Drachenzauber - Sibylle Dorothea Wolf - E-Book

Drachenzauber E-Book

Sibylle Dorothea Wolf

4,8

Beschreibung

'Drachenzauber' erzählt von einem spannenden Griechenland, von einem Griechenland, in dem Helden und Götter und Menschen eine bunte Welt lebten und Hirten und Tempel und Ehrgeiz und Leidenschaft in großartige Mythen einflossen. Den 'Drachenzauber' präsentiert die Anglobayerin May zusammen mit ihrer Schwester Lilli und dem Siebengestirn ihrer Freunde. Aber zentral ist der Drache Aedan, einem der Hüter des Wissens über unsere Erde, unsere Welt. So verknüpfen sich griechische Geschichten mit einer Aktion gegen zeitgenössische kirchliche Borniertheit und - last not least - mit einer Liebesgeschichte.

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Inhaltsverzeichnis

Drachenzauber

I. Die Familie und das Dorf - Ich besinge Weiden, Fluren, Götter, Nymphen und Gebote

II. Der Drache und May -So alt wie der Wald, der neun Mal Wiese und wieder Wald war

III. Leidenschaften und Götter - Der Pfarrer segnet seinen eigenen Bart zuerst

IV. Die Erde und der Wald - Was sich nicht lösen lässt, zerschneide

Impressum

Drachenzauber

Drachenzauber – Griechenland

Sibylle Dorothea Wolf

Konrad-Adenauer-Allee 21

93 051 Regensburg

Tel.: 0941 997441

email: [email protected]

Will Durant:

Unsere Zivilisation existiert nur unter geologischer Einwilligung des Planeten.

Diese Konzession ist jederzeit widerrufbar.

I. Die Familie und das Dorf - Ich besinge Weiden, Fluren, Götter, Nymphen und Gebote

Ich besinge Weiden, Fluren, Götter, Nymphen und Gebote ( Vergil )

1.

Ich bin May Anderson.

Mit meinem Mann Arthur wohne ich im Herzen Englands, in der Grafschaft Oxfordshire, in den wunderschönen Cotswolds, im ganzen Erdenkreis berühmt für die schnuckeligen, rundlich-gemütlichen Hobbitshäuser, ihre starken Wollkirchen und ihre uralten weißen Pferde.

Diese uralten weißen Pferde lockten mich einstmals nach Großbritannien, abgesehen natürlich von der Stonehenge-Kultstätte.

Diese in den Boden eingeschnittenen Umrisse von Pferden, die 3000 Jahre nahezu unverändert überdauert haben, vielleicht der keltischen Göttin Epona, einer Beschützerin der Pferde, geweiht waren, fand ich so faszinierend und ansprechend, dass ich sie an Ort und Stelle sehen und betrachten wollte.

Bei dieser Gelegenheit lernte ich meinen Arthur, damals noch Student der Archäologie, kennen und ich blieb bei ihm, in Old England, im Land der Teestunden und Pubidyllen, der roten Busse und so höflichen Bobbies und selbstverständlich im Land King Arthurs und Robin Hoods.

Aber nun sitze ich im Zug und reise in meine Heimat, nach Bayern. Ich reise durch die ruhige Landschaft Südenglands, durch den Tunnel im Meer, bis am Ende Bayern auftauchen wird, fast wie die Schaumgeborene, wie Aphrodite aus dem Meer.

In Bayern besingt man den „Stern der Südens“, also König Fußball in Gestalt des Vereins Bayern München, und mit gleicher Gewichtung König Bier. Hier sagt man stolz: „Bayern, des samma mir!“

Bayern ist aber auch das Land der Buchen, Birken und Eichen, der samtig-moosigen und steinig-krautig-düsteren Wälder, der Berge und weiten Felder, die den Geist durchatmen und wieder lebendig-froh sein lassen.

Ich freue mich so. Ich werde meine Schwester Lilli in ihrem kleinen Dorf-Kaff Liebenthal hinter den sieben Bergen besuchen und ihre sieben Freunde, das weiblich-männliche Siebengestirn.

Schon der Name des Hauses, in dem Lilli herrscht, ist ein Gedicht: 'Engelshof' hat das Anwesen vor ein paar Jahrhunderten der erste Besitzer getauft.

Mit meiner Ankunft werde ich meine Schwester schön überraschen, sie hat keine Ahnung von meinem drohenden Besuch.

Ich hatte solche Sehnsucht nach ihrer Unbeschwertheit, Fröhlichkeit, nach ihrem 'Haus der offenen Tür', nach ihren herzlichen, auch ein wenig wunderlichen Freunden und nach meinen geliebten, vertrauten Bäumen und Wiesen und Bergen.

Arthur ist mit ein paar Studenten nach Frankreich gefahren und erforscht in der Bretagne Hinkelsteine, oder korrekt ausgedrückt, „Menhire“, also lange Steine, vor Jahrtausenden zur Zierde der Erde von wackeren Männern aufgestellt. Nicht so ganz auffällige Kultgegenstände waren damals wohl gerade nicht zur Hand oder eben unmodern. Und was ein echter Mann ist, der tummelt sich nur mit richtig Großem.

