Drei Liebesgeschichten - Werner Röschl - E-Book

Drei Liebesgeschichten E-Book

Werner Röschl

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Beschreibung

Drei Liebesgeschichten Vorbestimmung Zwei Verstorbene kümmern sich für ihre zurückgelassenen Ehepartner um Nachfolger Die Frau, die aus dem Keller kam Eine Verliebte versucht eine andere Art der Kontaktaufnahme Schattenkörper Eine Hochzeitsreise mit Hindernissen

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Inhaltsverzeichnis

Vorbestimmung

Liebe

Wenn man hier auf Erden von Liebe spricht, dann naturgemäß von irdischer Liebe. Vornehmlich von der Liebe zu einem ganz bestimmten anderen Menschen. In eher seltenen Fällen von der Liebe zu den Eltern oder zu den Kindern. Oder, noch seltener, allgemein von der Nächstenliebe.

Ich möchte hier keineswegs die ungezählten Facetten dessen was wir gemeinhin Liebe nennen durchkauen. Das wäre alleine schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil jeder Mensch den ich kenne, unter Liebe fast immer etwas anderes versteht, als die meisten übrigen.

Mit einer Ausnahme: Die ewige Liebe. Dabei weiß jeder sofort und ganz genau, was darunter zu verstehen ist. Nämlich jene gänzlich auf den Partner ausgerichtete Liebe, welche für alle Zeiten, sogar über den Tod hinaus, gültig ist und bestehen bleibt!

Nun ist das mit dem ‚über den Tod hinaus’ aber so eine Sache. Einerseits: woher weiß der Zurückgebliebene, ob sich die Wertigkeit der Liebe im Jenseits nicht völlig ändert? Oder auch Ob sie ‚dort drüben’ vielleicht einem gänzlich anderen Prinzip gehorcht? Und andererseits: woher weiß er, dass sich seine eigene Einstellung dazu nicht unter dem Aspekt der Einsamkeit ebenfalls in etwas ‚ganz anderes’ wandelt, oder wandeln wird?

Nehmen wir einmal zwei Dinge an. Erstens: Es gibt ein ‚Drüben’ und Zweitens: Im Drüben hat man das ‚Herüben’ nicht vergessen. Dann ergeben sich ganz von selbst einige weitere Fragen. Zum Beispiel: Wie sieht es da drüben mit dem Zeitempfinden aus? Ist es dem hiesigen in angemessener Weise ähnlich? Oder sind einige Jahre für den Zurückgebliebenen nur einige Sekunden für den Vorangegangenen? Oder auch umgekehrt. Welchen Einfluss hat dieses möglicherweise divergierende Zeitempfinden auf die beiden nun getrennten Liebenden?

Sie sehen also, so einfach liegt die Sache womöglich nicht. Aber kaum jemand macht sich darüber Gedanken. Wozu auch? Überprüfen lässt sich die Angelegenheit ja doch frühestens, wenn auch der zweite Partner seinem vorangegangenen folgt.

Oder doch nicht? Vielleicht doch schon früher? Wer weiß ...!

Anneliese

Es war nicht ihr Tag. Nicht einmal annähernd! Gerade noch hatte sich alles so gut angefühlt. Der Tag war herrlich, die Sonne schien, es war warm aber nicht zu sehr, nicht heiß. Sie hatten einen kleinen Spaziergang unternommen. An Tagen wie diesen war das möglich. Es war möglich, weil Horst einen guten Tag hatte und die Wärme des frühen Sommertages seinen Gelenken gut tat und die laue Luft ihn frei atmen ließ.

Sie waren den kleinen Weg, der gleich hinter ihrem Haus begann, mit Muße und Arm in Arm entlang gegangen. Er hatte gerade noch den Duft der frischen Blüten einer am Wegrand stehenden Holunderstaude bewundert, als er zu wanken begann. Anneliese wollte ihn fragen, ob er sich kurz auf das nahe gelegene Bänkchen setzen wolle, aber sie bekam nur ein undeutliches Kopfschütteln und dann stürzte er auch schon.

Anneliese war zu schwach um ihn aufzufangen. Er war doch erheblich schwerer als sie und sie stand auch recht ungünstig, als es passierte. Ein Panikanfall erfasste sie. Sie kniete sich neben ihn, um ihm in eine bequeme Lage zu helfen, als sie die weit geöffneten Augen sah, welche in eine schon näher kommende unbekannte Ferne gerichtet waren.

Was auch immer Horsts Augen wahrnahmen, Anneliese war es nicht. Und würde es vermutlich auch nie wieder sein. Das wurde ihr in diesem Augenblick schmerzlich und unwiderruflich bewusst. Tränen liefen ihr übers Gesicht, da sie erkannte, dass sie nichts, rein gar nichts mehr für ihn tun konnte.

Dennoch brachte sie ihren Mann noch in eine bequemere Lage, soweit ihr das eben möglich war. Dann rief sie die Rettung. Natürlich wusste sie, dass auch die Rettung nichts mehr für ihren Mann würde tun können, aber was sonst sollte sie tun?

