Drei in Eins - Kerstin Dresing - E-Book
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Drei in Eins E-Book

Kerstin Dresing

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Beschreibung

Svenja ist in Dresden eine gefragte Social Media Expertin. Der Job führt sie für ein halbes Jahr nach Salzburg, wo ihr der Eventmanager Daniel begegnet. Die Liebe nimmt Fahrt auf. Hannah, die 15-jährige Tochter des Witwers, boykottiert jede Annäherung. Eine pubertäre Laune, glaubt Daniel. Svenjas Geduld wird auf eine harte Probe gestellt, bis in Dresden der Turbo für ihre Karriereleiter winkt. Zum Traummann in Salzburg gehört die Tochter, die ihr das Leben zur Hölle macht. Die Zeit rennt. Wird Hannah zum Zünglein an der Waage?

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Drei in Eins

Liebe gepatcht

Kerstin Dresing

© 2023 Kerstin DresingKerstin DresingBayernstr. 1A-5411 [email protected]: Texpertin Ellen Rennen, Team Textehexe Korrektorat: Romanufaktur Sabine Steck, Team TextehexeCoverdesign: Sandra Maier, Einzigartig-BuchdesignBuchsatz: Sandra LatoscynskiVertrieb: epubli - ein Service der Neopubli GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten.

Inhalt

1 Dresden

2 Salzburg

3 quadratour

4 Bürokram

5 Schubert

6 Rosenhügel

7 Leitbilder

8 Daniel

9 Lebensräume

10 Appetithappen

11 Hannah

12 Klangfarben

13 Auflösung

14 Feinabstimmung

15 Vater und Tochter

16 Dresden

17 Brunch

18 Vernissage

19 Altstadt

20 Dresden

21 Salzburg

22 Vorahnungen

23 Einstand

24 Pavillon

25 Küchengespräche

26 Party

27 Café Bazar

28 Nachwirkungen

29 Ausgeflogen

30 Ausflug

31 Fischerwirt

32 Herztöne

33 Gleitflug

34 Flugübungen

35 Neuigkeiten

36 Paragliding

37 Rainberg

38 Tacheles

39 Abreise

40 Showdown

41 Gefühlschaos

42 Fremdeinwirkung

43 Nachtschatten

44 Sachschaden

45 Planquadrate

46 Wiedersehen

47 Tatsachen

48 Umwege

49 München

50 Rückkehr

51 Salzburg

Kerstin Dresing, 1958 in Deutschland geboren, lebt seit vierzig Jahren in Salzburg. Ihre beiden Kinder sind erwachsen, die Erfahrungen als alleinerziehende Mutter verjährt, aber nicht vergessen. Sie war als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen tätig, leitete ein Filmprojekt und veröffentlicht seit zwanzig Jahren Kurzgeschichten in Anthologien nach dem Motto: Wer mit Worten fesselt, macht sich nicht strafbar.

 

 

Manchmal sind es die Umwege, die ans Ziel führen.

 

 

1 Dresden

 

Sie sah ihn wortlos an. Was hatte er gesagt?

»Erde an Svenja! Alles klar bei dir?«

»Ja«, sagte sie viel zu leise. »Ja klar«, wiederholte sie deutlicher, hob den Kopf, straffte den Körper und ließ den Blick zum Fenster wandern. Peter hatte einen der Flügel geöffnet, als müsste ein Notausgang frei bleiben.

»Na dann«, sagte er. Damit war ihre sechsmonatige Beziehung beendet. Na, dann ist ja alles gut, wäre wohl selbst ihm too much gewesen. Er hatte ihr höflich, aber bestimmt das Ende mitgeteilt. Es läge nicht an ihr. Echt jetzt? Diese dämliche Floskel kam in jeder schlechten Soap Opera vor. Sie hatten sich erst gestern noch an der Elbe getroffen, den Freitagnachmittag genutzt, um das Wochenende zu begrüßen, gechillt, Spaß gehabt. In jeder Hinsicht. Heute servierte er sie ab wie einen leer gegessenen Teller?

Svenja starrte ihn ungläubig an, die Filzpantoffeln klebten an ihren Füßen. Die klobigen Latschen hatte ihr Peter gleich beim ersten Besuch verordnet, um den makellosen Parkettboden zu schützen. Ihre roten Lieblingsbooties warteten an der Garderobe neben dem Eingang.

Er stand dicht vor ihr und sie sahen sich in die Augen wie so oft im vergangenen Halbjahr. Sein Atem roch nach Minze. Klebte womöglich eins der Kaugummis, die er so gern kaute, unter seinem Gaumen, während er sich von ihr trennte? Sie hob den Kopf, spürte seine Hände auf ihren Oberarmen. Diese Hände, die ihre intimsten Stellen kannten, mit denen er ihr Blut in Wallung gebracht hatte. Nun fühlte sie sich wie im Griff von Roboterarmen und zog unwillkürlich die Schultern hoch. Sie starrte den Mann an, den sie für einen Jackpot mit Zusatzzahl gehalten, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt hatte. Reisen, lange Partynächte und Gespräche über Gott und die Welt. Familie stand nicht oben auf ihrer Liste, so wenig wie bei ihm. Aber beruflich war es perfekt. Er in der Immobilienbranche, sie im Social Media Bereich, das passte wie …

Sein Griff verstärkte sich kurz, als wollte er sie in die Gegenwart zurückholen.

»Wann geht’s denn bei dir los?« Er lächelte unverbindlich. Eine dicke schwarze Fliege kam durch das offene Fenster und zog pfeilschnell mit einem lauten Brummen an ihren Köpfen vorbei. Peter zuckte und verfolgte den Flug mit gerümpfter Nase.

»Morgen fahre ich nach Salzburg. Die Arbeit beginnt am Montag, am ersten März. Das weißt du«, erinnerte sie ihn trocken.

Er nickte wohlwollend, der Druck seiner Hände ließ nach.

»Dann wünsche ich dir ganz viel Glück. Ehrlich! Du rockst das! Du bist die Beste.«

Svenja wollte fragen, woran es denn gelegen habe, wenn nicht an ihr, da klingelte sein Handy in der Hosentasche. Er ließ die Arme fallen, als hätte er sich verbrannt, und trat einen Schritt zurück.