Arthur hat jedenfalls sein neolithisches Spielzeug, und ich vergrößere reisetechnisch den Abstand zwischen uns, der, von Arthur unbemerkt, wie ein Meer seit Ewigkeiten zwischen uns beiden steht und höchstens für wenige Augenblicke verschwindet.

Arthur kann Lilli nicht besonders leiden, sie ist ihm zu spontan und zu 'korpulent', wie er sich feinsinnig auszudrücken pflegt. Aber als liebevoller Ehemann, für den er sich hält, gönnt er mir die Ferien bei meiner Schwester, in „meinen“ Wäldern.

Bei meiner Schwester fühle ich mich wie eine Baschuscha, wie eine Frau, die immer lächelt, weil ihr nach Lachen zumute ist.

Bei Arthur werde ich immer mehr zu einer Marmura, zu einer Frau, die immer betrübt ist.

Dabei würde ich lieber die Lebenskunst der Dichterin Sappho erstreben, die junge Frauen Poesie, Musik, Gesang und Tanz lehrte, bei Festen zu Ehren der Götter auftrat und einfach die Muse der Liebe war.

Leider findet man ihre Götterhymnen, ihre Hochzeits- und Liebeslieder nur noch als Zitate bei anderen Autoren, oder, ein wenig gruselig, auf Mumien zusammenhaltenden Papyrusfetzen. Na ja, die Pharaonen und ihre Mumien galten in Old Egypt als unsterblich, und diese Liebesgedichte der Sappho sind es gewiss.

Eine Kostprobe der famosen Sappho:

Untergegangen ist zwar der Mond und die Plejaden.

Nachtmitte schon und vorbei geht die Stunde.

Ich aber schlafe alleine.

2.

Meine Schwester Lilli ist ein Pfundskerl, eine Frau, mit der man die berühmten Pferde – abgesehen von den englischen Urzeitpferden - stehlen kann.

Sie ist lustig, rundlich, liebt die Malerei, malt selbst und hält von Zeit zu Zeit Zwiesprache mit Wesen, die unter dem Namen Engel bekannt sind. Daher ist ihr „Engelshof“ der einzig richtige Ort für sie.

Der Engelshof ist vor langer Zeit, im Mittelalter, von einem Ministerialen, einem niedrigen Adligen, errichtet worden. Der Hauslegende nach beabsichtigte er, seiner geliebten Frau und seinen drei Töchtern, seinen Engeln, ein schützendes Heim zu schaffen. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich der stattliche Hof zu einer Art Trutzburg:

Seitenflügel kamen hinzu, hier ein Erker, dort ein kleiner Turm, kurzum, der Engelshof mit seinen efeu- und geißblattüberwucherten Mauern erscheint heute stark und lieblich zugleich.

Und die wuchtige, uralte Haustüre aus uralter Eiche hält alle bösen Geister fern. Über dem eisernen, rundgeschmiedeten Türgriff, der die alte Aufgabe

des Türklopfers erfüllt, ist ein Apotropaion angebracht, eine Unheil abwehrende Figur.

Diese Figur stellt den Kopf der Medusa dar, die sogar noch im Tod, als Tote, Sterbliche durch ihren bloßen Anblick zu Stein erstarren ließ. Medusa, die leidgeprüfte Königin, war die Tochter der Meeresungeheuergottheit Keto, diese wiederum die Tochter der Erdmutter Gaia. Also befinden wir uns wahrlich in steinalten Zeiten, im alten Griechenland.

Medusa, zunächst wunderschön, ließ sich in ein Techtelmechtel mit dem absoluten Meeresgott Poseidon ein, was wiederum Pallas Athene, der späteren Schutzgottheit Athens, missfiel: Athene hatte Medusa mit Poseidon überrascht und verwandelte die Schöne flugs in eine geflügelte Schreckgestalt mit Schlangenhaaren, in eine Gorgone, eine Schreckliche.

Medusas Anblick sollte hinfort jedem Neugierigen sofortige Versteinerung einbringen.

Dem Helden Perseus, einem Zeussohn (und Zeus zeugte viele Kinder), gelang es mit List und Tücke und göttlichem Beistand, Medusa das Haupt abzuschlagen. Dieser abgetrennte schreckliche Kopf – dem das geflügelte Pferd Pegasus entsprang - verhalf Perseus im weiteren, spannenden Verlauf der Geschichte zur Königstochter Andromeda, indem die tote Medusa ihre eigene Mutter Keto tötete, die es auf Andromeda abgesehen hatte.

Schließlich ließ die tote Medusa den Titanen Atlas, der gerade ein wenig cholerisch reagieren wollte, zum Gebirge, zum Atlas-Gebirge, erstarren.