Sie setzte sich neben ihn auf den erdigen und steinigen Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Selbstverständlich war Horsts Abschied abzusehen gewesen, jedoch macht es einen riesengroßen Unterschied, ob man damit rechnet, oder ob es tatsächlich geschah! Ein Passant, der zufällig des Weges kam, fragte, ob er etwas für sie tun könne?

„Nein!“ antwortete sie mit tränennasser Stimme und schüttelte bedächtig ihren Kopf. „Ich habe schon die Rettung verständigt. Mehr kann man im Moment leider nicht mehr tun!“

Der Passant nickte ihr verstehend zu, wandte sich wieder ab und ging seines Weges. Im Grunde genommen war er froh, nicht wirklich involviert zu werden. Er war bei Gott nicht hartherzig, aber seine soziale Ader hatte eben auch ihre Grenzen. Und mit Toten hatte er, gottlob, bisher noch nicht zu tun gehabt.

Anneliese hatte sich inzwischen etwas gefangen. Sie überlegte, dass ihr nun eine Menge Arbeit ins Haus stand. Nicht, dass sie sich vor der Arbeit scheute; vor keiner Arbeit übrigens. Man dachte, bevor es denn so weit war, praktisch nie an all die Dinge, die erledigt werden mussten, falls einem ein Todesfall ins Haus stand.

Das Unangenehme an diesen Dingen war nicht die Erledigung an sich, sondern die unausweichliche Tatsache, dass man immerfort an den kürzlich Verstorbenen erinnert wurde. An die gemeinsamen frohen Stunden genauso wie an die weniger erfreulichen. Beides veranlasste Anneliese, immer wieder inne zu halten und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie natürlich auch den immer wieder hervorbrechenden Tränen.

Als schließlich die Rettung eintraf, erhob sich Anneliese und ging den Männern vom Rettungswagen entgegen. Sie erläuterte dem Arzt in kurzen Worten, mit immer wieder versagender Stimme, den Vorfall. Der nickte ein paar Mal verstehend, bat sie sodann zum Rettungswagen und verabreichte ihr ein Beruhigungsmittel.

Später, nach einigen Wochen, würde sie sich nur noch verschwommen an diese Situation erinnern. Was im Gedächtnis blieb waren gänzlich andere Eindrücke. Allem voran die Plötzlichkeit, mit der der Tod eintrat. So plötzlich, dass sie kein Wort mehr hatten wechseln können.

Oh! Man kennt die vielen Klagen darüber, was hatte man nicht alles verabsäumt zu sagen! Das allerdings blieb Anneliese erspart. Sie hatte eine geradezu vorbildliche Ehe geführt. Nicht dass es nie Streit gegeben hätte, nein, selbstverständlich gab es Missverständnisse wie in jeder Beziehung. Aber sie und Horst hatten es stets verstanden, alle Missverständnisse ruhig und gelassen zu besprechen und letztlich aus dem Weg zu räumen.

So gab es auch kaum ernsthafte Misshelligkeiten und die wenigen Streitpunkte wurden im Laufe der Zeit eher zu launigen Bonmots, als dass sie böse Erinnerungen hinterließen. Und aus diesem Grund war die gesamte Erinnerung an diesen Tag des Abschieds mehr ein von verklärten Gedanken getragener, als von sonst etwas. Sicherlich jedenfalls ohne Schuldbekenntnisse.

Horst

Es hatte sich alles so gut angefühlt. Der Tag war genauso wie er ihn sich gewünscht hatte: Angenehm warm, mehr oder weniger windstill und er hatte sich schon am Morgen so richtig unternehmungslustig gefühlt. Auch seine Hüfte machte ihm heute keine Probleme. Vielleicht sollte er sich nicht überanstrengen, aber er wollte unbedingt hinaus.

Er überredete Anneliese, seine Frau, gleich nach dem Frühstück mit ihm einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Er wollte nicht weiß Gott wie weit gehen, nur den Weg hinter dem Haus bis zu ihrer Lieblingsbank am Hügel. Keine vierhundert Meter, also auch für seine Kurzatmigkeit kein Thema.

Gleich nachdem er die Grenze des Gartens verlassen hatte, stieg der Weg leicht an um in einem großen Bogen den Hang hinauf zu ihrem Aussichtspunkt, zu gelangen, an welchem sich eine Bank des örtlichen Verschönerungsvereines befand. Dieses Bänkchen, von welchem aus man einen herrlichen Rundblick über das kleine Talstück hatte, war, seit sie vor fast dreißig Jahren hierher gezogen waren, sofort zu ihrem Lieblingsplatz geworden.

Nach den ersten Jahren ihrer Ehe, welche sie in einer Mietwohnung in der großen Stadt, Linz, zugebracht hatten, war dieser Aussichtspunkt ein Geschenk des Himmels. Soweit es ihre Zeit zuließ, nutzten sie daher jedwede Gelegenheit um dorthin zu gehen. Dort saßen sie dann einträchtig zusammen. sprachen nur über nebensächliche oder zumindest unerhebliche Dinge und genossen den Ausblick.

