Drehbuchschreiben - Nicole Mosleh - E-Book

Drehbuchschreiben E-Book

Nicole Mosleh

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Beschreibung

Wie erzählt man eine originelle filmische Geschichte? Worin liegt der Schlüssel zu einem unverwechselbaren, dreidimensionalen Charakter? Nicole Mosleh zeigt, wie Sie sich Zugang zu kreativer Energie und zum eigenen, unbegrenzten Ideenpool verschaffen. Egal ob Sie bislang nur eine vage Idee von einer Geschichte haben oder aber schon länger an einem Filmstoff arbeiten. Während sich die meisten Bücher zum Drehbuchschreiben oft ausschließlich mit dramaturgischen Modellen beschäftigen und sich zwar als Analyseinstrumente eignen, aber nicht als Anleitung fürs Drehbuchschreiben, hilft dieses Buch, die eigenen Figuren und Geschichten im Kopf aufs Papier zu bringen und zum Leben zu erwecken. Um eine Geschichte packend zu erzählen, genügt es nicht, mechanisch einem theoretischen Modell zu folgen. Wahrhaftige Geschichten, die das Publikum berühren, findet man auf diese Weise nicht. Nicole Mosleh richtet sich mit ihrem Buch an alle, die sich in das Abenteuer des Schreibens stürzen möchten. Sie vermittelt konkrete Techniken und zielgerichtete Übungen, die den Leser anschaulich und praxisnah, jenseits von formelhaften Strukturmodellen, in sämtlichen Phasen des Drehbuchschreibens begleiten und ihm dabei helfen, authentische und originelle Geschichten filmisch zu erzählen.

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[1]Nicole Mosleh

Drehbuchschreiben

[2]

Nicole Mosleh ist Drehbuchautorin, Regisseurin und Dozentin für Drehbuch. Die Absolventin der Drehbuchwerkstatt der Hochschule für Fernsehen und Film in München und des American Film Institute in Los Angeles arbeitet seit 18 Jahren als Drehbuchautorin. Sie unterrichtet an verschiedenen Filmschulen und in der internen Weiterbildung des ZDF. »Nemesis«, ihr erster Kinospielfilm als Regisseurin (mit Ulrich Mühe und Susanne Lothar in den Hauptrollen), lief im Herbst 2012 in den deutschen Kinos.

www.nicolemosleh.de; Kontakt: [email protected]

[3]Nicole Mosleh

Drehbuchschreiben

Das Geheimnis glaubwürdiger

Charaktere und fesselnder Geschichten

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München

[4]Praxis Film

Band 76

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

ISSN 1617-951X

ISBN 978-3-86496-026-0

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Einbandfoto: © Istockphoto Inc.

Lektorat: Maria Grohme-Eschweiler, Bonn

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]INHALTSVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

Warum ein weiteres Buch über das Drehbuchschreiben?

1. VON DER IDEE ZUR GESCHICHTE

Wie kriege ich das, was ich im Kopf habe, aufs Papier?

Auf der Suche nach einer Anleitung: Drehbuchtheorien und Dramaturgiemodelle

Was sonst?

Augen & Ohren auf

Mit allen fünf Sinnen

Fühlen

Als ob

Erinnern

Recherche

Plot, Premise und dreidimensionale Charaktere – was zuerst?

Subjektives Drama vs. objektives Drama

Übungen

2. LEBENDIGE FIGUREN STATT ZWEIDIMENSIONALER PAPPKAMERADEN

Menschen im Mittelpunkt

Dreidimensionale Charaktere

1. Dimension: Physiologie

2. Dimension: Soziologie

3. Dimension: Psychologie

Biografie und Backstory einer Figur

Haltung entwickeln

Fakten statt Urteile

Figurencharakteristika als Folge einzelner Ereignisse

Autobiografie statt Biografie

Es gibt für alles einen Grund, manchmal auch zwei

Widersprüche und Ambivalenzen

Die Logikfalle

Character Spine oder Psychologisches Rückgrat

[6]Character Spine und Passive Hauptfiguren

Empathie statt Identifikation

Das Geheimnis interessanter Figuren

Wann wir einen Menschen interessant finden: drei Prämissen

Recherche

1. Äußere Wirklichkeit

2. Innere Wirklichkeit

Fragen, Fragen, Fragen

Sieben Beispiele schlecht entwickelter Filmfiguren

Übungen

3. WESSEN GESCHICHTE IST ES?

Die Hauptfigur

Das Ziel

So konkret wie möglich

Die Hindernisse

Aktive versus passive Imagination

Das Bedürfnis

Der Herzwert

Der Gegenspieler

Perspektivwechsel

Kann es nur einen geben?

Zwei Hauptfiguren

Ensemblefilm

Passive Hauptfiguren

Hauptfigur und dominante Figur

Character Arc: Die Entwicklung des Charakters innerhalb der Geschichte

Wie äußert sich Charakter?

Übung

4. DIE GESCHICHTE

Dramatisches Erzählen vs. episches Erzählen

Stoffentwicklung – Etappen auf dem Weg zum Drehbuch

Ideenskizze und Exposé

Treatment und Bildertreatment

Beat-Sheet

Drehbuch

[7]Die dramatische Struktur

Was es mit Drehbuchmodellen auf sich hat

Story oder Plot

Akt

Anfang, Mitte, Schluss: Die Drei-Akt-Struktur

I. Akt/Exposition

Wendepunkt

II. Akt/Konflikt

III. Akt/Auflösung

Sequenzen

Höhepunkt

Szene

Wessen Szene ist es?

Struktur: Anfang, Mitte, Schluss

Übungen

5. TEXT UND SUBTEXT

Thema eines Drehbuchs

Worum geht es in dem Film?

Worum geht es wirklich in dem Film?

Die Essenz der Geschichte

Ereignisse einer Szene

Szene (1) – Worum geht es?

Szene (2) – Worum geht es wirklich?

Dramatische und andere Szenen

Story-Beats

Kurzfilmdrehbuch KEINE GUTE TAT BLEIBT UNGESTRAFT

Gewinn und Verlust

Die Essenz einer Szene

Dialog

Von Menschen und anderen komischen Vögeln

Das Gesagte und das Gemeinte

Dialog und Handlung

Dialog und Charakter

Ziele und Strategien

Motivation, Stimmung, Gefühle

Satzbau im Dialog: Drei Prinzipien

[8]50:50-Doktrin oder die Kunst des Weglassens

Die häufigsten Fallstricke misslungener Dialoge

Übungen

6. DER KONFLIKT

Story Arc: Hoffen und Befürchten

Story Molekül

1. Der äußere Konflikt

2. Der Konflikt der zentralen Beziehung

3. Der innere Konflikt

Wenn ein oder mehrere Konfliktbereiche fehlen

Tiefe statt Breite

Haupt- und Nebenhandlung oder: Der geflochtene Zopf

Unpersönliche Konflikte und abstrakte Antagonisten

Konflikt: aufsteigend, vorschwebend, springend

Fünf Säulen

Übungen

7. REWRITE!

Kritik

Die fünf Phasen des Sterbens, oder Wie geht’s jetzt weiter?

Phase 1: Leugnen

Phase 2: Zorn

Phase 3: Verhandeln

Phase 4: Depression

Phase 5: Akzeptanz

Neu erfinden statt ausbessern, abschleifen, ankleben

Einen Schritt zurück

Die »Eigentlich-schon-ganz-gut«-Falle

Die Story

Szenen

Dialoge

Charakter Reloaded

Komplexe Beziehungen und magische Hilfsmittel: »als-ob«

Zentrale Dynamik einer Beziehung: »als-ob«

[9]8. TRAINING UND RESSOURCEN EINES DREHBUCHAUTORS

Beobachten

Erinnern

Imagination

Gefühle

Empathie

Intuition

9. SCHREIBBLOCKADE

Schwierigkeiten beim Schreiben

Konzentration

Freiheit zu scheitern

Dem Monster ins Angesicht schauen

Viel Schreiben

Drei Lösungen für jedes Story-Problem

Triff eine Entscheidung - irgendeine

Im Zweifel Liebe

Eine persönliche Verbindung

Bevor der Groschen fällt

Flow

Fragen, Fragen, Fragen

Respekt

EPILOG

Schreiben

Leben

Vertrauen

Freude

ANHANG

Beispiel: Szene aus dem Kinospielfilm NEMESIS – Ziele, Strategien, Beats

Index Filmtitel

Glossar

[10]Für Gabriela Pintner

[11]EINFÜHRUNG

Warum ein weiteres Buch über das Drehbuchschreiben?

»Das, was ich gelesen habe, leuchtet mir schon alles ein. Ich weiß bloß nicht, wie ich das auf meine Geschichte übertragen kann.«

»Ich hab ein paar Ideen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«

»Meine Plot Points sind alle an der richtigen Stelle, aber trotzdem funktioniert es irgendwie nicht.«

»Ich habe das alles ausgearbeitet, den Helden, den Mentor, den Schwellenhüter und auch die einzelnen Stationen der Reise. Aber wenn ich mit dem Drehbuch anfangen will, dann stecke ich fest.«

Mittlerweile gibt es zahlreiche Bücher übers Drehbuchschreiben; viele davon sind sehr gut. Dennoch sind angehende Drehbuchautoren schnell verloren, wenn Sie mithilfe dieser Bücher das Drehbuchschreiben erlernen und ihre eigenen Stoffe zu Geschichten verweben möchten. Das liegt daran, dass sich die meisten Bücher ausschließlich mit dramaturgischen Modellen beschäftigen.

Struktur und Handwerk sind wichtig. Aber als Blaupause für den eigenen Film, den man gerade aufs Papier bringen möchte, taugen sie nicht. Denn wo fängt man an, ihre Regeln und Gesetzmäßigkeiten anzuwenden? Wenn man doch noch nicht viel mehr als eine ungefähre Idee hat von einer Geschichte, von den Personen und der Welt, in der sie sich bewegen? Und wie kann man sie außerdem auf den eigenen Stoff übertragen, der doch originell und einzigartig sein soll und nicht ein Abklatsch von bereits Vorhandenem?