Des weiteren schmückte sich gerne Athene mit diesem Gorgonenhaupt, das ihr der dankbare Perseus zum Geschenk machte, nachdem er noch einige andere, ihm missgünstige Herren aus dem Weg geräumt hatte.

Nun, diese Tür-Medusa schützt Lillis Burg seit ihrer 'Geburt', denn auch Engel können martialischen Begleitschutz vertragen.

Die lebensrettende Antwort des Besuchers auf die (gedachte) Einlassfrage unserer Medusa („Leben noch die Engel?“), lautet: „Die Engel leben und herrschen als Königinnen!“

Nun denn...

3.

Lilli herrscht nun als derzeitige Engelkönigin auf ihrem Hof, ihrer Burg.

Sie hat sich im Erdgeschoss, im ehemaligen Wohnzimmer, das nach Osten ausgerichtet ist, ihr Atelier eingerichtet. Dieser Raum gleicht bestimmt nicht dem Wohnraum eines dieser wie Pilze aus dem Boden schiessenden zeitgenössischen Reihenhäuser, die so schmal-schlicht-neutral-kühl-quaderförmig dicht an dicht nebeneinander klotzen, dass man geneigt ist, diese eher für überfüllte Nagerbehausungen als für Menschenheime zu halten.

Lillis Atelier ist großzügig, besitzt bis zum Boden reichende Fenster, die sich zum Garten weit öffnen lassen. Luft und Licht wohnen hier, aber auch der Charme und der Zauber alter Zeiten, ungezählter Erlebnisse so vieler Familien, die sich in den schwarz-braunen, gefurcht-rissigen Deckenbalken eingenistet haben. Ich meine natürlich den Charme und Zauber von Erlebnissen, nicht die Familien. Aber wer weiß? Der Geist, die Geister der Familien...

Hier malt Lilli mit Hingabe den ganzen Vormittag über. Sie beginnt, wenn das Sonnenlicht die Stube durchflutet, und hört auf, wenn die altertümliche Glocke der kleinen, alternativen Dorfschule kräftig die Mittagsstunde einläutet. Bei diesem Signal schließt Lilli die Fenster, nicht ohne den beiden Pferden, die vor ihrem Haus, auf der weiten Wiese weiden, zuzurufen, sie würde ihnen gleich etwas Leckeres bringen, Äpfel, Karotten oder dergleichen.

Die Pferde gehören meiner Schwester, sie hat sie einem ekligen Bauern abgekauft, der beabsichtigte, diese, nachdem seine Enkelkinder den ins Alter gekommenen Tieren kein Interesse mehr entgegenbrachten, an einen Pferdemetzger zu verhökern. Grob war dieser Bauer sowieso zu den beiden Pferden gewesen. Lilli war zufällig des Wegs gekommen, als die Pferde auf einen Viehtransporter verladen werden sollten, und da sie die Pferde schon länger kannte und bemitleidete, kaufte sie die beiden Süßen auf der Stelle los. Das ist jetzt, glaube ich, bereits vier Jahre her.

Blume und Mohrenfels, so heißen die Pferde seit ihrem Einzug auf dem Engelshof, hatten noch nie so ein schönes Fell, so gut geht es ihnen.

Meist halten sich die Pferde auf der „Atelierswiese“ auf, eben auf der Wiese vor Lillis Atelier. Feine Kräuter gibt es hier zuhauf, von Beifuß, Knoblauchsrauke und Minze über Schafgarbenkraut und Salbei bis zu Thymian. Lilli nennt diese Wiese auch „Kappadokien“, Land der schönen Pferde.

Kappadokien hieß einstmals und auch heute noch eine Landschaft im heutigen Anatolien, eine Landschaft, die so viele Völker und Stämme hat kommen und gehen sehen, wie die Hethiter, Phryger, Lyder, Meder, Perser, und heute eben die Türken. Aber, vor langer Zeit, war dieser Landstrich für seine schönen Pferde berühmt, so wie die französische Camargue heute noch für ihre weißen Pferde weltbekannt ist.

Wie Lilli mir geschrieben hat, vergnügt sie sich seit Wochen mit dem Malen von Arabesken. Sie versucht, ineinander verschlungene Pflanzenranken so zu stilisieren, wie sie archäologische Forschungen für das alte Assyrien beschreiben. Arabesken sind Ornamente aus der islamischen Kunst, die diese von der hellenistischen Kultur geerbt hat und diese wiederum vom orientalischen Altertum.

Außerdem setzt sie sich leidenschaftlich mit dem Künstler William Morris auseinander, der schon immer wie der französische impressionistische Maler Claude Monet als ihre geistigen Mitbrüder und Inspirationen wirkten und wirken.

Morris gestaltete für Teppiche und Wandbehänge wunderbare Ornamente, die der Natur, Blumen und Früchten, nachempfunden und beispielhaft für seine Suche nach dem irdischen Paradies waren.

Ja, William Morris, auch ich schätze diesen Mann sehr. Ein Mann, der sich Zeit seines Lebens danach gesehnt hat, Schönheit in die Welt, in die Alltagswelt, in Alltagsdinge, in das Haus eines Menschen zu tragen.