Als die Kinder endlich aus dem Haus waren, – Rudi hatte sich nach einer verkorksten Beziehung mit dem Auszug lange Zeit gelassen, seine Schwester Angelika hingegen war gleich nach der Matura in eine WG übersiedelt – wurden diese Ausflüge häufiger aber nichtsdestoweniger mit gleich bleibender Freude genossen.

Anneliese, die über jeden seiner Vorschläge erfreut war, tat ihm also den Gefallen und so gingen sie, unmittelbar nachdem sie gefrühstückt hatten, den kurzen Weg durch ihren Garten und danach in Richtung ihrer Lieblingsbank.

Sie waren noch keine fünfzig Schritte gegangen, als Horst an einem Holunderbusch Halt machte und sagte: „Heuer duftet der Holler aber besonders intensiv!“

Anneliese, die das genauso empfand, meinte daraufhin: „Das wird wohl wegen der heurigen Hitze sein!“

Horst nickte bestätigend und sie setzten ihren Weg fort. Einen kleinen Augenblick später verspürte er einen kurzen aber umso intensiveren Schmerz in der Brust. Er wollte etwas sagen, jedoch wusste er plötzlich gar nicht, wie das geht!

Er hörte, wie Anneliese etwas zu ihm sagte, verstand jedoch nicht was es war. Dann wurde alles zuerst etwas unscharf, dann stimmten die Farben nicht, schließlich begann sich die ganze Umgebung zu verändern. Zuerst schien es als würde sich die Welt um ihn herum verbiegen und verdrehen, dann wurde es unerträglich hell, sodass er die Augen schließen wollte, was ihm allerdings auch nicht gelingen wollte. Schlussendlich beruhigte sich aber alles und er konnte wieder klar sehen und denken.

„Was war das eben?“ wollte er von Anneliese wissen.

Doch seltsamerweise kniete Anneliese am Boden neben einem ebendort liegenden Mann! Noch bevor er sich wunderte, dass ihm Anneliese nicht auf seine Frage antwortete, stellte er fest, dass dieser Mann dort am Boden offenbar und unerklärlicherweise er selbst war!

Im ersten Augenblick war er verwirrt. Wieso konnte er das alles sehen? Wo war er hier gelandet? Was war überhaupt geschehen? Zwar war ihm irgendwie unterschwellig bewusst, dass dies der Tod war, den er eben erlitten hatte, aber irgendwie war es auch ganz anders als er erwartet hatte. Natürlich hatte auch er über sogenannte Todeserfahrungen gelesen. Aber Zeitungen, und auch andere, schrieben viel, wenn der Tag lang war.

Da war immer von einem Lichttunnel, oder so ähnlich, die Rede. Und von einer Art Empfangskomitee. Manchmal wurde von Jesus, meistens jedoch von früher verstorbenen Familienmitgliedern gesprochen. Ja, und dann war alles friedlich und warm und schön und voller Zufriedenheit ...

Jedenfalls war es immer ein erfreuliches Erlebnis, in das man hinein gezogen wurde und das man nur äußerst ungern wieder verlassen wollte! Von all dem war jedoch im Moment nichts zu sehen und zu hören. Aber er war ja vielleicht noch gar nicht tot? Oder er war ganz woanders gelandet? Oder es war eben gar nicht so, wie es diejenigen beschrieben, die es doch angeblich erlebt hatten!

Das alles ging ihm durch den Kopf – Hatte er überhaupt noch einen? Oder war das alles nur Chimäre? Aber irgendwomit musste er ja denken! – während er gedankenverloren auf die Szene vor – unter? Neben? – sich sah, oder was auch immer.

Seltsamerweise konnte er Anneliese nicht nur sehen, er konnte sie auch hören. Das heißt, er nahm ihre Gedanken wahr. Sie durchdrangen ihn wie der Lufthauch, den er noch vor einer knappen Minute verspürt hatte, als er den Weg entlang gegangen war. Sie machte sich Gedanken um alle diejenigen Dinge, welche jetzt durch sie zu erledigen waren. Parallel dazu empfand sie eine Art Erleichterung darüber, dass er jetzt wohl, ganz sicher, in einer besseren Welt weilte.

Irgendwie war er froh darüber, dass ihr Schmerz über seinen Abgang in diesen Bahnen verlief. Er hätte nicht gewusst, was er hätte tun können, wenn sie anders reagiert hätte. So jedoch war er zufrieden. Er würde seine Frau aber im Auge behalten, nahm er sich wenigstens vor. Noch war für ihn ja nicht abzusehen, wie es weiter ging.

Er beobachtete noch, wie die Rettung kam, wie der Rettungsarzt sie so sorgsam behandelte, als wäre sie die Verunglückte und wie sein verlassener Körper abtransportiert wurde. Dann, endlich, gab er dem Drängen nach, das er schon seit geraumer Zeit verspürte. Wieder wurde seine Umgebung wie schon zuvor unwirklich, verschwommen und schien sich zudem von ihm zu entfernen. Er war auf der Reise in eine neue Wirklichkeit.