Um eine Geschichte gut zu erzählen, genügt es nicht, einem Strickmuster zu folgen. Ein gelungenes Drehbuch muss mehr als nur technisch einwandfrei sein. Oder haben Sie schon mal jemanden sagen hören: »Der Film hat mich so ergriffen. Wahnsinn, wie perfekt der Autor die Struktur konstruiert hat«? Für mich ist ein Drehbuchautor in erster Linie ein Geschichtenerzähler.

Was zeichnet gute Geschichten aus?

Welche Verbindung haben sie zu unserem Leben?

Warum fesseln uns manche Geschichten und warum lassen uns andere wiederum kalt?

Warum haben wir bei einigen Figuren das unangenehme Gefühl, dass wir es nur mit Pappkameraden zu tun haben, die einem Drehbuch entsprungen sind, während uns andere noch lange nach dem Film begleiten?

Was genau braucht es, um Zuschauer zu berühren?

[12]Und wie stellt man es her?

Und wie erschafft man authentische Geschichten und wahrhaftige Charaktere, wenn fiktionale Filme doch gerade nicht einfach nur die Realität abbilden?

Diese Dinge sind nicht einfach zu benennen. Und sie sind noch schwerer zu unterrichten. Aber sie sind zentral für ein gutes Drehbuch und essentiell für angehende Drehbuchautoren, die mit diesen Fragen meist allein gelassen werden. Ich habe dieses Buch geschrieben, um diese Lücke auszufüllen. Es enthält all das, was ich in meiner Ausbildung und meiner 18-jährigen Tätigkeit als Drehbuchautorin für gültig und hilfreich befunden habe. Vieles davon ist untrennbar mit meinen persönlichen Erfahrungen verbunden, geprägt von meinen Lehrjahren in Deutschland, Frankreich und den USA.

Ich glaube an die Kraft von Geschichten; daran, dass sie eine Möglichkeit sind, das Chaos in dem wir leben, zu entschlüsseln. Geschichten können die Widersprüche, die unser Menschsein ausmachen, erfassen. Und sie können eine Brücke zwischen Menschen und Kulturen sein. Dazu müssen sie spannend und unterhaltsam, aber auch wahrhaftig und eigen und dazu imstande sein, den Zuschauer zu berühren.

Dieses Buch ist als Arbeitsbuch gedacht und muss nicht unbedingt am Stück oder in chronologischer Reihenfolge gelesen werden1. Sie können genauso gut querbeet einzelne Kapitel lesen, die das behandeln, was Sie gerade beschäftigt. Ich möchte Sie dazu einladen, das, was Ihnen für Ihre eigene Arbeit hilft, zu benutzen. Und alles andere über Bord zu werfen. Das Buch hat keinen anderen Zweck, als Sie zum Schreiben zu bringen. Und Ihnen zu helfen, Ihre Ideen und Geschichten zutage zu fördern und sie in filmischer Form zu Papier zu bringen. Es soll Sie mit Techniken vertraut machen, die Ihnen den Zugriff auf Ihre kreative Energie und den eigenen, unbegrenzten Ideenpool ermöglichen. Und Ihnen helfen, universelle und dennoch einzigartige Geschichten zu erzählen.

Das Buch richtet sich an diejenigen, die bisher nur eine vage Idee für ein Drehbuch haben, ebenso wie an diejenigen, die schon länger an ihrem Filmstoff arbeiten und bereits sämtliche Phasen von Euphorie über Skepsis bis hin zur völligen Verzweiflung durchlaufen haben. Es ist gedacht für alle, die bereit sind, sich in das Abenteuer des Schreibens zu stürzen. Denn jeder Stoff, jede Story, jedes Drehbuch gleicht einer abenteuerlichen Reise ins Unbekannte. Dieses Buch soll Sie bei der [13]Reise begleiten und Ihnen Werkzeuge an die Hand geben, die Ihnen helfen, Ihr Ziel zu erreichen: ein gutes Drehbuch.

Es ist entstanden auf Anregung meiner Studenten, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Für das Vertrauen, das sie mir von Anfang an entgegengebracht haben, indem sie sich mit Haut und Haaren auf mein Konzept eingelassen haben. Durch ihre Fragen und Anregungen habe ich viel gelernt und das, was verwirrend und unklar war, besser herausarbeiten können. In zahlreichen Seminaren haben sie mein Konzept auf Herz und Nieren und auf seine Praxistauglichkeit überprüft. Von ihrer Arbeit und ihren Fragen in meinen Seminaren profitiert dieses Buch.

Bedanken möchte ich mich außerdem bei Sonja Rothländer vom UVK Verlag, die dieses Buch mit unendlich viel Geduld begleitet und mich in Momenten großer Verunsicherung ermutigt hat, meinen eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Ein herzliches Dankeschön an Viola Mosleh, die dieses Buch mit zahlreichen Grafiken liebevoll illustriert hat und meinem Anwalt Béla von Raggamby, der die Vertragsverhandlungen betreut hat. Mein Dank gilt außerdem Marino De Crescente für seine Nachsicht und Unterstützung, Siham Mosleh für die zahlreichen anregenden Diskussionen, Elke Sander und ihrem Team der Agentur mainFreiraum für die fantastische Betreuung meines Kinofilms NEMESIS, die es mir möglich gemacht hat, währenddessen weiter an diesem Buch zu arbeiten. Vielen Dank an David Ungureit für sein Feedback, an Shai Levy, dessen Foto ich im Übungsteil von Kapitel 2 verwenden durfte, und an die Mitarbeiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Ornithologie, die mir schnell und unbürokratisch geholfen haben, wissenschaftliche Artikel zum Thema Kommunikation unter Vögeln ausfindig zu machen.

Praktische Hinweise zu diesem Buch:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit benutze ich in diesem Buch immer die männliche Form wenn es um Autoren geht, wohl wissend, dass mehr als ein Drittel aller professionellen Drehbuchautoren Frauen sind.

Für viele dramaturgische Kategorien gibt es mehrere Fachausdrücke, die bedeutungsgleich sind. Um Sie mit der Vielfalt vertraut zu machen, benutze ich alle Begriffe abwechselnd. Im Anhang finden Sie ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe und ihrer Synonyme.[14]

1 Allerdings ist es hilfreich, wenn Sie die Übungen am Ende der jeweiligen Kapitel in chronologischer Reihenfolge bearbeiten, da die Übungen der Folgekapitel auf dem, was Sie zuvor erarbeitet haben, aufbauen.

[15]1. VON DER IDEE ZUR GESCHICHTE

Wie kriege ich das, was ich im Kopf habe, aufs Papier?

Bilder, Stimmungen, Figuren, Dialoge. Oft hat man das Gefühl, bereits die ganze Geschichte im Kopf zu haben. Wie bringt man aber die vielen Einzelteile, die sich in der Fantasie zu einem fertigen Film gefügt haben, in Drehbuchform zu Papier? Eine filmische Erzählung beschränkt sich darauf, was wir sehen und hören können. Wir können zeigen, wie Menschen (oder, im Fall von Animationsfilmen: Wesen) in verschiedenen Situationen handeln, welche Entscheidungen sie treffen und mit wem sie wie sprechen. Das bedeutet, dass wir unsere Ideen, Assoziationen, Gefühle, die für uns auf einer emotionalen oder philosophischen Ebene schlüssig sind, in konkrete Ereignisse, Handlungen und Dialoge verwandeln müssen. Übergänge, die das Geschehen überhaupt erst glaubwürdig machen, fehlen in diesem Stadium oft noch. Ein Beispiel, dessen unzählige Varianten ich aus meiner Unterrichtspraxis kenne, soll illustrieren, was gemeint ist:

Einen erfolgreichen Hedgefonds-Manager, der zielstrebig und rücksichtslos seine Karriere plant, wirft plötzlich die Diagnose »Magenkrebs« aus der Bahn. Dazu zerbricht seine Ehe, in der es bereits seit geraumer Zeit kriselt. Seine Frau verlässt ihn. Und auf einmal merkt er, dass Geld eben doch nicht alles ist. Er erkennt, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung eine zerstörerische Macht ist, gegen die er von jetzt an kämpfen will.

Sie haben dazu bereits mehrere Schlüsselszenen im Kopf, zum Beispiel die, als Ihr Protagonist die Diagnose erhält oder von seiner Frau verlassen wird. Sie kennen die Welt, in der die Geschichte spielt, haben den Jargon der Finanzwelt in den Ohren, dazu eventuell ähnliche, eigene Erfahrungen und Begebenheiten, die Sie oder Freunde oder Familienmitglieder erlebt haben und die Ihnen helfen, in die Geschichte einzutauchen und sie glaubwürdig zu erzählen. Vielleicht können Sie auch die unendliche Einsamkeit nachvollziehen, wenn man plötzlich erkennt, dass einen mit den Menschen, mit denen man bisher das Leben geteilt hat, nichts mehr verbindet und man nirgendwo mehr dazugehört.

Um all dies aber in filmischer Form erzählen zu können, bedarf es noch einer Menge Arbeit. Denn was Sie benötigen, sind konkrete Situationen, Ereignisse, Handlungen und Dialoge. Während die Ausgangssituation recht konkret ist (»Karriere-Hedgefonds-Manager wird durch Krebsdiagnose aus der Bahn geworden und ist, nachdem ihn auch noch seine Frau verlassen hat, plötzlich völlig allein auf sich gestelllt.«), ist alles andere noch sehr vage, oder gar nicht vorhanden.

[16]Welches Ereignis (oder welche Abfolge von Ereignissen) lässt ihn zu dem Schluss kommen, dass Geld nicht glücklich macht?

Versucht er, die starke Verunsicherung und den fehlenden Halt zu kompensieren?

Bezahlt er zum Beispiel eine Haushaltshilfe, die ihm den Alltag erleichtern soll, und erhofft sich mehr von diesem Kontakt?