Morris war Künstler, Dichter, Maler, Kunsthandwerker; er webte mit Hingabe, färbte Stoffe mit Leidenschaft, dichtete wunderbare, beseelt-warme Verse, machte sich um isländische Sagas verdient, gründete eine eigene Druckerei, kämpfte wildentschlossen um schöne, alte Gebäude, um Bäume, um Natur, ging in die Politik und trachtete danach, die Kluft zwischen Handwerkern und Kunstschaffenden zu überbrücken.

Ein Handwerker diene nicht als Werkzeug, sondern mit eigenen Ideen wie ein Künstler, und ein Künstler übe unbedingt auch ein Handwerk aus, so lautete sein Credo.

Morris hasste und verachtete die spießige Gesellschaft seiner Zeit, das Viktorianische Zeitalter, in der die Gier der Upper Class und der Middle Class nach immer mehr Besitz die Erde und die arbeitenden Menschen ausbeutete und ausblutete und verhässlichte. Oder wie es ein Morris-Kenner ausdrückte: Morris war ein „unnachgiebiger Widerstandskämpfer gegen ästhetische und ethische ´Hässlichkeiten`, … gegen die Verkommenheit der Produkte und für eine vernünftige Balance zwischen Menschenwerk und Natur“.

Ja, Morris war großartig.

4.

So rattert der Zug mit mir und vielen anderen durch die Lande, erst durch England, dann durch Frankreich, Belgien und jetzt durch Deutschland.

Es ist natürlich nicht der gleiche Zug, in den ich in London eingestiegen bin. Die Reise gleicht viel mehr einem Staffellauf, die Züge lösen sich in etwa reibungslos ab, und die Reisenden mimen die Staffelstäbe, die weiter und weiter gereicht werden.

Bald kommt der Staffellauf für mich zum Ende. Bald werde ich in Regensburg anlangen und von dort aus das letzte Stück im Bus zurücklegen.

Hoffentlich wird mir dieses Mal nicht übel, Busfahren ist für mich eine echte körperliche Herausforderung.

Ich frage mich, während ich die vielen, so reglos ausgebreiteten, so ehrbar, gleichzeitig so dumpf wirkenden Dörfer vorbeiziehen sehe, die vielen Bauernhöfe, die landwirtschaftlichen 'Erzeuger', wie viele Kühe, Schweine, Kälber, Ferkel unter erbärmlichen Lebensbedingungen gehalten werden, in dunklen, miefigen, engen Ställen. Niemals werden diese Tiere frische Luft und Sonnenlicht auf ihrer Haut spüren, auf einer Wiese herumstrolchen, frisches Futter genießen können.

Der Mensch zeigt eine Tendenz zum Rassistischen, er teilt gnadenlos ein. Der Mensch weiß, was ein normaler Mensch, was ein behinderter, was ein kranker, was ein alter, was ein tüchtiger, was ein fauler Mensch ist, was ein europäischer, was ein semitischer, was ein indianischer, was ein asiatischer, was ein schwarzer Mensch ist, was in der Politik ein Schwarzer oder ein Roter ist, was ein Haustier sein kann und was ein Nutztier ist.

Nutzen heißt wirtschaftlicher Output, Geld. Und bestimmte Tierarten hat der Mensch für sich als Nutztierarten reklamiert, etikettiert, besetzt, was für die betroffenen Tiere bedeutet, als absolut rechtlose Masse dem Menschen ausgeliefert zu sein.

Der Mensch erweist sich als rechnende, profitorientierte Größe, ohne Gefühle des Mitleids, des Respekts, er kennt nur sich als Größe, Tiere und Pflanzen besitzen für ihn keine Größe.

Wie sollte er dann diesen, als Nutztieren eingestuften Lebewesen Gefühle zusprechen? Das Kälbchen wird sofort nach der Geburt von seiner Mutter getrennt, der Bauer ist schließlich der Erzeuger, der Gott, an den er sonntags glaubt. Das Kälbchen, das kleine Schweinchen, das Spanferkel, werden ohne Besinnung geschlachtet und gelten dem Menschen, dem Konsumenten, als natürliche, normale Speise. Und es ist doch Kindermord!

Da gab es doch diese Kuh namens Yvonne, die selbst die Freiheit gesucht hatte.

Über Tage, wenn nicht gar Wochen, berichteten Zeitungen aufgeregt über die Suche der „Guten“ nach Yvonne, die bewies, wie schlau eine Kuh sein kann, wenn man sie nur lässt.