Die erste Zeit danach

Die Tage gingen einfach so dahin. Anneliese hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken. Das Begräbnis – Anneliese dachte Horst hätte sich für eine Einäscherung entschieden, – das Aussuchen der Parten und deren Texte, das Adressenschreiben für sämtlichen Angehörigen, Freunde und Bekannte. Die unentbehrliche Frage: hab ich niemand Wichtiges vergessen?, ... Die Ummeldungen von Strom, Gas, etc. Die Gemeinde, das Auto, ... Die Versicherungen, der Rundfunk, ... Es war scheinbar kein Ende abzusehen.

Dieser letztens, nach seiner Pensionierung, erst wieder umgezogene Arbeitskollege: Woher nehme ich dessen Adresse? Irgendwo müsste noch eine Telefonnummer sein. Ob die aber noch immer stimmt? Sowohl die Fragen, als auch deren Beantwortung ließen Anneliese keine Zeit für andere dringende Bedürfnisse.

Kaum, dass sie Zeit aufbrachte, um sich wenigstens einigermaßen anständig zu ernähren. Dazwischen dutzende Anrufe, Beileidsbezeugungen, Hilfsangebote, ... Was sollte – was musste! – man dankbar annehmen, was dankend ablehnen? Oft wurden die Beileidsgespräche zu bunten Erinnerungsszenen, die von schönen, interessanten oder lustigen Begebenheiten handelten. Manches Mal konnte Anneliese darüber sogar schon wieder lachen. Allzu oft waren sie aber auch unterbrochen von neuerlichen Tränenströmen.

Wohl liefen diese im Allgemeinen nicht mehr so heftig, wie zu Beginn, aber neben den Tränen war die zu erledigende Arbeit doch sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich wollte man die vielen Formulare nicht schon vor dem Ausfüllen durchnässen. Obwohl: Wahrscheinlich war den Beamten, die sich damit befassten, oder auch befassen mussten, auch das nicht fremd.

Die Zeit, die Tage, die Wochen, sie alle vergingen wie im Flug. Die Kinder waren teilweise eine große Hilfe, teilweise verursachten sie nur Mehrarbeit. Meistens trat sie den Freunden und Bekannten gefasst entgegen. Manchmal jedoch, wenn sich jemand meldete, der noch nichts von Horsts Ableben wusste – natürlich gab es auch solche Leute! – kamen ganz unverhofft Erinnerungen hoch, die besonders schmerzhaft waren!

So etwa, als ein nun im Ausland wohnhafter Freund anrief, und wissen wollte, ob sie nun heuer im Herbst zu Besuch kämen, oder doch nicht? Der Besuch war schon seit einigen Monaten in Planung, aber Horst konnte sich auf keinen Termin einigen und so wurde es immer wieder verschoben. Das brachte in erster Linie die vielen gemeinsamen Reisen und Ausflüge, alleine oder mit Freunden und Bekannten, aufs Tapet. Anneliese benötigte eine geraume Zeit, um sich zu sammeln, sodass dieser Freund schon vermeinte, die Verbindung sei unterbrochen.

Aber auch diese Zeit ging vorbei und der Alltag hielt Einzug. Allerdings ein noch sehr ungewohnter Alltag. Kochen für nur eine Person, anstatt wie bisher für zwei, war eine nicht gelinde Herausforderung. Schon beim Einkauf musste darauf Bedacht genommen werden. Beides ging zwar immer besser, dennoch kam es vor, dass Anneliese fertige Speisen einfrieren musste, wenn sie nicht drei Tage lang das gleiche essen wollte.

Nach etwa einem halben Jahr hatte sich das tägliche Einerlei soweit eingespielt, dass sie wieder an sich selbst zu denken begann. Reisen hatten ihr immer gut getan. Es war mit vielen neuen Eindrücken verbunden und lenkte darüber hinaus auch noch ab. Jedoch, wenn schon Reisen, dann keinesfalls an Orte, welche man gemeinsam erkundet hatte!

Aber Reisen hatten selbstverständlich bisher immer nur zu zweit stattgefunden, niemals alleine! Und Anneliese hatte nicht vor, plötzlich alleine auf Reisen zu gehen! Aber das war gar nicht so einfach. Zwar hatte sie eine Schwester, Margot, mit der sie vieles verband, zumal Margot seit etwa zwei Jahren ebenfalls verwitwet war. Jedoch war Margot noch einige Zeit in die Arbeitswelt integriert und daher zeitmäßig stark gebunden.

Andere Freundinnen, vornehmlich solche, welche auch schon früher mit ihnen zusammen verreist waren, waren meist ebenfalls verheiratet. Und als fünftes Rad am Wagen boten sie Anneliese nicht das, was sie sich von einer Reisebegleitung versprach! Sie benötigte jemanden, mit dem sie die Freude und die Begeisterung teilen konnte, ohne immerfort an vergangene Reisen erinnert zu werden!

Die neue Wirklichkeit

Seine Reise in die neue Wirklichkeit war nur kurz. Ebenso wie zuvor bei seinem Ableben klärte sich seine Wahrnehmung, sodass er wieder klar sehen und denken konnte.

