Dreams Lie Beneath - Rebecca Ross - E-Book

Dreams Lie Beneath E-Book

Rebecca Ross

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Beschreibung

EINE LIEBE SO SCHÖN UND ZERBRECHLICH WIE EIN TRAUM

Das Reich Azenor steht seit Jahrzehnten unter einem schrecklichen Fluch. In jeder Neumondnacht werden die schlimmsten Albträume der Einwohner lebendig. Als angehende Hüterin ist es die Aufgabe von Clementine und ihrem Vater, ihre Stadt davor zu beschützen. Doch als eines Tages zwei junge Magier auftauchen und ihnen dieses Amt streitig machen, ändert sich alles. In einem Wettkampf verliert Clementine nicht nur ihre Position, sondern auch ihr Zuhause. Sie schwört Rache, vor allem an dem geheimnisvollen Phelan, der sie bezwungen hat und sie trotz allem fasziniert. Aber um den Neumondfluch ein für allemal zu brechen, muss sie mit ihrem Rivalen zusammenarbeiten ...

»Die emotionale und tiefgründige Art, wie Rebecca Ross Gefühle vermittelt, ist einfach nur magisch.« WHY.NOTBOOKS

Ein Einzelband von Platz-1-SPIEGEL-Bestseller-Autorin Rebecca Ross

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Seitenzahl: 611

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Teil 2

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Teil 3

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Rebecca Ross bei LYX

Impressum

REBECCA ROSS

Dreams Lie Beneath

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ulrike Gerstner

Zu diesem Buch

Das Reich Azenor steht seit Jahrzehnten unter einem schrecklichen Fluch. In jeder Neumondnacht werden die schlimmsten Albträume der Einwohner lebendig. Clementine Madigan wird von ihrem Vater zur Hüterin in einer Kleinstadt am Rande der Berge ausgebildet, um die bösen Träume im Buch der Albträume festzuhalten und zu bekämpfen. Bis eines Tages zwei junge Magier auftauchen und ihnen das Amt des Hüters der Stadt streitig machen. Einer davon ist Phelan Vesper, einer der Söhne der Gräfin und ebenso geheimnisvoll wie gut aussehend. In einem gefährlichen Wettkampf müssen sich Clementine und ihr Vater jedoch den beiden Brüdern geschlagen geben. Als sie daraufhin nicht nur ihre Position, sondern auch ihr Zuhause verliert, schwört sie Rache an ihnen. Mit einem Zauber, der ihr Erscheinungsbild verändert, nimmt sie unerkannt einen Posten als Phelans Partnerin an, um ihrem Feind näherzukommen. Doch obwohl sie Phelan eigentlich hassen will, löst er bisher unbekannte Gefühle in Clementine aus. Und als der Fluch immer mächtiger wird, bleibt ihr keine andere Wahl, als mit ihrem Rivalen zusammenzuarbeiten, um Azenor ein für allemal von den Albträumen zu befreien …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung:

Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für meine Eltern – die mir als Erste beigebracht haben zu träumen.

TEIL 1

Magie so alt

1. KAPITEL

Der September-Neumond wartete darauf, dass die Sonne endlich unterging, und ich fand mich verschanzt in Mazarines Bibliothek wieder, um bei Kerzenlicht ihr zwölftes Porträt zu zeichnen. Seit ich sie kannte, hatte sie ihr Haus tagsüber nie verlassen und hielt die Vorhänge geschlossen, solange die Sonne wachte. Sie rief mich gern alle paar Monate zu sich, damit ich Verschiedenes für sie erledigte – zum einen, um ihr Gesicht mit meinem Kohlestift zu Papier zu bringen, als hätte sie vergessen, wie sie aussah. Zum anderen, um ihr aus einem ihrer ledergebundenen Bücher vorzulesen. Beides tat ich nur zu gern, denn sie bezahlte mich gut und mir gefielen die Geschichten, die ich ihr manches Mal abluchsen konnte. Geschichten, die aus den Bergen kamen. Geschichten, die schon fast vergessen waren und zu Staub zerfielen.

»Sehe ich noch genauso aus wie das letzte Mal, als du mich gezeichnet hast?«, fragte sie von einem Stuhl aus, dessen Armlehnen zu brüllenden Löwen geschnitzt waren. Sie trug ihr übliches Gewand: ein elegantes Samtkleid in Blutrot mit einer Diamantkette um den Hals. Der Stein fing den Schein des Feuers bei jedem ihrer Atemzüge auf und funkelte vor lauter Geheimnissen.

»Sie sehen unverändert aus«, erwiderte ich und dachte daran, dass ich sie erst vor drei Monaten gezeichnet hatte. Dann fuhr ich mit meiner Skizze von ihr fort. Sie war stolz, trotz ihrer Vielzahl an Falten und Altersflecken und ihrer seltsamen Knopfaugen. Ich mochte ihr Selbstbewusstsein und spiegelte es in der Zeichnung durch die Neigung ihres Kinns, die Andeutung ihres wissenden Lächelns und die Wellen ihrer langen silbernen Haare wider. Ich hätte gern gewusst, wie alt sie war, aber traute mich nicht zu fragen.

Manchmal fürchtete ich mich vor ihr, obwohl ich nicht erklären konnte, wieso. Sie war uralt. Ich hatte sie selten von den Möbeln aufstehen sehen, die in diesem aus Gold und Schatten geformten Raum standen. Und doch verströmte sie etwas. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte, das mich aber trotzdem ermahnte, in ihrer Gegenwart die Augen offen zu halten.

»Dein Vater mag es nicht, wenn ich dich herrufe«, sagte sie mit rauchiger Stimme. »Er mag es nicht, wenn du mit mir allein bist, oder?«

Ihre Worte verunsicherten mich, aber ich verbarg meine Gefühle. Das Halbdunkel des Raumes war wie ein Umhang, und obwohl es unmöglich schien, bei so schlechtem Licht ein Porträt zu zeichnen, tat ich es – und zwar gut. »Mein Vater will einfach, dass ich heute pünktlich nach Hause komme«, erwiderte ich, und sie wusste, worauf ich anspielte.

»Ah, der Neumond erwartet dich heute Nacht«, bemerkte Mazarine. »Verrate mir, Clementine … Hast du einen meiner Albträume gelesen, die im Buch deines Vaters aufgezeichnet stehen?«

Das hatte ich nicht, denn in dem Buch, das mein Vater befüllte und bewachte, gab es keine Aufzeichnungen über ihre Albträume. Trotzdem wollte ich das vor ihr nicht eingestehen, denn ich fürchtete, es könnte sie verärgern.

Also log ich.

»Mein Vater lässt mich nicht alle seine Aufzeichnungen lesen. Ich bin nur ein Lehrling, Miss Thimble.«

»Ah«, sagte sie und trank einen Schluck von dem Schaumwein. »Du bist ein Lehrling, aber in Neumondnächten führst du an seiner Seite Krieg. Und du bist genauso stark und geschickt wie er. Ich habe dich in den dunkelsten Nächten auf den Straßen kämpfen sehen. Du wirst ihn überflügeln, Clementine. Deine Magie leuchtet heller als seine.«

Ich hatte ihr Porträt beendet – und das war auch höchste Zeit. Denn ihre Worte nährten einen hungrigen Geist in mir, den ich verbergen wollte.

»Ihr Porträt ist fertig.« Ich setzte den Kohlestift ab, wischte mir die Finger an meinem Rock ab und ging mit dem Papier zu ihr. Sie betrachtete es im Kerzenlicht, das von den eisernen Leuchtern ringsum flackerte, von denen das Wachs herabtropfte wie Wasser von Stalaktiten.

Für einen langen Moment schwieg sie. Eine Schweißperle rollte meinen Rücken hinab, und mir wurde immer mulmiger zumute, doch dann grinste sie, und ihre schiefen gelben Zähne glänzten im Feuerschein.

»Jawohl, ich bin immer noch unverändert. Was für eine Erleichterung.« Und sie lachte, aber es klang alles andere als beruhigend.

Mein Blut summte warnend.

Ich packte meine Utensilien zusammen und verstaute sie in der Ledertasche, um möglichst schnell zu verschwinden. Ich konnte nicht genau abschätzen, wie spät es war, da Mazarine die Vorhänge zugezogen hatte, doch ich spürte den Nachmittag bereits schwinden.

Ich musste nach Hause.

»Eine Magierin und eine Künstlerin«, sinnierte Mazarine und bewunderte dabei meine Zeichnung von ihr. »Eine Künstlerin und eine Magierin. Welches von beidem wünschst du sehnlicher zu sein? Oder vielleicht träumst du davon, die Deviah-Magie zu erlernen und beides zu kombinieren. Ich würde wirklich gern einmal eine magische Zeichnung von dir sehen, Clementine.«

Ich schulterte die Tasche und verharrte auf halbem Weg zwischen ihrem Stuhl und der doppelflügeligen Tür. Ich wollte nicht zugeben, dass sie recht hatte, aber sie besaß ein unheimliches Gespür dafür, in Leuten zu lesen. Außerdem hatte sie miterlebt, wie ich in dieser Stadt heranwuchs.