Versucht er, Freunde oder eine neue Frau an seiner Seite mit prestigeträchtigen und teuren Freizeitaktivitäten (luxuriöse Partys an ausgefallenen Orten, Reisen, exklusive Kulturevents, oder Ähnliches) für sich zu interessieren und an sich zu binden?

Oder ist das Gegenteil der Fall: Muss er seine berufliche Tätigkeit aufgeben und hat deshalb nicht mehr so viel Geld zur Verfügung wie zuvor und kann aus diesem Grund mit seinen bisherigen »Freunden« nicht mehr mithalten, die sich folglich nach und nach zurückziehen und den Kontakt zu ihm abbrechen?

Wie vollzieht sich seine Entwicklung von der »Heuschrecke« zum »Antikapitalisten«?

Woran können wir seinen plötzlichen Gesinnungswandel festmachen? Sein »Lippenbekenntnis« jedenfalls reicht als Erklärung für seine Veränderung nicht aus.

Wie aber wollen Sie seine Entwicklung zeigen?

Was muss geschehen, damit seine Verwandlung vom Saulus zum Paulus glaubwürdig ist?

Und welches sind die Schritte, die er anschließend im Kampf gegen die »zerstörerische Macht« unternimmt?

Nutzt er seinen Einfluss als »Player« der Finanzwelt?

Oder wird er zum Aktivisten, schließt sich den »Ordensleuten für den Frieden« an und kippt zusammen mit ihnen mehrere Kanister Jauche vor dem Eingang der Deutschen Bank aus?1

Außerdem ist der Ausgang der Geschichte bislang noch offen: Erreicht er etwas im Kampf um die Gerechtigkeit? Oder kämpft er vergeblich?

Um Ihre Geschichte erzählen zu können, müssen Sie wissen, was Ihre Hauptfigur als Nächstes tun wird und warum. Sie müssen sich im Klaren über die Konsequenzen sein – was passiert, wenn sie anders oder gar nicht handelt? Und warum? Wie wirken sich ihre Entscheidungen auf ihr Umfeld aus? Sie müssen nicht nur [17]Ihre Charaktere in- und auswendig kennen und wissen, wie sie sich in jeder erdenklichen Situation verhalten würden. Sie müssen auch herausfinden, was genau Sie eigentlich erzählen wollen.

Das mag im Augenblick merkwürdig klingen. Aber sobald Sie in Ihre Geschichte eintauchen und sehen, wie sie sich im Laufe Ihrer Arbeit an Charakteren und Handlung verändert, werden Sie sehen, dass eine der größten Schwierigkeiten beim Drehbuchschreiben darin besteht, zu wissen, was man erzählen möchte. Während Sie dabei sind, sämtliche Handlungsschritte und Charaktere zu erarbeiten, werden Sie die Ereignisse und Entscheidungen aus den verschiedenen Perspektiven all Ihrer Figuren beleuchten. Dabei werden Sie feststellen, dass in Ihrer Geschichte in Wirklichkeit unzählige verschiedene Geschichten stecken, je nachdem, aus welchem Blickwinkel Sie diese erzählen. Aber erst wenn Sie wissen, was Sie erzählen möchten, können Sie entscheiden, wie Sie es am besten erzählen können.

Auf der Suche nach einer Anleitung: Drehbuchtheorien und Dramaturgiemodelle

Auf welche Weise können dramaturgische Modelle helfen, eine gute Geschichte zu entwickeln und diese auch auf gelungene Weise zu erzählen? Um die Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich die Entstehungsgeschichte dieser Modelle vor Augen zu führen. Die meisten Drehbuchtheorien leiten sich von Paradigmen dramatischen Erzählens – also dramaturgischen Modellen für Theaterstücke – ab, als deren Übervater Aristoteles mit der von ihm verfassten »Poetik« gilt. Was haben erfolgreiche2 Geschichten gemeinsam? Gibt es etwas, was diese Geschichten verbindet? Gibt es etwas, das sie, so unterschiedlich sie auch sein mögen, teilen? Und so wie wir Menschen unterschiedlich in Wesen und Aussehen sind, jedoch alle ein Skelett haben, dessen einzelne Knochen, Sehnen und Knorpel an den gleichen Stellen sitzen, so gibt es bei dramatisch erzählten Geschichten sehr viele Ähnlichkeiten, was ihren Aufbau angeht. Dieses »Skelett« bildet die Grundlage aller dramaturgischen Modelle. Es ist die Struktur einer Geschichte.

Aber so, wie ein Skelett lediglich den menschlichen Körper stützt und nicht der Mensch selbst ist, so ist auch die Struktur einer Geschichte nicht die Geschichte [18]selbst, sondern lediglich ein Ordnungsprinzip, das die Ereignisse der Geschichte in einen kausalen und zeitlichen Zusammenhang stellt.

Versucht man, Figuren innerhalb eines dramaturgischen Modells agieren zu lassen, so folgt man damit scheinbar einem zuverlässigen »roten Faden«, der helfen soll, sich im Dschungel der noch unfertigen Geschichte zurechtzufinden. Nur um sehr schnell festzustellen, dass sich auf diese Weise zweidimensionale Figuren in einer formelhaften Geschichte bewegen und Entscheidungen treffen, die nicht ihrer eigenen Logik folgen, sondern vielmehr der des Autors, der versucht, eine funktionierende Geschichte zusammenzuschustern.

Dramaturgische Modelle eignen sich sehr gut dazu herauszufinden, wo es in einer Geschichte hakt und warum – damit man sie anschließend überarbeiten kann. Als Anleitung zum Schreiben taugen sie nicht. Deshalb ist es am besten, sie während des Schreibprozesses zu vergessen. Wenn es dann darum geht, das Geschriebene zu verbessern, leisten sie gute Dienste.

Was sonst?

Wenn dramaturgische Modelle sich nicht als Rezept eignen, welche Möglichkeiten gibt es dann, Ideen und Figuren zu finden und sich einer Geschichte anzunähern?

Augen & Ohren auf

Schau genau hin. Das ist der Weg, dein Auge zu schulen.

Schau hin, sei neugierig, höre zu, belausche.

Stirb nicht unwissend. Du bist nicht lange hier.

Walker Evans

Vieles, was um uns herum geschieht, ist für uns unverständlich, widersprüchlich oder schlicht »zu viel«. Um unseren Alltag besser zu bewältigen, lernen wir von klein auf, unsere Wahrnehmungen zu filtern. Wir sehen und hören Dinge, mit denen wir rechnen oder auf die wir uns vorbereitet haben. Ereignisse, die unsere Weltanschauung durcheinanderbringen oder ein Umdenken erfordern, oder die wir an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit nicht erwarten, blenden wir in der Regel aus.3

[19]Um als Autor auf einen unerschöpflichen kreativen Fundus zurückgreifen zu können, müssen wir uns dieses, im Alltagsleben nützliche, aber bei unserer Arbeit als Autoren hinderliche Sozialverhalten abgewöhnen. Wir müssen erneut lernen, genau hinzuschauen und zuzuhören um das, was um uns herum geschieht, unvoreingenommen in uns aufzunehmen und damit die Bandbreite menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens uneingeschränkt zu erfassen.

Denn egal, wie exotisch die Orte unserer Geschichten und wie ungewöhnlich die Ereignisse, die unseren Charakteren zustoßen, auch sein mögen, letztlich basieren sie doch auf dem, was uns als möglich und realistisch erscheint – dem Spektrum menschlicher Erfahrungen, dem Leben selbst. Um als Autor aus einem Fundus menschlichen Verhaltens schöpfen zu können, ist es nützlich, die verloren gegangene Neugierde wiederzuentdecken.

Mit allen fünf Sinnen

Orte vermitteln, ähnlich wie Musik, auf sehr starke und unmittelbare Weise Stimmungen. Wenn wir versuchen, einen Ort zu beschreiben, beschränken wir uns aber meist auf faktische und visuelle Informationen: Wie groß sind die Räumlichkeiten? Wann wurde das Gebäude erbaut? Wie wird es genutzt und auf welche Weise hat sich die Nutzung im Laufe der Zeit verändert (z.B. ein Hotel in einem ehemaligen Kloster).

Wenn wir stattdessen einen uns unbekannten Ort aufsuchen, stellen wir sehr schnell fest, dass das, was für uns diesen Ort ausmacht, sich an vielen einzelnen Dingen festmacht, die wir dort wahrnehmen und die weit über visuelle oder faktische Angaben hinausgehen. Um dem Leser des Drehbuchs einen möglichst plastischen Eindruck des Ortes zu vermitteln, der die Atmosphäre, die dort herrscht, treffend wiedergibt, ist es hilfreich, alle Sinne miteinzubeziehen, statt sich auf Fakten und rein visuelle Informationen zu beschränken.

[20]Fühlen

Wenn wir eine Geschichte erzählen, stellen wir uns bestimmte Ereignisse vor und leiten daraus die möglichen Konsequenzen, bezogen auf die Figuren und die äußere Handlung, ab. Mindestens genauso wichtig wie die äußeren Ereignisse sind innere Vorgänge und emotionale Konsequenzen. Wie fühlt es sich an, wenn einem etwas Konkretes widerfährt oder man sich in bestimmten Lebensumständen wiederfindet? Im Alltag blenden wir diese Überlegungen und Emotionen aus; sie gelten als subjektiv und damit als unzuverlässig und wenig allgemeingültig. Für das Schreiben sind sie unersetzlich. Sie geben uns wesentliche Hinweise für die Geschichte und sind häufig ein Schlüssel für unsere Figuren.

Als ob

Geschichten, die sich außerhalb des menschenmöglichen Erfahrungsbereiches abspielen (zum Beispiel Science-Fiction-, Fantasy- oder auch bestimmte Animationsfilm-Szenarien) stellen eine besondere Herausforderung an den Autor dar. Wie kann man etwas erzählen, was noch kein Mensch erlebt hat?