Nichts entsprach den Erwartungen. Erwartungen, die sowieso schon sehr nebulos und von starken Zweifeln geprägt waren. Die Ansichten über das Jenseits waren, wenn man überhaupt daran zu glauben bereit war, mehr von wilden Vermutungen geprägt. Und wenn es schon als Tatsache anerkannt wurde, dann interessierte meistens nur was es von uns abverlangte und ob wir dafür würdig waren. Lauter solche unausgegorenen Ansichten, die im Allgemeinen mehr Zweifel und Zweifler als Gewissheit und Zuversicht hervorbrachten.

Die neue Wirklichkeit war, wenigstens in groben Zügen, ein durchaus ansehnliches Abbild des bisherigen Daseins. Im ersten Augenblick war es genau genommen von seinem bisherigen Lebensumfeld nur durch kleinere und unbedeutende Äußerlichkeiten zu unterscheiden.

Beinahe fühlte er sich wieder Zuhause! Es sah dem Wohnzimmer ihres Hauses zum Verwechseln ähnlich. Lediglich die Anordnung der Bilder, die an der Wand hingen, war irgendwie anders. Aber noch während er darüber nachsann, wie sie nun angeordnet waren, wurden sie zuerst unscharf, um sodann die von ihm überlegte Position einzunehmen.

Nanu? Spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich? Oder hatte er etwas an den Augen? Und überhaupt: Er sah so scharf wie nie zuvor in seinem Leben! Ja, und nicht nur das: Nicht das kleinste Ziehen in der Hüfte! Kein Rasseln bei ein paar raschen Schritten! Es war ein völlig ungewohntes neues Lebensgefühl!

Aber zurück zu den seltsamen Veränderungen seiner neuen Welt. Erst dachte er, es sei vielleicht das Gedächtnis oder so. als er jedoch – nur so zum Vergleich! – an die Küche dachte, befand er sich auch schon in ihr! Das war nun doch starker Tobak! Seine neue Umwelt reagierte also ganz offensichtlich auf seine Vorstellungen.

Na gut. Er musste sich dennoch Gewissheit verschaffen. Er musste mit jemandem sprechen, der sich hier auskannte. Wer konnte das sein? Wer kam da infrage? Am besten jemand, der vor ihm in dieser Welt gelandet war! Sofort dachte er an seine Mutter. Und die war auch sofort zur Stelle.

„Hallo Horsti! Schön, dass du noch an mich denkst! Wie geht es dir?“

„Ach Mama! Ich bin so verwirrt! Ich denke, ich benötige Hilfe, um mich hier zurecht zu finden!“ Horst hatte nicht erwartet, dass er von ihr so rasch eine Reaktion bekam.

„I wo! Du bist doch auch sonst sehr selbständig! Du musst das schon selbst herausfinden. Es ist gar nicht so kompliziert, wie es dir im Augenblick erscheinen mag!“

Ihm entging nicht der spöttische Unterton seiner Mutter. Den hatte sie schon während seiner Schulzeit immer dann gehabt, wenn er sich so richtig patschert anstellte. Und genau wie früher wollte er aufbegehren. Doch noch bevor er etwas erwidern konnte, war seine Mutter wieder verschwunden und er war wieder allein. Erst jetzt merkte er, dass er sie gar nicht ‚gehört’ hatte! Alles was er zu hören gedacht hatte, war irgendwie in seinem Kopf gelandet! Wurde hier eigentlich überhaupt gesprochen, so wie er es von seinem früheren Leben gewohnt war?

Er lehnte sich gedanklich zurück in einen Fauteuil, der auch prompt zur Verfügung stand und dachte nach. Wo auch immer er hier gelandet war, es war eine höchst bemerkenswerte Welt! Offenbar war jeder Aspekt in dieser Welt selbsterklärend. Wie bei den heutigen, neuen technischen Geräten. Ha! Von wegen! Er hatte sich jedoch mit der Technik immer leicht getan, trotzdem waren ihm hin und wieder auch Fehler unterlaufen. Er hoffte, dass die hier wirkenden Kräfte besser justiert waren, als alles was er auf Erden gesehen hatte!

Wenn also hier alles in gewisser Weise gedankengesteuert war, so konnte er möglicherweise tun und lassen was er wollte. Oder doch nicht? Höchst wahrscheinlich gab es auch so etwas wie Verbote, oder zumindest nicht goutierte Vorgehensweisen. Außerdem war da noch die Frage der Rechte und der Pflichten. Wo er Rechte hatte – und diese eigenartige Erfüllung von Wünschen hatte ganz sicher mit einem ihm zugestandenen Recht zu tun – hatte er sicherlich auch einige Pflichten! Und worin diese bestanden musste ihm doch irgendjemand erläutern! Oder musste er auch darauf ganz von selbst kommen? Vielleicht ging auch das über den ‚Wunsch-Kanal’, sinnierte er.

„Worin bestehen hier meine Pflichten?“ dachte er daher.

„Ein kluger Wunsch!“ sagte eine Stimme in seinem Kopf.

„Mir erscheint er eher logisch als klug!“ antwortete er seiner Stimme im Kopf in seiner gewohnten Art zu sprechen.

„Ich habe nicht die Frage nach den Pflichten gemeint, sondern die gute Überlegung, auch dieses Problem als Wunsch zu formulieren!“ Die Stimme hatte einen freundlichen, aber nichtsdestoweniger verschmitzten Tonfall.

