Dragon Prince – Der Prinz der Drachen Buch 1: Mond (Roman) - Aaron Ehasz - E-Book

Dragon Prince – Der Prinz der Drachen Buch 1: Mond (Roman) E-Book

Aaron Ehasz

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Beschreibung

Während ihre Welt in einen Krieg zu stürzen droht, begeben sich drei junge Helden von verschiedenen Seiten des Konflikts auf eine gefährliche Suche, die alles verändern könnte. Wenn Rayla, Callum und Ezran das Ei des Drachenprinzen zu seiner Mutter in das magische Land Xadia zurückbringen können, könnte der Frieden wiederhergestellt werden. Doch ihre Reise ist gefährlich. Das Trio muss sich gegen bedrohliche Bestien und den bösen Magier Viren wehren, der das Ei für seine dunklen Machenschaften nutzen will. Die größte Bedrohung, der sich die Kinder stellen müssen, lässt sich jedoch nicht mit Magie oder Körperkraft bekämpfen. Um den Frieden wiederherzustellen, müssen sie zuerst den langjährigen Hass zwischen Menschen und Elfen überwinden. Der Schöpfer der Serie, Aaron Ehasz, geht in diesem epischen Roman auf die Ereignisse der ersten Staffel der Serie ein. Ein Muss für alle Fans von Der Drachenprinz!

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Seitenzahl: 322

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Die deutsche Ausgabe von

THE DRAGON PRINCE / DER PRINZ DER DRACHEN • BUCH 1: MOND

wird herausgegeben von CROCU, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: Bernd Sambale; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Wibke Sawatzki; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Buch-Design: Betsy Peterschmidt, Coverillustration Kelsey Eng; Karten-Artwork: Francesca Baerald.

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

THE DRAGON PRINCE • BOOK ONE: MOON

© 2022 Wonderstorm, Inc. All Rights Reserved. The Dragon Prince, Wonderstorm, all related character names are trademarks and/or registered trademarks of Wonderstorm, Inc. in the U.S. and/or other countfries.

German-language edition published by CROCU – Andreas Mergenthaler, by arrangement with Scholastic Inc. 557 Broadway, New York, NY 10012, USA..

Print ISBN 978-3-98743-002-2 (November 2022)

E-Book ISBN 978-3-98743-003-9 (November 2022)

WWW.CROCU.DE

Inhalt

Prolog

MOND

Kapitel 1: Der Nachhall des Donners

Kapitel 2: Alte und neue Geheimnisse

Kapitel 3: Der letzte normale Morgen

Kapitel 4: Kein Zurück

Kapitel 5: Der Brief und die Schlange

Kapitel 6: Die Klingen der Attentäterin

Kapitel 7: Seelenwandel

Kapitel 8: Ein lauter Magier

Kapitel 9: Virens Opfer

Kapitel 10: Runaans Fehler

Kapitel 11: Die Gefolgschaft des Eis

Kapitel 12: Eine schlaflose Nacht

Kapitel 13: Das Tal der Gräber

Kapitel 14: Der traurige Prinz

Kapitel 15: Tante Amaya

Kapitel 16: Eine ungeheure Lüge

Kapitel 17: Ritual und Krönung

Kapitel 18: Eine schockierende Wendung

Kapitel 19: Eine Naschkatze mit eiserner Faust

Kapitel 20: Die Stromschnellen

Kapitel 21: Wünsche und Befehle

Kapitel 22: Der Fährtenleser

Kapitel 23: Geheime Missionen

Kapitel 24: Der Megarülpser der Verdammnis

Kapitel 25: Schwindende Hoffnung

Kapitel 26: Der Dolch und der Doktor

Kapitel 27: Etwas Persönliches und Ekliges

Kapitel 28: Ellis und Ava

Kapitel 29: Die verfluchte Caldera

Kapitel 30: Schlimmer als der Tod

Kapitel 31: Wirklich schlechte Neuigkeiten

Kapitel 32: Ezrans Gabe

Kapitel 33: Das Doofgesicht

Kapitel 34: Wundersturm

Kapitel 35: Hoffnung und Gefahr

Über die Autoren

Prolog

Vor langer Zeit war Xadia ein vereintes Land – reich an Magie und Wundern. In der alten Zeit gab es nicht mehr als sechs Urquellen der Magie:

Die Sonne.

Den Mond.

Die Sterne.

Die Erde.

Den Himmel.

Den Ozean.

Jedes lebende Wesen in Xadia wurde mit der Gabe der Magie geboren, einem inneren Funken, der zu einer der sechs Urquellen in Verbindung stand. Vom größten Drachen bis zum kleinsten Insekt: Magie strömte durch ihre Adern.

Aber die Menschen waren anders. Menschen waren unvollkommen. Sie wurden ohne diese Gabe geboren. Früher, in der alten Zeit, mussten sie kämpfen, um zu überleben, während es den Wesen aus Xadia gut erging. Viele Menschen verhungerten; andere starben beim Kampf um die knappen Ressourcen.

Einhörner waren stets die selbstlosesten unter den Wesen Xadias gewesen. Es kam eine Zeit, da wollten sie, von Mitleid erfüllt, verzweifelt den Menschen helfen, die sich so abmühten. Schließlich hatten die es sich nicht selbst ausgesucht, ohne Magie geboren zu werden.

Die Ersten Elfen waren jedoch auf der Hut. Sie warnten die Einhörner, dass Güte nicht immer mit Güte vergolten werde; es sei ein Fehler, dieser Spezies zu vertrauen. Denn wäre es den Menschen bestimmt gewesen, Magie zu verwenden, so wären sie damit geboren worden.

Doch das Mitgefühl der Einhörner ging tief, und sie ließen sich nicht überzeugen. Und so segneten sie trotz der Warnungen der Elfen die Menschen mit Magie. Einigen wenigen weisen Menschen schenkten sie mächtige Kugeln: die Ursteine. Diese bargen enorme magische Energie in sich. Dann brachten die Einhörner den Menschen bei, Runen zu zeichnen, mit denen sich die Kräfte der Steine bündeln ließen, und sie lehrten sie die alten Worte, die die Drachen verwendeten, um jene Energie in Form von Zaubern freizusetzen.