Seit ich acht Jahre alt war, hatte mich mein Vater in der Avertana-Magie unterrichtet, einer Abwehrmagie, die in Zweikämpfen und Duellen ihre Wirkung entfaltete. Wir waren oft Bannsprüchen ausgesetzt, die in böswilliger Absicht gewirkt wurden, was zu gefährlichen und unberechenbaren Situationen führte, wie in den Neumondnächten. Deshalb mochte ich Avertana zwar mehr, doch ich hatte auch angefangen, mich in die anderen beiden Magielehren, Metamara und Deviah, einzuarbeiten – vor allem in Deviah. Einen verzauberten Gegenstand zu erschaffen war ein keineswegs leichtes Unterfangen, und ich hatte von Magiern gelesen, die Jahrzehnte ihres Lebens darauf verwendet hatten, eine solche Leistung zu vollbringen.

Ich brauchte mehr Zeit. Mehr Zeit, um mein künstlerisches Geschick zu vertiefen, bevor ich versuchte, Magie hineinzuweben. Ich hatte mir das Zeichnen selbst beigebracht und mich schrittweise im Umgang mit Holzkohle geübt, da Kunstzubehör in dieser ländlich gelegenen Gemeinde schwer zu bekommen war. Dennoch war mir bewusst, dass es mir an Erfahrung mangelte und es noch viele andere Bereiche der Kunst gab, die darauf warteten, von mir entdeckt zu werden.

»Eines Tages vielleicht«, antwortete ich.

»Hmm«, war alles, was Mazarine sagte. Schließlich erhob sie sich mit einem leisen Ächzen von ihrem Stuhl, als ob ihre Knochen schmerzten. Ich vergaß immer wieder, wie groß gewachsen sie war, und wartete ab, als sie zur anderen Seite des Zimmers schritt, wo in einer verdunkelten Ecke ein Sekretär stand. Ich lauschte dem Öffnen der Schubladen, lauschte dem Klimpern der Münzen, die sie in ihrer Hand sammelte.

»Du behauptest, ich sei unverändert«, stellte sie fest und kam zu mir. »Und doch bist du es nicht, Clementine. Deine Fähigkeiten werden immer besser, sowohl in der Magie als auch in der Kunst.« Und sie streckte die Faust aus – Knöchel wie Hügel, Adern wie Flüsse unter ihrer papierdünnen Haut, Finger voller Münzen.

Ich drehte die Handfläche nach oben, und sie zahlte mir das Doppelte. Mehr als sie mir jemals zuvor gegeben hatte.

»Das ist sehr großzügig, Miss Thimble.«

»Dein Vater und seine Haushälterin, die sich um dich kümmert, können mich vielleicht nicht leiden. Aber du bist die Einzige in dieser Stadt, die mich nicht fürchtet. Und ich belohne solche Tapferkeit.«

Ich hielt ihrem Blick stand und hoffte, dass mein Argwohn nicht wie Eiskristalle in mir schimmerte.

»Ich begleite dich hinaus«, verkündete Mazarine und schwenkte den Arm. »Der Tag wird schnell alt, und du musst dich auf die Nacht vorbereiten.«

Aber sie rührte sich nicht, und ich spürte, dass ich ihr vorausgehen sollte. Ich begab mich zu den Flügeltüren, und sie blieb zwei Schritte hinter mir. Wir passierten einen Wandspiegel, der mir noch nie zuvor aufgefallen war. Sein Rahmen war golden und aufwendig mit Ranken und Eichenblättern verziert. Ich sah mein Spiegelbild – ein Mädchen mit einem Fleck Kohle am Kinn und dichtem kupferfarbenen Haar, das sich nicht durch einen Zopf bändigen ließ. Als ich zu den Türen spähte, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf das, was hinter mir lief.

Nicht Mazarine. Nicht die ältere Frau, die ich schon viele Male gezeichnet hatte.

Sie war etwas anderes, groß und breitschultrig, ihr Gesicht zerfurcht und schroff wie Felsen, mit einer langen, breiten Nase, die über einem schmalen, schiefen Mund schwebte. Ein paar Zähne ragten über ihre Lippen, die mit altem Blut befleckt zu sein schienen. Die Haut war blass und das Haar immer noch silbern, doch es war lang und struppig und mit Blättern, Stöcken und dornigen Ranken durchsetzt, als wäre sie dem Wald entstiegen. Zwei Hörner zierten ihren Kopf – sie waren klein, dafür aber spitz und knochenbleich.

Für einen flüchtigen Moment traf der Blick ihrer großen, dunklen und freudig funkelnden Augen den meinen im Spiegel, und mir war klar, dass ich gerade ihr wahres Wesen zu Gesicht bekommen hatte. Sie wusste es ebenfalls, und trotzdem reagierte ich nicht. Ich ermahnte mich, den Schritt nicht zu beschleunigen und nicht tiefer zu atmen. Blieb ruhig und gelassen. Ich kämpfte den Drang zu flüchten nieder und blieb vor den Türen stehen, um ihr Zeit zu geben, sie für mich zu öffnen.

»Du findest deinen Weg von hier aus?«, fragte sie.

Ich lächelte. Mein Gesicht fühlte sich taub an, und ich bildete mir ein, Grimassen zu ziehen. »Selbstverständlich.«

Sie erschien jetzt wieder wie die ältere Frau, die ich seit jeher kannte. Aber in ihren Augen … Eine Ahnung des wilden Wesens, das sie wirklich war, loderte dort auf wie Glut.

»Gut. Bis zum nächsten Mal, Clementine.«

Ich schlüpfte an ihr vorbei und stieg die gewundene Treppe hinunter, meine Stiefel klackten gemessenen Schritts über den Marmor, denn ich wusste, dass sie zuhörte.

Ihr Butler – ein alter, ruppiger Mann in der Livree eines längst verstorbenen Lords – saß schnarchend auf einem Stuhl neben der Eingangstür. Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschleichen, aber er schreckte hoch und fummelte an der Türklinke herum.

»Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, Miss Clem«, sagte er mit kratziger Stimme. »Und mögen Sie heute Nacht im Kampf bei Neumond siegreich sein.«

»Danke, Mr Wetherbee.« Und während seine gütig blickenden Augen von grauem Star gezeichnet waren – Augen, wie sie ein Großvater hätte –, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, wie er wohl in einem Spiegel aussah: ob er der alte menschliche Mann war, der er vorgab zu sein, oder ob er etwas gänzlich anderes war.

Ich schritt über die Schwelle und folgte den Stufen zum Kiesweg hinunter, der zur Straße führte. Sträucher in Dreiecksform wuchsen in perfekter Symmetrie, und als ich das Eisentor erreichte, wagte ich einen Blick zurück auf das Haus.

Es war ein prächtiges Herrenhaus, aus rotem Backstein erbaut und drei Stockwerke hoch, mit quadratischen Fenstern, die wie Zähne blitzten. Hier hatte die erste Magierin von Hereswith gewohnt, und später alle, die ihr nachfolgten. Dies war schon immer das Reich der städtischen Magiewirkenden gewesen, und man könnte meinen, dass die Magie noch immer in den Wänden nachhallte und in die Böden eingesickert war. Und doch hatte Mazarine laut dem Stadtarchiv hier viele Jahre lang gelebt, und sie war keine Magierin.

Sie war nicht einmal ein Mensch.

Und ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, ihr wahres Gesicht zu verbergen. Uns alle zum Narren zu halten.

Ich zögerte, als wäre es töricht, dem Herrenhaus den Rücken zu kehren. Aber schließlich drehte ich mich von dem Tor weg und machte mich zügig auf den Heimweg.

Hereswith war keine große Stadt. Mein Vater und ich konnten sie innerhalb einer Stunde zu Fuß komplett durchqueren. Sie wirkte sogar recht malerisch, blendete man den Fluch der angrenzenden Berge einmal aus. Die gemütlichen Cottages waren zweistöckig, aus Stein und Lehm gebaut und mit reetgedeckten Dächern gekrönt. An einige schmiegten sich kleine Gärten mit Efeu, der die Häuser zu verschlingen drohte; andere hatten bunt bemalte Eingangstüren und Sprossenfenster aus einer längst verblassten Epoche. Und dann war da noch Mazarines Herrenhaus, das mit seiner Stattlichkeit völlig fehl am Platz wirkte, aber der Stadt dennoch Charakter verlieh.

Für mich war Hereswith Heimat, ein geliebtes Zuhause, auch wenn es in den letzten Sommertagen zu verwelken schien. Am späten Nachmittag, wenn die Sonne unterging, erreichten uns die Schatten des Seren-Gebirges, und die Brise roch nach kaltem Gras, schwelendem Holz und feuchtem Stein. Wie alte Magie.

Ich wollte diesen Ort nie verlassen.

Doch mit jedem Schritt, den ich mich von Mazarines Grund und Boden entfernte, keimten meine Zweifel immer weiter auf. Hereswith mochte idyllisch und charmant daherkommen. Aber ich begann mich zu fragen, ob die Stadt nicht etwas hinter ihrer Fassade verbarg.

An diesem Tag lernte ich eine wichtige Lektion von Mazarine. Eine, deretwegen ich schwor, nie dem äußeren Anschein allein zu trauen.

2. KAPITEL

»Was ist Mazarine?«, fragte ich Imonie, kaum dass ich nach Hause kam. Sie hielt sich genau dort auf, wo ich sie vermutete – in der Küche, wo sie das Abendessen zubereitete. Mein Vater und ich aßen immer ordentlich in Neumondnächten, kurz bevor die Straßen zur tödlichen Gefahr wurden. Ohne Imonie wären wir nur noch zwei verschrumpelte Magier mit fadenscheiniger Kleidung und Wunden, die nie richtig heilten.