Die Zeitungen ließen jedoch fast keine Gelegenheit aus, mit erhobenem Zeigefinger, wieder gottgleich, auf den, nach ihrer Meinung, offensichtlichen Unsinn dieser Suche hinzuweisen: Man investiere viel zu viel Geld und Nerven für die Rettung eines Tieres, an dem schließlich die Plakette „Nutztier“ hafte. Nein, es wurde nicht von einem Lebewesen geschrieben, das das Glück einer friedlichen zweiten Lebenschance auf einem Gnadenhof haben sollte, nein, die Kommentatoren ereiferten sich in der Betonung des klaren, kausalen Zusammenhanges zwischen der doch verrückten Mildtätigkeit von Tieraktivisten gegenüber Nutztieren und den mangelhaften Zuständen in Kindertagesstätten und Altersheimen, der Hungersnot in Afrika und der Eurokrise!

Hier zählt ausschließlich der Abakus: Welchen materiellen Wert besitzt eine Kuh? Wieviel Geld kostet im Gegenzug die Rettung einer Kuh? Und dann die abstruse Schlussfolgerung: Tierschützer müssten im Grunde verpflichtet werden, ihr anscheinend vorhandenes Kapital staatlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, damit Gnadenhöfe, Kühe wie Yvonne, die aus merkwürdiger Weltfriedenssehnsucht resultierende Begeisterung für Tiere den allseits zubereiteten, vernünftigen Einheitsbrei des Geldkochens nicht mehr weiter störten.

Wenn Bürger sich von der Prämisse unserer Wirtschaftsordnung entfernen, die da ist: Goldenes Kalb ist der Primat des wirtschaftlichen Nutzens in allem, was getan wird, in Worten und Werken, dann ist für denjenigen Gefahr in Verzug, dessen Lebensziel es ist, mit dem Wissen aus praktischen Schubladen der Mehrung des Geldes zu dienen. Das Kalb, erfahrbar als harte Währung, als tote aber gewinneinbringende Materie, steht durchaus im Focus, nie als Wesen mit persönlichen Bedürfnissen.

Derjenige, das ist der Mensch ohne Herzensbildung, der ungehobelte, grobe Mensch. Der Mensch ohne Blick für das Wunder des Lebens, der 'Anthropos Agrammaticos'.

Ich kann nur hoffen, dass die Götter des Kosmos wirklich ihre eigenen Gesetze haben – sunt superis sua iura -, und über die kümmerlichen, menschlichen Lebensvorstellungen lachen, ja auf diese spucken.

Zeus, Athene, Apollon, schüttelt Euer weltberühmtes, goldenes Ziegenfell, Eure Aigis, damit Blitz, Donner, Nacht über die maßlosen, respektlosen, dämlichen Menschen hereinbrechen und ein riesiges, reinigendes Gewitter so wütet, dass das eine oder andere Gemüt endlich aufhorcht und aufwacht!

5.

So, nun bin ich in den Bus umgestiegen. Bald werde ich Lillis Dorf, Liebenthal, erreicht haben.

Der Bus zuckelt aus der weiten Ebene der zukünftigen Getreidefelder – jetzt im Frühling, der mit Macht, mit nahezu stechender Wärme, Einzug hält, hat sich ein zarter, grüner Schleier über die Erde gelegt, und für mich als Nichtlandwirtin ist es nicht auszumachen, welche Getreidesorten ausgesäht wurden – die ersten Hügel hinauf in den Wald.

Der Wald ist nicht so dunkel, kühl und frisch wie im späten Frühjahr oder im Sommer. Er ist grün durch seine Fichten und Kiefern, aber die vielen Buchen und Eichen haben sich noch nicht in ihr neues Laub gekleidet. Die Sonne, die mich durch die Busglasscheibe blendet, sendet ihre Strahlen, ungebremst von Blattwerk, zwischen die Stämme hinab und lockt Buschwindröschen, Bärlauch und Waldmeister aus dem noch kalten Waldboden durch die Schichten von altem, verblichenem Laub empor.

Der Wald öffnet sich, die Straße verbreitert sich auf vier Spuren.

Längs der Straßenränder sind Wildschutzzäune gesetzt, was sinnvoll ist, bedenkt man die so gern rasende landjugendliche Autofahrerschaft. Dem Wild wird schließlich von zwei Seiten nachgestellt: im Wald vom stolzen Jagdgenossen, vor dem Wald durch des Deutschen liebstem Kind, durch das Auto.

Die Wildschutzzäune finden nicht überall Freunde. Die Bauern, die den Zäunen benachbarte Felder oder Wiesen zu eigen haben, nehmen ungehalten diese Wildschutzmaßnahme zur Kenntnis. Allen Ernstes bemäkeln diese Bauern, die auch gleich eine „Interessengemeinschaft“ gegründet haben, dass diese Zäune zunehmend von Hecken überwuchert und daher nicht mehr sichtbar seien. Also wie schön und wohltuend ist doch der Anblick eines puren Zaunes! Da geht einem das Herz auf!

Dagegen Hecken, die beinahe unkontrollierbares Wuchern mitbringen, in denen soviel Getier Einzug halten könnte! Nein, nein, der Staat muss diese Hecken auf jeden Fall zuschneiden, sonst werden die bäuerlichen Flurstücke im Nu unter der Last von Dornen und Ranken versunken sein.