Endlich waren die Menschen in der Lage, für sich selbst zu sorgen und ihrem eigenen Leid ein Ende zu setzen. Sie gaben den Hungrigen zu essen, kümmerten sich um die Armen und heilten die Kranken. So blühte die Menschheit auf und entwickelte sich weiter, indem sie mehr über die Welt, die Sterne und die Künste herausfand. Sie brachte Lieder, Poesie und andere schöne Dinge hervor.

Doch mit einem behielten die Elfen recht: Menschen waren unberechenbar. Die meisten waren gut, manche jedoch waren es nicht. Ein Menschenmagier fand einen neuen Weg, Magie anzuwenden, schnell und mühelos, aber auch mächtig und gefährlich. Diese Methode nutzte die Essenz, die magischen Wesen selbst innewohnte, um ungeheure Kräfte zu entfesseln. Manche nannten dies die neue Magie oder die siebte Quelle – bekannt wurde sie jedoch als dunkle Magie.

In ganz Xadia begannen Dunkelmagier und ihre Anhänger, magische Wesen zu jagen und zu wildern, denn sie brauchten Treibstoff für ihre Zaubersprüche: die Klaue eines Greifen, die Feder eines Mondphönix – alle Teile, in denen sich Magie konzentrierte. Wohl der wertvollste und begehrteste Schatz von allen war das Horn eines Einhorns. Schließlich hatten die Menschen so lange Jagd auf Einhörner gemacht, dass es in ganz Xadia keine mehr gab.

Die Elfen und Drachen waren angewidert und empört von dem, was sie da sahen. Sie waren überzeugt, dass die Vernichtung der Menschen notwendig und unausweichlich sei.

Doch im letzten Augenblick schlug die Tochter des Elfenoberhaupts einen barmherzigen Kompromiss vor: Sie bat darum, dass den Menschen gestattet werde, in die westlichen Lande zu ziehen und dort zu siedeln. Unter einem Halbmond fällte die Drachenkönigin, die Luna Tenebris genannt wurde, ein gleichermaßen grausames und gütiges Urteil: Die Menschen wurden verstoßen, aber verschont.

Und so spaltete sich der Kontinent in zwei Teile.

– Aaravos von den Ersten Elfen

MOND

Es war einmal ein Stamm, der betete zum Großen Mond, einer schönen silbernen Scheibe am Himmel.

Doch eines Tages blickte der rechtmäßige Anführer auf und sah, dass die Hälfte des Mondes fort war. »Sie ist gestohlen worden!«, rief er.

Die Menschen waren voller Zorn. Krieger reisten zum Dorf eines benachbarten Stammes, dem man nicht traute.

Die Anführerin jenes Stammes sah die Dinge jedoch anders. »Nichts haben wir gestohlen. Der Mond ist keine silberne Scheibe, er ist ein silbernes Blatt.« Sie zeigte auf den Himmel, um es zu beweisen. »Dies ist der Mond, und es ist unser Mond.«

Die Anführer bezichtigten sich gegenseitig der Lüge, und bald lagen die beiden Stämme im Krieg miteinander. Viele Menschen starben.

Es kam eine Nacht, da fanden sich beide Stämme in Finsternis wieder: Der Mond war komplett verschwunden. Alle Menschen hatten Angst, doch dann erhob ein Kind die Stimme.

»Seht ihr es denn nicht?«, fragte es. Doch die Erwachsenen sahen nur Dunkelheit. Kinder sehen nicht nur mit ihren Augen, sondern auch mit ihren Herzen. »Wir alle leben unter demselben Mond!«

Endlich begriffen es die Menschen und hörten auf zu kämpfen.

Und der Mond lächelte.

Kapitel 1

Der Nachhall des Donners

Regen lief in Strömen an den hohen Schlossmauern des Königreichs Katolis herab. Es klang, als prasselten Kieselsteine gegen das Fensterglas. Schwarze Sturmwolken wirbelten am Himmel, und Blitze flackerten lautlos darin.

In eine weiche Decke gehüllt kuschelte sich Ezran in sein Himmelbett, das widerspenstige braune Haar über das Kissen gebreitet. Ezrans Zimmer war ebenso unordentlich wie das aller Achtjährigen, aber es war groß und königlich. Wände und Boden bestanden aus fein gearbeitetem Stein, und die antiken Holzmöbel waren mit filigranen Schnitzereien von Tieren und Waldszenen verziert. Kerzen flackerten und warfen friedvolle Schatten an die Wände.

Das hellste Licht im Zimmer ging von Ezrans Leuchtkröte aus. Die unbehaarte Kreatur hieß Beut und schlief eingerollt in Ezrans Ellenbeuge. Beut hatte die Größe einer Katze, war jedoch weit weniger verschmust. Mit seiner glatten gelb-blauen Echsenhaut drückte er sich an die Seite des Jungen und atmete mit ihm im Einklang.

»Klopf, klopf!«, drang eine Stimme durch die Tür. »Darf ich reinkommen?«

»Du bist der König!«, rief Ezran zurück. »Ich glaub nicht, dass du fragen musst.«

König Harrow trat ins Zimmer.

»Könige müssen nicht fragen, Väter aber schon«, sagte er und zwinkerte Ezran zu. Dann setzte er sich auf die Bettkante und tätschelte Beut sanft.

Das kleine Monster brummte, als wollte es sich beschweren, doch insgeheim genoss es die Zuwendung. Beut war ein treues Haustier, doch wie die meisten seiner Art war er immerzu schlecht gelaunt. Dies war der Tatsache geschuldet, dass jedes Wildtier größer als eine Leuchtkröte Leuchtkröten ausgesprochen lecker fand.

Der König zupfte Ezrans Bettdecke zurecht. »Hast du’s bequem und kuschelig?«

»Bequem und kuschelig«, sagte Ezran. »Und jetzt kannst du singen.«

Mit leiser Stimme sang der König dasselbe Schlaflied, das er fast jede Nacht gesungen hatte, seit Ezrans Mutter gestorben war, damals, als er noch ganz klein gewesen war.

»Die Sonne geht unter, der Mond steigt hinauf.

Das Kindchen, es gähnt, macht das Mündchen weit auf.

Am Himmel nun blinken unzählige Sterne.

Die Äuglein schließen will das Kindchen nun gerne.

Der Ozean gibt der Erde noch schnell einen Kuss.