»Da muss ich ran.«

Das wusste er, ohne einen Blick auf das Display geworfen zu haben. Sie verzog unwillig das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Peter senkte den Kopf, schob eine Hand in die Tasche.

»Ist auch alles gesagt«, antwortete Svenja in demselben geschäftsmäßigen Ton, den er für seine private Kündigung gewählt hatte. Das Handy am Ohr meldete er sich mit gedämpfter Stimme und drehte sich dabei weg. Seine freie Hand strich sanft über den schwarzen Marmor der Anrichte, auf der eine verchromte Schale mit polierten roten Äpfeln stand, die in der Sonne glänzten.

Svenja blickte auf seinen sportlich geformten Rücken, der in einem taillierten Hemd steckte. Zwei feine Falten liefen rechts und links von den Schultern in den Hosenbund und dokumentierten, dass es sich um ein frisches Hemd handelte, das bis vor Kurzem in einem der weißen Schränke gelegen hatte. Peter drehte den Kopf mit dem Handy am Ohr, hob kurz die freie Hand zum Abschied und ging nach nebenan in das Schlafzimmer mit dem King-Size-Bett. Er zog die Tür hinter sich zu. Die Fliege prallte mit einem Knall an die geschlossene Fensterhälfte und drehte wieder in den Raum ab. Svenjas Blick folgte ihr in die tiefe Steppe der Wohnung. Dann war sie verschwunden wie Peters leise Stimme nebenan. Sie rutschte in den Filzpantoffeln zum Fenster, ohne die Füße zu heben, wie ein Kind auf glattem Eis, und öffnete die andere Hälfte, um den Notausgang für die Fliege zu vergrößern. Die frische Luft tat gut. Nach einem ungewöhnlich milden Winter kündigte sich schon der Frühling an. Eine leichte Brise spielte mit einer Strähne ihrer langen roten Haare, die sie heute offen trug. Svenja stieg aus den Filzpantoffeln, ihre verschwitzten Füße klebten auf dem Parkett. Sie wackelte mit den Zehen und drehte sich um, mit dem Rücken an das Fensterbrett gelehnt. Nur das leise Murmeln aus dem Schlafzimmer erinnerte daran, dass hier ein Mensch lebte. Sie betrachtete die Einrichtung wie eine Kundin in einem Möbelhaus. Alles wirkte so steril und unpersönlich. Ganz anders als in ihrer geliebten Dachgeschosswohnung mit Büchern, Bildern und all den Souvenirs aus fernen Ländern, mit denen sie die Räume dekoriert hatte. Peter hatte, ganz Immobilienmakler, die Wohnung während ihrer Abwesenheit in Kurzzeitmiete vergeben wollen. Sie hatte abgelehnt, weil der Gedanke, dass Fremde in ihrem privaten Nest lebten, unangenehm war. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Hatte er da schon die Trennung geplant?

Für eine Projektarbeit würde sie ein halbes Jahr in Salzburg verbringen. Die Werbeagentur, bei der Svenja als Social Media Spezialistin arbeitete, gestaltete mit einer österreichischen Agentur eine Kampagne, um positive Signale in Gesundheitseinrichtungen zu setzen und das Image angesichts des Personalnotstandes zu verbessern. Ihre Aufgabe bestand darin, an einer Privatklinik zusammen mit Ärzten und Mitarbeitern ein neues Leitbild zu erstellen, auf dessen Basis später weitere Krankenhäuser und Gesundheitszentren bespielt werden sollten. Eine tolle Chance für mindestens eine Stufe auf der Karriereleiter. Svenja hatte spontan zugesagt und keinen Gedanken daran verschwendet, dass dieses Projekt einen Einfluss auf ihre Beziehung haben könnte. Sie war dreißig und noch lange nicht am Ziel ihrer beruflichen Wünsche. Peter hatte sie beglückwünscht und Pläne geschmiedet, wann und wie oft er sie besuchen würde.

Was für eine Schmierenkomödie!

Sie fühlte sich benutzt und verraten. Tränen der Wut stiegen auf. Wie naiv konnte man sein? Svenja biss entschlossen die Zähne zusammen. Jeder machte Fehler. Wer erkannte, dass er im falschen Film war, sollte aufstehen und gehen.

Ihr Blick wanderte zu der Obstschale. Die dicke schwarze Fliege saß auf einem der Äpfel. Svenja ging in einem Bogen zu der Anrichte und scheuchte den Brummer aus dem Fenster. Dann nahm sie sich einen der Äpfel, biss kräftig davon ab und legte ihn neben der Schale auf den blank polierten Marmor. Er schmeckte mehlig und sie war froh, als sie den Bissen geschluckt hatte.

Beim Anziehen der Booties sah sie ein letztes Mal zurück. Die Filzpantoffeln standen wie angenagelt vor dem offenen Fenster, als hätte nicht nur die Fliege diesen Ausgang benutzt. Sie zog die Wohnungstür sanft hinter sich ins Schloss. Ohne auf den Aufzug zu warten, lief sie mit schnellen Schritten die Treppen hinunter. Ihr Wagen wartete auf dem großen Besucherparkplatz zwischen zwei weißen Streifen.

Sie setzte sich ins Auto und wählte Birgits Nummer, ließ in wenigen Sätzen Wut und Frust heraus.

Birgit schnappte hörbar nach Luft.

»Das glaube ich jetzt nicht! Was für ein Arschloch! Das ist ihm heute spontan eingefallen? Einen Tag, bevor du nach Salzburg fährst? Wieso? Habt ihr gestritten? Gab es irgendwelche Leichen im Keller, die auferstanden sind?«

Bei der Vorstellung musste Svenja lachen. Birgit war eine Mischung aus bester Kollegin und guter Freundin. Sie hatten gemeinsam studiert und ihre Berufspraktika zusammen im selben Unternehmen absolviert. Mittlerweile arbeitete Birgit als Personalleiterin bei Handsome Electronics, Svenja war bei PixelartDresden geblieben. Das hatte am engen Kontakt und ihrer Freundschaft nichts geändert.