Merke: Der Bauer denkt nur an den Ertrag seines Eigentums, seines Ackers, er denkt nur innerhalb des engen Rundes seiner Suppenschüssel. Ihm ist es anscheinend nicht gegeben, an seine nächsten Nachbarn, die Tiere des Waldes und die Tiere der Sträucher und Felder zu denken, an deren Bedürfnisse, jenseits seiner Börse.

6.

Dieser Wald steht ja nun nicht auf einem titanischen Bergmassiv, diese Hügel und Berge hier sind sanft gerundet und von mittlerer Höhe.

Mancher Bergrücken gleicht dem wohlig hingestreckten, dicken Bauch eines seit Ewigkeiten schlafenden Drachen. Wieso Drache? Ich weiß es nicht. Das Bild eines Drachen, eines wilden, grünen, ausgelassenen Drachen, der mit anderen Drachen Schabernack treibt, kommt mir immer in den Sinn, wenn ich einen Wald betrete oder die Silhouette von Bergen in mich aufnehme.

Die nächste Haltestelle des Busses, das nächste Dorf, ist Liebenthal. Holladrio, wie der waschechte Bergbewohner ruft. Naja.

Da ist es, Lillis kleines Dorf. Einige stattliche Bauernhöfe liegen satt und zufrieden in diesem Tal, natürlich fehlt keine Kirche nebst wohlbestalltem Pfarrhaus.

An einem Hang ist eine Neubausiedlung ansässig mit ihren sehr ordentlichen, schmucken Häusern und Carports und Klettergerüsten für die Nachkommenschaft; der Gesamteindruck wird durch sehr gepflegten englischen Rasen abgerundet. Im Herbst stört bestimmt kein Blättchen das makellose Grün der Rasenflächen.

Gegenüber der Dorfwirtschaft gibt es eine Gärtnerei, daneben ein nettes Café in einem großen, etwas verwilderten Garten. Der Gärtnereibesitzer und die Cafédame zählen zu Lillis Freundeskreis.

In der Nähe des Engelshofes, der ein ganzes Stück weit entfernt von Siedlung und Dorf liegt, haben weitere enge Freunde meiner Schwester ihr Domizil: der Lehrer Valentin Butzek, die pensionierte Lehrerin Gisela Blättermann und der Förster August Hirsch.

Valentin unterrichtet in der kleinen Dorfschule, ist stets mit seinem Fahrrad unterwegs und liebt die griechische Antike. Er lässt fast keine Gelegenheit aus, ein griechisches Sprichwort zum Besten zu geben.

Neben Valentin lebt Gisela mit ihrem August im alten Försterhaus, dem „Schindlerhaus“. Förster Schindler, der vor Jahren in diesem Waldgebiet arbeitete, hatte das mit Schindeln gedeckte Holzhaus gebaut. Der Name des Hausherrn war wirklich das Omen für das Gebäude.

Gisela war einige Jahre sehr krank gewesen und fühlte sich dann nicht mehr imstande, ihren Lehrerberuf weiter auszuüben. Sie hatte sich in ihrer staatlichen Schule ohnehin nicht wohl gefühlt; den Inhalt manches Lehrplans fand sie unsinnig, nicht lebensgerecht, das Notenkorsett für viele Schüler nicht vertretbar.

Nun nimmt Gisela zuweilen Feriengäste in ihrem Haus auf und widmet sich mit Leidenschaft der Pflege von Kräutern, Heilpflanzen und Blumen. August und Gisela können den sicherlich prachtvollsten und zugleich wildesten Garten weit und breit ihr Eigen nennen.

Gisela wird von ihren Freunden nachgesagt, oder vielmehr, es wird ihr zugetraut, mit Zwergen im Bunde zu sein.

Auf einem niedrigen Holztischchen auf ihrer Terrasse stehen abends immer zierliche Schälchen mit allerlei Leckereien, wie Rosinen und Haferbrei. Für wen wohl? Giselas roter Kater Phoenix kann diesen Speisen jedenfalls nichts abgewinnen.

Ihr geliebter August wuselt in den Wäldern ringsum herum, kennt die meisten Bäume wahrlich persönlich, kümmert sich rührend um Specht, Pilz und Käfer und bringt hin und wieder verletzte Waldtiere zu seiner Gisela, die diese dann liebevoll aufpäppelt.

August ist sanftmütig wie ein Hirschkalb, aber wenn es um sein Holz, um seine Bäume, um sein Revier geht, wird er zum gereizten, röhrenden Hirsch. Er heißt ja auch Hirsch, nomen est, wiederum, omen.

August kämpft um das Weiterleben jedes einzelnen Baumes, jeder Weide, Eibe, Eiche oder Buche, jeder Wiese, die neuem Bauland weichen soll.