Pssst, sagt die Welle … schön schlafen du musst.«

Ezran lächelte. »Ich find’s toll, dass du das immer noch für mich singst. Ist zwar für kleine Kinder, aber es macht mich glücklich.«

»Schön«, antwortete der König.

»Singst du’s mir auch noch vor, wenn ich erwachsen bin? Das sollst du nämlich!«

»Wenn du das dann noch möchtest, dann gern.«

»Selbst wenn ich König bin? Versprich mir, dass du es mir dann immer noch vorsingst!«

Harrow zögerte, doch dann antwortete er: »Ich werde dich immer behüten, auch wenn du der König bist.«

Er beugte sich hinab und drückte Ezran einen warmen Kuss auf die Stirn. Dies war stets der Moment, da Ezran gähnte. Ganz plötzlich war er so müde.

»Gute Nacht, süßer Prinz«, sagte Harrow und ging. Bei der Tür zum angrenzenden Zimmer blieb er noch einmal stehen. »Dir auch eine gute Nacht, Callum.«

Ezrans älterer Halbbruder saß im Nachbarzimmer an einer Staffelei. Er hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt. In seiner behandschuhten Hand hielt er einen Becher Tee. Mit schnellen Strichen zeichnete er im Kerzenschein.

»Nacht!«, antwortete Callum, ohne von seinem Werk aufzuschauen. Er mochte König Harrow, und er wusste zu schätzen, was dieser alles für ihn getan hatte, seit seine Mutter gestorben war. Aber sein Vater war er nicht. Manchmal war das Gutenachtsagen deshalb etwas unbeholfen.

Harrow schlüpfte hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Callum zeichnete weiter. Der Vierzehnjährige konnte alles, was er gesehen hatte, bis ins letzte Detail nachzeichnen, selbst wenn er nur einen kurzen Blick darauf hatte werfen können. Diese Skizze entstammte jedoch seiner Fantasie: ein fantastisches Wesen, zum Teil Giraffe, zum Teil Alligator. Der »Giraffigator« sah zwar komisch aus, dachte Callum sich, hatte jedoch wortwörtlich ein dickes Fell, falls jemand versuchte, ihn zu ärgern. Außerdem würden sich die kraftvollen Kiefer mit den spitzen Zähnen am Ende des langen Halses sicher als nützlich erweisen, wenn er einem seiner Peiniger eine Lektion erteilen musste.

KRACH!

Ein plötzlicher Donnerschlag riss Callum aus seinen Gedanken.

»Callum!«

»Schon gut, Ez«, rief Callum. Er legte den Bleistift hin und ging zum Bett seines kleinen Bruders hinüber. »Das ist nur ein Gewitter, davor musst du keine Angst haben. Schlaf weiter.«

»Ich hab keine Angst«, sagte Ezran. »Beut hat Angst.«

Als Beut seinen Namen hörte, hob er den Kopf, guckte finster und nahm einen dunklen Rotton an. Er mochte es gar nicht, wenn man ihm auch nur einen Anflug von Feigheit unterstellte. Er war seinerzeit vielen Leuchtkröten über den Weg gelaufen und wusste, dass er zu den tapfersten fünf Prozent gehörte. Mindestens jedoch zu den tapfersten zehn Prozent.

Aber er konnte nie lange böse auf Ezran sein. Rasch verblasste seine Farbe, und er schlief wieder ein.

Als es blitzte, sahen die Elfen den menschlichen Soldaten, der gerade im königlichen Wald patrouillierte. Der junge Mann war in höchster Alarmbereitschaft, und sein Blick zuckte nach links und rechts, während er das Dickicht absuchte.

Rayla, die jüngste in der Gruppe, strich mit ihren langen Elfenfingern über die Griffe ihrer Schnappschwerter. Wusste der Soldat, dass sie ihn aus dem Dickicht heraus beobachteten? Spürte er womöglich, dass gerade sein Leben auf dem Spiel stand?

Wenn Runaan, der Anführer, das Zeichen gab, würde Rayla dem Soldaten das Leben nehmen. Sie hätte keine Wahl. Schließlich war sie eine Attentäterin, und eine gute noch dazu. Sie war flink mit ihren Messern und behänd auf den Füßen. Sie konnte ebenso gut wie die Älteren rennen und durch die hohen Bäume springen. Sie würde alles tun, worum Runaan sie bat.

Verschwinde, rief Rayla im Geiste, als könnte sie den jungen Soldaten so dazu bringen, seinen Posten zu verlassen. Entdecke uns nicht. Geh heim.

Die Mission der Elfen hatte wenig mit diesem speziellen Menschen zu tun. Er war nur ein Ärgernis auf dem Weg zu ihren eigentlichen Angriffszielen. Sie würden ihn unbehelligt lassen, wenn sie die Möglichkeit hatten. Erspähte er sie jedoch … Rayla versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken.

»Ist da jemand?«, rief der Soldat in die Dunkelheit. Er klang selbstbewusst, vielleicht sogar mutig, doch Rayla wusste, dass es nicht gut für ihn aussah.

Die Elfen harrten aus. Rayla hielt die Luft an. Eine Sekunde verging. Dann noch eine.

»Gib dich zu erkennen, im Namen König Harrows!«, rief der Mensch.

Noch ein paar Sekunden Stille, dachte Rayla. Noch ein paar Sekunden, und er wird zu dem Schluss kommen, dass nichts gewesen ist, und weitergehen. Ob er wohl ihr Herz pochen hören konnte?

Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel, und da weiteten sich plötzlich die Augen des Menschen. Nun bestand kein Zweifel mehr: Er hatte sie gesehen.

Mit seiner Armbrust schoss er einen Pfeil grob in ihre Richtung, dann wirbelte er herum und rannte davon.

Sofort gab Runaan das Zeichen, ein kaum wahrnehmbares Nicken.

Galt das mir?, fragte sich Rayla. Sonst hatte sich niemand gerührt. Ja, er muss mich auserwählt haben. Nun bringe ich diesem Soldaten den Tod.

Ihre Ausbildung zeigte Wirkung: Jede Aktion und Reaktion, endlos lange eingeübt, wurde in diesem Augenblick zum Instinkt, und sie jagte ihrer Beute hinterher. Diesen Menschen umzubringen, war nun eine Pflicht für sie, weiter nichts.

Der Soldat rannte den Weg hinab, so schnell es einem Menschen nur möglich war. Aber sein bauschiger Umhang flatterte im Wind, und auch seine klobigen Waffen machten ihn langsamer.