In einer fiktiven Welt, in der theoretisch alles möglich ist, da sie nicht von einer objektiv nachvollziehbaren Realität beschränkt ist, geraten Handlung und Figuren allzu leicht beliebig, konfus und unglaubwürdig. Ereignisse aneinanderzureihen und Emotionen und Entscheidungen der Protagonisten willkürlich zu behaupten, ergibt selten eine in sich stimmige Geschichte. Und dennoch gibt es Filme, die auch unter fantastischen, scheinbar nicht in der menschlichen Realität verankerten Welt, eine Geschichte erzählen, die wahrhaftig ist und uns fesselt. Und die uns zum Lachen, Weinen, Hoffen oder Fürchten bringen.

Damit dies gelingt, muss der Autor dem Publikum Zugang zu dem zentralen Konflikt der Geschichte verschaffen. Eine Geschichte berührt uns dann, sobald sie etwas mit unserem Leben zu tun hat und wir uns in den Charakteren wiederfinden können. Das funktioniert am besten mithilfe von Analogien zu Ereignissen, die wir kennen und die etwas von unseren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten widerspiegeln.

Um eine Übereinstimmung zwischen der fiktiven, mit keiner menschlich nachvollziehbaren Realität korrespondierenden Welt unseres Films auf der einen und subjektiv nachvollziehbaren, menschlichen Erfahrungen auf der anderen Seite zu finden, müssen wir zum Herzstück der Geschichte vordringen: Worum geht es? Vergessen Sie dazu für einen Moment die Details der äußeren Handlung. Worum geht es wirklich? Was ist der zentrale Konflikt? Worin besteht die Verbindung zu dem, was wir kennen, lieben, oder fürchten?

[21]Anhand des bekannten Science-Fiction-Horrorfilms ALIEN lässt sich diese Herangehensweise sehr anschaulich erläutern. Die Geschichte des Films klingt zunächst nicht besonders originell oder überwältigend4. Es gibt zahlreiche Filme, die von Monstern im Weltall handeln, vier davon mit einer fast identischen Geschichte.5 Dennoch gilt ALIEN als Meisterwerk seines Genres und lässt auch mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung niemanden kalt. Worin liegt sein Erfolg?

Eine Sache, die alle Menschen beunruhigt, ist Sexualität. Das ist es, wie ich die Zuschauer packe – ich werde sie an ihrer Sexualität packen.6

Dies ist ein Film über […] Vergewaltigung. Das ist furchteinflößend, weil es alle unsere Ängste anspricht.7

Dan O’Bannon8

Was hat ein Film über Monster im Weltall mit Vergewaltigung zu tun? Ein Horrorfilm ist dann gelungen, wenn er beim Zuschauer Angst, Schrecken und Verstörung auslöst. Science-Fiction-Horrorfilme haben theoretisch unbegrenzte Möglichkeiten, uns in diese negativen Gefühlszustände zu versetzen, da sie an keine objektivnachvollziehbare Realität gebunden sind: Alles ist erlaubt, nichts ist unmöglich.

Die große Freiheit des Genres ist allerdings zugleich auch seine größte Schwierigkeit. Bedrohliche Ereignisse, Figuren oder Situationen, die völlig losgelöst von unserer erlebten Realität sind, riskieren, nur oberflächlich beängstigend oder im schlimmsten Fall lächerlich auf uns zu wirken. Der Drehbuchautor von ALIEN hat diese Herausforderung gemeistert, indem er uns dort packt, wo wir völlig wehrlos sind. Er verankert das fantastische Geschehen im Weltall in einer menschlichen Ur-Angst, derer sich die meisten Menschen nicht einmal bewusst sind. Das tut er, indem er die Handlung des Films konsequent so wählt und erzählt, dass sie im Zuschauer Assoziationen zu stark angstbehafteten Situationen wecken, die wir aus unserer realen Welt kennen und fürchten.

[22]Er erzählt die Ereignisse rund um die Raumschiff-Crew, die von einem außerirdischen Wesen angegriffen und für den Erhalt deren eigener Art benutzt wird, als ob es sich um eine Konfrontation zwischen einem Vergewaltigungsopfer und seinem Peiniger handelt. In jeder Szene des Films gibt es unzählige Übereinstimmungen zwischen äußerer Handlung und der vom Autor gewählten Analogie. In Interviews hat O’Bannon Einblicke in seine Herangehensweise gewährt, die zeigen, dass der Effekt nicht zufällig entstanden ist.9 Abgesehen von zahlreichen visuellen Ähnlichkeiten der Monster und des Set-Designs mit primären Geschlechtsorganen, die man, einmal bemerkt, nicht mehr ignorieren kann, sind die dramatischen Ereignisse voller gewalttätig-sexueller Analogien (s. folgende Abb.).

Der Cockpit-Sitz des verlassenen Raumschiffs auf dem fremden Planetoiden LV-426, weist eine nicht gerade subtile Ähnlichkeit mit einem erigierten Penis auf.

Die menschliche Crew auf ihrem Weg in das fremde Raumschiff. Die Szene weckt Assoziationen zu (menschengroßen) Spermien, die durch Öffnungen, die wie überdimensionale Vaginas anmuten, in das verfallene Raumschiff eindringen.

[23]

Außer in Kostümen und Bühnenbildern lässt sich Dan O’Bannons Konzept vor allem auch an der Handlung festmachen. Hier ein früher Entwurf des Monster-Designers H.R. Giger, der im Film genauso umgesetzt wurde: Das Monster in einer seiner zahlreichen Erscheinungsformen vergewaltigt ein Crew-Mitglied und legt zum Zweck der eigenen Fortpflanzung ein Ei in dessen Kehle ab. Das Monster wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor angefertigt.

Die alptraumartige »Geburt« der durch die monströse Vergewaltigung entstandenen Kreatur repräsentiert alle unbewussten Ängste, die mit einer realen, menschlichen Geburt als Folge einer Schwangerschaft durch Vergewaltigung verbunden sind: Ein fremdartiges, feindliches Wesen, im menschlichen Körper herangewachsen, bricht auf gewalttätige, blutige und mit extremen Schmerzen verbundene Art und Weise aus dem Brustkorb heraus. Der Mensch, in dessen Körper die Kreatur herangewachsen ist, überlebt die Geburt nicht und wird stattdessen vollständig zerstört. Und »zufällig« ähnelt die neugeborene Kreatur einem Phallus mit Zähnen… Der Regisseur Ridley Scott hat den Geburtsschrei übrigens mit einem verzerrten Mix aus drei verschiedenen Sounds kreiert: »den Geräuschen einer Viper, dem Quietschen eines Schweins und Babygeschrei«.10

[24]Neben der sexuell aufgeladenen Symbolik, die sich überall im Film wiederfindet, offenbart der frühe Entwurf des »Alien«-Gestalters H.R. Giger (Abb. 3) den Zusammenhang zwischen der äußeren Handlung des Sci-Fi-Horrorfilms und der zentralen Idee des Autors, die zunächst so klingt, als könnte sie beim besten Willen nichts mit der Geschichte zu tun haben.

Ohne die im Film konsequent erzählte Analogie zu einem angsteinflößenden, in der realen Welt möglichen Ereignis – in diesem Beispiel eine Vergewaltigung – wäre ALIEN einer von zahlreichen Monster-Horrorfilmen im Weltall, von denen es die meisten nur in die Schmuddelecke der Videothek oder als Billig-DVD auf die Kaufhaus-Wühltische schaffen. Ganz sicher aber hätte er nicht diesen Erfolg bei so vielen Zuschauern gehabt.

Es ist übrigens nicht notwendig, dass die Zuschauer sich der assoziativen Verknüpfung beim Anschauen des Films bewusst sind. Im Gegenteil. Dinge, die uns ängstigen und dabei nicht einmal in unser Bewusstsein vordringen, entfalten eine noch viel größere Macht. Da wir sie nicht mit unserem Verstand erfassen können, haben wir auch keinerlei Möglichkeit, sie durch eine rationale Argumentation zu entkräften (Welche Möglichkeiten habe ich, mich im Falle einer drohenden Vergewaltigung zu schützen oder zu verteidigen? Wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass ich Opfer eines Gewaltverbrechens durch Außerirdische werde?).

Wenn Sie als Autor festlegen, was jenseits der äußeren Handlung Ihr menschlicher Grundkonflikt ist, verwurzeln Sie damit Ihre Geschichte nicht nur in der realen Erlebniswelt. Sie haben darüber hinaus zugleich auch noch eine Entscheidungshilfe für alles, was in der Geschichte passiert. (Was wird erzählt? Auf welche Art und Weise? Welche Ereignisse haben in der Geschichte keinen Platz?).

Indem Sie Teile der Handlung, die keine Entsprechung in der Analogie haben und dadurch beliebig sind, anpassen oder, wo dies nicht möglich ist, streichen, wird Ihr Drehbuch gestrafft, in sich schlüssig und logisch zwingend. »Was wird auf zwischenmenschlicher Ebene verhandelt? Worum geht es eigentlich in der Geschichte?« sind zentrale Fragen, wenn es darum geht, zum Kern Ihrer Geschichte vorzustoßen, um dann eine Entsprechung aus der Fülle menschenmöglicher Erfahrungen dafür zu finden.

[25]Erinnern

Schreibe über das, was du kennst.11

Mark Twain

Autoren, die sich in ihrer Arbeit auf eigene Erfahrungen stützen, haben einen großen Vorteil: Sie wissen, wovon sie sprechen. Ein erheblicher Teil ihrer Recherche begründet sich in der aktiven und wahrhaftigen Erinnerung12 dessen, was sie selbst erlebt haben. Sie kennen die widersprüchliche oder scheinbar unlogische Gefühlswelt ihrer Figuren.

Denn Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie manchmal (scheinbar) im Widerspruch zu einer äußeren, objektiven Realität stehen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn wir angesichts eines langersehnten Ereignisses aus scheinbar unerklärlichen Gründen Angst, Unbehagen oder Traurigkeit empfinden, statt uns, wie erwartet, zu freuen13.