»Nicht, dass ich wüsste. Er hat keinen konkreten Grund genannt. Es war mehr so eine Schwurbelei, von allem etwas. Er ist so eingespannt bei seiner Arbeit, dass er den Kopf nicht für eine Beziehung frei hat. Es liegt nicht an mir, aber er möchte noch was erleben.«

Birgit schnaubte. »Er möchte noch was erleben? Und du nicht, oder wie? Was soll das denn heißen? Glaubst du, es ist, weil …« Sie zögerte und Svenja vollendete den Satz.

»Weil ich noch keine Familie will? Im Gegenteil. Er will doch auch keine! Stattdessen möchte er noch was erleben.«

»Ja, klar. Völliger Schwachsinn! Aber was meint er denn damit? Halligalli kann er doch auch mit dir haben.«

Svenja sah in den Rückspiegel und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

»Keine Ahnung. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Es war so selbstverständlich, als hätte ich die ganze Zeit damit rechnen müssen.«

»Meinst du, er hat eine andere?«

»Obwohl er keine Zeit hat? Das macht doch keinen Sinn. Er hat mich auf die Seite gestellt, als wäre mein Haltbarkeitsdatum abgelaufen.«

»Jetzt mach mal halblang. Vergiss den Typen schneller, als du dich in ihn verliebt hast. Freu dich auf Salzburg. Andere Mütter haben auch schöne Söhne und wer weiß, wie viele davon in Österreich herumlaufen. Ich wünsch dir Glück! Und halt mich auf dem Laufenden!«

Svenja verabschiedete sich lachend. Das Gespräch hatte ihr gutgetan und tatsächlich war es bestimmt nicht schlecht, sich nun ganz auf das Projekt in Österreich konzentrieren zu können. Morgen würde sie nach Salzburg fahren und ein neues Kapitel beginnen. Das freudige Kribbeln in ihrem Bauch reichte, um Wut und Frust beiseitezuschieben. Sie schenkte sich noch einen aufmunternden Blick in den Rückspiegel und fuhr los.

 

2 Salzburg

 

Noch fünfzig Kilometer bis Regensburg. Svenja gähnte ausgiebig. Sie brauchte dringend eine Pause. Es war fast Mittag und ein Coffee to go wäre jetzt genau richtig. Der Verkehr floss ohne jede Störung, das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite. Regensburg. Sonnenburg wäre heute passender. Oder Sonnenseite.

Woher kommen Sie? – Von der Sonnenseite.

Sie grinste.

»Hey little girl, is your daddy home?«, röhrte Bruce Springsteen aus dem Radio. Svenja drehte lauter. Die bekannte Melodie war einfach zu eingängig und sie fiel lauthals ein.

»Oh, oh, oh, I´m on fire. Woo-ooh-ooh, Ooh-ooh-ooh, Woo-ooh-ooh, I´m on fire.«

Did he go and leave you all alone?

Svenja hob leicht die Hand am Lenkrad und streckte den Mittelfinger aus. Sie atmete durch und wippte im Takt mit dem Kopf. Die unterdrückte Wut hatte sich gestern am späten Abend nicht mehr verdrängen lassen. Die Wut auf Peter und auf die eigene Gutgläubigkeit. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass der schmachtende Dackelblick und die süßen Nachrichten nur Teil seines Kalküls gewesen waren, um sie bei Laune zu halten, bis er ihrer überdrüssig wurde. Sie stand mit beiden Beinen im Leben, nicht nur mit einem geregelten Job, sondern auch mit besten Karriereaussichten. Sie analysierte mit klarem Blick und Verstand, war lösungsorientiert und verlor nie ihr Gegenüber aus den Augen. Trotzdem war sie auf Peter reingefallen, hatte seine billigen Tricks für echte Gefühle gehalten. Das würde ihr nicht noch einmal passieren! Augen auf bei der Partnerwahl.

Dieter war ihr Chef bei Pixelart Dresden, hatte ihr aber vor einem Jahr bei einem vertraulichen Gespräch seine besondere Sympathie gestanden. Svenja mochte ihn als Freund und Kumpel, für eine Beziehung war er leider nicht ihr Typ. Sie seufzte bei dem Gedanken an seinen traurigen Blick. Manch anderer in seiner Position hätte sich bitter gerächt, stattdessen setzte er sie für dieses wichtige Projekt in Salzburg ein. Ein echter Vertrauensbeweis. Wenn sie das vermasselte, zahlte er ordentlich drauf. Die Werbebranche ähnelte bei der Jagd nach Aufträgen nicht selten einem Haifischbecken. Und hier ging es um einen Großprojekt, das für Pixelart außerordentlich gewinnträchtig war, was Umsatz und Image betraf.

Am Freitag war sie vom Team nicht nur mit Prosecco, sondern auch einer köstlichen, mit Zuckerguss überzogenen Torte verabschiedet worden. Auf einer sternförmigen Marzipanplatte stand eine Lego-Figur, die eindeutig Mozart darstellte. Darunter war wie auf dem Walk of Fame in Hollywood der Schriftzug Motz-Art aufgemalt und die üppigen Verzierungen mit Smarties und Liebesperlen hatten Svenja Tränen der Rührung in die Augen getrieben.

Hoffentlich war das Betriebsklima bei quadratour auch so gut. Ein Glück, dass die Seifenblase mit Peter rechtzeitig geplatzt war, bevor Svenja in Salzburg vom dauerhaften Glück träumte, während er sie längst abgehakt hatte.

Sie blinzelte und setzte die Sonnenbrille auf. Ein Hinweisschild kündigte die nächste Raststätte in fünf Kilometern an.

Svenja atmete einmal tief durch. Salzburg war ein Geschenk des Himmels. Sie würde einen guten Job machen.

 

Am Nachmittag lotste sie das Navi sicher zu dem Apartment, das die Agentur für sie angemietet hatte. Die mehrgeschossigen Wohnblocks lagen direkt an einer Zufahrtsstraße und wirkten mit ihren grauen Fassaden wenig einladend. Ihre Wohnung befand sich in einem der hinteren Blocks. Im Hausflur versperrten ein Fahrrad und ein Kinderwagen den Zugang und im ersten Stock war das Podest mit einem hässlichen Regal möbliert und diverse Sneaker, Booties und Sandalen lagen auf einer Fußmatte. Svenjas Laune sank und sie beschloss, sich so bald wie möglich nach einer besseren Unterkunft umzusehen.