Rayla hingegen war ein Geschöpf des Waldes. Sie sprang von Ast zu Ast, und ihre Füße berührten kaum die Rinde dabei. Sie segelte über den Wald hinweg, sah jede Bewegung ihres Ziels voraus. Schneller und schneller jagte sie dem Soldaten nach, und mit jedem Sprung kam sie ihm näher. Der Regen prasselte ihr gegen die Wangen. Der faulige Geruch des Unwetters überwältigte ihre Sinne. Nie hatte sie sich lebendiger gefühlt.

Das Ziel war nun fast in Reichweite.

Rayla hielt auf einem Ast inne. Die violetten Augen zu Schlitzen verengt, blickte sie aus dem finsteren Wald hervor. Dann sprang sie hinter dem Soldaten auf den Boden hinunter.

Er wirbelte herum, doch Rayla war bereits wieder im Dunkel verschwunden. Sie sah ihm dabei zu, wie er wild mit seiner Armbrust herumfuchtelte.

Los, hin!, befahl sie sich selbst.

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, brach sie aus den Schatten hervor und versetzte dem Menschen einen Tritt gegen die Brust. Er purzelte eine Böschung hinunter und landete in einem Fluss aus Schlamm. Rayla setzte ihm nach.

Unten versuchte der Soldat, sich zur Wehr zu setzen, doch es war zwecklos: Sofort hatte Rayla ihm ihre Klingen an den Hals gesetzt.

»Bitte!«, flehte er. Sein panischer Blick fiel auf ihre ungewöhnlichen Waffen.

Mach schon!, dachte Rayla. Zögern ist Folter, nicht Gnade … Eine rasche Exekution war die letzte Freundlichkeit, die sie ihm noch erweisen konnte.

Der Soldat blickte nun zu ihr auf, suchte unter der Kapuze ihres Umhangs nach ihrem Gesicht.

»Wer bist du?«, fragte er leise.

Ein weiterer Blitz. Einen Moment lang fiel Licht auf das Gesicht des Opfers, und mehr brauchte es nicht. Rayla sah die Furcht des Soldaten, seine Traurigkeit. Sie hörte beinahe, wie er dachte: Ich werde sterben. Ich werde sterben.

Außerdem sah sie seine Liebe zum Leben, all die Versprechungen, die es noch für ihn bereithielt – alledem würde sie mit ihren Klingen ein Ende setzen. Ein klein wenig lockerte sich ihr Griff um ihre Waffen.

Der Soldat erkannte seine Chance: Rückwärts kroch er durch den Schlamm von ihr weg, sprang auf und rannte davon.

Rayla ließ die Arme seitlich herabsinken und den Kopf hängen. Ihre Willenskraft schien sich im Regenguss aufgelöst zu haben. Warum war sie nur so schwach?

Reglos wie eine Statue stand sie da, während ihr Ziel sich davonmachte.

Kapitel 2

Alte und neue Geheimnisse

Es dämmerte über dem dunklen Wald. Vögel zwitscherten im rosafarbenen Licht des frühen Morgens. Doch in einem Gemüt innerhalb der Schlossmauern tobte noch immer ein Unwetter.

Viren, der Hochmagier, stand vor einem verzierten Spiegel, das Gesicht vor Frust verzerrt. Mit einem Finger zeichnete er eine der goldenen Runen auf dem Rand nach. Könnte er doch nur die Geheimnisse dieses magischen Glases entschlüsseln!

Doch das Einzige, was sich ihm offenbarte, war sein Spiegelbild: streng, hochgewachsen und gut gekleidet. Sein perfekt frisiertes Haar und der verkrampfte Unterkiefer spotteten still über seinen Wunsch, die Geheimnisse des Spiegels zu erfahren. Seine Intuition sagte ihm, dass der Spiegel ihm Macht bringen konnte: die Macht, sich selbst zu schützen, seine Familie und sein Königreich. Nun besaß er den Spiegel jedoch schon seit Monaten und hatte seine Mysterien noch immer nicht aufgedeckt.

Viren warf einen Blick auf den Stapel ledergebundener Wälzer auf seinem Schreibtisch. Keiner seiner Zaubersprüche oder Tränke hatte den Spiegel dazu gebracht, seine Geheimnisse preiszugeben. War dies womöglich bloß ein gewöhnlicher Spiegel?

Nein, schalt er sich. Der Drachenkönig und die -königin hatten den Spiegel an ihrem Schlafplatz aufbewahrt, also konnte er nicht gewöhnlich sein. Das war schlichtweg unmöglich! Und wäre es ein gewöhnlicher Spiegel gewesen, dann hätte er an jenem Tag nicht so machtvoll nach ihm gerufen – so eindringlich, dass er den Spiegel hoch oben von der Sturmnadel geholt und ihn den ganzen Weg aus Xadia bis zum Schloss getragen hatte.

Noch gab er sich nicht geschlagen; ihm entging nur irgendetwas, ein entscheidender Hinweis.

Er nahm einen tiefen Atemzug und verdrängte seine Verbitterung tief in jenes ständig wachsende Grab aus Reue, Groll und Rache in seinem Inneren. Schon früher hatte er sich Herausforderungen gestellt, er würde auch diese meistern. Die meisten Mysterien Xadias hatte er mithilfe seines beachtlichen magischen Könnens schließlich bereits gelüftet. Natürlich waren seine Vorstöße in die tückische Welt der dunklen Magie kostspielig gewesen. Er hatte geliebte Menschen und Geld verloren, sogar einige Prinzipien geopfert, doch vielleicht machte sich all die Mühe nun endlich bezahlt.

BUMM! BUMM!

Jemand hämmerte nachdrücklich an die Tür seines Studierzimmers, und er schrak aus seinen Gedanken auf. Wer wagte es, ihn zu dieser frühen Stunde zu stören? Dieser Unverfrorenheit würde er rasch ein Ende setzen.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Viren, noch während er die Tür aufschwang, mit leiser, kalter und gefährlicher Stimme.

Der junge Soldat vor der Tür zitterte. Er war durchnässt und von Kopf bis Fuß mit Schlamm beschmiert. Blut rann ihm an der Wange herab.

»Du hast mich gestört!«, sagte Viren. »Was willst du? Sei so nett und sprich endlich.«

Der Soldat verbiss sich ein Schluchzen.