Ein weiteres Merkmal von Gefühlen ist, dass wir sie nicht kontrollieren können. Kein Mensch kann sich vornehmen, was er unter bestimmten Bedingungen empfinden wird. Und häufig ist das, was wir tatsächlich in einer bestimmten Situation empfinden, völlig verschieden von dem, was wir uns für diesen Fall vorgestellt haben.14

[26]Aber wie können sich Autoren in ihrer Arbeit auf eigene Erfahrungen stützen, ohne sich bei ihren Geschichten auf autobiografische Ereignisse zu beschränken? Eine Möglichkeit besteht darin, einen »Zipfel zu erhaschen«, indem man eigene Erfahrungen, die auf emotionaler Ebene vergleichbar sind, so unverfälscht wie möglich erinnert und sie dann auf die Geschichte und ihre Figuren überträgt.

Besonders anschaulich lässt sich diese Methode erklären, wenn wir sie auf Geschichten anwenden, deren Umstände oder Erfahrungen die der meisten Menschen sprengen. Erfahrungen, die wir nie gemacht haben und voraussichtlich auch nie machen werden, können wir nicht autobiografisch erzählen und müssen gezwungenermaßen auf eine Technik zurückgreifen, die es uns ermöglicht, uns dem Geschehen und den damit verbundenen Emotionen anzunähern. Die wenigsten unter uns haben zum Beispiel die Erfahrung gemacht, wie es ist, an Leib und Leben bedroht zu sein. Das genau aber ist die Grunderfahrung einer Hauptfigur in einem Thriller. Woher kann man als Autor wissen, was die Figur in den einzelnen Momenten empfindet und wie sie entscheidet, wenn sie um ihr Leben fürchten muss? Wie kann man die Figur und ihre Geschichte schreiben, wenn man selbst diese Erfahrungen noch nie gemacht hat? Eine gute Möglichkeit besteht darin, sich an eine Situation zu erinnern, die im Nachhinein betrachtet möglicherweise völlig harmlos war. Aber die sich, während sie uns widerfahren ist – und wenn auch nur für einen Moment – so angefühlt hat, als wären wir an Leib und Leben bedroht gewesen.

Sobald wir uns aktiv daran erinnern und uns unsere Gedanken, Gefühle und unmittelbaren Impulse in diesem Augenblick vergegenwärtigen, erhalten wir einen Zugang zu unserem Protagonisten und zu der Geschichte, die wir erzählen möchten. Wesentlich ist dabei, dass wir diese Erinnerung nicht nur intellektuell, das heißt ausschließlich »mit dem Kopf« vollziehen. Nur wenn wir ein Ereignis oder eine Situation mit allen unseren Sinnen erinnern und wahrnehmen, können wir die widersprüchlichen oder unerwarteten Gefühle entdecken, die diese in uns auslösen.

Es geht darum, sie in unserer Erinnerung zu durchleben, um uns durch unsere eigenen Emotionen, Gedanken und Impulse denen unserer Figur anzunähern. Wir stellen auf der Ebene einer subjektiven, emotionalen Realität eine Übereinstimmung zwischen unserer erlebten Situation und der unseres fiktiven Protagonisten her. Diese Technik erleichtert es ungemein, wahrhaftige Charaktere zu erschaffen, deren Reaktionen und Handlungen für das Publikum glaubwürdig und nachvollziehbar sind.

[27]Recherche

Während das aktive Erinnern subjektiv ähnlicher Situationen, samt der damit verbundenen Emotionen, eine Form der inneren Recherche darstellt, garantiert eine äußere Recherche, dass Sie als Autor – auch was die objektiven Fakten angeht – wissen, wovon Sie sprechen.

Möglichst alles über die Figuren, ihre Welt, die Ausgangssituation, bzw. den Grundkonflikt zu wissen, schafft darüber hinaus Selbstvertrauen und gibt die Sicherheit, dass man den Figuren und ihrer Geschichte gerecht wird. Vorsicht ist geboten, wo die Suche nach Informationen nicht enden will. Wenn Sie auch nach gründlicher Recherche nicht damit aufhören können, Bücher zu wälzen, Filme zu schauen und das Internet nach Erfahrungsberichten durchzuforsten, sind Sie womöglich Ihrem inneren Zensor auf den Leim gegangen, der Sie auf diese Weise erfolgreich davon abhält, Ihre Ideen niederzuschreiben. Bei nicht enden-wollenden Recherchen ist auch deshalb Vorsicht angesagt, da man riskiert, sich in so kleinteiligen Details zu verlieren, dass einem die Geschichte, die man ursprünglich einmal erzählen wollten, schlicht abhanden kommt.

Plot, Premise und dreidimensionale Charaktere – was zuerst?

Die Frage taucht immer wieder auf: zuerst die Geschichte entwickeln und dann an den Charakteren arbeiten? Oder umgekehrt? Oder womöglich zuerst ein Thema, eine Aussage, festlegen und dann alles andere in Anlehnung daran erarbeiten?

Die Antwort lautet: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, welche Art von Geschichte Sie erzählen möchten. Ist es ein Action-lastiger Plot, bei dem ein Superheld seine Heimatstadt vor der völligen Zerstörung durch einen Irren retten muss (DIE HARD)? Oder ist es die Geschichte eines pensionierten Exzentrikers, der sich nach dem Tod seiner Frau auf die Reise zu seiner entfremdeten Tochter macht und dabei sich selbst kennenlernt (ABOUT SCHMIDT)? Während Sie die erste Story zunächst entwickeln können, ohne Ihre Figuren gut zu kennen, müssen Sie die Charaktere der zweiten Geschichte sehr gut kennen, bevor Sie entscheiden können, wie sich der Plot entwickeln wird.

Es kommt auch darauf an, was der Ursprung Ihrer Geschichte ist, und welche Teile in Ihrer Fantasie schon ausgeprägter vorhanden sind. Spukt eine Figur in Ihrem Kopf, ein Mensch, der Sie fasziniert und dessen Geschichte Sie erzählen möchten, auch wenn Sie vielleicht noch nicht genau wissen, was Ihrem Protagonisten[28] zustoßen wird? Dann werden Sie vermutlich damit anfangen, sich Ihre Figuren zunächst genauer zu erarbeiten und versuchen herauszufinden, wer genau sie sind, was sie umtreibt und wie ihr Leben aussieht. Oder haben Sie eine Kette von Ereignissen vor Augen, ein »Was-wäre-wenn-Szenario«, und überlegen sich erst dann, welche Personen Ihre Story vorantreiben werden und warum? Dann »spinnen« Sie wahrscheinlich zunächst den Plot weiter, bevor Sie sich eingehender mit den Figuren beschäftigen.

Vorsicht ist geboten für alle, die mit einem Thema starten. Wer eine Geschichte und ihre Figuren lediglich dazu benutzt, eine politische oder moralische Aussage zu belegen, riskiert, einen blutleeren »Thesenfilm« zu schreiben. Geschichten, die einem Konzept oder einer Ideologie untergeordnet sind, wirken konstruiert und schaffen es meist nicht, das Publikum emotional in das Geschehen einzubinden. Wenn die »Message« dominiert, sind Handlung und Charaktere meist stark vereinfacht und deshalb wenig glaubwürdig. Zuschauer möchten lieber unterhalten, statt belehrt zu werden. Gegen eine Aussage, die im Subtext subtil mit der Geschichte verwoben ist, oder die der Zuschauer gar aus eigener Schlussfolgerung aus dem Geschehen selbst ableiten kann, ist dagegen nichts einzuwenden (vgl. Kapitel 5, Text und Subtext, S. 125).

Subjektives Drama vs. objektives Drama

Ein Kleinkind macht erste unbeholfene Gehversuche auf einer Klippe, von der aus es 150 Meter steil in den Abgrund geht. Gefährliche Waffen wechseln ihren Besitzer. Zwei Karatemeister werden in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Eine verführerische Frau schwebt lächelnd an einer Gruppe junger Männer vorbei. All diese Situationen haben eines gemeinsam: Sie sind objektiv dramatisch.

In fast allen guten Filmen gibt es allerdings zahlreiche Momente, die subjektiv dramatisch sind. Sie fesseln uns nur deshalb, weil wir etwas über eine Figur wissen, sie kennen und mögen und uns dafür interessieren, was mit ihr geschieht. Denn mit Film-Charakteren verhält es sich ähnlich wie mit »echten« Menschen aus Fleisch und Blut: Sobald sie aus der anonymen Masse heraustreten, ein Gesicht bekommen und wir etwas über ihre Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Ziele und Motivationen erfahren und vertraut sind mit ihren Stärken und Schwächen, wird es uns schwerfallen, ihnen gegenüber gleichgültig zu bleiben. Einen Menschen kennenzulernen, verändert unsere Wahrnehmung von allem, was derjenige tut, grundlegend.

[29]Eine Frau dabei zu beobachten, wie sie zögerlich ihre Wohnung verlässt, bringt uns erst einmal nicht unbedingt dazu, uns vor lauter Anspannung in der Armlehne des Kinosessels festzukrallen. Doch wenn wir wissen, dass sie durch ein Trauma unter Agoraphobie15 leidet und alleine die Vorstellung, ihre Wohnung zu verlassen, eine Panikattacke mit Atemnot, Muskelkrämpfen, Herzrasen, Schwindel und Schweißausbrüchen bei ihr auslöst, werden wir die Szene mit anderen Augen betrachten. Zu wissen, dass sie sich dieser für sie sehr quälenden Erfahrung aussetzt, weil sie keine andere Möglichkeit sieht, einen Serienmörder zu stellen (COPYCAT), wird uns den Atem stocken lassen.

Genauso wenig wird ein Protagonist, der eine Rede halten muss, zunächst wenig Anteilnahme in uns hervorrufen. Zu erfahren, dass es sich dabei um den König von England handelt, der seinem Volk während des Kriegs in einer Radioansprache Mut zusprechen muss, obwohl er so stark stottert, dass er zeitweise kein Wort herausbringt (THE KING’S SPEECH), lässt uns mitfiebern, genauso wie uns ein Charakter, der tanzen lernt, emotional berührt, wenn wir zuvor Zeuge davon geworden sind, wie unerträglich körperliche Nähe für einen Autisten wie ihn ist (RAIN MAN).

