Der silberne Traum - Werner Röschl - E-Book

Der silberne Traum E-Book

Werner Röschl

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Beschreibung

Jemand träumt, dass er einem silbernen Boten begegnet, der ihm etwas mitteilt, dass er jedoch nach dem Erwachen sofort wieder vergisst. Tage später kommen ihm die ersten Zeilen eines Gedichtes in den Sinn, von welchem er sofort weiß, dass dies ein Teil des Textes ist, den ihm der Bote im Traum vermittelt hat. Er hat jedoch keine Ahnung, was es zu bedeuten hat und wendet sich in seiner Ratlosigkeit mit dieser Frage an eine Bekannte.

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Inhaltsverzeichnis

Der Traum

Eine erste Idee

Der Beginn der Suche

Erste Erfolge

Schwierige Auswahl

Beendigung der Auswahl

Lotte

Dietlinde und Uschi

Johanna

Wanda

Evelyn

Christa

Karin aus Anif

Rieke

Petra

Maria

Karin aus Baden

Barbara

Flora

Heliane

Der Traum

Ich rannte durch die Straße, immer hinter den beiden anderen her. Und obwohl ich schon reichlich außer Atem war, konnte ich die Verfolgung nicht aufgeben. Zweimal schon war ich so knapp hinter ihnen, dass ich sie beinahe zu fassen bekommen hätte.

Im Augenblick waren sie jedoch außer Sichtweite. Ein allerletztes Mal erhöhte ich meine Anstrengungen, aber meine Beine wollten ganz einfach nicht mehr. Also blieb ich stehen und sah mich um. Ohne die geringste Vorstellung davon, wie ich hierhergekommen war und wo ich mich überhaupt befand.

Plötzlich merkte ich, dass ich völlig nackt war. Allerdings schienen das die Leute in der Umgebung entweder nicht zu bemerken, oder es war ihnen schlichtweg egal. So nahm ich selbst ebenfalls keine Notiz davon und begann zu überlegen, was ich weiter tun sollte.

Im nächsten Augenblick stand einer der beiden Männer, denen ich vorher gefolgt war, neben mir und wollte wissen, was er nun tun sollte. Zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass es sich um meinen Bruder handelte. Ich fragte ihn, wieso er hier und nicht in Griechenland sei.

Er antwortete, dass er nicht nur noch nie in Griechenland gewesen war, sondern dass er ohnehin nur mir zu Liebe überhaupt von den Toten zurückgekehrt war. Das wiederum verwunderte mich gar nicht, denn gleichzeitig wusste ich ja, dass ich in Wahrheit gar keinen Bruder hatte.

Um dieser seltsamen Situation auszuweichen, drehte ich mich um und zog mich an. Dass ich plötzlich Bekleidung zum Anziehen hatte, war mir nur recht. Als ich mich wieder umdrehte, war die gesamte Straße leer und es war spät nachts.

Sofort zog mich ein aus der Ferne herannahendes Leuchten in seinen Bann. War dieses Leuchten ursprünglich hinter den Häuserzeilen verborgen, so kam es jetzt über den Häusern in Sicht. Es stellte sich als eine hell strahlende Gestalt dar, die mich augenblicklich an Engel denken ließ.

Als sie bei mir ankam, nahm das Leuchten ab und sie sah mich mit derart maximal beeindruckenden Augen an, die ich in dieser Intensität nie wieder gesehen hatte. Dann begann sie in einem sanften Bariton zu sprechen. Anfangs verstand ich kein Wort, aber je länger ich aufmerksam zuhörte, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass ich alles was sie sagte verstand.

Als sie zu sprechen aufgehört hatte, verschwamm ihre Gestalt, löste sich in pures Licht auf, sie zog sich auf einen winzigen Punkt zusammen und verschwand dann endgültig.

Danach erwachte ich.

Verstört und seltsam beunruhigt versuchte ich den Traum zu rekapitulieren, aber es waren nur noch Bruchstücke und auch diese wurden immer spärlicher. Nur die Erinnerung an die leuchtende und sprechende Gestalt blieb mir klar im Gedächtnis.

Und nach wie vor hatte ich das bestimmte Gefühl, alles Gesagte nicht nur gehört, sondern auch klar und in meiner Sprache verstanden zu haben! Ich hatte nur leider keinerlei Erinnerung an den Inhalt! Danach verfiel ich wieder in einen traumlosen Schlaf. Wenigstens hatte ich das Gefühl dass er traumlos war.