»Ach, du liebe Güte, reiß dich doch zusammen, Junge!«

Der Soldat stieß die Worte hervor, ehe ihm der Mut schwinden konnte.

»Lord Viren, ich hab etwas gesehen. Etwas Schreckliches, im königlichen Wald.«

Viren bedachte den Soldaten mit einem langen, prüfenden Blick. Gern hätte er den winselnden Lümmel weggeschickt, aber etwas in seiner Miene ließ ihn stutzen. Dieser Soldat war bis in seine Grundfesten erschüttert worden.

»Ich war auf Patrouille, wisst Ihr, und dann hat es geblitzt, und ich hab eine Gruppe … eine Gruppe Attentäter gesehen. Eine von denen hat mich gejagt. Sie hatte Schwerter, die waren doppelt so lang wie ihre Arme. Ich dachte schon, ich wäre geliefert. Aber irgendwie hab ich es weggeschafft. Die Attentäterin … Nun, ich glaube, dass sie mich bewusst verschont hat. Ich bin sofort zu Euch gerannt.«

Der Soldat verstummte. Viren musterte ihn schweigend. Das blanke Entsetzen im Blick dieses jungen Mannes stellte ihn vor ein Rätsel, aber er hatte auch noch nicht die ganze Geschichte gehört.

»Es waren Mondschatten-Elfen«, flüsterte der Soldat.

»Mondschatten-Elfen?« Viren blickte den Soldaten vernichtend an. »Du glaubst, du wärst Mondschatten-Elfen entkommen? Was wäre wohl unwahrscheinlicher, als dass du einem Mondschatten-Elfen entwischt sein könntest? Der Gedanke allein, dass eine dieser blutrünstigen Kreaturen es über sich gebracht haben könnte, dich zu ›verschonen‹! Von allem Unsinn, den ich jemals gehört habe …«

»I… Ich weiß, wie weit hergeholt diese Geschichte klingen muss, Sir«, stammelte der Soldat. »Aber in dem Augenblick gab es eine seltsame Verbindung zwischen mir und der Elfenfrau. Sie hatte mich in die Enge getrieben, und dann … Es war, als hätte ich ihr leid getan. Sie hat von mir abgelassen, und da konnte ich wegrennen.«

»Na schön, na schön«, sagte Viren. »Ich hab keinen Bedarf, mehr von deinem gefühlsduseligen Moment im Wald zu hören. Warum meldest du dich nicht bei deinem Vorgesetzten? Offensichtlich hat dir ja etwas einen tüchtigen Schrecken eingejagt. Aber glaube mir: Mondschatten-Elfen können das nicht gewesen sein.«

Und damit schlug Viren dem Soldaten die Tür vor der Nase zu. Mondschatten-Elfen, die das Leben eines Menschen verschonten! Ungläubig schüttelte er den Kopf.

Tatsächlich stellten die Elfen jedoch eine allgegenwärtige Bedrohung dar. Sie konnten die Menschen nicht ausstehen, vor allem solche nicht, die sich dunkler Magie bedienten. Und niemals würden sie den Tod des Königs der Drachen verwinden, so viel wusste Viren. Einen Moment lang fragte er sich, ob es vielleicht doch nicht so weise gewesen war, den Drachenkönig zu töten. Andererseits …

»Ich hatte doch keine Wahl!«, schrie er die Wände an.

Was, wenn der Soldat recht hatte, und Elfen-Attentäter waren in der Nähe? In gewisser Weise ergäbe das durchaus Sinn. Wenn die Königin der Drachen ihren Gemahl rächen wollte, indem sie König Harrow umbrachte, dann würde sie keine gewaltige Armee schicken, oder? Sie würde eine Gruppe der tödlichsten Attentäter Xadias entsenden.

Viren ging zu seinem Schreibtisch und schlug ein Buch voller uralter Schaubilder und Karten auf. Er blätterte durch die Kapitel, bis er bei den Mondphasen ankam. Was er sah, beunruhigte ihn. Aber vielleicht war das nur ein Zufall?

Das flaue Gefühl in seinem Magen sprach dagegen. Wenn Mondschatten-Attentäter angreifen wollten, so würden sie es in der Vollmondnacht tun. In nur wenigen Stunden hätten sie den Höhepunkt ihrer Macht erreicht.

Grauen kroch Viren in die Glieder. Jedermann kannte die Legenden. Unter einem vollen Mond wären Mondschatten-Elfen praktisch unaufhaltbar.

Er griff nach einem Samttuch und warf es über den magischen Spiegel: Seine Geheimnisse würden bis zu einem anderen Tag warten müssen.

Kurz darauf schritt er durch die schwach erleuchteten Korridore des Schlosses. Als Hochmagier war es seine Aufgabe, kreative Lösungen zu ersinnen. Es musste einen Weg geben, wie er diese Attentäter aufhalten konnte … oder zumindest einen Trick, um sie auf eine falsche Fährte zu locken. Er zog verschiedene Strategien in Betracht, während er die Wendeltreppe zu König Harrows Turm hinaufstieg. Als er beinahe oben angekommen war, bereitete er sich innerlich auf seine unmittelbare Pflicht vor: Er musste seinem engsten Freund sagen, dass sein Leben in Gefahr war.

Ein Wächter teilte Viren mit, dass der König noch schlief, doch Viren eilte an ihm vorbei ins Schlafgemach. Er riss Harrows Vorhänge auf und blieb schließlich vor seinem Bett stehen.

»Dir auch einen guten Morgen, Viren«, sagte Harrow und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Hatte ich dir nicht gesagt, ich würde dich hinrichten lassen, wenn du mich jemals wieder so früh weckst?«

Der König blickte den Hochmagier mit einer hochgezogenen Augenbraue an, doch dann sah er den Ausdruck in Virens Gesicht, und die Lust zu scherzen verging ihm mit einem Schlag.

Rayla trottete auf das Lager zu. Sie hatte gar nicht gewusst, dass man so schleppend einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Runaan erwartete sie sicher längst zurück. Wie sollte sie ihm nur sagen, dass sie nicht nur spät dran, sondern auch noch bei ihrer Aufgabe gescheitert war?