Zwischen der Gemeindeverwaltung und August besteht des öfteren eine Fehde. Die Gemeinderäte beschäftigen sich mit Eifer entweder mit der Ausweisung von Bauland – das Motto lautet wohl: neue, viele neue Bürger braucht das Land, die Gemeinde - oder mit der Planung und Sanierung von Gemeindestraßen. Und August beschäftigt sich mit Eifer mit der Rettung und Erhaltung der Fauna und Flora, die die gemeindlichen Bagger auf einen Streich verputzen möchten.

So wie Gisela mit dem Wort 'panakeia' - allheilend - verbunden sei, so sei August mit dem edlen Wort 'phoibos' - leuchtend, rein - verbunden, dozierte unlängst der liebe Valentin, ganz Lehrer und ganz alter Grieche, wie mir Lilli schrieb.

Der nächste im Freundesbund ist Johannes, der Indianer. Er hat vor Jahren eine Erbschaft wie im Bilderbuch gemacht: Er beerbte eine vermögende, kinderlose Tante, die immer schon einen Narren an ihrem reizenden Neffen gefressen hatte.

Seine finanzielle Unabhängigkeit erlaubt es ihm, sich der Pflicht des Broterwerbs zu entziehen, die Welt zu bereisen, Bücher über die Kultur verschiedener Indianerstämme zu verfassen (daher sein Spitzname; ausserdem hat er pechschwarze Haare und sehr braune Haut). Diese Bücher interessieren nicht allzu viele Menschen, auf eine Bestsellerliste hat er es noch nicht geschafft.

Meine Schwester und der Johannes sind ein Paar, wohnen gemeinsam auf dem Engelshof – ein Engel und ein Indianer -, genießen das Leben, solange Johannes nicht in die Haltung des strengen Kritikers verfällt, in einen Aristarchos. Beginnt er ein wenig besserwisserisch Lillis Gemälde zu studieren, ist im Engelshof rasend schnell Feuer auf dem Dach.

Wie komme ich auf einen Aristarchos? Die Freundschaft mit Valentin bringt anscheinend von Zeit zu Zeit meine Kulturkenntnisse ans Licht. Ich vergaß zu erwähnen, dass im Laufe vieler Besuche und vieler Tee- und Kaffeestunden Lillis Freunde längst auch meine Freunde geworden sind. Lilli und ihre Freunde – meine Familie in Bayern, im Waldland.

7.

Doch nun an die frische Luft von Liebenthal! Die Sonne scheint sehr milde auf mich herab, ein sanftes Lüftchen umweht mich.

Ich ziehe meine Jacke aus (die noch eine Winterjacke ist - in Good Old England lagen die Temperaturen eine Stück niedriger und erforderten eine Polsterung des Körpers gegen die Widrigkeiten des Wetters), packe meinen Rucksack auf den Rücken und los geht es.

Ich nehme den Weg am Café vorbei – bei diesem angenehmen Frühlingswetter sitzen bereits einige Mütter mit ihren Kindern im Cafégarten und lassen sich die Sonne ins Gesicht strahlen.

Gabi Silberhorn, das Silberhörnchen, wie Valentin, ihr Freund, sie neckt, betreibt das Café, das sich wahlweise zum Ort angeregter Diskussionen, weiser Lebensberatungen (oder Coaching neu-deutsch), ausgiebiger Geburtstagsfeiern oder liebevoller Tröstungen verändert. Wie kam die theaterhungrige Gabi nach Liebenthal, in dieses doch verschlafene, durchaus nicht weltoffene Nest? Meine Schwester hatte sich in den Engelshof verliebt und zog Johannes mit sich, August war durch seinen Försterberuf hier gelandet und brachte Gisela mit, ja und Valentin kam als Lehrer an die Dorfschule, fühlte sich zwischen Hühnern und Bäumen wohl und blieb. Aber Gabi?

Lilli und Gabi sind seit verblichenen Schultagen eng miteinander befreundet. Die beiden haben den Kontakt nie abreißen lassen, sich gegenseitig oft Besuche abgestattet und nächtelang geredet, während sie mindestens 1000 verschiedene Tees und Kaffees probierten und schlürften.

Und eines Tages lernte Gabi bei Lilli den klugen, schrulligen Valentin kennen, der, wie so oft, aus einem antiken griechischen Theaterstück rezitierte, und da war es um Gabi (und auch Valentin) geschehen. Die Funken flogen nur so zwischen Gabi und Valentin hin und her, und Gabi beschloss ad hoc, in Liebenthal zu bleiben, das leerstehende Haus neben der Gärtnerei zu mieten und ein Café einzurichten.

Mit Valentin hat Gabi die Theaterkultur gleich mit im Haus, und ab und an verabschieden sich die beiden zu Theaterbesuchen in Großstadtluft.

Jetzt ist Gabi nicht zu sehen, wahrscheinlich versprüht sie ihr Temperament gerade in der Küche, um eine ihrer inzwischen berühmten Kaffeekreationen zuzubereiten.

Ich gehe weiter, komme an der Gärtnerei vorbei, die Ben Rilke gehört. Besonders freue ich mich, wenn ich Ben treffe, da ich seine Leidenschaft für Pflanzen teile.