Sie stand an der Arbeitsplatte und schälte einen Berg Kartoffeln. Obwohl sie eigentlich zu jung dafür schien, war sie für mich wie eine Großmutter. Ihr Alter hatte sie nie offengelegt, aber ich schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie war groß und schlank und hatte silberne Strähnen in ihrem weizenfarbenen Haar. Wenn sie auch selten lächelte, so zierten doch ein paar Falten ihre Augenwinkel.

»Was meinst du?«, fragte Imonie, ganz in ihre Aufgabe vertieft. »Mazarine ist eine griesgrämige alte Frau.«

»Nein, das ist sie nicht.«

Es musste an meinem Tonfall gelegen haben.

Imonie unterbrach die Schälerei und sah mir in die Augen. »Hat sie dir gedroht, Clem?«

»Nein«, gab ich zurück, auch wenn es einen Moment gegeben hatte, in dem ich tatsächlich Angst vor ihr gehabt hatte. Als ihr Blick im Spiegel auf meinen traf.

»Ich sage dir schon seit Jahren, du sollst dich von ihr fernhalten.«

»Sie ist einsam und bezahlt mich gut. Außerdem versorgt sie mich mit Geschichten aus den Bergen.« Ich beobachtete Imonies Gesicht genau und bemerkte, wie sie die Stirn runzelte. Sie sehnte sich danach, in die Heimat ihrer Vorfahren im Seren-Gebirge zurückzukehren.

»Ich könnte dir die gleichen Geschichten erzählen«, meinte Imonie und schälte unerbittlich weiter.

»Warum tust du es dann nicht?«

»Weil sie mich mit Kummer erfüllen, Clem.«

Ich schwieg und verspürte einen leichten Anflug von Bedauern. Aber inmitten dieser Stille fiel mir die Geschichte aus den Bergen ein, die sie mir oft erzählt hatte, wenn ich sie als kleines Mädchen darum gebettelt hatte.

Das Reich von Azenor war nicht immer von lebendig gewordenen Albträumen heimgesucht gewesen, obwohl es nur schwer vorstellbar war, dass es eine solche Welt jemals gegeben hatte. Es war alles, was ich je gekannt hatte, aber Imonie hatte mir von der Legende erzählt, mit der alles begann: Einst hatten die Berge ein blühendes Herzogtum beheimatet. Magie selbst war in den Gipfeln geboren worden, dort, wo die Wolken die Erde berührten. Doch als der Herzog von Seren von seinen engsten Freunden ermordet wurde, zerbrach die Bergprovinz. Der Herzog war in Magie bewandert, und als er im Sterben lag, ließ er einen Fluch los. Für all diejenigen an seinem Hof, die von dem Verrat berührt worden waren, sollte es keinen Tod und keine Träume geben. Sie würden endlos leben und zusehen, wie jene, die sie liebten, ohne sie alt wurden und starben. Und ohne Träume … da würden ihre Herzen vertrocknen und spröde werden.

Man begreift nicht, wie mächtig ein Traum ist, in der schlafenden Welt ebenso wie in der wachen, bis er einem geraubt wird.

Der Herzog war bei Neumond gestorben, und das war der Zeitpunkt, an dem die Berge begannen, Albträume in die Wirklichkeit zu entlassen, in die beiden anderen Herzogtümer Azenors – in die Täler, Wälder und Wiesen von Bardyllis und Wyntrough.

Niemand konnte sich dem entziehen, und so hatten sich Magier erhoben, um der Gefahr zu begegnen, indem sie den Avertana-Zweig der Magie vervollkommneten und zu Hütern kompliziert abgesteckter Territorien wurden. Wie mein Vater.

Imonie stieß einen Seufzer aus, als ob sie genau wüsste, welche Geschichte mir gerade im Kopf herumspukte. Diese erschien mir allerdings passend für einen Neumondtag. Sie legte ihre Kartoffel und das Messer ab und lehnte sich an die Arbeitsplatte, um mich mit ernstem Blick zu mustern.

»Ich kann sie von der Straße aus riechen, wenn ich an dem hässlichen Herrenhaus vorbeikomme«, sagte sie. »Es riecht nach Moos und Stein und kalten Winternächten.«

Ich wartete darauf, dass Imonie fortfuhr, begierig, die Wahrheit zu erfahren. Ich wollte wissen, wen ich schon seit Monaten immer wieder gezeichnet hatte.

Aber dann grinste Imonie und fragte: »Was glaubst du, was Mazarine ist, Clem?«

»Ich glaube, sie ist ein Troll aus den Bergen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht, obwohl ich ihr noch nicht nahe genug gekommen bin, um es zu überprüfen.«

»Ist sie verflucht?«

»Verflucht? Sie hat sich ihre Verkleidung gewiss selbst ausgesucht und möchte so wahrgenommen werden. Denn obwohl Hereswith Leute wie mich aus dem Bergherzogtum herzlich willkommen geheißen hat … meinst du, die Sterblichen hier wären erfreut, dass ein Troll unter euch weilt?«

»Die meisten würden sich vor ihr fürchten«, gestand ich. »Auch wenn die Leute das anscheinend schon tun.«

»Und vielleicht kommt ihr die Angst gerade recht«, erwiderte Imonie. »Sie reicht aus, um die Leute mit ihrem Argwohn fernzuhalten. So kann sie hier friedlich leben.« Dann sah sie mich mit schmalen Augen an. »Und woher kennst du ihr wahres Wesen?«

»Ich habe ihr Spiegelbild gesehen«, antwortete ich und dachte wieder daran, wie sie zwei Schritte hinter mir mit blutverschmierten Zähnen und grimmigen, dunklen Augen gekauert hatte. Hätte sie mir etwas angetan? Das wollte ich jedenfalls nicht glauben.

Ich dachte über einen Spruch nach, mit dem ich mich schützen und meine Sinne schärfen konnte, wenn ich mich in ihrer Gegenwart aufhielt.

»Das war also ein törichter Ausrutscher von ihr«, meinte Imonie.

»Ich vermute, dass sie es geplant hat«, erwiderte ich und zeichnete den Schwung meiner Lippen nach. »Sie wollte, dass ich sehe, wer sie wirklich ist.«

»Warum?«

Ich stellte fest, dass noch immer Kohle an meinen Fingerspitzen klebte und ich mir wohl gerade einen Schnurrbart ins Gesicht geschmiert hatte. Ich legte die Hand auf den Riemen meiner Tasche.

»Sie will anscheinend, dass ich ihr wahres Ich zeichne.«

»Natürlich will sie das!«, brummte Imonie und widmete sich wieder ihrer Aufgabe. »Trolle sind unerträglich eitel.«

»Brennt da etwas an?«, fragte ich und schnupperte in die Luft.

Imonie versteifte sich und eilte dann zum Ofen. Eine dünne Rauchfahne stieg auf, als sie die Backofentür aufriss. »Wegen dir sind mir die Galettes verbrannt!«

»Die sehen doch gut aus«, beruhigte ich sie, während sie sich einen Handschuh schnappte und sie aus dem Ofen holte.

»Clementine?«, rief mein Vater aus der oberen Etage.

Sowohl Imonie als auch ich erstarrten. Und als sie mich ansah, erkannte ich die Sorge in ihrem Blick.

»Ist er immer noch krank?«, flüsterte ich.

»Sein Fieber ist noch nicht gesunken«, sagte Imonie. »Am besten gehst du hoch und schaust, was er braucht. Hier, bring ihm diese Tasse Tee. Sieh zu, dass er sie auch trinkt.«

Sie nahm den Wasserkessel vom Herd und schenkte eine Tasse mit einem Gebräu ein, bei dessen stechendem Gestank ich die Nase kraus zog. Aber ich ergriff sie, wie sie es angeordnet hatte, und verbrannte mir fast die Hand am Becher.

Mir fiel erst etwas auf, als ich auf dem Weg zur Treppe war. Ich stellte meine Kunsttasche ab und warf einen Blick auf den Tisch, auf dem nur ein Platz mit feinem Porzellan gedeckt war. Mein Platz. Imonie hatte keinen Teller beim Stuhl meines Vaters aufgestellt, was bedeutete, sie glaubte, er sei zu krank, um dem Neumond ins Auge zu sehen.

Und ich hatte noch nie eine Neumondnacht auf mich allein gestellt verbringen müssen. Wir waren immer zusammen auf der Straße und kämpften Seite an Seite.

Bestürzt stieg ich die Treppe hinauf und betrat sein Schlafzimmer.

Mein Vater saß aufrecht in seinem Bett gegen das Kopfteil gelehnt und wartete auf mich. Jedes Jahr schien es ihm um diese Zeit schlecht zu gehen. Wenn der Sommer dem Herbst Platz machte, wurde mein Vater unweigerlich von Fieber und Husten befallen, was er auf die letzte Blüte eines rachsüchtigen Wiesenkrauts aus dem Tal schob. Und obwohl er sich stets innerhalb weniger Tage erholte, wusste ich immer noch nicht, was ich mit ihm anstellen sollte, wenn es ihm so schlecht ging.