Als sie die Wohnung im dritten Stock betrat, war die Überraschung umso größer. Ein geräumiges Zimmer mit einem gemütlichen Schlafsofa und schlichten Regalen sowie einer Kommode und einem Kleiderschrank. Neben der Balkontür stand ein Schreibtisch mit Bürostuhl, daneben hing eine Magnettafel an der Wand. Die kleine Küche war bescheiden, aber blitzsauber und mit ausreichend Geschirr und Gläsern ausgestattet. Eine Tür führte vom Vorraum in ein helles Bad mit Dusche. Svenja fiel ein Stein vom Herzen. Immerhin sollte das für einige Monate ihr Zuhause sein, das sie mit ihren persönlichen Mitbringseln ausstatten konnte.

Wenig später war die Tafel mit einer Grußkarte des Dresdner Teams und einem Foto der Motz-Art-Torte geschmückt, der Laptop angeschlossen, die große Patchwork Decke auf dem Sofa ausgebreitet und die Garderobe verstaut.

Svenja öffnete die Glastür und lehnte sich über die schmiedeeiserne Brüstung des französischen Balkons. Von der breiten Zufahrtsstraße war hier weder etwas zu hören noch zu sehen. Stattdessen hatte sie Aussicht auf ein Gartenbaucenter mit üppigen Grünflächen. Svenja straffte den Körper und lächelte zufrieden. Hier ließ es sich schon eine Weile aushalten.

 

3 quadratour

 

Nach zwei Wochen Einarbeitung saß Svenja in der quadratour GmbH fest im Sattel. Die neuen Kollegen hatten sie mit offenen Armen empfangen und sie hatte sich sofort wohlgefühlt. Mit Susa war ihr genau die richtige Unterstützung an die Seite gestellt worden. Sie hatte MultiMediaArt studiert und hoffte nun in der Probezeit auf eine Fixanstellung. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie das Küken im Büro, aber lösungsorientiert und mit schneller Auffassungsgabe ausgestattet. Dazu kamen ihr unwiderstehlicher Charme und ein hohes Maß an Empathie, mit dem sie erkannte, wo es lokale Eigenheiten gab, die die Kollegin aus Dresden nicht kennen konnte. Svenja zweifelte keinen Moment daran, dass Wolfgang sie fix anstellen würde.

Der Agenturchef war Mitte fünfzig, groß gewachsen, gertenschlank und trug die dunkelblonden, kräftigen Haare etwas länger. Sein Führungsstil war kollegial und immer wertschätzend, dazu punktete er mit Charme und lockeren Sprüchen. Hatte sich ein Kollege festgefahren und schwitzte vor dem PC, legte ihm Wolfgang grinsend die Hand auf die Schulter. »Lass mal einen Erwachsenen ran.« War er selbst blind für die nächstliegende Lösung und ein Teammitglied stieß ihn mit der Nase darauf, zuckte er mit den Schultern und fand selbstkritisch: »Hinter jedem guten Chef steht ein starkes Team.« Wenn irgendwo im Büro gelacht wurde, hatte nicht selten Wolfgang einen Spruch losgelassen.

Die beiden Frauen kamen gerade vom Vorstellungsgespräch mit dem Management-Team der Privatklinik Rosenhügel zurück in die Agentur. Der Termin war gut gelaufen. Svenja hatte sich und das Projekt vorgestellt. Die Gesprächsrunden mit dem Klinikpersonal würde sie in den nächsten Tagen direkt mit den Beteiligten planen.

Susa schüttelte sich. Der Himmel hatte heute alle Schleusen geöffnet und der kurze Weg vom Parkplatz ins Büro war wie eine Dusche in voller Montur. Svenja lachte und strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. »So ein Sauwetter!«

»Daran musst du dich gewöhnen. Das ist der allseits bekannte und unbeliebte Salzburger Schnürlregen. Ich mach uns erst mal einen Kaffee.«

Svenja nickte. »Du bist ein Schatz.« Sie stellte ihre Tasche, von der die Regentropfen abperlten, vorsorglich neben den Tisch und zog den gut verpackten Laptop heraus. Wolfgang winkte aus seinem Büro, das durch eine raumhohe Glaswand vom Großraumbüro des Teams abgetrennt war. Es erinnerte an die verglasten Chefbüros in Fernsehkrimis, nur dass die Jalousien fehlten und die Tür meistens offenstand. Er lehnte am Rahmen.

»Wie war’s? Kommt mal her und berichtet.«

»Sofort. Susa macht gerade einen Kaffee. Soll ich nicht erst eine kurze Zusammenfassung schreiben?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber einen Kaffee könnt ihr mir mitbringen.«

Wenig später saßen sie gemeinsam am Besprechungstisch und Svenja wollte gerade beginnen, als Wolfgang die Hand hob. »Warte mal. Lass Susa berichten.« Er schmunzelte.

»Was? Ich? Wieso? Das war … das ist Svenjas Job. Also, sie war …« Susa räusperte sich, zögerte, als suchte sie das richtige Wort, und Svenja grinste.

»Sag jetzt bloß nichts Falsches!«

»Nein, sicher nicht. Aber wieso soll ich denn?« Sie blinzelte fragend zu Wolfgang.

»Weil ich nicht nur einen inhaltlichen Bericht will, sondern einen Eindruck. Du hast sie und ihre Reaktionen beobachtet. Erzähl mal. Ist doch okay für dich?« Er sah Svenja an und die nickte. Sie war auf Susas Einschätzung neugierig.

