galt: «Es ist das Recht und die Verantwortung allein des afghanischen Volkes, über seine Zukunft zu entscheiden.» Angesichts der Bilder vom Wiedereinzug der Taliban in Kabul klangen seine Worte fast zynisch, auch wenn sie anders gemeint waren.

Nach Afghanistan war klar: So bald würde der Westen nicht mehr in fernen Weltgegenden militärisch eingreifen. Die Hoffnungen, die in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts die kurze Ära der «humanitären Interventionen» begleitet hatten, waren einer großen Desillusionierung gewichen. Vielleicht waren diese Hoffnungen schon im Irak gestorben, in einem Krieg, der mit schamlosen Lügen begann. In Afghanistan hielt der Westen dennoch zwanzig Jahre lang an Kriegszielen fest, die nicht zu erreichen waren.[8]

Im Ringen zwischen Demokratie und Autokratie kann der Westen am besten durch sein Vorbild daheim wirken, durch gutes Regieren in den eigenen Ländern. Er hat ja allen Grund stolz zu sein auf seine Errungenschaften: auf Gewaltenteilung und Mehrparteiensystem, auf Meinungs- und Pressefreiheit, auf unabhängige Gewerkschaften und eine unzensierte Kunst. Aber genauso hat er Anlass, selbstkritisch auf den Niedergang seiner politischen Kultur zu schauen. Populismus und Nationalismus, dysfunktionale Regierungsabläufe und illiberale Tendenzen in der Gesellschaft haben tiefe Zweifel am eigenen Modell geweckt. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz, dem Hochamt der strategischen Community Europas und der USA, war die Krise des Westens 2020 das Hauptthema. So tief reiche seine Krise, dass man möglicherweise mit seinem Verschwinden rechnen müsse. Der «Munich Security Report 2020»[9], die offizielle Konferenzbroschüre, erwähnt gleich im ersten Absatz Oswald Spenglers reaktionäre Schrift vom «Untergang des Abendlandes».

Nirgends offenbaren sich die Schwächen des westlichen Regierungsmodells schmerzlicher als in den Vereinigten Staaten, der ältesten und mächtigsten Demokratie der Welt. Zwei Lager stehen sich hier in tiefer, fast unversöhnlicher Feindschaft gegenüber. Zum Jahrestag des Angriffs von Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 schrieb der ehemalige Präsident Jimmy Carter in der New York Times, er fürchte um Amerikas Demokratie. «Unsere große Nation taumelt heute am Rande eines sich immer weiter öffnenden Abgrunds.»[10]

Noch sind die Errungenschaften des Westens für viele Vorkämpfer der Demokratie in Asien ein Beispiel. Aber mehr noch schöpfen sie aus den eigenen Traditionen. Und sie können anknüpfen an das Erbe von Vertretern vieler Generationen, die in ihren Ländern für politische Reformen gestritten haben: Lehrer, Anwälte, Abgeordnete, Journalisten, Gewerkschafter, Schriftsteller, Professoren, Bauernführer, Priester. In vielen Ländern fordert der Kampf für die Freiheit auch heute noch großen persönlichen Mut. Maria Ressa, die philippinische Journalistin, die 2021 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, hat diesen Mut bewiesen. In ihrer Dankesrede stellte sie im Rathaus von Oslo die entscheidende Frage, die sich bei der Verteidigung der Demokratie an jeden Einzelnen richtet: «Zu welchem Opfer für die Wahrheit sind Sie bereit?» Für sich selbst musste sie die Frage nüchtern beantworten: «Jeden Tag lebe ich mit der realen Bedrohung, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, nur weil ich eine Journalistin bin. Ich habe keine Ahnung, was die Zukunft, wenn ich jetzt nach Hause fahre, für mich bereithält. Aber es ist das Risiko wert.»[11]

2. China – Der Traum von der Rückkehr zu alter Größe

Es ist der 22. Oktober 2022, ein Samstag. In Pekings Großer Halle des Volkes ist der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas zu seiner Abschlusssitzung zusammengekommen. Die Delegierten haben zunächst hinter geschlossenen Türen getagt. Wichtigster Tagesordnungspunkt: die Wahl des neuen Zentralkomitees. Dann werden auf der Empore die Türen für die Presse geöffnet. Kaum haben die Fernsehteams ihre Kameras aufgebaut, kommt es auf der Tribüne des riesigen Saales, mitten in der ersten Reihe der Parteiprominenz, zu leichter Unruhe.

Hu Jintao, Parteichef von 2002 bis 2012, will sich in die Lektüre eines Parteitagsdokuments vertiefen. Doch der neben ihm sitzende Li Zhanshu, Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses und die Nummer drei in der Partei, entzieht ihm das Schriftstück, verdeckt es mit einer roten Mappe. Was steht in dem Papier? Die Namensliste der neuen ZK-Mitglieder? Hu Jintao jedenfalls will weiterlesen, Li Zhanshu duldet es nicht, redet auf den 79-Jährigen ein, freundlich, aber bestimmt. Bis von der anderen Seite Xi Jinping in das Geschehen eingreift. Der KP-Generalsekretär, im Zenit seiner Macht, fürchtet offenbar, dass ihm die Choreografie des Parteitags entgleitet, vor den Augen der ganzen Welt.

Xi ruft einen Saaldiener herbei. Der bittet Hu Jintao, er möge mit ihm kommen und die Halle verlassen. Doch Hu sträubt sich, hält sich an der Tischplatte fest. Ein zweiter Mann tritt hinzu. Gemeinsam greifen sie Hu unter die Arme, ziehen ihn von seinem Stuhl und führen ihn aus dem Saal. Im Hinausgehen wendet sich Hu seinem Nachfolger Xi Jinping zu, verwirrt und hilflos. Doch der lächelt ihn nur kühl an, auf ein Gespräch lässt er sich nicht ein. Im Hinausgehen legt Hu Ministerpräsident Li Keqiang seine Hand auf die Schulter. Der nickt ihm kurz zu, dann blickt er wieder nach vorn, über die Reihen der Delegierten hinweg in die Ferne. Starr sitzt er da, aschfahl das Gesicht. Später wird die Öffentlichkeit erfahren, dass Li Keqiang dem Zentralkomitee nicht mehr angehören wird. Damit verliert Li auch sein Amt als Ministerpräsident. Und natürlich sitzt er auch nicht mehr im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem innersten Machtzirkel in China.

Li gilt als Reformer, er ist ein Protegé von Hu Jintao. Die Karrieren der beiden begannen einst in der Kommunistischen Jugendliga. Für Xi Jinping waren sie Parteirivalen. Nun, bei seiner dritten Wahl zum Generalsekretär, will er keinen kritischen Stimmen an der Spitze der KP mehr zuhören. Um sich herum duldet er nur noch engste Gefolgsleute. Xi hat sich die Partei endgültig unterworfen.