»Papa?« Ich versuchte, ihm die Teetasse zu reichen, aber er bedeutete mir, sie auf den Nachttisch zu stellen. »Brauchst du etwas?«

»Ich habe heute Morgen Kunde von einem Albtraum erhalten«, sagte er.

»Von wem?«

»Spruce Fieldings jüngste Tochter.«

»Elle?«

»Genau die. Sie hatte letzte Nacht einen Albtraum. Spruce zufolge hat der Traum sie so sehr erschreckt, dass sie heute noch kein Wort gesprochen hat.«

Ich verzog den Mund. Diese Nachricht brach mir das Herz. Die Albträume der Kinder waren immer die schlimmsten. Es waren diese Aufzeichnungen, die mich nachts wach hielten, wenn ich sie las. Es waren diese Träume, die ich fürchtete, wenn ich sie in Neumondnächten durch die Straßen schleichen sah.

»Und du willst, dass ich hingehe und ihn aufzeichne«, vermutete ich, und ein leiser Schauer durchlief mich. Ich hatte noch nie selbst einen Albtraum freigelegt oder ihn in dem Buch meines Vaters aufgezeichnet. Ich begleitete ihn die meiste Zeit, beobachtete und las anschließend seine Aufzeichnungen, um mich auf den Neumond vorzubereiten. Aber nie allein.

»Genau, Clem«, sagte Papa, und ich konnte nicht einschätzen, ob er stolz oder beunruhigt war. »Benutze den Freilegungsspruch nur, wenn es unbedingt sein muss. Und wenn es sein muss, dann halte dich bitte Wort für Wort an meinen Spruch.«

Ich nickte und spürte seinen Blick, als ich mich in seinem unordentlichen Schlafzimmer umsah und Vorräte für die Visitation zusammenstellte.

»Das mache ich, Papa.« Ich öffnete seinen Schrank, in dem ein Haufen winziger blauer Fläschchen im Licht funkelte. Heilmischungen. Ich wählte zwei aus, das verkorkte Glas war so lang wie mein kleiner Finger. Das dunkle Gebräu schwappte darin, während ich zögerte, es mir dann doch anders überlegte und drei weitere Fläschchen schnappte, die ich in die tiefe Tasche meines mit Kohle beschmierten Rocks steckte.

»Bei der Freilegung«, fuhr mein Vater in einem Tonfall fort, als würde er gleich eine Vorlesung halten. Innerlich wappnete ich mich. »Besonders, wenn man … oh, wie soll ich sagen, mit bedenklicher Absicht handelt, kann man eine Tür öffnen, von der man möglicherweise nicht weiß, wie man sie wieder schließt.«

Wie um seine Aussage zu unterstreichen, schloss ich die Schranktür mit mehr Nachdruck als nötig. Ich konnte die Phiolen protestierend klimpern hören und begegnete Papas Blick, schluckte eine ungeduldige Antwort hinunter. Manchmal benahm er sich, als hätte ich nicht die leiseste Ahnung, wie man einen Zauber wirkte oder einen Albtraum freilegte. Und diese Lektion hatte ich unzählige Male von ihm gehört, noch bevor Magie auch nur an meinen Fingerspitzen geknistert hatte.

»Ich habe seit Monaten nichts Bedenkliches mehr gemacht, Papa.«

Und mit etwas Bedenklichem meinte ich etwas Spontanes, wenn Magie unvermittelt zu mir kam. Jene Art von Magie, vor der er Angst hatte. Deshalb erforschte er die Albträume so eifrig, damit er mögliche Spruchformeln vorbereiten konnte. Sein Gedächtnis war ungeheuer umfangreich und unerschöpflich, und obwohl ich ihn dafür bewunderte … entsprang meine stärkste Magie der Intuition.

Ich spürte, wie er mich beobachtete, während meine Gedanken sich überschlugen. Er war ernst und Respekt einflößend, selbst wenn er vom Fieber schweißgebadet das Bett hüten musste. Ich sah ihm ähnlicher als meiner Mutter. Mein Vater und ich waren beide hoch gewachsen und gertenschlank, mit einem kantigen Kiefer, großen braunen Augen und kräftigem rotbraunen Haar, das im Licht kupferfarben glänzte. Ein Fremder hätte uns schon von Weitem als Verwandte ausmachen können. Aber damit endeten unsere Gemeinsamkeiten auch schon. Unsere Seelen waren zwei verschiedene Richtungen auf einem Kompass; die Absicht hinter unserer Magie floss in entgegengesetzte Richtungen. Er war vorsichtig, zurückhaltend. Traditionell. Und ich war es nicht.

Ich wusste, was er in mir sah. Ich war jung und leichtsinnig. Seine einzige Tochter, die die wildere, natürliche Magielehre bevorzugte. Manchmal erschreckten ihn meine Ideen und Sprüche, obwohl er so etwas nie laut äußern würde. Denn ohne mich würde Papa niemals ein Risiko eingehen.

»Pack alles ein, was du für die Freilegung brauchst«, sagte er.

Erleichtert, dass er mir etwas zutraute, ging ich zu seinem Schreibtisch. Eine detaillierte Karte von Hereswith lag ausgebreitet auf dem Holz, Flusssteine hielten die vier Ecken fest. Es war eine Karte, deren krumme, verwinkelte Straßen ich auswendig kannte. Über dem Schreibtisch säumten Regale die Wand, beladen mit ledergebundenen Zauberbüchern, Papierstapeln, Gläsern, die mit gemahlenen Blumen und Salzkristallen und Schwanenfedern gefüllt waren. Dazu kamen verzierte Tintenfässer, gusseiserne Löffel mit in die Griffe eingelassenen Edelsteinen, ineinander gebettete Silberschalen und ein eingetopfter Farn, dessen welkende Blätter wie unerwiderte Liebe entkräftet herabhingen.

Ich suchte alles zusammen, was ich brauchte: eine Schale, die wie der Vollmond leuchtete, rosa Salz, getrocknete Gardenien, einen Löffel mit einem Smaragdsplitter, einen Krug voller Wasser, einen Schwanenfederkiel, ein silbernes Tintenfass, das wie ein Oktopus geformt war und in dessen Tentakeln sich ein Fläschchen mit Walnusstinte befand. Ich verzauberte sie alle mit einem Schrumpfbann – einem Spruch, den mir meine Mutter beigebracht hatte –, bis die Sachen in meiner Handfläche Platz fanden, und steckte sie in meine Tasche, wo auch die Heilmischungen warteten. Die Gegenstände klimperten wie Musiknoten, als sie aufeinandertrafen, schwerelos wie Luft.

Mein Vater schnaubte missbilligend. Natürlich war er kein Freund jeglicher Metamara-Magie, die Objekte verwandelte und beeinflusste.

»Warum packst du nicht einfach einen Rucksack?« Er deutete auf seinen abgenutzten Lederranzen, der neben seinem Schreibtischstuhl auf dem Boden stand wie ein trauriger Hund, der auf einen Spaziergang wartete.

»Meine Taschen reichen völlig aus.« Mein Lederbeutel war nur für meine Malutensilien gedacht, und ich wollte noch nicht, dass sie mit verzauberten Gegenständen vermischt wurden. »Also dann. Wo ist das Buch?«

»Du wirst das Buch keinesfalls mit Magie belegen, damit es in deine Tasche passt, Clementine.«

»Na gut. Ich trage es in meinen Armen, wie eine gute Avertana.«

Papa war nicht sonderlich amüsiert. Aber er gab nach, als er den starken Sog des Nachmittags spürte, die Neigung des Sonnenlichts, das sich über den Boden zu bewegen begann. Ich würde nicht viel Zeit haben, um den Albtraum zu holen. Also brachte er mit seiner Erzählerstimme einen Spruch vor, glatt und poliert wie geschliffene Eiche. Und das Buch der Albträume materialisierte sich. Es hatte auf der Karte von Hereswith mitten auf dem Schreibtisch meines Vaters gelegen, unsichtbar gezaubert.

Clever, dachte ich. All die Jahre hatte ich geglaubt, mein Vater hätte das wertvolle Buch einfach in einer geheimen Nische verborgen.

Ich nahm es ehrfürchtig entgegen, überrascht, wie schwer es war. Sieben Magier hatten detaillierte Traumaufzeichnungen geführt, bevor Papa nach Hereswith gekommen war, und ich hatte immer gehofft, die neunte Magierin zu werden, sobald mein Vater in Rente ging. Aber ich spürte das Gewicht dieser mit Tinte geschriebenen Träume von Menschen, die inzwischen tot und begraben waren. Ich spürte sie, als hätte ich einen Mühlstein ergriffen.

Ich begegnete Papas Blick, und er sah mein Erstaunen. Mir war es bis dahin nicht bewusst gewesen. Die Last, die er als Magier der Stadt trug. Und plötzlich … hatte ich keine Ahnung mehr, ob ich stark genug war, sie zu schultern.

»Komm her, Tochter«, flüsterte er.

Ich durchquerte das Zimmer, das Buch schwer in meinen Armen, und setzte mich auf die Bettkante. Ich spürte die fiebrige Hitze, die in Wellen von ihm ausging, und das bereitete mir Sorgen.

»Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß«, sagte er. »Du wirst gut damit zurechtkommen, diesen Traum aufzuzeichnen, solange du dich an die Regeln und die vorgegebenen Sprüche hältst.« Er unterbrach sich und musterte mich mit verengten Augen. »Weißt du, es ist nicht schlecht, ab und zu Angst zu haben. Die Angst erinnert dich an deine Grenzen, daran, welche Linien du nicht überschreiten solltest. An die Türen, die man nicht öffnen sollte.«

»Hmm.«

»Und was soll dieses Geräusch bedeuten?«

Ich lächelte. Die Grübchen hatte ich meiner Mutter stibitzt, und ich wusste, dass mein Vater bei diesem Anblick weich wurde. »Es bedeutet, dass ich dich höre, Papa.«

»Du hörst es, aber gehorchst nicht?«, konterte er, aber er meinte es als Neckerei. »Wie dem auch sei, es wird Zeit, dass du selbst eine Visitation durchführst. Geh zu den Fieldings, und komm dann auf direktem Weg nach Hause. Wenn du nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück bist, werde ich dich suchen kommen. Und das wollen wir beide nicht.«

»Ich werde rechtzeitig zurück sein«, erwiderte ich und stand vom Bett auf. »Und wenn du dich bis zum Einbruch der Nacht nicht besser fühlst, dann kann ich …«

»Mir wird es bestens gehen, sobald der Neumond am Himmel steht«, knurrte Papa. »Sag Imonie, sie soll mir einen Platz am Abendbrottisch herrichten. Wir essen, bevor wir losziehen, wie wir es immer tun.«

Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten, keinen Sinn, ihm zu sagen, dass er eher eine Last sein könnte, dass sein Fieber ihn und seine Verzauberungen schwach und zerbrechlich machen würde.

»Trink deinen Tee«, ermahnte ich ihn und schlüpfte aus seinem Zimmer.

Ich stieg die gewundene Treppe des Cottage hinunter und erschreckte dabei Dwindle, meine alte dreifarbige Glückskatze.

»Habe ich richtig gehört, dass dein Vater gesagt hat, ich solle seinen Platz eindecken?«, fragte Imonie, die mir den Rücken zuwandte, während sie Fleisch in der Pfanne brutzelte.

Ich vergaß oft, wie scharf ihr Gehör war. Sie konnte durch Wände hindurchhorchen, so schien es.

»Das hast du, und ich glaube nicht, dass er vernünftigen Argumenten folgen wird.« Ich blieb an der Arbeitsplatte stehen, wo das Blech mit den fast verbrannten Kirschgalettes abkühlte. »Und du solltest übrigens nicht so viel lauschen. Eines Tages wirst du noch Dinge zu Ohren bekommen, von denen du wünschst, du hättest sie nicht gehört.«

»Das werden wir ja sehen«, antwortete Imonie mit einem Schnauben und schien damit auf beide Probleme – die Sturheit meines Vaters und ihr scharfes Gehör – zu antworten. Sie blickte zu mir auf, und ein seltenes Lächeln erwärmte ihr ernstes Gesicht. »Hilfst du mir jetzt, das Wild zu braten, oder kümmerst du dich um diesen Albtraum?«

»Uff, ich mache mich natürlich auf den Weg.« Ich stieß mich von der Arbeitsplatte ab und schnappte mir zwei Kirschgalettes.

»Clementine!«, rief Imonie, aber sie war nicht überrascht, als ich mir grinsend eine der Süßigkeiten in den Mund schob und aus der Haustür stürmte.

Ich blieb lange genug beim verwelkenden Jasmin am Eingangstor stehen, um das restliche Gebäck in meiner Tasche zu verstauen und nach oben zu schauen, wo sich die Wolken wie Rippen über den Himmel zogen und ein brennendes Herz aus Sonne freigaben.

Was für ein seltsamer Tag.

Ich warf einen Blick auf das Buch der Albträume in meinen Armen. Es war ein dicker Wälzer, der eine eisenbeschlagene Tür aufhalten konnte. Ich hatte nur Abschnitte daraus gelesen, und bei einigen Berichten musste ich über ihre Absurdität lachen, während ich bei anderen tatsächlich einschlief, um Stunden später mit der Wange gegen die karamellfarbenen Seiten gedrückt aufzuwachen. Aber es gab auch Aufzeichnungen, die mich erschaudern ließen: von den Bergen beeinflusste Träume, die eine solche Angst in mir entfacht hatten, dass ich nach der Lektüre eine Woche lang nicht mehr geschlafen hatte, obwohl keiner dieser Albträume zu mir gehörte.

Nein, ich erforschte die Albträume. Ich begegnete ihnen bei jedem Neumond in den Straßen von Hereswith, wenn die Magie ungehindert aus der Bergfestung quoll und die Träume dazu verflucht waren, sich zu materialisieren. Aber ich hatte keine Ahnung, wie es war, einen Albtraum zu durchleben. Wie es sich anfühlte, verängstigt von etwas aufzuwachen, das erschreckend echt wirkte.

Als Magierin hatte ich beschlossen, nie zu träumen.

3. KAPITEL

Ich ging durch die Stadt und trug das Buch der Albträume wie ein Kind auf der Hüfte, lächelte und winkte den Leuten zu, an denen ich vorbeikam. Alle kannte ich gut, sowohl vom Namen als auch von den Träumen her. Ich beeilte mich, als ich den Marktplatz erreichte, das Herz von Hereswith, wo Klatsch und Geschäftigkeit pulsierten. Ich hatte keine Zeit, mich von beidem verleiten zu lassen, und so folgte ich der östlichen Straße zum unteren Rand der Stadt. Dort standen die Cottages immer weiter voneinander entfernt und verschmolzen zu grünen Bauernhöfen, die von niedrigen Steinmauern begrenzt waren.

Ich roch die Schafe der Fieldings, noch bevor ich deren Tor erreichte. Ein schwarz-weißer Collie bellte, als ich mich der Haustür näherte, die einen Spalt offen stand. Ich hielt auf der Schwelle inne, denn ich hörte einen leisen Streit irgendwo in dem Cottage.

»Wir können uns das nicht leisten, Jane. Unsere Töchter brauchen Brot dringender als traumlosen Schlaf.«

»Sieh sie dir an, Spruce. Willst du denn gar nichts unternehmen? Sie spricht nicht einmal mehr!«

»Die Mädchen haben sich das selbst zuzuschreiben. Ich habe es immer wieder gesagt, und diese Karten müssen …«

»Das waren die Karten meines Großvaters!«

Spruce seufzte. »Ich habe den Magier gerufen. Wenn du nicht willst, dass die Karten verbrannt werden … Was willst du noch von mir, Frau?«

Spruce Fieldings Tonfall gefiel mir nicht. Ich klopfte an die Tür, und sie schwang knarrend weiter auf, sodass der Hauptraum des Cottages in Sicht geriet. Jane Fielding, eine Frau mit dünnem blondem Haar, in dem sich graue Strähnen abzeichneten, saß auf einer abgenutzten Couch und wiegte ein Bündel Decken – das wahrscheinlich ihre jüngste Tochter war – auf dem Schoß. Spruce, ein rotgesichtiger Mann mit einem dichten braunen Bart, der so groß war, dass er sich bücken musste, um nicht an die Holzbalken zu stoßen, wanderte auf und ab, bis er mich bemerkte.

»Miss Clem!«, rief er überrascht, als er auf mich zukam, um mich zu begrüßen. »Danke, dass du gekommen bist. Wir haben aber eigentlich Ihren …«

»… Vater erwartet«, ergänzte ich. »Ja, ich weiß. Nur liegt er im Bett und ringt mit Fieber. Ich bin an seiner Stelle gekommen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Spruce, nahm seine Kappe ab und drehte sie in den Händen.

»Tut es Ihnen leid, dass ich hier bin oder dass mein Vater krank ist?«, scherzte ich, in der Hoffnung, die Stimmung aufzuhellen und das Entsetzen der Fieldings über die Erkenntnis zu mildern, dass ich und nicht mein hochgeschätzter Vater gekommen war, um den Albtraum freizulegen.

Spruce war sprachlos. Manchmal wussten die Männer von Hereswith nicht, wie sie mit meinem Humor umgehen sollten.

Ich trat in den Raum, und meine Augen gewöhnten sich allmählich an das schummrige Umgebungslicht.

Alle fünf Töchter der Fieldings waren anwesend. Zwei waren auf dem Speicher und schauten auf mich herab wie aufgescheuchte Vögel, die anderen drei befanden sich auf diesem Stockwerk. Die älteste schnippelte in der Küche Karotten, die zweitälteste versuchte am Kamin, aus Stoffresten einen Quilt zu nähen, und die jüngste, deren Traum ich einsammeln sollte, lag tatsächlich in den Armen ihrer Mutter. Zu meinem Leidwesen begannen die Namen der Mädchen alle mit einem E. Ich konnte sie nie richtig zuordnen – Enya, Esther, Elizabeth, Edith –, bis auf die kleine Elle, deren Name ein Palindrom darstellte – etwas, das ich schon immer selbst gewollt hatte.

Elle, die etwa sieben Jahre alt und viel zu dünn und klein für ihr Alter war, blinzelte mich über den Rand ihrer Decke hinweg an.