Die holte Luft. »Es war … sie war ge-ni-al! Wir sitzen also da in diesem schicken Seminarraum. Das ganze Team, also Management. Acht Leute und wir. Darunter fünf Frauen.« Sie verzog anerkennend den Mund. Wolfgang trank von seinem Kaffee und forderte sie mit einer Handbewegung auf, fortzufahren. Susa grinste. »Die warten also alle darauf, dass Svenja mit einem Vortrag loslegt.«

»Aber?«

»Macht sie nicht. Sie sagt, sie kenne das Leitbild der Klinik von der Homepage und wisse gern, wie sie das einschätzen.«

»Was?« Wolfgang sah Svenja erstaunt an. »Und was haben sie gesagt?«

»Erst mal gar nichts«, antwortete Susa triumphierend. »Dann kamen die typischen Schlagworte: spürbare Qualität, ethische Verantwortung, attraktiver Arbeitgeber, Zukunft gestalten. Svenja fragte, was wohl die Mitarbeiter dazu sagen würden. Da hat einer gelacht: Das Leitbild kommt vom Management, weil die sagen, das wäre gut. Das ist für Prospekte und die Website.«

»Und dann?«

»Hat Svenja das Offensichtliche ausgesprochen. Dass ein Unternehmensleitbild die DNA eines Unternehmens ist. Dass es erlebbar sein muss, als Orientierung für Management und Führung, als Stärkung der Identifikation aller Mitarbeiter und Führungskräfte.«

Wolfgang lehnte sich zufrieden zurück und balancierte einen Kuli auf den Fingern. »Also haben sie doch noch ihren Vortrag bekommen.«

Susa wiegte den Kopf. »Kann man so sagen. Aber ich habe noch nie erlebt, dass einer Führungsriege so elegant der Marsch geblasen wurde.«

Wolfgang saß entspannt auf seinem Stuhl, ein Lächeln auf den Lippen. Er bat Svenja um ihre Einschätzung, im Anschluss gingen sie gemeinsam die weiteren Planungsschritte durch.

»Das hört sich doch gut an.« Wolfgang grinste zufrieden und hob beide Daumen. »Personifizierte Frauenpower.«

Svenja warf Susa, die noch ganz konzentriert in den Unterlagen blätterte, einen Blick zu. Deren Wangen glühten. Womöglich war dieses Projekt ihr Einstieg als fixes Mitglied des Teams.

Wolfgangs Schmunzeln schien das zu bestätigen, als Svenja ihn fragend ansah.

 

4 Bürokram

 

Die Zeit verging wie im Flug.

Svenja war motiviert nach Salzburg gekommen, um einen guten Job zu machen, aber die Arbeit begeisterte sie noch mehr als erwartet. Sie genoss die vielen Gespräche in der Klinik mit so unterschiedlichen Menschen und Lebensentwürfen und saß unermüdlich über Zusammenfassungen und Berichten an ihrem PC. Auch heute machte sie wieder Überstunden, achtete aber penibel darauf, dass Susa pünktlich ging. Wenigstens eine von ihnen sollte Zeit für ein Privatleben haben – wenn es auch noch so kompliziert war. Susa war mit einem verheirateten Banker liiert und glaubte dessen Beteuerungen, dass seine Ehe zerrüttet sei und er sich innerlich längst für sie entschieden habe. So bald wie möglich würde er sich von seiner Frau trennen. Die war aber sehr labil und darum musste er vorsichtig sein und den richtigen Moment abwarten. Svenja verdrehte jedes Mal die Augen, sobald Susa von ihrem Banker erzählte.

Als diese nun ihren Computer herunterfuhr, wirkte sie bedrückt.

»Hat er schon wieder abgesagt? Du bist eine so tolle Frau, Susa, wie kannst du denn so blind sein?«

Svenja schluckte und dachte: Lange nicht in den Spiegel geschaut, Frau Borchert?

»Entschuldige.« Sie strich Susa über den Arm, die verloren aus dem Fenster starrte. »Also nicht für die tolle Frau! Das bist du wirklich. Persönlich und hier im Job sowieso. Ich wäre komplett verloren ohne dich.«

Susa schüttelte den Kopf und sah Svenja an. »So ein Quatsch. Ich lerne jeden Tag von dir. Du bist mein Sechser im Lotto.«

Svenja lächelte geschmeichelt.

»Aber du bist nicht meine Mutter«, stellte Susa klar. »Und ich bin alt genug, selbst zu wissen, was mir guttut.«

»Auf jeden Fall. Ich gebe auch nur den Klugscheißer, weil ich selbst gerade eine ähnliche Beziehung hinter mir habe. Also nicht mit einem älteren verheirateten Lover, sondern mit einem jungen dynamischen Hoffnungsträger, der mich nach sechs traumhaften Monaten ohne Angabe von Gründen abgeschossen hat.« Sie zwinkerte Susa zu. »Augen auf bei der Wahl von Mr. Right!«

Susa zuckte mit den Achseln und wirkte nicht überzeugt. Jeder musste seine eigenen Fehler machen. Hoffentlich würde auch Susa mit einem blauen Auge davonkommen. Bildlich gesprochen.

Wolfgang hielt das Handy ans Ohr, als er das Büro verließ, und winkte zum Abschied mit der anderen Hand.

»Apropos, ist Wolfgang eigentlich verheiratet?«

Abgesehen von den beruflichen Kontakten war Svenja nur selten bei privaten Treffen. Die Kollegen bei quadratour waren verheiratet oder liiert. Während das Tourismusland Salzburg öffentlich von Gastfreundschaft geprägt war, spielte sich das Privatleben hinter verschlossenen Türen ab, und die wurden in der Regel nur für Insider geöffnet. Svenja war bei beruflichen Treffen gern gesehen, aber nie auf einer privaten Feier eingeladen. Das war ihr nur recht, weil sie sich nach der Arbeit lieber beim Joggen entspannte oder zum Workout eine Runde über den Kapuzinerberg ging und die Aussicht genoss.

»Verpartnert«, sagte Susa.

»Was?«

»Du hast gefragt, ob Wolfgang verheiratet ist«, erinnerte sie.

Svenja zog die Augenbrauen hoch. »Ach, das hätte ich nicht gedacht.«

»Dass er schwul ist?«

»Ja. Nein. Also verrückt. Auf die Idee bin ich tatsächlich gar nicht gekommen. Ich dachte, er ist Single.«

»Ist er nicht. Georg ist Apotheker. Sie sind schon ewig zusammen, soweit ich weiß.«

 

5 Schubert

 

Zwei Monate waren vergangen und Svenja verbrachte so viel Zeit bei Meetings und Gesprächen in der Klinik Rosenhügel, dass sie sich schon wie zu Hause fühlte. Inzwischen kannte sie die gesamte Belegschaft und von der Empfangstheke wurde sie jedes Mal mit einem fröhlichen Winken begrüßt. Von Verwaltung über Ärzte und Gesundheitsberufe bis zum Management wusste jeder, wer sie war und warum sie kam. Die anfängliche Skepsis in den unteren Ebenen, ob und zu welchem Zweck sie »von oben« eingesetzt worden war, hatte sie mit Charme, Offenheit und zäher Hartnäckigkeit pulverisiert. Sie war zum Hoffnungsträger geworden, auch wenn die Ziele der unterschiedlichen Bereiche in der Klinik teilweise weit auseinanderlagen.