Eine Geschichte, dessen Geschehen sich ausschließlich auf objektiv dramatischen Szenarien aufbaut, wird die Ereignisse und Effekte sowie deren Auswirkungen ins Unermessliche steigern müssen, um das Interesse des Publikums nicht zu verlieren. Wirkliche emotionale Anteilnahme (abgesehen von möglichen Adrenalin-Schüben) wird sich ohne subjektiv dramatische Situationen nicht einstellen.

Übungen

Ein Hinweis vorneweg: Heben Sie alles, was Sie im Folgenden erarbeiten, auf. Es wird Ihnen jeweils als Basis für weitere Übungen in diesem Buch dienen.

1– Augen & Ohren auf

Wann immer sich die Gelegenheit ergibt – im Zug, beim Einkaufen, im Café, an Ihrem Arbeitsplatz – beobachten Sie Ihre Umwelt, belauschen Sie Gespräche und überlegen Sie, was es mit allem auf sich hat.

[30]Was ist eine mögliche Ursache für das von Ihnen beobachtete Verhalten?

Was könnte vorgefallen sein?

Wie sehen die Umstände aus?

Was steht für die Beteiligten auf dem Spiel?

Die nachfolgenden Übungen eignen sich, wenn Sie bereits über eine vage oder auch schon konkretere Idee für eine Geschichte oder für die Figuren, die sie bevölkern, verfügen. Für alle, die noch gar keine Idee haben: Überspringen Sie die folgenden Übungen, wir werden an anderer Stelle dazu zurückkehren.

2 – Mit allen fünf Sinnen

Üben Sie Ihre Vorstellungskraft, indem Sie die Augen schließen und sich die zentralen Orte, an denen Ihre Geschichte spielt, in sämtlichen Details vorstellen:

Ist es dunkel oder hell? Durchflutet von Tageslicht? Oder ein Raum ohne Fenster, jeder Zentimeter mit Neonröhren grell ausgeleuchtet?

Wie sind die Räumlichkeiten (oder die Landschaft)? Verwinkelt? Eng? Oder weitläufig?

Welche Farben dominieren?

Stellen Sie sich den Geruch vor. Was verbinden Sie mit diesem Geruch?

Welches Gefühl überkommt Sie, wenn Sie sich in Gedanken an diesem Ort aufhalten? Erinnert es Sie an Orte, die Sie kennen?

Stellen Sie sich die Geräuschkulisse vor. Möglichst plastisch. Ist es laut? Chaotisch? Oder totenstill? Wenn Sie sich in Ihrer Fantasie an diesem Ort bewegen, verursachen Sie dabei Geräusche?

Ist es ein Ort, an dem Sie sich sicher und geborgen fühlen?

Sind noch andere Menschen da oder sind Sie allein?

Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Lassen Sie Ihre Fantasie schweifen und malen Sie sich alles in allen Einzelheiten vor Ihrem geistigen Auge aus.

3 – Fühlen

Wie würden Sie unter bestimmten Umständen handeln? Was empfinden Sie, wenn Sie sich in die Haut eines anderen versetzen? Was müsste passieren, damit Sie Dinge tun, die Sie vielleicht noch nie in Ihrem Leben getan haben? Gibt es etwas, das vergleichbar ist mit den Ereignissen, die Ihren Figuren widerfahren oder den Orten, an denen Ihre Geschichte spielt? Falls möglich, suchen Sie die [31]Orte auf. Welche Atmosphäre herrscht dort? Wie gehen die Menschen miteinander um? Was empfinden Sie selbst, während Sie dort sind?

4 – Das Herz Ihrer Geschichte (1)

Setzen Sie sich an einen Ort, an dem Sie ungestört sind und nehmen Sie sich 30 Minuten Zeit. Notieren Sie alle Begriffe und Assoziationen, die Ihnen zu Ihrer Idee einfallen. Dabei geht es nicht darum, alles aufzuschreiben, was die Stimmung und Atmosphäre Ihrer Filmidee widerspiegelt. Überlegen Sie stattdessen, ob es Ereignisse, Grundkonstellationen oder Konflikte gibt, die Sie mit Ihrer Idee in Verbindung bringen.

Vielleicht haben Sie den Eindruck, dass Ihre spontanen Einfälle gar nicht zu Ihrer Idee passen. Schreiben Sie sie trotzdem auf. Zensieren Sie Ihre Ideen nicht. Vielleicht eignet sich der ein oder andere Einfall als »Sprungbrett« für andere Assoziationen, die sich besser als zentrale Idee Ihrer Geschichte eignen. Oder aber Sie stellen zu einem späteren Zeitpunkt fest, dass Ihre Assoziation sehr wohl passt, nur wissen Sie jetzt noch nicht, wie.

Geht es darum, sich von einer Abhängigkeit zu befreien und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen? Ist es also so etwas wie eine Geschichte über das Erwachsenwerden? Dabei spielt es keine Rolle, ob Ihre Protagonisten dem Alter nach bereits erwachsen sind. Es gibt Menschen, die sich nach ihrem Abnabelungsprozess von den Eltern nahtlos in die Abhängigkeit zu einer anderen Autoritätsperson begeben und niemals wirklich autark und selbstständig werden. (THELMA & LOUISE).

Oder steht ein Mensch im Mittelpunkt Ihrer Geschichte, der sich plötzlich in einer völlig fremden Welt zurechtfinden muss? Also ein »Fish-Out-Of-Water«-Szenario16 (PRETTY WOMAN, THE BIG LEBOWSKI)?

Oder geht es um einen Helden, der alles dafür tut, um die Aufmerksamkeit und Anerkennung einer Vaterfigur zu bekommen (CATCH ME IF YOU CAN)?

Nehmen Sie sich die Freiheit, auch scheinbar völlig abwegige Ideen zu entwickeln und in Gedanken weiterzuspinnen. Schreiben Sie alles auf. Werden Sie nicht nervös, falls Ihnen zunächst nichts einfällt. Bei dieser Übung geht es nicht darum, eine »Lösung« für etwas zu finden, sondern Sie dazu anzuregen, sich Gedanken über die verschiedenen menschlichen Grundkonflikte zu machen. Dabei können [32]Sie das Gedankenspiel auch umdrehen und sich völlig frei von Ihrer Geschichte eine zentrale Idee überlegen. Anschließend schauen Sie, welche Auswirkungen dies auf Figuren und Handlung hätte. Schließlich legen Sie das Ergebnis dieser Übung in Ihrer Materialsammlung ab. Wir kommen später wieder darauf zurück.

5 – Das Herz Ihrer Geschichte (2)

Wenn Sie über einen längeren Zeitraum über Storyprobleme grübeln und sich von Menschen, die Ihnen nahestehen oder etwas von Dramaturgie verstehen, ein Feedback erbitten oder Ihren Stoff mit Ihnen diskutieren, werden die Bilder, Töne und Stimmungen, die Sie anfangs so klar vor Augen hatten, immer blasser werden. Es kann sogar passieren, dass Sie irgendwann das Interesse an Ihrer Geschichte verlieren oder zumindest nicht mehr genau sagen können, was Sie an dieser Geschichte und ihren Figuren interessiert hat, warum Sie sie spannend fanden und erzählen wollten. In diesem Fall ist es außerordentlich hilfreich, sich an die anfänglichen Bilder, Töne und Gefühle zu erinnern und sie erneut zu durchleben. Dies wird nicht nur Ihre Leidenschaft für die Geschichte erneut aufleben lassen, es wird Ihnen auch helfen, den Kern Ihrer Geschichte, ihr »Herz« wiederzufinden.

Suchen Sie einen Ort auf, der Ihnen vertraut ist, an dem Sie allein sind und wo Sie sich wohlfühlen. Das kann eine Parkbank, Ihr Sofa oder ein Tisch im halbleeren Café im Bahnhof sein. Es kann hilfreich sein, einen Ort zu wählen, an dem der Blick in die Ferne schweifen kann und wo man Platz um sich herum hat. Sie können aber auch eine Umgebung wählen, die der Welt, in der Ihre Geschichte spielen soll, ähnlich ist oder an der eine annähernd gleiche Stimmung herrscht. Vermeiden Sie große Kontraste zwischen der Außenwelt und Ihrer Fantasie. Es ist schwierig, sich die Stimmung in einem eiskalten, dunklen Kellerloch, in dem ein Horrorthriller spielt, vorzustellen, wenn Sie bei 35oC im Schatten unter einer Palme Kokosmilch schlürfen – und umgekehrt. Versetzen Sie sich in die Welt, in der Ihre Geschichte spielt. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf:

Was verbinden Sie mit Ihrer Geschichte?

Welche Musik kommt Ihnen in den Sinn? Mozart? Oder eher die Stones? Suchen Sie nach einem »Soundtrack«, nach Musikstücken, die zu Ihrer Geschichte passen.

Welche Gefühle durchleben Sie, wenn Sie sich in Ihrer imaginierten Welt bewegen?

Welche Farben haben Sie vor Augen, was riechen Sie?

Gibt es Dinge, die Sie gelesen, gehört, erlebt haben, die Ihnen dazu einfallen?

Welches Lebensgefühl assoziieren Sie mit Ihren Figuren?

[33]Welche Eigenschaften der Figuren fesseln Sie?

Was fasziniert Sie an Ihrer Geschichte? Wofür brennen Sie?

Gibt es Fotos, Bilder, Plastiken, Zeitungsschnipsel, die Sie mit Ihrer Stoffidee in Verbindung bringen?

Fragen Sie sich außerdem: Ist Ihre Geschichte komisch? Tragisch? Angsteinflößend?