»Hallo, Elle«, begrüßte ich sie. »Darf ich mich neben dich setzen?«

Das kleine Mädchen nickte knapp, und ich nahm neben ihm und seiner Mutter auf dem ausgebeulten Sofa Platz, während ich das Buch der Albträume auf meinen Oberschenkeln ablegte. Es widerstrebte mir, ein Publikum zu haben, wie beide Eltern mich mit großen, misstrauischen Augen beobachteten und wie die Schwestern zu Statuen erstarrten und jede meiner Bewegungen aufmerksam verfolgten. Sogar der Collie, der sich ins Haus geschlichen hatte, saß auf einem sonnigen Plätzchen und hatte ein blaues und ein braunes Auge auf mich gerichtet.

Aber noch mehr als das widerstrebte es mir, auf Bühnenkunst zurückzugreifen. Die Art von Magie, in der meine Mutter brilliert hatte. Die Kunst der verwunschenen Darbietung, die bei den Zuschauern Emotionen hervorrief, sei es Entsetzen, Freude oder Verwunderung.

Aber wenn es je einen Moment dafür gegeben hatte, dann war jetzt der richtige. Ich konnte spüren, wie sie nach mir rief, als die Spannung und die Sorge den Raum zu überwältigen drohten. Und ich war dankbar für diese ersten Jahre und für meine ältesten Erinnerungen. Erinnerungen, die ich nicht zu oft wachrufen wollte, aus Angst, sie würden mich zerbrechen. Aus einer lang vergangenen Zeit, als meine Eltern noch zusammen in der Stadt gewohnt hatten. All die Abende, an denen ich auf dem Schoß meines Vaters im Theater gesessen und Mama beim Wirken ihrer Magie auf der Bühne zugesehen hatte.

»Ich habe etwas für dich, Elle.«

Das kleine Mädchen sagte nichts, sondern sah mich nur mit großen, ängstlichen Augen an.

Ich hielt die Handflächen nach oben, um zu versichern, dass sie leer waren, und legte dann eine auf die andere. Leise beschwor ich die Kirschgalette aus meiner Tasche und enthüllte schließlich das Gebäck in meiner Hand.

Jane Fielding schnappte entzückt nach Luft – die Bühnenkunst hatte durchaus ihre Vorzüge – und zog auch ihre jüngste Tochter in den Bann. Die Decke rutschte ein Stück nach unten, dann noch ein bisschen tiefer, bis Elles Arme frei waren. Sie lächelte und nahm die Galette entgegen. Mit einem Mal wünschte ich mir, ich hätte mehr mitgebracht, um die Sehnsucht in den Blicken der vier älteren Mädchen zu lindern.

Die Stille war unangenehm, nachdem Elle begann, die Süßigkeit zu verputzen. Ich beschloss, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um mich auf die Freilegung vorzubereiten.

»Mr Fielding? Würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Ihrer Küchenstühle hierherzubringen? Ich brauche ihn als Behelfstisch.«

Eilig kam er dem Wunsch nach und scheuchte seine Tochter Elizabeth, die am Kamin genäht hatte, aus dem Weg.

Elizabeth legte ihren ausgebreiteten Quilt beiseite und stellte sich neben mich. In diesem Moment bemerkte ich eine der Karten auf dem Boden, die beinahe unter einem Viereck aus Stoff verborgen war. Die Zeichnung fing das Licht ein, obwohl die Karte selbst ramponiert und zerknittert war. Ich betrachtete sie unauffällig, denn ich konnte mein Interesse als Künstlerin nicht zügeln.

Das Bild zeigte einen schlanken Mann mit langen weißen Haaren, der in ein buntes, reich verziertes Gewand gekleidet war. Auf seinem Kopf thronte ein Zylinder, der einen Schatten auf sein Gesicht warf. Nur sein schiefes Lächeln und die Augen, die wie zwei Smaragde funkelten, waren zu erkennen. Sein Titel stand in handgeschriebenen Buchstaben unter seinen Füßen. Der Meister der Münzen.

Ich wollte nach der Karte greifen. Ich wollte sie in die Hand nehmen und die Illustration studieren, um von dem zu lernen, der sie vor einer langen Weile gemalt hatte. Eine Geschichte, eingefroren in der Zeit, festgehalten auf Papier.

Und dann erinnerte ich mich daran, wer ich war. Ich war als Magierin zu Besuch, nicht als sentimentale Künstlerin. Aber jetzt verstand ich das Gespräch, das ich auf der Türschwelle mit angehört hatte. Die Fielding-Mädchen hatten wohl eine Runde Sieben Geister gespielt, und die kleine Elle musste verloren haben, da sie eine der sieben illustrierten Karten auf der Hand hatte. Obwohl ich dieses Spiel nie gespielt hatte, weil mein Vater und Imonie es missbilligten und verboten hatten, wusste ich, dass in den Regeln enorme Magie steckte. Wenn man mit einem der sieben Geister verlor, erlebte man im nächsten Schlaf einen Albtraum.

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit von der Karte weg und bereitete mich auf die Freilegung vor. Ich beschwor die verkleinerten Gegenstände aus meiner Tasche und murmelte den Umkehrspruch. Ohne Umschweife wuchsen sie wieder auf ihre normale Größe: die silberne Schale, die ich mit Wasser aus meinem Krug füllte, die Gläser mit Salz und Gardenien, das Oktopus-Tintenfass samt Federkiel und der eiserne Löffel mit dem Smaragdsplitter.

»Mussten Sie zur Schule gehen, um zu lernen, wie man Magie wirkt, Miss Clem?«, erkundigte sich Elizabeth.

»Nein. Mein Vater hat mir das meiste beigebracht, was ich weiß«, antwortete ich. »Meine Mutter hat mir außerdem ein paar Sprüche gezeigt.«

Elle hatte endlich ihre Galette verschlungen. Ich ließ mir Zeit, das Buch der Albträume aufzuschlagen, und blätterte durch die brüchigen Seiten, bis ich den letzten Eintrag fand, den Papa vor vier Tagen verfasst hatte. Einer von Lucy Norrins Albträumen, die ich auf dem weiten Spektrum der Träume oft eher als albern empfand.

»Willst du mir von deinem Traum erzählen, Elle?«, fragte ich.

Mit wippenden Locken schüttelte Elle den Kopf.

»Sie hat heute noch kein einziges Wort gesprochen«, erklärte Spruce, ohne uns von der Seite zu weichen. »Ich habe versucht, sie zu überreden, uns den Traum zu beschreiben. Aber es war dieses Spiel … dieses verdammte Spiel!« Und er zeigte nach oben, zu den beiden Töchtern auf dem Speicher. »Ihr hättet es besser wissen müssen, als eure kleine Schwester mitmachen zu lassen.«

»Mr Fielding«, sagte ich kalt und lenkte seine Aufmerksamkeit auf mich. »Es ist sehr wichtig, dass die Träumende ruhig ist, wenn ich eine Freilegung vornehme. Wenn Sie nicht leise sein können, muss ich Sie bitten, nach draußen zu gehen.«

Er war wie vom Donner gerührt, dass ich so mit ihm gesprochen hatte, doch er schluckte seine Erwiderung hinunter und schwieg.

Ich lächelte Elle an. »Dann muss ich einen Spruch wirken, damit ich deinen Traum sehen kann. Ist das in Ordnung, Elle?«

Elle klammerte sich ängstlich an ihre Mutter.

»Du musst ihn nicht mehr anschauen, Elle. Nur ich kann ihn sehen. Okay?«

Das Kind vergrub das Gesicht an Janes Brust, und Jane seufzte. »Bitte tun Sie das, Miss Clem. Ich weiß, dass der Abend naht und wir Sie nicht mehr lange hier aufhalten dürfen.«

Aber ich wartete ab, bis Elle mich wieder anblickte, jetzt eher neugierig als ängstlich.

Ich schüttete ein paar Salzkristalle in meine Hand. Dann nahm ich einige getrocknete Gardenienblütenblätter in die andere und streckte Elle beide Handflächen entgegen.

»Was gefällt dir besser?«, fragte ich und ließ die gegensätzlichen Düfte emporsteigen.

Elle begutachtete beide, deutete aber auf das Salz mit dem sauberen Regenschauerduft.

Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack, dachte ich, als ich die Kristalle in die Schüssel mit Wasser fallen ließ und die Blumen in ihr Gefäß zurückkippte. Ich nahm den Löffel und summte den Freilegespruch meines Vaters, dabei rührte ich das Wasser um, bis sich das Salz aufgelöst hatte und der Smaragd am Stiel einen fahlen grünen Schimmer auf die Flüssigkeit warf.

Der Albtraum hielt sich immer noch im Cottage auf.

Sobald ich die Tür zum Traum erspähte, die in der Mitte des Raumes in Schatten geätzt war, erstarrte die Familie Fielding, als ob ich die Zeit eingefroren hätte. Ich wusste, dass sie von ihrem Standpunkt aus das Gegenstück erlebten; sie warteten mit angehaltenem Atem und beobachteten eine entrückte Version meiner selbst mit glasigen Augen, während ich im Inneren die verborgene Schwelle zum Traum aufspürte.

Ich konzentrierte mich auf die Tür, stand auf und öffnete sie.

Und trat in Elles Traum ein.