 

Svenja saß nach der Besprechung mit dem Ärzteteam noch mit Oberarzt Wünsch in der Kantine. Es war später Nachmittag und kaum weitere Gäste dort. Sie konnten ungestört über die bisherigen Ergebnisse zur Feststellung der Mitarbeiterzufriedenheit sprechen. Svenja trank einen Schluck Wasser und zeigte auf eine Grafik, die ausgedruckt vor ihr lag.

»Herr Dr. Wünsch …«

»Gerne Lorenz«, bot Wünsch an und legte seine Hand auf ihren Unterarm. Svenja schluckte. Mit dieser Annäherung hatte sie nicht gerechnet, schon gar nicht auf so plumpe Art. Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Wir bleiben lieber beim Sie, das erleichtert die Arbeit.«

»Dann eben erst die Arbeit«, konterte er und schmunzelte vielsagend. Der gut aussehende Mittvierziger war sicher der Traum vieler Schwiegermütter, aber leider nicht ihrer. Sein selbstbewusstes Auftreten entsprach seinem Ansehen in der Klinik. Er war ihr Ansprechpartner für die allgemeinen Agenden der Ärzte. Sie schätzte die professionelle Zusammenarbeit und hoffte, dass es dabei bleiben würde.

 

Als sie in die Agentur zurückkehrte, saß Wolfgang mit einem Besucher in seinem Büro am Schreibtisch. Er winkte ihr zu und sie stellte ihre Tasche ab. Der Herr, den sie durch die Glaswand sah, saß mit dem Rücken zur Tür und arbeitete an einem Laptop. Sein dichtes dunkles Haar war von einigen silbernen Fäden durchzogen. Die aufrechte Haltung strahlte selbst von hinten eine natürliche Eleganz aus. Hose und Schuhe wirkten sportlich, dazu trug er ein dunkles Sakko.

»Svenja, schön, dass du noch rechtzeitig kommst. Dann kann ich dich mit Daniel Schubert bekannt machen. Er wird die Veranstaltung bei unserer Präsentation am Rosenhügel organisieren. Wir haben gerade die letzten Details besprochen.«

Daniel Schubert war noch immer auf den Laptop konzentriert als Svenja eintrat, und sie hatte einen Moment Zeit, ihn von der Seite zu begutachten. Nicht von schlechten Eltern, stellte sie fest. Seine Haut war leicht gebräunt und die schlanken Finger tippten flüssig. Nachdem er mit dem Zeigefinger ein letztes Mal auf eine Taste gedrückt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück. Dann sah er Svenja, sprang auf und streckte ihr die Hand entgegen.

»Entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken. Daniel Schubert.«

Sie ergriff die Hand und spürte einen angenehmen Druck.

»Borchert. Svenja Borchert.«

Ihre Blicke verknüpften sich und verursachten eine Gänsehaut auf ihren Armen.

»Svenja ist die Projektleiterin. Sie hat in den letzten Wochen gemeinsam mit den Mitarbeitern und Ärzten das neue Leitbild entwickelt.«

»Deutschland oder Irland?«, fragte Schubert schmunzelnd.

Svenja hob erstaunt die Augenbrauen. Sobald sie den Mund aufmachte, wurde sie sofort als Deutsche erkannt.

»Irland? Wie kommen Sie darauf?«

Er machte eine leichte Andeutung mit dem Kinn. »Die Haare. Und die Sommersprossen«, ergänzte er.

Wolfgang lachte schallend auf. »Die feuerrote Friederike.«

Schubert runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht gesagt.«

Svenja verzog den Mund. »Meine Herren, lassen Sie mich an Ihrer guten Laune teilhaben?«

Schubert sah sie erschrocken an und hob beschwichtigend die Hände. »Nein, bitte, entschuldigen Sie. Eigentlich wollte ich Ihnen ein Kompliment machen. Ihre Haare sind wunderschön. Wirklich.« Seine dunklen Augen machten Svenja nervös und sie leckte sich schnell über die Lippen.

»Wunderschöne Haare wie die feuerrote Friederike?«, fragte sie.

Wolfgang lachte wieder und Schubert warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»Das hat er gesagt. Kennen Sie die feuerrote Friederike?«

Svenja schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Kinderbuch. Ein sehr bekanntes von Christine Nöstlinger, einer österreichischen Kinderbuchautorin. Bitte vergessen Sie das einfach.« Er streckte ihr spontan erneut die Hand hin, die sie ergriff und wieder den angenehmen Druck spürte.

»Wolfgang hat mir schon von Ihnen erzählt. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.« Er hielt ihre Hand, als wartete er auf eine Antwort, und lächelte sie dabei an.

Sie schluckte und nickte. »Ja, auf gute Zusammenarbeit. Danke. Ich mache dann mal weiter.« Schubert ließ zögernd ihre Hand los und sie ging zu ihrem Schreibtisch.

Es dauerte einen Moment, bis Svenja sich auf die Arbeit konzentrieren konnte. Als sie Susas fragenden Blick spürte, schüttelte sie nur den Kopf und sortierte die Unterlagen.

Wenig später verrieten die Stimmen hinter ihr, dass sich Wolfgang von seinem Gast verabschiedete. Svenja starrte auf den Laptop, ohne zu schreiben. Ihre Augen nahmen nicht wahr, was auf dem Monitor stand. Eine Hand legte sich auf die Rückenlehne ihres Bürostuhls und Schubert hielt ihr mit der anderen eine Visitenkarte entgegen. Er war ihr so nah, dass sie den herben Duft seines Parfüms roch. War das Sandelholz?