Schreiben Sie alles auf, wahllos, ohne Zensur. Machen Sie sich keine Gedanken über korrekte Formulierungen oder das Format, in dem Sie schreiben. Sie können alles in Stichworten skizzieren oder ausformulieren – so, wie es Ihnen in diesem Moment leichter fällt. Notieren Sie die Titel der Musikstücke, scannen Sie Bilder ein, heften Sie Farbfotokopien oder Ausdrucke an Ihre Notizen. Nehmen Sie sich Zeit, Ihre Figuren, Ihre Geschichte und die Welt, in der sie spielt, auf diese Weise einzufangen. Wenn Sie alles aufgeschrieben haben, legen Sie es beiseite. Heften Sie es irgendwo ab, wo Sie es nicht täglich vor Augen haben, aber wo Sie es gut wiederfinden. Zu einem späteren Zeitpunkt werden diese Notizen sehr nützlich sein.[34]

1 »Mit Gott gegen Staat und Kapital. Aktion der katholischen ›Ordensleute für den Frieden‹, aus Junge Welt vom 18.06.1998; http://iof-online.zzl.org/jauche.html

2 In diesem Zusammenhang beschränkt sich »erfolgreich« nicht auf Kassenschlager und Quotenhits. Gemeint sind Geschichten, die über Jahrzehnte, oder in einigen Fällen Jahrhunderte, weitergegeben werden. Theaterstücke, die immer wieder aufgeführt werden, gehören genauso dazu wie Filme, die Menschen auch Jahrzehnte später noch berühren, sie zum Lachen bringen, zum Weinen, Hoffen oder Sich-Fürchten.

3 Am 12. Januar 2007 hat die Washington Post in einer Washingtoner Metrostation ein Experiment durchgeführt. Sie baten Joshua Bell, einen der größten zeitgenössischen Violinisten, inkognito ein Konzert zu spielen. Von 1097 Pendlern, die in den 40 Minuten, die er spielte, an ihm vorbei durch die Metrostation zur Arbeit eilten, interessierten sich lediglich sieben für die musikalische Darbietung und hörten zwischen drei und zehn Minuten zu. Die meisten der anderen Fahrgäste warfen dem Violinisten nicht mal einen Blick zu, obwohl der Geiger dieselben Stücke spielte, die er drei Tage zuvor während eines ausverkauften Konzerts darbot (für das man rund 100 USD für mittelmäßige Sitzplätze hinblättern musste). Zwei kleine Kinder, jeweils an der Hand ihrer Mütter, blieben fasziniert stehen und wurden von ihren Müttern weggezogen. (»Pearls Before Breakfast. Can one of the nation’s great musicians cut through the fog of a D.C. rush hour?« http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/04/04/AR2007040401721.html)

4 ALIEN erzählt von einer Raumschiff-Besatzung, die sich, durch einen Notruf angelockt, auf einen fremden Planeten verirrt. Dort wird ein Mitglied der Crew von einem Monster angefallen, das sich an seinem Gesicht festkrallt und nicht entfernt werden kann, da es droht, sein Opfer zu erdrosseln. Nachdem das männliche Opfer der Attacke den unheimlichen Vorfall scheinbar glimpflich überstanden hat, wird es wenig später von heftigen Krämpfen heimgesucht und ein kleines, schleimiges Wesen durchbricht seine Bauchdecke. Das frischgeschlüpfte Monster geht auf Menschenjagd und bringt ein Crew-Mitglied nach dem anderen um.

5 THE THING FROM ANOTHER WORLD (DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT) IT! THE TERROR FROM BEYOND SPACE (ohne deutschen Titel); THE ANGRY RED PLANET (WELTRAUMSCHIFF MR-1 GIBT KEINE ANTWORT; THE THING (DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT/Remake)

6 Dan O’Bannon in: THE ALIEN SAGA (USA 2002, TV)

7 Dan O’Bannon in: ALIEN EVOLUTION (UK 2001, TV)

8 Drehbuchautor von ALIEN über die zentrale Idee, die dem Film zugrunde liegt.

9 ibid.

10 Interview mit Ridley Scott in: CINEFANTASTIQUE Vol 9, No 1. Sonderausgabe ALIEN (1979), S. 14

11 Das Originalzitat lautet: »Write what you know.«

12 »Aktive und wahrhaftige Erinnerung« ist das Gegenteil von »Nostalgie«. Es bedeutet, Erlebnisse, die wir als unübersichtlich, unverständlich oder widersprüchlich wahrgenommen haben, nicht im Nachhinein in unserer Erinnerung zu verklären oder anderweitig zu verzerren, sondern sie mit allen Reaktionen und Gefühlen so zu erinnern, wie wir sie seinerzeit erlebt haben.

13 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der sogenannte »Baby Blues«.

14 1997 gelang es der Tierschutzorganisation PETA, unentdeckt in einem Tierversuchslabor zu filmen. Das auf Video dokumentierte Verhalten der Labormitarbeiter schockierte die Öffentlichkeit. Zusätzlich zur Qual, die die zu Versuchszwecken gehaltenen Beagle-Hunde aufgrund der Tierversuche erleiden mussten, wurden sie von den Mitarbeitern ohne jeden ersichtlichen Grund misshandelt. (http://en.wikipedia.org/wiki/Animal_testing#Prominent_cases) Eine verhaltenspsychologische Studie, die die Auswirkung von Tierversuchen auf Labormitarbeiter untersucht hat, hat eine Erklärung für das grausame Verhalten. Sie zeigt auf, dass die Labormitarbeiter aufgrund ihrer täglichen Tätigkeit, die den Tieren erhebliches Leiden zufügt, unter starken Schuldgefühlen leiden. Da ihre Tätigkeit rational gerechtfertigt ist – es soll helfen, kranke Menschen zu heilen –, werden Zweifel und Gewissensbisse erfolgreich unterdrückt. Was bleibt, sind bedrückende Gefühle und der Verlust an Selbstachtung. Die Labormitarbeiter empfinden Ärger und Wut auf die Tiere, deren Leiden (und damit die Tiere selbst) sie unbewusst für diese Gefühle verantwortlich machen. Statt wie erwartet Mitgefühl, Trauer und Scham angesichts des Leids der Tiere zu empfinden, reagieren sie ihre aufgestauten, aggressiven Gefühle am vermeintlich »Schuldigen« – dem gequälten Tier – ab.

15 Agoraphobie (gr. ἀγορά agorá »Marktplatz«, φόβος phóbos »Furcht«) gehört zur Gruppe der Angststörungen. Agoraphobiker werden von Panikattacken heimgesucht, wenn sie sich an ihnen unbekannten Orten aufhalten oder alleine verreisen. Die Angstgefühle können so stark ausgeprägt sein, dass Agoraphobiker sich außerstande sehen, die eigenen vier Wände zu verlassen.

16 Ein Protagonist, der sich aufgrund äußerer Umstände in einer ihm unbekannten Situation wiederfindet, mit der er nicht angemessen umgehen kann. Geschichten, die sich dieses Szenario zueigen machen, sind häufig Komödien, da das »unpassende« Verhalten der Hauptfigur viele komische Situationen produziert.

[35]2. Lebendige Figuren statt zwei dimensionaler Pappkameraden

Menschen im Mittelpunkt

Ich bin neugierig auf andere Menschen. Das ist die Essenz meiner Arbeit. Ich möchte wissen, wie es wäre, wenn ich sie wäre.

Stanley Kubrick

Im Mittelpunkt jedes gelungenen Drehbuchs, einschließlich plotlastiger Geschichten wie zum Beispiel bei Actionfilmen, stehen Menschen. Denn jede Geschichte fesselt uns nur dann, wenn die Protagonisten und deren Schicksal unser Interesse wecken.

Um sich auf eine Geschichte, einen Film einzulassen, investiert ein Zuschauer zwei Stunden Lebenszeit und dazu noch seine Gefühle (Angst, Hoffnung, Wut, Sehnsucht). Er riskiert, dass er am Ende des Films verstimmt ist, verärgert oder verängstigt, oder sich, viel schlimmer noch, von den Filmemachern nicht ernst genommen und an der Nase herumgeführt fühlt. Wenn er in einem Film zweidimensionalen, schlecht entwickelten Charakteren begegnet, die sich wie Schachbrettfiguren durch die Geschichte bewegen und denen er ihre Herkunft (nämlich die schlampige Fantasie des Autors) anmerkt, gibt es keinen Grund für einen Zuschauer, dieses Risiko einzugehen und sich emotional zu öffnen.

Wir alle möchten Geschichten von Menschen erzählt bekommen, von denen wir glauben, dass sie schon gelebt haben, bevor die Geschichte im Film losgeht und von denen wir uns vorstellen können, dass sie, auch wenn der Film zu Ende ist, weiter existieren (es sei denn, sie sterben in der Geschichte).

Dreidimensionale Charaktere

Damit Filmfiguren authentisch und reell wirken, müssen sie uns ähneln. Erste Voraussetzung dafür ist, dass es sich bei den Figuren im Film um Menschen, oder mindestens um Wesen mit menschlichen Zügen handelt. Ist dies der Fall, spricht man von einer gut entwickelten, dreidimensionalen Figur. Was aber ist in diesem Zusammenhang konkret mit den »drei Dimensionen« gemeint?

[36]1. Dimension: Physiologie

Die physische Dimension hat mit allem zu tun, was das äußere Erscheinungsbild einer Figur ausmacht. Und auch wenn wahrscheinlich vieles davon für die Geschichte irrelevant ist und ein großer Teil im Drehbuch deshalb keine Erwähnung finden wird, sollten Sie als Autor alles über die Figur wissen. Denn nur dann können Sie kompetent entscheiden, was davon wichtig ist und was Sie weglassen, weil es für die Geschichte nicht wesentlich ist.

Wie alt ist die Figur?

Mann oder Frau?

Kind oder Erwachsener?

Dick? Dünn?

Blond? Brünett?

Schön? Hässlich?

Wie bewegt sie sich?

Wie spricht sie?

Hat sie ein Gebrechen?

Hat sie einen äußerlichen Makel?