Runaan war schon ihr Mentor, seit sie noch ganz klein gewesen war. Er hatte sie ausgebildet, gedrillt und angespornt, während sie zu einer jungen Attentäterin herangewachsen war. Tausendmal hatte er ihr gesagt, dass sie etwas Besonderes war. Niemals hätte er so viel Energie in jemanden gesteckt, der kein vergleichbares Talent hatte. Nun musste sie ihm sagen, dass er sich geirrt hatte. Jahre hatte er darauf verschwendet, sie als seinen Schützling heranzuziehen, und nun hatte sie Mitgefühl mit den Menschen.

Rayla unterdrückte ein Schluchzen, als sie sich die Szene ausmalte. In Runaans große aufrichtige Augen würde Enttäuschung treten. Er hatte es nicht verdient, dermaßen entehrt zu werden.

Und die anderen … würden Runaan auslachen, weil er sein Vertrauen in sie gesetzt hatte. Sie hatten ihm ja gesagt, dass sie zu jung für diesen Auftrag war.

Rayla holte tief Luft. Vielleicht würde ihr Versagen keine Rolle mehr spielen, sobald sie ihre Mission abgeschlossen hatten. Schließlich waren sie nicht wegen dieses jungen Soldaten hier. Gelänge ihnen nur das Attentat auf den König und den Prinzen, dann würde sich niemand darum scheren, dass ein alberner Mensch nicht gestorben war.

Und vielleicht würde Runaan ja nicht einmal fragen, ob sie ihm den Garaus gemacht hatte – er würde einfach davon ausgehen. Aber würden ihre Augen ihre Feigheit verraten? Sie würde den Kopf gesenkt halten müssen.

Direkt vor dem Lager blieb sie stehen. Die anderen Attentäter schlugen still ihre Zelte auf und bereiteten ihre Waffen vor. Runaan saß im Schneidersitz auf einem Felsen und meditierte.

Bring es hinter dich, sagte Rayla zu sich selbst, aber ihre Füße wollten nicht weiter. Sie strich mit den Fingern über die Blätter eines nahen Busches, um ihre Gedanken zu beruhigen.

Ein Blatt, zwei Blätter, drei Blätter. Runaan hatte sie gelehrt, dass ein guter Attentäter alle seine Sinne benutzte, einschließlich des Tastsinns. Eine Beere. Zwei Beeren.

Rayla sog erschrocken die Luft ein.

Sie wusste, sie konnte Runaan nicht belügen. Aber es wäre ja eigentlich keine Lüge, wenn er von sich aus zu einem bestimmten Schluss käme, oder? Wenn er einfach davon ausging, dass sie den Mord vollzogen hatte, dann müsste sie ihn nicht mit einer Lüge entehren, richtig?

Sie pflückte eine einzelne Beere von dem Busch und zerquetschte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Blutroter Saft quoll heraus. Ja, das würde funktionieren.

Rayla griff sich mehrere Handvoll Beeren und zerdrückte sie an ihren Klingen. Scharlachrote Flüssigkeit rann daran entlang.

Als sie von beiden Schwertern tropfte, straffte Rayla die Schultern, blickte nach vorn und schritt ins Lager hinein.

Sie sagte kein Wort, als sie an Runaan vorüberging, stellte nicht einmal Blickkontakt her, drehte ihre Klingen jedoch so, dass er sie sehen konnte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust.

»Gut gemacht, Rayla«, sagte Runaan.

Sie sah ihn an und nickte knapp. Dies war keine Lüge – es war Runaans Fehler.

Als die anderen bemerkten, dass Rayla zurück war, nickten sie respektvoll, hielten sich aber von ihr fern. Sie wussten, dass es für Rayla das erste Mal gewesen war, und sie glaubten, sie hätte Erfolg gehabt. Es war ihnen auch klar, was es bedeutete, jemandem das Leben zu nehmen: Es war keinesfalls leicht.

Rayla setzte sich hin und wischte ihre Schwerter ab. Die Schuld ihres Schwindels lag ihr schwer im Magen.

Kapitel 3

Der letzte normale Morgen

Bedrohlich, dachte Callum. Die königlichen Bäume werfen höchst bedrohliche Schatten. Callum zeichnete liebend gern im Schlosshof: Das Licht war stets perfekt. Doch heute zogen die Schatten seine Aufmerksamkeit auf sich.

Er zog Skizzenbuch und Bleistift aus seiner Umhängetasche und begann mit einer raschen Skizze. Er zeichnete schnell, wobei er zwischen den Schatten und dem Papier hin und her blickte. Die Schatten der Äste auf den Steinen des Hofs wirkten so starr wie Skelette. Wo war das Leben?

Er blätterte zu einer leeren Seite weiter, doch da warf eine hochgewachsene Gestalt einen Schatten auf das Papier und verdeckte die Blätter. Callum erkannte die breiten Schultern, den dicken Hals und die komplette Kampfrüstung wieder: Der Sohn des Hochmagiers, Soren, ragte über ihm auf.

»He, das ist ziemlich gute Arbeit, Stiefprinz Callum«, sagte Soren. »Aber du hast jetzt schon genug Zeit vertan. Du musst an deiner Schwertkunst arbeiten, und ich muss dir die geforderten Fertigkeiten beibringen.« Soren klopfte Callum auf den Rücken – Skizzenbuch und Bleistift flogen ihm aus den Händen. »So aussichtslos das auch sein mag.«

»Stimmt ja. Natürlich, Soren«, sagte Callum. Er krabbelte über den Boden und sammelte seine Sachen zusammen. Seine Welt war eine andere, seit seine Mutter vor einer Ewigkeit einen König geheiratet und ihn zu einem Prinzen gemacht hatte. Keinen Morgen konnte er mehr faul in der Sonne herumliegen, sich Figuren ausdenken und ihre Züge zu Papier bringen.

Callum hatte nun Verpflichtungen. Verantwortlichkeiten. Ein Prinz zu sein bedeutete, dass er reiten musste, Schwertkampf üben, sich im strategischen Denken schulen und die Geschichte Katolis’ lernen. Er hatte Schwierigkeiten mit all diesen Fächern, aber er versuchte es weiter, denn er liebte seinen Stiefvater, König Harrow. Er gab sich große Mühe, sich die Namen alter Schlachten einzuprägen: lange und seltsame Namen wie die Schlacht bei Berylgarten oder der vierzehntägige Widerstand bei Hinterpik. Warum konnte man Schlachten nicht einfacher benennen? Müsste Callum jemals eine Schlacht benennen, er würde ihr einen simplen, schnörkellosen Namen geben – Jenny zum Beispiel. Jenny wäre ein klasse Name für eine Schlacht.