»Ich dachte, ich lasse Ihnen meine Karte da. Falls Sie noch Fragen haben.«

Seine Stimmfarbe war so betörend wie sein Duft. Das hatte sie bei der Vorstellung gar nicht bemerkt. Svenja schluckte und wagte nicht, den Kopf zu drehen. Er klang so nah an ihrem Ohr. Ihr Blut pulsierte und sie räusperte sich.

»Ja, danke.« Sie wollte die Karte nehmen, aber er hielt sie fest. Unwillkürlich sah sie ihn an. Sein Gesicht war tatsächlich direkt neben ihrem. Lächelnd richtete er sich auf und legte die Visitenkarte auf den Tisch. Er wartete. Sie holte Luft.

»Ich dachte, Sie haben alles mit Wolfgang besprochen. Auch die letzten Details.«

»Aber es ist Ihre Präsentation. Sie müssen zufrieden sein und bestimmen, wie der Hase läuft.«

Seine lockere Art wirkte entspannend. »Oder wo der Frosch die Locken hat«, lachte sie befreit auf, als hätte sich ein Knoten gelöst.

»Gern auch wo der Hammer hängt«, ergänzte er. »Am Mittwoch sind wir mit den Vorbereitungen fertig. Donnerstagvormittag bin ich für die letzten Feinheiten mit ein paar Technikern vor Ort. Kommen Sie einfach vorbei, wenn Sie Zeit haben.«

Er nickte zum Abschied, bei seinem intensiven Blick geriet ihr Herz aus dem Takt. Sie nickte ebenfalls und wandte sich schnell ihrem Laptop zu, bis die Bürotür ins Schloss fiel. Susa seufzte übertrieben und Svenja blinzelte zum Schreibtisch gegenüber. Ihre Kollegin biss sich auf die Unterlippe und wedelte mit der Hand, als wäre ihr heiß.

»Was?«, fragte Svenja mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich mach mal ein Fenster auf«, lachte Susa. »Eine Hitze hat es hier, kaum auszuhalten.«

 

6 Rosenhügel

 

Donnerstagmorgen betrat Svenja den Veranstaltungssaal im Dachgeschoss der Privatklinik. Über dem beeindruckend großen Raum wölbten sich alte Dachbalken. An die hundert Personen hatten ihr Kommen angemeldet. Quadratische Tische waren im Fischgrätenmuster angeordnet, an den Wänden gab es weiß gedeckte Ablagen, die zur Veranstaltung vom Caterer gedeckt würden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand mittig eine kleine Bühne. Zwei Männer und eine Frau kümmerten sich um Mikrofon, Beamer und Licht.

»Schön, dass Sie vorbeigekommen sind.« Schuberts Stimme erreichte Svenja, bevor sie sich umdrehte und seinen Händedruck spürte.

»Hallo. Sie haben mich neugierig gemacht.« Diesmal war sie auf die Begegnung besser vorbereitet und sprach mit klarer Stimme.

Sie gingen gemeinsam die Stufe zur Bühne hinauf.

»Möchten Sie das Redepult links oder rechts?«

Svenja zeigte nach links und machte sich mit den Gegebenheiten vertraut. Sie probten die Toneinstellung, die Bedienung des Beamers und besprachen den Ablauf der Veranstaltung. Schubert beherrschte sein Metier. Svenjas Fragen beantwortete er, bevor sie diese stellen konnte. Sie fühlte sich sicher an seiner Seite und war froh, das Angebot angenommen zu haben, das sie zunächst für überflüssig gehalten hatte. Sie war so auf Vortrag und Präsentation der wochenlangen Arbeit fokussiert gewesen, dass sie gar nicht bedacht hatte, wie viele Missgeschicke bei einer Veranstaltung auftreten konnten, wenn man schlecht vorbereitet war.

Nach einer guten Stunde standen sie beim Eingang mit Blick auf die Bühne.

»Geschafft«, sagte Schubert. »Wollen wir uns nicht duzen?«

»Das mag sie gar nicht«, sagte ein warmer Tenor hinter ihnen.

Svenja und Schubert drehten sich erstaunt um.

»Herr Dr. Wünsch, hallo«, grüßte Svenja und reichte ihm die Hand.

Schubert nickte höflich. »Schubert. Was mag sie gar nicht?«

Dr. Wünsch zwinkerte Svenja zu. »Bei der Arbeit geduzt zu werden. Erst die Arbeit …« Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Dann bis morgen«, sagte er und hob beide Hände mit gedrückten Daumen. »Viel Glück und einen schönen Tag noch.«

Schubert sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, sein Mund war eine gerade Linie, wie Svenja amüsiert bemerkte.

»Ihnen auch, Herr Doktor«, knurrte er.

 

7 Leitbilder

 

Am Nachmittag des nächsten Tages fuhren Susa und Svenja mit einem Aufzug der Privatklinik ins Dachgeschoss. Susa musterte Svenja im Spiegel und schüttelte den Kopf.

»Wie machst du das? Du siehst umwerfend aus und wirkst, als wären wir auf dem Weg ins Kino, um gemütlich mit Popcorn und Cola einen Film anzusehen. Ich würde vor Aufregung sterben, wenn ich vor hundert Leuten eine Präsentation machen sollte.«

Svenja lachte und kontrollierte ihr Outfit. Ihre leicht schimmernde, dunkelblaue Bluse war vorne in die helle Leinenhose im Marlene-Stil gesteckt. Die Pumps mit einem kleinen Absatz würden nicht unbequem werden. Der türkische Friseur, eine Empfehlung Susas, hatte Svenjas Haare seitlich geflochten und im Nacken zu einem Knoten gebunden, der mit einem blauen Band durchzogen war. Sie lächelte sich zufrieden im Spiegel an.

»Du hast keine Ahnung, wie viele Tode ich in den letzten Tagen während der Vorbereitung gestorben bin. Jetzt ist der Drops gelutscht, jetzt heißt es Augen zu und durch.«

 

Nach und nach trudelten die Gäste ein. Svenja kannte die meisten persönlich von ihrer Arbeit, dementsprechend herzlich waren die Begrüßungen. Wolfgang wurde von seinem Mann Georg begleitet, und Svenja lernte einen groß gewachsenen Typen mit Dreitagebart und weiß gelockten Haaren kennen, der sie aus strahlend blauen Augen anlachte und wie eine alte Bekannte begrüßte. Sie mochte ihn auf Anhieb. Daniel Schubert hatte sie noch nicht gesehen, dabei hätte ihr das mehr Sicherheit gegeben.