„Es schien mir der einfachste Weg zu sein, Antworten zu bekommen.“ Horst konnte sich nicht dazu überwinden, in derselben Weise ‚geistig’ zu antworten

„Das ist er auch, deshalb fand ich ihn ja so klug! Aber zurück zu deiner Frage nach den Pflichten. Diese sind ganz simpel: Jedes Ansinnen welches an dich herangetragen wird und das du auch erfüllen kannst, ist Teil deiner Pflichterfüllung. Falls du einen an dich gerichteten Wunsch nicht zu erfüllen im Stande bist, kannst du vielleicht jemanden nennen, der dazu in der Lage ist. Auch das ist Teil deiner Pflichterfüllung. Das ist alles.“

Horst fragte sich, wieso sich der Antwortgeber nicht zeigte. „Warum zeigst du dich mir nicht? Ich unterhalte mich nicht gerne mit unsichtbaren Unbekannten!“

„Ich bin weder unsichtbar noch unbekannt. Du solltest nur nicht gleich überfordert werden. Aber sobald du dich dazu durchringen kannst, deine Fragen und Antworten ebenfalls über die geistige Ebene zu transferieren, wirst du deine reale Umwelt und damit auch mich erkennen!“

Horst raffte sich endlich dazu auf geistig zu kommunizieren. „Findet hier jegliche Art der Erkenntnis auf einer geistigen Ebene statt?“

Bei diesen ‚Worten’ löste sich aus dem Hintergrund ein Schemen, wurde dichter, gewann an Konturen und stand schließlich in voller Lebensgröße vor ihm: Zuerst erkannte er ihn nicht, aber schon nach kürzester Zeit wurde ihm bewusst, dass es sich um seinen Großvater handelte. Sein Großvater! Der sah selbstverständlich nicht so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte, als alten gebrechlichen Mann mit wenigen Haaren und braunen Flecken auf Gesicht und Händen. Sondern so wie auf seinem Hochzeitsfoto, welches bei seiner Mutter zuhause, vergilbt und in einem silbernen Rahmen, auf der Kommode gestanden hatte.

„Aber ich bin ja auch nicht von Mama überfordert worden!“

Immerhin hatte er doch seine Mutter gesehen! Oder doch nicht? War es lediglich sein Wunsch gewesen, der ihm ihr Bild vorgegaukelt hatte? Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob er sie nun tatsächlich gesehen hatte, oder nicht!

„Deine Mutter war schon immer ein Springinsfeld. Ich fand das gar nicht gut, aber sie kam offenbar immer damit durch. Im Übrigen werde ich dir vorerst über die schwierigsten Klippen hinweghelfen!“

„Da bin ich dir aber wirklich sehr dankbar!“

Horst atmete innerlich auf. Unter den gegebenen Umständen schien diese Welt durchaus erfreuliche Aspekte zu beinhalten. Auch wenn sie den oft verbreiteten Mutmaßungen in den allerwenigsten Punkten entsprach.

Aber unabhängig davon, ob sie nun irgendwelchen tatsächlichen oder eingebildeten Wirklichkeiten entsprach oder nicht, was er nun sah, oder zu sehen glaubte, war, wenn sein Großvater Recht hatte – und warum sollte er nicht Recht haben, oder schlimmer noch: die Unwahrheit sagen? – seine tatsächliche real vorhandene Umwelt.

Inwieweit eine gedanklich veränderbare Umwelt realer sein sollte, als eine unveränderbare war ihm ebenso unklar, wie seine Pflichten. Wohl hatte, was sein Großvater gesagt hatte, in gewisser Weise Hand und Fuß, in mancherlei Hinsicht jedoch traten mehr Fragen als Antworten zu Tage. Wenn also irgendjemand mit einem Wunsch zu ihm kam, wonach konnte er entscheiden, ob er ihn erfüllen konnte oder nicht?

Er versuchte sich diverse Wünsche vorzustellen. Beispielsweise kam er mit elektrischen Belangen lange nicht so gut zurecht, wie er es gerne gewollt hätte. Falls also jemand mit eine diesbezüglichen Wunsch an ihn heran trat, musste er ihn gewissermaßen weiter reichen. Aber an wen?

Sicherlich, da gab es einen Arbeitskollegen, der sich in dieser Hinsicht immer sehr geschickt angestellt hatte. Sollte er den Wünschenden dann an diesen verweisen?

Andererseits: Welche Wünsche wurden durch die Vorstellungen erfüllt? Blieben überhaupt noch unerfüllte Wünsche? Alles was er sich aus seiner Erinnerung heraus gewünscht hatte, waren materielle Dinge gewesen, oder jedenfalls nichts Immaterielles. Falls also jemand mit einem Wunsch an ihn herantrat, so konnten es offensichtlich nur Nicht-materielle Abforderungen sein!

Jetzt fielen ihm wieder die Worte seines Großvaters ein, als er heraus zu finden versuchte worin seine Pflichten bestanden: ‚Ein kluger Gedanke dieses Anliegen als Wunsch zu formulieren‘! Er hatte also ganz zufällig die richtige Entscheidung getroffen und mit der Frage auch gleich jemanden der sie beantworten konnte herbei geholt!