Elle ist auf dem Marktplatz von Hereswith, begleitet von zwei ihrer Schwestern und ihrem Vater. Alles fühlt sich normal an, aber das Licht ist gräulich, und die Beklemmung wogt an den Rändern des Traums wie das Dröhnen einer weit entfernten Trommel. Die Berge sind dunkle Schatten in der Ferne, doch an ihren Hängen brennen Feuer, die die Festung in den Wolken markieren. Und dann bricht die Nacht an, plötzlich und widersinnig, und die Menschenmenge auf dem Marktplatz verschwindet innerhalb eines Wimpernschlags. Elle ist allein, auf der Suche nach ihrem Vater, ihren Schwestern. Ein kalter Wind aus den Bergen rüttelt an den Ladenschildern und wirbelt lose Papiere auf die Straße, während Elle von Tür zu Tür rennt, klopft und darum bettelt, eingelassen zu werden. Sie sind alle verschlossen, die Fenster verdunkelt und verriegelt. Und dann ertönt ein anderes Geräusch. Eines, das Elle vor lauter Angst das Herz durchbohrt.

Schwere Schritte. Sie treffen langsam und gleichmäßig auf dem Kopfsteinpflaster auf wie zu einer seltsamen Melodie.

Sofort überschlagen sich Elles Gedanken.

Versteck dich, versteck dich. Was auch immer es ist, lass es dich nicht finden. Versteck dich …

Sie rennt durch die Straßen, aber es gibt kein sicheres Versteck, und die schweren Schritte folgen ihr beharrlich. Sie werden lauter und verringern den Abstand zwischen ihnen – Elle wimmert, als sie zurück auf den Marktplatz stolpert. Sie krabbelt auf einen Karren zu und verkriecht sich weinend unter der Ladefläche, aber sosehr sie auch versucht, nach ihrem Vater zu schreien, kein Ton dringt aus ihrem Mund.

Endlich erblickt sie die Gestalt, die sie jagt und deren Schritte diese seltsame Musik erzeugen.

Ein Ritter kommt so zielstrebig auf sie zu, als wüsste er genau, wo sie sich versteckt. Sie sieht ihn von den Knien abwärts, wie er sich dem Karren mit gemessenen, schweren Schritten nähert. Seine bewehrten Beine und Füße schimmern silbern in der Dunkelheit.

Panzerstahl, ganz rostig vom Blut.

Er zieht ein Schwert aus der Scheide, aber er lässt die Spitze über das Kopfsteinpflaster schleifen, als wolle er hören, wie der gehärtete Stahl auf dem Felsen kreischend Funken schlägt.

Er kommt direkt vor dem Karren zum Stehen. Elle zittert, starrt auf seine Stahlstiefel, auf die Schneide seines Schwertes.

Und dann hört sie das Knirschen seiner Rüstung, als er sich bückt, hinhockt und nach ihr greift …

Ich schreckte hoch.

Der Traum war zerbrochen und schleuderte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich holte tief Luft.

Ich saß im Cottage der Fieldings. Der Nachmittag war warm, das Licht golden, während die Familie mich anstarrte, und doch spürte ich die Kälte von Elles Albtraum. Ich konnte immer noch das Echo der merkwürdigen, metallisch nachhallenden Schritte hören, die ihr gefolgt waren. Den Klang des Schwertes, das über die Steine schleifte.

Wer war er?, fragte ich mich und warf einen Blick zu Elle.

Aber ich konnte das Mädchen nicht fragen. Nicht jetzt, da der Traum wie Rauchschwaden in der Luft lag und uns beide vor Angst erstickte.

Ich nahm Feder und Tinte und zeichnete den Albtraum zügig in dem Buch auf. Meine Hand zitterte, meine Schrift war schief und voller Kleckse. Zweifellos würde Papa das später bemerken, wenn er es las und mich fragte, warum mich dieser Albtraum so sehr beschäftigte.

»Und?« Spruce Fielding stupste mich an, als ich die Aufzeichnung beendet und den Folianten zugeklappt hatte.

Ich schaute auf. »Und was?«

»Was war das für ein Traum? Warum will sie nicht sprechen? War er wirklich so beängstigend?«

Eine Antwort blieb ich schuldig. Ich begann, meine Sachen zusammenzusuchen, und schrumpfte sie zurück in meine Tasche, als mir die Heilmischungen einfielen; ich hatte fünf mitgebracht. Ich stand vom Sofa auf und holte die Glasfläschchen hervor.

Eine eingenommene Heilmischung hielt die Träume einen ganzen Tag lang in Schach. Sowohl die guten als auch die furchterregenden. Wenn man sie vor dem Schlafengehen trank, erlebte man erholsamen Schlaf. Ein innerer Nebel, der keine Träume mehr durchließ. So wie mein Schlaf in jeder einzelnen Nacht.

Ich reichte den ersten Trank an Elle. Dann trat ich zu Elizabeth und gab ihr ebenfalls ein Fläschchen. Danach war die älteste Schwester in der Küche dran. Schließlich verzauberte ich die beiden verbliebenen Heilmischungen so, dass sie zum Speicher hinaufflogen, von wo aus die Geschwister uns weiter beobachteten. Sie streckten sich ehrfürchtig danach, als die Phiolen vor ihnen schwebten. »Ich habe nicht um Heilmischungen gebeten«, bemerkte Spruce und knetete erneut seine Kappe. »Ich kann nicht für sie bezahlen. Warum haben Sie …«

»Ich weiß, dass Sie nicht darum gebeten haben«, unterbrach ich ihn müde. Ich lächelte Elle und Jane Fielding ein letztes Mal zu, bevor ich mich zum Gehen wandte. »Ich gebe sie Ihren Töchtern umsonst, aber ich würde gern ein Wort mit Ihnen wechseln, Sir.«

Spruce folgte mir nach draußen in den Hof. Die Sonne war bereits hinter den Bergen untergegangen, und die Schatten waren lang und kühl. Die Dämmerung nahte, und ich verspürte den Drang, so schnell wie möglich nach Hause zu laufen.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Miss Clem«, meinte er.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Oh? Und das wäre, Mr Fielding?«

Er fuhr sich durch sein dünnes Haar. »Meine Töchter sollten nicht Sieben Geister spielen. Ich weiß, dass Ihr Vater das Spiel nicht gutheißt. Ich weiß, dass es ihm die Arbeit noch schwerer macht, weil Albträume wie Unkraut aus dem Boden schießen, sobald die Karten verteilt werden. Aber ich kann meine Töchter nicht davon abhalten. Sie stammen aus Seren; meine und Janes Familien kommen beide aus den Bergen. Und so werden meine Töchter das Spiel weiter spielen, auch wenn Albträume auf sie warten – ganz so, wie Jane und ich es einst taten. Denn wir sehnen uns nach der Heimat, auch wenn sie verdammt ist und in Trümmern liegt. Auch wenn wir sie noch nie mit eigenen Augen gesehen haben. Nur in unseren Träumen haben wir sie erblickt.«

Stumm lauschte ich jedem seiner Worte. Ich wusste, dass die Fieldings aus den Bergen stammten, genau wie Imonie. Ich wusste, dass sie nicht in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren konnten, bis der Neumondfluch aufgehoben war. Aber ich glaubte nicht, dass ein solcher Bann durch ein Spiel mit verzauberten Karten gebrochen werden konnte, das ironischerweise von ebendiesem Fluch inspiriert war. Insbesondere von den sieben Mitgliedern des Gebirgshofs, die alle an der Ermordung des Herzogs von Seren beteiligt gewesen waren.

»Es steht mir nicht zu, Ihnen zu sagen, ob Ihre Töchter das Spiel spielen sollen«, erklärte ich. »Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass heute Nacht der Neumond anbricht. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Fensterläden versperrt und Ihre Türen verriegelt sind und dass Ihre Familie und Ihr Vieh am Abend sicher im Haus sind, Mr Fielding.«

»Das tue ich bei jedem Neumond, Miss Clem«, entgegnete er leicht entrüstet. Aber dann schien er zu begreifen, was ich andeuten wollte, denn sein finsterer Blick und seine Stimme wurden milder. »Sie glauben doch nicht, dass sich der Albtraum meiner kleinen Elle heute Nacht manifestieren wird?«

Ich hatte keine Ahnung. Aber die Vorstellung, dem gepanzerten Ritter von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, dem die brachiale Gewalt aus den Poren strömte und der ein kleines Mädchen bedroht hatte, löste in mir ein Zittern aus. Und ich musste mir eingestehen, dass Elles Albtraum erschreckend lebendig gewesen war. Eine Weile hatte ich mich von ihm täuschen lassen; in der Zeitspanne, in der ich sie gewesen war, hatte ich geglaubt, alles, was sich vor mir entfaltete, sei echt. Als hätte ich die Hand ausstrecken und das kalte Glitzern der blutverschmierten Rüstung des Ritters berühren können. Vielleicht lag es auch nur an meiner Unerfahrenheit mit Freilegungen, und vielleicht lag es daran, dass dieser Albtraum durch ein unheimliches Kartenspiel hervorgerufen worden war. Aber er fühlte sich gravierender an als die anderen, denen ich begegnet war.

Ich warf einen Blick zu den Bergen. Wenn der Neumond sich dazu entschloss, Elles Albtraum in Wirklichkeit zu spinnen, sobald die Sterne zu brennen begannen … dann wäre der Ritter kein Traumgespinst mehr. Er würde aus Fleisch und Blut bestehen, umhüllt von Stahl, und sein Schwert wäre bereit, zuzuschlagen.

Ich wollte herausfinden, wer er war und was er wollte. Ob er von jemandem angespornt wurde.