SCHNIPP. SCHNIPP. Soren schnipste vor Callums Augen mit den Fingern.

Richtig. Schwertunterricht. Callum wandte sich Soren zu, der in seine Lehrerrolle schlüpfte.

»Heute widmen wir uns der Kunst der …«

»Kunst!«, sagte Callum. »Endlich mal was, was ich gut kann.«

»Richtig«, sagte Soren. »Hättest du mich ausreden lassen, wüsstest du, dass wir uns mit der Kunst der Verteidigung befassen werden.«

»Wie wär das: Du befasst dich mit der Kunst der Verteidigung und ich mich mit der Verteidigung der Kunst?« Callum hielt seinen Bleistift hoch und grinste über seinen eigenen Witz.

Soren blinzelte zweimal, dann machte er weiter, ohne den Scherz zu würdigen. Daran war Callum gewöhnt.

»Die Kunst der Verteidigung ist beim Schwertkampf ausschlaggebend«, sagte Soren, wobei er sich auf sein hölzernes Trainingsschwert stützte. Dann riss er es plötzlich in die Luft.

»Beim Parieren geht es um den Winkel, die Bewegung und die Voraussicht.« Er schwang sein Schwert hin und her und bekräftigte jedes Wort mit einem Stich gegen einen unsichtbaren Feind. »Schätze deinen Gegner falsch ein, und es ist vorbei.« Er klopfte Callum mit der flachen Seite des Schwertes gegen die Stirn.

Callum seufzte. Soren kam zwar nicht nach dem Hochmagier, was die dunkle Magie anging, aber körperlich war Virens einziger Sohn ein ziemliches Musterexemplar. Er war groß, stark und athletisch, und sein goldblondes Haar saß immer perfekt. Er trug eine polierte Rüstung und hatte stets ein Schwert dabei – ein echtes Schwert, kein hölzernes wie das, mit dem Callum üben musste. Soeben hatte Soren es aus der Scheide gezogen, und nun hielt er die silberne Klinge bewundernd in die Sonne.

»Es scheint geradezu zu funkeln«, sagte Soren. »Findest du nicht, Stiefprinz? Funkelt dieses Schwert nicht schön?«

»Ja, sehr hübsch.« Callum legte seinen Künstlerbeutel ab. Soren hatte alles, was ein Prinz brauchte. Schade nur, dass sein Verstand nicht so scharf war wie seine Waffe.

»Alles klar, legen wir los!« Soren warf Callum das Übungsschwert zu, und der ließ es prompt fallen. Soren verdrehte die Augen.

Callum hob es wieder auf und hielt es sich vors Gesicht. Dann schloss er die Augen; sie offen zu haben, hatte ihm sowieso noch nie etwas genützt.

Er schwang sein Schwert wild herum, und es kam mit Sorens in Kontakt. Er wich zurück, wobei er immer noch herumfuchtelte, aber diesmal schlug er nur in die Luft, und da piekste ihm Soren mit seinem Schwert in die Brust.

»Du bist tot«, sagte er ruhig. Callum machte ein Auge auf.

»Ja, aber ich wär’s nicht, wenn ich eine Rüstung getragen hätte, stimmt’s?«

»Spielt keine Rolle«, sagte Soren. »Selbst mit der seltensten, erlesensten Rüstung, geschmiedet von Sonnenfeuer-Elfen, wärst du supertot.«

»Ich kann das echt gar nicht.« Callum rieb sich die Stelle, wo Soren ihn getroffen hatte.

»Jupp!«, sagte Soren fröhlich. »Aber du musst trotzdem üben, weil man das nämlich von einem Prinzen erwartet … von einem Stiefprinzen, meine ich.«

Callum starrte Soren an, sagte aber nichts. Dieser Kerl musste immer wieder davon anfangen, dass Callum nicht König Harrows »echter« Sohn war. Aber der König war der einzige Elternteil, der ihm noch geblieben war; an seinen biologischen Vater konnte er sich kaum erinnern.

Und seine Mutter, Königin Sarai … Nun, es war nun wirklich schon lange her, dass sie gestorben war.

Callum war nahezu so weit, die Schwertübungen aufzugeben, da kam Claudia vorbei, die Nase in einem Buch.

Sie war Sorens jüngere Schwester. Sie war nicht einmal ein Jahr älter als Callum, aber er hatte sie schon immer kultiviert, weltgewandt und bezaubernd gefunden. Das Buch, in dem sie las, hatte bestimmt irgendetwas mit Magie zu tun. Sie studierte sie zusammen mit ihrem Vater, und Callum wusste, dass sie sehr talentiert war.

Tatsächlich gehörte ihre Liebe zur Magie zu den Dingen, die Callum an ihr so eigenartig faszinierend fand – oder eher eigenartig und faszinierend. In ihrer Gegenwart verspürte er ständig so ein leichtes, hartnäckiges Flattern im Bauch, als hätte sich eine mondsüchtige Motte in seine Eingeweide verirrt.

Claudia trug heute ihr langes schwarzes Kleid, das mit filigraner goldener Spitze gesäumt war. Ihr glattes schwarzes Haar hing ihr tief auf den Rücken hinab, und die getönten violetten Spitzen berührten beinahe ihre Taille.

Seltsam. Und faszinierend.

»Tock, tock.« Soren klopfte Callum mit dem Knauf seines Schwerts auf den Kopf. »Jemand zu Hause?«

»Wa… Ach ja«, sagte Callum. »Hallo, Soren. Weißt du was: Können wir’s noch mal versuchen mit den Schwertern? Ich glaube, jetzt bin ich bereit.« Er versuchte, superbeiläufig einen Blick in Claudias Richtung zu werfen, als wäre es ihm völlig egal, dass sie hier war, doch sobald er ihr hübsches Gesicht sah, spürte er schon, wie seine Wangen sich röteten. Soren bekam das spitz.

»Oooh. Ich seh schon, was hier los ist!«

Eine Sekunde lang dachte Callum, Soren würde wütend werden, doch stattdessen grinste er ihn verschwörerisch an.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich helfe dir. Geh auf mich los.« Er wich zurück und hob sein Schwert.