Ich muss hier noch eine Menge lernen, stellte er bei sich fest. Lernen! Bestand das gesamte neue Leben nur noch aus Lernen? Offenbar.

Erwin

Wie schon erwähnt war Anneliese sehr reisefreudig. Sie hatte mit Horst nicht nur unzählige Ausflüge und Wanderungen in die nähere und auch in die fernere Umgebung gemacht, sie hatten auch ausgedehnte Reisen in alle Welt unternommen.

Durch diese Reisetätigkeit hatte Anneliese sich immer sehr lebendig gefühlt. Und diese Art der Lebendigkeit wollte sie auch weiterhin gerne aufrechterhalten.

Sie probierte es mit Freundinnen und nahen Bekannten, aber es war in keiner Weise dasselbe wie mit Horst. Oh ja! Sie konnte sich durchaus auch mit diesen Reisebegleiterinnen ‚austauschen’. Aber welch ein gravierender Unterschied! Einesteils waren die Interessen sehr oft nur oberflächlich ähnlich, andernteils waren die meisten von ihnen nicht von so positiver Natur wie Anneliese. Das bedeute nicht zuletzt, dass sie häufig einen für ihr Empfinden durchwegs positiven oder zumindest interessanten Aspekt mit negativen oder womöglich sogar ablehnenden Kommentaren ertragen musste.

Sie kannte allerdings jemanden, der dafür durchaus infrage kam: Erwin. Erwin wäre an sich der ideale Kandidat, hätte er nicht einen klitzekleinen Fehler: Er war verheiratet. Zwar war Erwins Angetraute nicht unbedingt für weite Reisen aufgeschlossen, daher war Erwin soundso immer wieder einmal solo unterwegs und daher blieb er als Kandidat in der engeren Wahl.

Dieser Erwin war darüber hinaus aber auch in anderer Hinsicht ein kongenialer Partner. Er war praktisch so gut wie immer freundlich und von positiver Stimmung. Er wusste auch immer interessantes zu erzählen und war de facto nie langweilig.

Und so kam es schließlich, wie es kommen musste: Erwin wurde zum kongenialen Reisepartner. Natürlich nicht nur als Begleiter. Um in ihm auch wirklich einen ‚Nachfolger’ von Horst gewissermaßen zu profilieren, musste er auch alle entsprechenden Funktionen übernehmen.

Erwin hatte als Psychologe ein beachtliches Einfühlungsvermögen, sodass er Anneliese nicht nur mit liebevoller Hingabe behandelte, sondern sie auch – soweit ihm das als fremdgehender Ehemann möglich war – auch nach Strich und Faden verwöhnte.

Solcherart entwickelte sich diese Beziehung durchaus zu einem Vorteil für Anneliese. Schließlich wurde aus der ‚Reisebegleitung’ nach und nach ein äußerst persönliches Verhältnis, das allen Anforderungen gerecht wurde.

Eines jedoch blieb Anneliese versagt: Die absolute Gemeinsamkeit! Die gelebte Zweisamkeit half zwar über die Einsamkeit, nicht jedoch über die Leere im Haus hinweg. Wer auch immer dann und wann zu ihr ins Haus kam, er musste irgendwann wieder in sein eigenes Zuhause.

So blieb vieles, das eigentlich längstens entsorgt hätte werden können, liegen, stehen und hängen, wo es war. Selbst all jene Dinge, die im Grunde nichts mit Horst direkt zu tun hatten, blieben im Haus unverändert und machten aus dem einen oder anderen Raum eher eine Abstellkammer, denn ein gepflegtes Ambiente.

Erwins zeitweise Anwesenheit konnte daran nichts ändern. Erwin selbst hatte natürlich auch kein Interesse daran, Anneliese dazu anzuhalten aus dieser besonderen Art von Lethargie auszubrechen. Denn nur wenn sie dieser geistigen Haltung verhaftet blieb, konnte er die Angelegenheit in seinem Sinne am Laufen halten. Ein gewisser Eigennutz haftet wohl jedem Menschen an, auch wenn er noch so sozial denkt und handelt!

Nun hat diese Art von Lethargie einen absolut unschönen Fehler: Er entwickelt sich, ganz peu à peu, zum Schlendrian. Wurde während der ersten Zeit vieles nur eben soo irgendwo hingelegt, so wurde das irgendwo nach und nach zum ständigen Speicherplatz.

Auf diese Art entstanden eine ganze Menge solcher Speicherplätze, die jedoch in keiner Weise ursprünglich dafür dienen sollten. Die ursprünglich dafür vorgesehenen gerieten zwar nicht in Vergessenheit, aber diese ‚neue Ordnung‘ hatte im Grunde genommen nichts mehr mit effizienter Ordnung zu tun! Sie blieb, und oftmals sogar ungeliebt, ein hässliches Provisorium.

Erste Überlegungen

Einige Zeit war Horst lediglich damit beschäftigt, sich und seine Umwelt zu erkunden. Vieles, das er sich hier zu eigen machte, verdankte er seiner Aufgeschlossenheit gegenüber jeglichen neuen Erfahrungen und neuen Dingen. So fand er die Tatsache, sich im Hier bequem einrichten zu können – und zu dürfen! – äußerst erfreulich.