Ich verabschiedete mich von Spruce Fielding und machte mich auf den Heimweg, den Blick auf den Sonnenuntergang gerichtet. Aber ich fürchtete, dass ich die Antworten, die ich suchte, nicht finden würde. Nicht ehe ich den Ritter in den Straßen von Hereswith herausforderte.

4. KAPITEL

»Miss Clem!«

Ich hielt gerade auf den Marktplatz zu, der inzwischen verlassen war, weil die Geschäfte schon früh am Abend geschlossen hatten, als ich von einer verzweifelten Lilac Westin, der geschätzten Bäckerin von Hereswith, abgefangen wurde. Mehl bedeckte ihr Gesicht, und beinahe wäre sie mit mir zusammengestoßen.

»Miss Clem, da sind zwei Männer auf dem Marktplatz!«

Ich blinzelte und fragte mich, was das mit mir zu tun hatte. Ob sie versuchte, die Kupplerin zu spielen, was sie in der Vergangenheit bei mir bedauerlicherweise bereits versucht hatte?

»Sind Männer heutzutage auf dem Marktplatz verboten, Miss Westin?«

»Wenn das nur ginge«, entgegnete die Bäckerin, doch dann dachte sie über diese Möglichkeit nach und runzelte die Stirn. »Obwohl mein Geschäft darunter sicher leiden würde. Aber nein, da sind zwei Männer – Fremde –, die in der Stadt herumlungern und nach Ihrem Vater fragen.«

»Nach meinem Vater?«, echote ich. »Warum sollten sie nach ihm fragen?«

Lilac zögerte, und ich sah die Panik in ihrer Miene. Rasch schlüpfte ich um die Bäckerin herum und huschte auf leisen Sohlen zum Marktplatz, wo ich mich hinter einem Stapel leerer Drahtkäfige an einem Verkaufsstand versteckte. Lilac eilte hinter mir her, und wir standen im Schatten und beobachteten die beiden Männer, die ziellos auf dem Marktplatz umherschlenderten.

Sie waren nicht das, was ich erwartet hatte. Ich hatte mir Würdenträger vorgestellt, die vom Herzog von Bardyllis geschickt wurden, um die Traumsteuer der Stadt einzutreiben, und die mit Ringen an jedem Finger durch die Gegend stolzierten. Oder vielleicht Abgesandte der Illuminus-Gesellschaft, die sich vergewissern wollten, dass mein Vater alle magischen Gesetze einhielt. Oder vielleicht Nachkommen des gestürzten Gebirgsherzogtums wie Imonie und die Fieldings, die auf der Suche nach einem sicheren Ort waren, um sich niederzulassen.

Aber diese beiden Männer trugen dunkle Kleidung, fein geschneidert, mit seidengefütterten Umhängen und Rapieren, die sie an ihre Seiten gegürtet hatten. Sie waren zu jung, um zum Hof des Herzogs zu gehören, und zu unerfahren, um Delegierte zu sein. Außerdem sahen sie nicht so aus, als suchten sie Zuflucht. Aber sie wirkten wie Leute, die sich für wichtig hielten, und ihre Körperhaltung war steif und überkorrekt.

Als sie eine leuchtende Straßenlaterne passierten, erkannte ich es. Die Männer warfen keine Schatten, und ich spürte die Illumination in ihnen.

Sie waren Magier.

»Wie lange sind sie schon in Hereswith?«, murmelte ich.

»Seit einer Stunde«, antwortete Lilac. »Sie sind von Laden zu Laden gegangen und haben gefragt, wo sie deinen Vater finden. Keiner von uns will es ihnen sagen. Und Mr Jeffries – gesegnet sei er – hat zwar zugestimmt, ihre Pferde in seinen Stall zu stellen, aber das Gasthaus früh geschlossen und ihnen den Zutritt verweigert, weswegen sie auf der Suche nach Unterkunft und Antworten umherziehen.«

Ich beobachtete die Magier weiter. Der eine war blond, sein Haar war an den Seiten kurz geschnitten, aber oben hatte er kräftige Locken, und sein Gesicht sah auf kühle Art gut aus, als er an die Tür der Brambles klopfte. Der andere Magier hatte dunkles Haar, das mit einem Band zusammengehalten wurde, und seine Miene schien zu einem verdrossenen Ausdruck eingefroren, als hätte er etwas Übles gerochen. Sie sahen verwandt aus, der eine der Tag, der andere die Nacht. Wahrscheinlich waren es Brüder.

Und sie hatten ganz gewiss nichts Gutes im Sinn.

Sie kamen uneingeladen und drangen unbefugt in das Territorium meines Vaters ein.

»Ich wette, das sind Aasgeier«, raunte ich und dachte an all die Magier, die Hereswith besuchten, um Informationen über die untergegangene Festung in den Wolken zu sammeln. Aasgeier war das Wort, das wir für solche Leute benutzten, denn sie wollten nur Geschichten von uns, bevor sie zu den Bergtoren reisten – dem einzigen Zugang zum Gipfel, wo Serens verlassene Festung auf jemanden wartete, der den Fluch brechen würde. Man konnte die Festung erreichen, wenn man nur die Bergtore öffnete, was sich recht einfach anhörte – bis man feststellte, dass die Tore verzaubert waren und nicht geöffnet werden konnten, seit der Fluch vor hundert Jahren zum ersten Mal ausgesprochen wurde. Aber das hielt ehrgeizige Magier nicht davon ab, es zu versuchen und uns auf ihrem Weg dahin zu benutzen.

»Miss Clem«, flüsterte Lilac. »Wenn das Aasgeier sind … warum erkundigen sie sich dann nach Ihrem Vater?«

Diese Frage ließ mich innehalten. Sie hatte recht: Wenn die Aasgeier kamen, wollten sie mit den Nachfahren aus dem Gebirge sprechen, nicht mit dem Hüter der Stadt. Meine Stimme zitterte, als ich sagte: »Dann müssen sie hier sein, um meinen Vater herauszufordern und um Hereswith zu kämpfen.«

Es war schon eine ganze Weile her, dass ein solches Ereignis stattgefunden hatte. So lange, dass ich fast vergessen hatte, dass diese Möglichkeit stets gegeben war.

Ich war zehn Jahre alt gewesen, als es das erste Mal passierte. Zwei ältere Magier waren vom Südwind in die Stadt getrieben worden, kurz vor Neumond, und hatten meinen Vater herausgefordert, um das Recht zu erstreiten, Hereswith vor Albträumen zu schützen. Und ein Jahr danach war ein weiteres Duo eingetroffen, das darauf brannte, die Stadt zu übernehmen, die am Fuße der berüchtigten Berge gedieh. In beiden Fällen hatten die Magier zumindest den Anstand besessen, meinem Vater vierzehn Tage im Voraus zu schreiben und ihn über ihre Absichten zu informieren. Und obwohl es nicht fair schien, konnten die Neuankömmlinge rechtmäßig den Titel des Hüters der Stadt erringen und meinen Vater verdrängen – allerdings nur, wenn sie den Albtraum besiegten, bevor es Papa gelang.

Er hatte die Herausforderer in beiden Fällen bezwungen. Aber mein Vater war heute Abend krank, und ich würde dem Neumond höchstwahrscheinlich allein gegenüberstehen. Ich hatte noch nie einen Rivalen gehabt, wenn es darum ging, einen Albtraum zu besiegen.

»Werden Sie mit ihnen sprechen, Miss Clem?«

Ich warf der Bäckerin einen Blick zu, die die Männer mit verschränkten Armen finster anstarrte. »Nein, das werde ich nicht«, sagte ich, erleichtert, dass die Brambles sich geweigert hatten, ihnen die Tür zu öffnen.

»Dann mache ich das.« Und noch ehe ich fragen konnte, was sie beabsichtigte, ihnen mitzuteilen, marschierte Lilac auf den Marktplatz und zog mit einem schrillen Pfiff die Aufmerksamkeit der Magier auf sich.

Ich kauerte weiterhin hinter dem Stand und konnte nicht hören, was die Bäckerin sagte, doch ich sah, wie sie auf die Straße nach Norden deutete. Sie wies auf Mazarines Herrenhaus, das gut sichtbar auf dem Hügel thronte und im letzten Licht der untergehenden Sonne erstrahlte.

Mit vor Entsetzen offenem Mund sah ich zu, wie die Magier nickten und den Weg die nördliche Straße hinauf zum Herrenhaus des Trolls einschlugen. Und ich hatte die feste Absicht, direkt nach Hause zu gehen und ihnen nicht über den Weg zu laufen. Ich hatte die feste Absicht, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und die Fremden ihrem Schicksal zu überlassen.

Tatsächlich hatte ich schon den halben Weg bis nach Hause geschafft, bevor ich an der Kreuzung anhielt.

Allerdings bog ich nach Norden ab und nahm eine Seitenstraße, eilte über Kopfsteinpflaster, durchquerte den Garten eines Nachbarn und überwand eine niedrige Steinmauer, um die Männer einzuholen, bevor sie zu Mazarines nächster unerwarteter Mahlzeit wurden. Hätte ich nicht gewusst, was sie wirklich war, wäre ich ihnen nicht nachgelaufen. Zumindest redete ich mir das ein, während ich mich beeilte, sie einzuholen. Sie waren schon fast an ihrem Tor. Für einen Moment zögerte ich, für einen Moment zweifelte ich …