Ah, da höre ich schon sein überbordendes Lachen, dazu die Stimme von Gisela, unserer Kräuterhexe. Wahrscheinlich nimmt er ihre Ratschläge zur Pflege eines Krautes nicht so ganz ernst. Gisela holt sich von Ben gerne Pflänzchen, aber sie kann es nicht lassen, ihren wohlgemeinten Senf zu Blumen, Kräutern und Erde abzugeben. Sie war nun mal Lehrerin und Lehrer wissen immer alles besser: Einmal Lehrer – immer Lehrer. Und Ben pflegt grundsätzlich zu große Ernsthaftigkeit einfach wegzulachen - er sei schließlich der Hausherr über sein Geschäft und sein Haus, über seinen Oikos (wieder ein griechisches Kulturwort). Er wache selbst über die richtige Handhabung seiner Kräuter, Sträucher, Bäume und Blumen, über sein Land, seine Schaufeln und Rechen und Blumentöpfe. Und Kräuterhexen sollten sich auf die weibliche Hausarbeit beschränken und dem öffentlichen, männlichen Leben fernbleiben. Aus solch einem Oikos hätten sich Ökonomie, Ökologie und heilige Tempel entwickelt, aus der Pflege einer Herdstelle sei die Kultur der Welt, aus Asche sei Geist entstanden, so spöttelt Ben für gewöhnlich und lenkt Gisela von ihren Monologen zur einzig richtigen Natursicht ab.

Sein Lachen mündet gerade in den Ausspruch des ach so alten Hesiod: „Erst einmal ein Gehöft – Oikos - , eine Frau, einen Ochsen zum Pflügen“, dann könne man über die Ätherkräfte der Natur und über Elementarwesen reden.

Gisela gibt zur Antwort, wie ich beim Nähertreten höre, dass die Mehrzahl der Männer offensichtlich Höhlenbewohner seien, Troglodyten, die sich mit Schattenbildern begnügten und nicht nach den wahren Ideen strebten.

Oha, denke ich, Platon ist nach Liebenthal gekommen und überhaupt die klassische Antike, garantiert das Verdienst von Valentin, dem Wahl-Griechen.

Allmählich bildet Lillis Freundeskreis eine Art griechisch-antiker Akademie, wie sie Platon vor 2400 Jahren in Athen in einem schönen, dem Sagenhelden Akademos gewidmeten Hain gegründet hatte.

Das Gespräch, der Dialog, ist wie bei Platon der Favorit im freundschaftlichen Zusammensein, allerdings ohne die Pflege von Mathematik und Gymnastik.

Valentin und Ben machen jedenfalls dem Gedanken des Philosophen Isokrates alle Ehre:

„Grieche ist man nicht durch Geburt – genos - und Aussehen – physis -, sondern durch Vernunft – dianoia - und Bildung – paideia.“

8.

Aber nun weiter, ich lasse die beiden, Ben und Gisela, im Laden disputieren und lachen, und beschleunige meine Schritte. Die Freunde werde ich gewiss alle spätestens heute Abend sehen.

Wenn ich in Liebenthal 'einfalle', trommelt Lilli sofort unsere Lieblinge zur großen Runde bei ihr Zuhause zusammen.

Ich passiere den letzten Bauernhof, dann führt mich die Straße aus dem Dorf heraus, den Hügel hinauf und auf der Kuppe erblicke ich endlich den Engelshof: 'Ho Naos`, der Tempel, wie Athenes Haupttempel, der Parthenon , anfänglich ehrfürchtig bezeichnet wurde.

Der Engelshof, dieses alte, burgähnliche Gehöft, hat auch etwas Tempelartiges, ist er doch ein Musentempel für Malerei und Dichtung und schöne, zuweilen chaotische Gespräche.

Auf dem Engelshof finden sich zwar lediglich vier Frauen zu tiefsinnigem aber auch komischem Gedankenaustausch zusammen – Lilli, die Hausherrin, Gabi, Gisela und ich -, denn eigentlich spricht man ja von neun Schutzgöttinnen der Künste, natürlich alles Töchter des Göttervaters und göttlichen Liebhabers der Liebe, Zeus.

Diese neun Damen haben sich unendlich um Gesang, Tanz und Dichtung verdient gemacht. Ohne ihren Segen können Musik, Literatur und Geschichte einpacken.

Als ihren privaten Wohnort hat der griechische Götterkenner Hesiod den Parnass ausgemacht. Der Parnassos ist ein Bergmassiv in Zentralgriechenland. Nach diesem Musenberg hat sich mancher Dichterzirkel benannt, um sich gleichsam selbst zu erheben, zu vergöttlichen.

Übrigens stehen unsere Museen in der Pflicht, Heiligtümer dieser Schutzgöttinnen zu sein. Die Tempel der Musen wurden als „Museion“ bezeichnet, sie sind also die Ahnen unserer musealen Einrichtungen.