Ein Fernseh-Team des ORF baute sein Equipment neben dem für die Pressevertreter reservierten Tisch auf. Ein Kameramann stand bereit, um später zu filmen, und ein Pressefotograf suchte zwischen den Gästen nach bekannten Gesichtern und guten Motiven.

Der Saal war hell ausgeleuchtet, der Beamer warf das Logo der Klinik als Standbild auf die Leinwand hinter der Bühne. Ein Techniker aus Schuberts Büro ging mit Svenja am Rednerpult noch einmal die Abläufe durch.

Schließlich holte sie tief Luft, stellte sich mittig auf die Bühne und bat mit einem Handzeichen die Anwesenden, Platz zu nehmen, die der Aufforderung schnell und diszipliniert folgten. Die Geräuschkulisse wurde ruhiger und verstummte schließlich ganz, als sie hinter das Pult trat. Ihr Herz klopfte spürbar und sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu beruhigen und die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu binden. Gegenüber an den geschlossenen Saaltüren hob ein eleganter Herr mit kurzen dunklen Haaren eine Hand zum Victory-Zeichen.

Sie lächelte. Schubert war also doch gekommen.

Vor ihr lagen das Skript mit dem Vortrag und ein Laserpointer, daneben stand der Laptop, um die Folien der Power-Point-Präsentation abzuspielen. Jede Sekunde hatte sie auswendig im Kopf, nur die lange Gästeliste würde sie ablesen müssen, um niemanden bei der Begrüßung zu vergessen. Das war der Plan.

Svenja war ganz ruhig, als sie das kabellose Mikrofon aus der Halterung nahm und sich in die Mitte der Bühne stellte.

»Meine Damen und Herren, verehrte Gäste, liebe Begleiterinnen und Begleiter der letzten Wochen, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht alle namentlich nenne. Sie haben mir jede Menge Zeit, Geduld und Offenheit bei gemeinsamen Gesprächen über Ihre Arbeit geschenkt und alles hat in einen ausführlichen Bericht und eine begleitende Power-Point-Präsentation Eingang gefunden. Das wollte ich Ihnen heute vortragen. Sie könnten meinen ausformulierten Sätzen folgen und die Folien betrachten, die selbsterklärend sein müssen, wenn sie gut sind. All das brauchen Sie nicht von mir. Sie finden es in den ausführlichen Broschüren, Foldern und Mappen, die auf den Tischen ausliegen.«

Svenja machte eine kurze Pause und sah dabei in die Gesichter. Sie hatte die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Blicke waren neugierig, keiner wusste, was nun kam.

»Ich möchte Ihnen von dem berichten, was mir erzählt wurde. Und das ist ganz wörtlich gemeint. Ihre Geschichten waren ein emotionales Abenteuer, eine Achterbahn der Gefühle.«

Anonymisiert erzählte sie vom täglichen Kampf der Mitarbeiter, Privatleben und Arbeit auf Schiene zu bringen. Die alleinerziehende Mutter, die sich lieber zur Spätschicht einteilen ließ, weil die mit der Betreuung der Kinder leichter vereinbar war, aber dafür ihre Gesundheit ruinierte. Der Familienvater, der in verantwortlicher Position nicht nur an seine Lieben dachte, sondern auch seinem Team eine integre Führungskraft sein wollte, und beide Rollen nicht zur eigenen Zufriedenheit ausfüllte.

Svenja bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen, ging auch von der Bühne zum Publikum hinunter.

»Wir leben in einer Zeitenwende«, sagte sie. »Menschen aus verschiedenen Generationen, Menschen aus verschiedenen Nationen, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Ausbildung. Wie bekommen wir das alles auf einen Nenner? Was ist attraktiv für uns und was für die next generation?«

Sie führte die Punkte an, die das neue Leitbild prägten, und erklärte in kurzen, klaren Sätzen die Inhalte. Da sie langatmige Ausführungen vermied, hingen die Zuhörer aufmerksam an ihren Lippen.

Sie stellte sich wieder mittig auf die Bühne und kam zum Schluss.

»Leitbilder dienen dazu, den Kurs eines Unternehmens neu zu definieren. Wir brauchen Mut, für Dinge einzustehen, und Mut, Dinge zu ändern. Führungskräfte haben keine Untertanen, sie haben Follower. Leitbilder erzählen eine Story, an der die Mitarbeiter teilhaben wollen, weil sie ihnen das Gefühl gibt, am richtigen Platz zu sein. Leitbilder sind wichtig, weil sie neue Hoffnung geben und Orientierung. Sie machen Menschen Mut, wieder zu vertrauen.«

Svenja senkte leicht den Kopf.

»Danke an alle, die diesen Weg mit mir gegangen sind. Es war eine wunderbare Erfahrung. Bedienen Sie sich nun gerne am Buffet und lassen Sie sich vom bekannten Catering-Unternehmen SUKO zu Gourmet Entertainment auf höchstem Niveau verführen.«

Wenige Sekunden war die Stille fast greifbar. Ein paar Zuhörer klatschten zaghaft, und das hatte denselben Effekt wie bei einer Wunderkerze, die angezündet wird. Applaus brandete auf. Marlies Wichert von der Buchhaltung erhob sich. An einem anderen Tisch standen alle gleichzeitig auf, die Physiotherapeutin, die beiden Diätologinnen und ein paar Pflegekräfte. Das Hebammen-Team folgte und applaudierte mit erhobenen Händen. In kürzester Zeit standen alle im Saal und die Luft schien zu brodeln.

Svenja war überfordert und schluckte, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie strich schnell mit einem Finger einen Tropfen von der Wange, schloss die Hände vor der Brust und verbeugte sich tief. So viel Zuspruch hatte sie nicht erwartet.

 

8 Daniel

 

Svenja starrte ihr Spiegelbild im Gäste-WC der Privatklinik Rosenhügel an und lächelte zufrieden. Bei der erstbesten Gelegenheit hatte sie sich entschuldigt, um dem Trubel für einen Moment zu entfliehen.

Danke an alle, die diesen Weg mit mir gegangen sind