Callum schloss die Augen und beugte sich weit nach vorn. Dann rannte er auf Soren zu, schrie dabei wie ein Wahnsinniger und stieß sein Schwert nach vorn. Die Waffen schlugen gegeneinander. Callum schwang mit aller Kraft, und wieder krachten sie zusammen. Noch einmal schwang er, aber dieses Mal schlug er nur in die Luft. Als er die Augen öffnete, sah er Soren auf dem Boden liegen. Er hielt sich die Seite und tat so, als würde er Qualen leiden.

»Oh, ich bin gestochen worden!«, heulte Soren.

Callum grinste. Manchmal war Soren gar nicht so übel.

»Schlimm, so schlimm hat er mich gestochen! Der Stichprinz, der edle Herr von Stich.«

Callum fand, dass »Stichprinz« sich viel besser anhörte als »Stiefprinz«. Und es war sonderbar nett von Soren, ihm so bei Claudia zu helfen, obwohl er vermutlich ein bisschen zu dick auftrug.

»Okay, Soren, du kannst jetzt aufstehen«, rief Callum.

»Kann ich nicht!«, schrie Soren. »Ich bin erst siebzehn und liege schon im Sterben. Schau nur! Spritz! Spritz!« Soren zeigte auf unsichtbares Blut, das aus einer nichtexistenten Wunde hervorschoss. Auf der anderen Seite des Schlosshofs lachte Claudia.

»Gut gemacht, Callum!«, sagte sie. »Das hat er verdient.«

Während Soren sich noch weiter am Boden herumwälzte, ging Callum zu Claudia hinüber, die noch immer kicherte, und setzte sich zu ihr auf eine Steinbank.

»Was liest du da?«

»Ach, das hier?« Claudia warf einen verächtlichen Blick auf das ledergebundene Buch, das tausend Seiten lang sein musste. »Das ist nur ein Haufen langweiliges Magiezeugs, das ich lernen muss. So langweilig!« Sie gähnte übertrieben.

»Langweilig?«, fragte Callum. »Machst du Witze? Ich würde so gern Magie lernen. Magie ist der Wahnsinn!«

»Ja, oder?!«, sagte Claudia. »Ich wollte nur nicht, dass du neidisch wirst. Willst du mal was Unglaubliches sehen?« Claudia blickte in beide Richtungen. »Das ist superselten, und mein Vater hat das gekriegt, indem … Ach, das ist ’ne lange Geschichte. Ich zeig’s dir einfach mal.«

Bedächtig holte Claudia ein kugelförmiges Objekt aus einer verborgenen Tasche ihres Umhangs. Es war eine durchsichtige Glaskugel, gefüllt mit herumwirbelnder dunkelblauer Luft, Miniaturwolken und winzigen, aufflackernden Blitzen. So etwas hatte Callum noch nie gesehen.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das ist ein Urstein«, sagte Claudia. »Er verwendet die magische Energie einer der sechs Urquellen.« Sie reichte ihn Callum.

»Wow. Was ist das da drin?«

»Ein Sturm. Ein echter Sturm. Eingefangen auf dem Gipfel des Berges Kalik. Ich kann seine Kraft lenken, um Zaubersprüche mit Runen zu machen. Guck mal.« Claudia stupste Callum an, damit er zu Soren hinsah, der gerade sein Spiegelbild im Schild betrachtete und sich ein bisschen hübsch machte. Sie hielt den Urstein hoch und malte eine Runenform in die Luft. Unter ihrem Finger bildeten sich Bögen aus Licht, die die leuchtenden, geschwungenen Linien eines uralten, mächtigen Symbols bildeten. In der Glaskugel schien ein Sturm zu toben, und immer stärkere und hellere verästelte Blitze zuckten darin.

»Aspiro!«, sagte Claudia.

Plötzlich war die strahlende Rune verschwunden, und Claudia pustete einen Windwirbel in die Luft. Sie lenkte ihn in Sorens Richtung und verwuschelte ihm so sein perfekt gekämmtes Haar. Er wandte sich seinen Peinigern zu.

»Hast du gerade versucht, mir die Frisur zu versauen?«

Claudia zuckte mit den Schultern.

»Hat jedenfalls nicht geklappt«, fuhr Soren fort. »Jetzt hat sie sogar noch mehr Volumen.«

Callum lachte. »Das war ja klasse! Was kannst du noch?«

Claudia fing gerade an, eine weitere Rune zu malen, da tippte jemand Callum auf die Schulter. Es war ein ernst dreinblickender Wächter.

»Prinz Callum«, sagte er. »Der König muss dringend mit Euch sprechen.«

Unterdessen gingen Ezran und Beut in den Tiefen des Schlosses ihrer Morgenroutine nach.

»Was, glaubst du, backt Barius heute Morgen?«, fragte Ezran. Sie saßen in einem der vielen geheimen Tunnel des Schlosses. Die meisten Leute (und Leuchtkröten) wussten nicht einmal von ihnen, doch Ezran und Beut hatten ein ausgeprägtes Talent, falsche Wände aufzuspüren und zu öffnen. Der Geheimgang, in dem sie heute Morgen hockten, verlief nahe der Küche. Buttrige Aromen umwehten ihre Köpfe.

Beut blinzelte mit seinen Amphibienaugen und leckte sich die Lippen. Er war ziemlich sicher, dass er sein Lieblingsleckerli roch.

»Ja«, sagte Ezran, »ich glaub auch, dass ich Marmeladentörtchen rieche!«

Er spähte aus dem Metallgitter am Ende des Gangs. Und tatsächlich: Gerade platzierte Barius ein Tablett mit frischen Törtchen auf dem Tisch.

Noch nicht, noch nicht …, dachte Ezran. Er wusste aus Erfahrung, dass er solche Sachen genau richtig timen musste. Barius buk zwar Hunderte von Torten pro Tag – er hätte sie sogar im Schlaf backen können. Trotzdem machte er immer ein Riesentheater, wenn er Ezran dabei erwischte, wie er sich ein Törtchen mopste. Eigentlich fand Ezran es lustig, dass Barius die süßesten, zuckrigsten Leckereien im ganzen Königreich machte, obwohl er selbst so ein königlicher Sauertopf war.

Nach einer Ewigkeit tapste Barius endlich davon, um an etwas anderem zu arbeiten.