Bequem hieß nicht, dass er sein Dasein mit Nichtstun verschwendete! Bequem hieß für ihn, dass er sich nicht um nebensächliche Dinge kümmern musste, wie zum Beispiel essen oder ruhen. Er aß wann, wo und vor allem was er wollte, ohne darauf achten zu müssen, ob es ihm eventuell schaden könnte. Er ruhte, wenn er sich geistig abgespannt fühlte und nicht, wenn es sein Körper für unerlässlich fand.

Überhaupt schien alles was mit dem Körper zusammen hing, völlig ohne Bedeutung zu sein. Genau genommen wusste er gar nicht, ob der von ihm wahrgenommene Körper in irgendeiner relevanten Weise real war. Seit er festgestellt hatte, dass er keinerlei Schmerzen oder sonstige irgendwie spürbare Beeinträchtigungen bemerkte, dachte er nicht mehr weiter darüber nach.

Auch die daraus resultierende Verpflichtung zur gegenseitigen bereitwilligen Unterstützung bescherte ihm mehr Freude als Unbehagen. Oh, natürlich gab es auch Dienste, welche ihm nicht so gut lagen wie etliche andere. Vor allem, wenn sein praktischer Verstand gefragt war, war er in seinem Element und konnte sich immer nur schweren Herzens dazu entschließen, dem Partner genügend Freiraum für dessen eigene Ideen zu geben!

Eine der wichtigsten neuen Lehren war, andere nicht mit seinen Ideen zuzuschütten, sondern ihn zu den richtigen Ideen zu inspirieren! Das meiste davon brachte ihm sein Großvater bei indem er ihm vor Augen führte, dass ein klug gewählter Hinweis – welcher im Allgemeinen sowieso der Antwort voran ging – eine ganze Kette von Ideen produzierte.

Falls er hingegen, was Gott sei Dank nicht so häufig gewünscht wurde, als Problemlöser einer unwilligen Gruppe Andersdenkender – es gab unglaublich viele Leute, deren Verstand dermaßen eingekapselt war, dass sie von ihrem eingefahrenen Denken nur schwer abzubringen waren! – zugeordnet wurde, fragte er sich regelmäßig, was ihn wohl dafür geeignet erscheinen hatte lassen. Nichtsdestoweniger widmete er sich mit Feuereifer auch diesen Aufgaben.

Und um ehrlich zu sein: Er fand auch immer häufiger Gefallen daran, vor allem wenn es sich um ‚Junge Wilde’ handelte. Als solches wurden jene Neuankömmlinge bezeichnet, die in ihrem früheren Leben orientierungslos und ohne inneren Halt durch ihr elendes Leben getorkelt waren. Oder auch nur von falschen Idealen gelenkt worden waren.

Bei all diesen interessanten und erfüllenden Aufgaben hatte er immer noch genügend Zeit übrig, um sich dem Alltag seiner immer stärker unter ihrer Einsamkeit leidenden Frau zu widmen. Eines stand für ihn fest: Erwin war keine dauerhafte Lösung. Es musste etwas Passenderes für Anneliese geben, als eine halbherzige Beziehung mit zeitlicher Begrenzung!

Anders als zum Zeitpunkt seines Abgangs fühlte sich Anneliese immer noch zu stark an ihn gebunden. Das war nicht gut. Durchaus nicht. Auch – und das war nicht zu leugnen! – war seine ständige Beschäftigung mit Anneliese ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis bei seinen neuen Aufgaben! Er fühlte sich geradezu verpflichtet, sich um sie zu kümmern!

Er wandte sich an seinen Großvater. „Opa, was kann ich tun um einen besseren Gefährten für Anneliese zu finden?“ Die beinahe augenblicklich hergestellte Verbindung mit seinem Großvater verblüffte ihn noch immer.

„Weißt du, was genau du eigentlich möchtest?“

An dieser Stelle wäre es angebracht darauf hinzuweisen, dass ein geistig geführtes Gespräch in keiner Weise mit einem herkömmlichen Gespräch vergleichbar war. Erstens wurden nicht Worte artikuliert, sondern der allgemeine Inhalt wurde mit den diversen Implikationen zu einer Art Paket verknüpft. Als Beispiel möge eine in etwa sinngemäße Übersetzung des zuvor gesagten dienen:

„Sie sollte sich nachts und überhaupt nicht so schrecklich einsam und verlassen fühlen!“

Horst hatte sich praktisch keine bestimmten Gedanken gemacht. Er hatte nur so ein Gefühl, dass es eben so nicht weitergehen sollte.

„Dann solltest du dir zuerst einmal überlegen, wie das Endergebnis deiner Überlegungen aussehen soll.“

Großvater war mehr daran interessiert, dass sich Horst alle eventuellen Folgen klar machte, bevor er zu weiteren Taten schritt.

„Das Ergebnis ist ganz klar: Sie braucht einen permanenten Partner, welcher nach Möglichkeit ein ähnliches Gemüt wie ich hat, sodass sie sich nicht allzu sehr umstellen muss!“