2. Dimension: Soziologie

Zur soziologischen Dimension zählen immer auch das Milieu und das Umfeld, in dem wir uns in der Vergangenheit bewegt haben; all das, was uns geprägt hat, was wir nicht abstreifen können, auch wenn sich unsere Lebensumstände mittlerweile komplett geändert haben. Wenn Sie eine Filmfigur erschaffen, müssen Sie sich also nicht nur überlegen, in welcher sozialen Schicht sich die Figur zum Zeitpunkt der erzählten Geschichte bewegt, sondern auch, woher sie kommt und welchen Weg sie bis in die erzählte Gegenwart eingeschlagen hat.

Aus welcher sozialen Schicht kommt die Figur?

Ist sie im akademisch geprägten, bürgerlichen Milieu groß geworden?

Oder arbeiten ihre Eltern in der Fabrik oder an der Kasse des Supermarktes?

Kommt sie aus einem religiösen Haushalt?

Oder ist sie ein Kind von politisch aktiven, urbanen Nomaden, deren wechselnde Behausungen Treffpunkt und Matratzenlager für Gleichgesinnte war?

In welche Schule ist sie gegangen?

In welchem Stadtteil hat sie gelebt?

War ihre Familie im Viertel angesehen? Oder waren sie immer die Underdogs?

[37]Genauso wesentlich sind die »sozialen Ambitionen« einer Figur:

In welchen Kreisen bewegt sie sich jetzt?

Auf welche Weise machen sich Spuren der Vergangenheit im Leben der Figur heute bemerkbar?

Wohin möchte sie? Will sie sozial aufsteigen? Sich verändern? Warum?

Auf welche Art und Weise verfolgt sie ihre Ambitionen?

3. Dimension: Psychologie

Die psychologische Dimension ist meist eng verwoben mit der physischen und der soziologischen Dimension. Häufig ist sie ein Produkt von beiden. Sie schließt Fragen zu den moralischen Werten der Figur ein, zu ihren Überzeugungen, ihrem Ehrgeiz, ihren persönlichen Zielen. Sie ist oft eine Folge der größten Enttäuschungen oder auch Erfolgen einer Figur und eng verknüpft mit ihrem Temperament.

Welche Haltung hat die Figur dem Leben gegenüber?

Welche Qualitäten und Fähigkeiten?

Aber auch: welche Ängste, Obsessionen, Hemmungen?

An welchen Aberglauben und Vorurteilen hängt sie?

Die sexuelle Orientierung zählt genauso dazu wie das Verhältnis zu Geschwistern, Eltern, Freunden, Kollegen, Vorgesetzten, Partnern oder Ex-Partnern.

Die psychologische Dimension beinhaltet vor allem auch die Frage nach den Widersprüchen und Ambivalenzen einer Figur: Wir alle haben moralische Werte, denen wir manchmal selbst nicht folgen, und Überzeugungen, die wir unter bestimmten Bedingungen verraten würden. Wie sieht es bei unserer Figur aus? Die Widersprüche im Wesen einer Figur werden auch »Brechungen« genannt.

Wo bricht sie mit ihren Prinzipien?

Tut sie es offen? Oder eher heimlich?

Nur in einer Extremsituation? Oder regelmäßig?

Werden die Brüche mit pseudo-logischen Erklärungen legitimiert?

(»Rauchen ist sehr schädlich. Das trifft aber nicht auf Rauch von Zigarren zu, die sind unschädlich, da Zigarrenraucher den Rauch nicht inhalieren«, oder: »Ich bin aus ethischen Gründen Veganer. Ich kann nicht sehen, warum meine Lederschuhe dabei ein Problem sein sollen – soll man etwa das Leder der Tiere, die für den Fleischkonsum ermordet werden, wegschmeißen?«).

Werden die Übertretungen der eigenen moralischen Werte verheimlicht oder gar verdrängt?

Welche Geheimnisse hat die Figur? Vor wem?

[38]Brechungen finden sich häufig dort, wo starke Gefühle, Begierden oder Triebe im Spiel sind, die wir nur schwer kontrollieren können. Eine Person kann zum Beispiel die »moralischen Verfehlungen« anderer rigoros verurteilen und sich in einer Situation wiederfinden, in der ihr eigenes Handeln in sehr starkem Widerspruch zu ihren Prinzipien steht und sie in Gewissenskonflikte bringt.

Wenn man von Brechungen spricht, muss es sich nicht stets um große, innere Konflikte handeln. Im Alltag finden sich überall zahlreiche Beispiele kleinerer Brüche: ein überzeugter Vegetarier, der gerne andere darüber belehrt, dass der Konsum von Fleisch ethisch nicht vertretbar ist. Und den man irgendwann auf einem Straßenfest sieht, wie er gierig eine Bratwurst verschlingt. Eine Frau mit ausgeprägtem sozialem Gewissen, die bei einem Discounter, dessen Management bekannterweise seine Mitarbeiter schlecht behandelt, einkauft, weil es dort etwas billiger ist als anderswo. Widersprüche, Brechungen und innere Konflikte sind menschlich. Wir sollten sie deshalb auch unseren Filmfiguren nicht ersparen.

Biografie und Backstory einer Figur

Eine Biografie oder auch eine Backstory zu schreiben ist eine gute Möglichkeit, sich den drei Dimensionen einer Figur zu nähern.

Wie und wo ist diese Figur aufgewachsen?

Was war ihr Umfeld?

Was waren wichtige Ereignisse im Leben dieser Figur?

Was waren ihre Träume, Wünsche, Ziele? Und wie haben diese sich im Laufe der Zeit verändert?

Gibt es ein traumatisches Erlebnis im Leben dieser Figur?

Wie ist sie mit Enttäuschungen in ihrem Leben umgegangen?

Hat sie ein Geheimnis? Etwas, wofür sie sich schämt? Oder auf das sie heimlich stolz ist?

Wie sieht das Leben dieser Person heute aus? Ist sie glücklich damit oder frustriert?

Was sind ihre Erwartungen ans Leben?

Haltung entwickeln

Wenn wir uns zum Beispiel ausdenken, dass unser Held aus ärmlichen Verhältnissen kommt, so sagt das zunächst nicht so viel über ihn aus. Erst wenn wir uns [39]überlegen, wie er dazu steht, können wir mehr über ihn erfahren: Ein Protagonist, der sich ein Leben lang für seine Herkunft schämt, hat wenig gemein mit jemandem, der seinen Stallgeruch nicht verstecken will und kein Problem damit hat, dass es in seiner Familie bodenständig zugeht. Während der Erste auf jeden Fall vermeiden möchte, dass die neue Freundin seine Familie kennenlernt, weil er sich für diese schämt (sein Vater findet nichts dabei, im Unterhemd im Garten zu grillen und seine Brüder rülpsen bei Tisch), wird Letzterer es nicht so dramatisch finden, dass in der Familie ein derber Umgangston herrscht oder dass der Kleidungsstil der kleinen Schwester in anderen Kreisen als unpassend oder prollig angesehen werden könnte.

Beide mögen aus demselben Milieu stammen und unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sein. Was sie unterscheidet, sind nicht die Ereignisse, die ihnen im Laufe ihres Lebens widerfahren sind, sondern ihre innere Einstellung zu dem, was sie erlebt haben. Es geht also weniger um die Biografie, das Objektive, das Erlebte selbst, sondern darum, was ein Mensch empfindet, dem etwas zustößt. Die Gefühle und die Sichtweise desjenigen, der eine bestimmte Erfahrung durchmacht, sind viel aussagekräftiger als die äußeren Umstände.

Aus diesem Grund ist es wesentlich, dass wir uns nicht nur biografische Fakten und Ereignisse aus dem Leben einer Figur ausdenken. Gleichzeitig müssen wir zu allem, was wir in der Biografie unserer Figuren sammeln, überlegen: »…und wie steht sie dazu?« Wenn wir unsere »biografischen Fakten« mit der Frage nach der Haltung der Figur verknüpfen, bringen uns unsere Überlegungen zur Biografie unserer Figuren und ihren drei Dimensionen viel weiter.

Fakten statt Urteile

»Er ist ein Muttersöhnchen«, »Sie ist sehr schüchtern und hat nicht viel Selbstbewusstsein«, »Er ist ein sympathischer Kerl«. Mit diesen knappen Sätzen beschreiben wir Menschen. Auch wenn es darum geht, eine Figur zu charakterisieren, werden sie gerne und häufig so, oder so ähnlich, benutzt.

Es scheint, als würde es uns damit gelingen, die Figur genau zu erfassen. Tatsächlich aber haben wir unseren Protagonisten damit nicht treffend charakterisiert, sondern lediglich bewertet. Wir haben ein Urteil über ihn gesprochen. Damit haben wir ihn in eine Schublade gesteckt. Unsere Bewertung sagt mehr über unsere subjektive Sicht auf ein bestimmtes Verhalten aus, als dass sie den Charakter eines Menschen beschreibt.

[40]Nehmen wir als Beispiel das »Muttersöhnchen«: Ich bin sicher, dass jeder von uns ein ganz eigenes Bild davon hat, was ein »Muttersöhnchen« ausmacht. Die Beschreibung ist deshalb sehr vage. Wenn wir uns hingegen Fakten ausdenken wie zum Beispiel diese: »Er hat mit 45 Jahren zum ersten Mal geheiratet, und als er auf Hochzeitsreise war, hat er jeden Tag seine Mutter angerufen«, wird das Bild von dieser Person sofort wesentlich klarer. Denn es stützt sich nicht auf eine Bewertung, sondern auf objektive Fakten. Welche Vorteile ergeben sich daraus?

Wir hätten mit diesem Faktum, das zunächst wie ein kleines Detail aus dem Leben eines Menschen erscheint, bereits ein sehr plastisches Bild von einer Figur geschaffen. Unsere subjektive Bewertung ist dazu gar nicht nötig. Im Gegenteil: Eine subjektive Bewertung verschließt uns den Zugang zu einem Protagonisten. Wir sind der Figur gegenüber voreingenommen. Von einem »Muttersöhnchen« würden wir uns alle distanzieren. Es dürfte schwierig sein, dieser Figur gegenüber Empathie zu empfinden.