* ~ * ~ *

Die nächsten beiden Wochen vergingen, ohne dass ich noch an diesen Traum dachte. Ich widmete mich der reichlich unbefriedigenden Tätigkeit, in diversen Zeitungstexten nach Hinweisen auf – für die Firma interessante – Verweise oder Zusammenhänge zu stoßen. Diese Tätigkeit, sie trug die hochtrabende Bezeichnung ‚Werbungs-Controller’, verhalf mir zwar zu einem einigermaßen zufriedenstellenden Einkommen, war aber andererseits auf die Dauer jedoch eher nervtötend.

Abends, wie man so sagt: nach getaner Arbeit, ging ich meist entweder auf dem Heimweg noch auf ein Glas Bier, oder ich verkroch mich in ein Buch. Seltener, aber immer noch häufig genug, verabredete ich mich mit meiner Nachbarin, zwei Stockwerke höher, auf einen Kino- oder – noch seltener – Theaterbesuch.

Diese Nachbarin, Heliane mit Namen (was sind das für Eltern, die ihren Kindern solch außergewöhnliche Namen verpassen?) war, wie sie nicht oft genug betonen konnte, 38 und ein überzeugter Single. Ihre beruflichen Ambitionen waren, ähnlich wie meine, – ich heiße übrigens Joachim und habe vor zwei Monaten meinen 41-sten Geburtstag gefeiert – in einer Art Sackgasse gefangen. Sie war kaum für eine ehrgeizige Karriere geeignet, was sie auch gar nicht vorhatte, für sich in Erwägung zu ziehen.

So lebten wir in unserer selbst gewählten Isolation von einem Tag auf den anderen dahin. Ihre Tätigkeit hatte für uns beide jedoch den Vorteil der ‚Rechtzeitigkeit’. Sie saß nämlich an der Kassa eines beliebten und in der Gegend gern genutzten Kartenbüros. Dies bot ihr, und damit auch uns, die Möglichkeit für interessantere Veranstaltungen immer früh genug gute Plätze reservieren zu können.

Kurz bevor ich heute das Büro verließ rief sie mich an.

„Hallo Joachim! Ich hätte wieder einmal Karten für ein Konzert. Bist du interessiert?“

„Was für einen Art Konzert?“

Heliane druckste herum. Sie wusste Joachim war von früheren Verabredungen gewarnt.

„Na ja. Ich weiß dass du das nicht so schätzt, aber ich glaube dass es dir diesmal gefallen könnte!“

Ich wurde etwas ungeduldig:

„Sag schon, worum geht es.“

„Panflöten.“

Jetzt war es heraus. Sie hatte ein wenig Sorge, dass er sofort ablehnen würde, aber Heliane war offenbar sehr daran interessiert.

„Georghe Zamfir?“

Das war der einzige Panflötenspieler, den ich kannte.

„Den gibt’s nicht mehr. Nein. Eine Frau: Daniela de Santos.“

„Kenn ich nicht. Ist sie gut?“

Noch war ich nicht überzeugt.

„Man nennt sie die Königin der Panflöten.“

Heliane sah sich schon auf der sicheren Seite.

„Na dann lass es uns anhören.“

Ich dachte, dass es nicht schaden könnte, einmal etwas Neues zu probieren. Als ich nach Hause kam, stand sie schon mit den Karten vor der Türe.

„Ich hab ganz vergessen dir zu sagen, dass es schon für heute angesetzt ist!“ platzte sie sofort heraus. „Aber es waren zwei ganz hervorragende Plätze, welche kurzfristig zurückgegeben wurden. Vor lauter Freude habe ich den Leuten, die sie zurückgaben, nur das halbe Storno verrechnet!“

„Und wann?“

„Wir müssen uns schon beeilen. Um halb Acht im Musiktheater. Du solltest dich also einigermaßen fein machen!“

Jetzt sollte ich vielleicht sagen, dass es einerseits schon dreiviertel Sechs war und wir in Leonding wohnten. Also wirklich höchste Eisenbahn, wenn wir um Sieben am Volksgarten sein wollten. Und das war sicherlich schon spät genug, wenn wir noch einen Parkplatz im Theater ergattern wollten. Mit der Tram zu fahren, war in diesem Fall wohl von vorneherein irrelevant.

* ~ * ~ *

Um es kurz zu machen, wir schafften es gerade noch. Dennoch registrierte ich eine unbestimmte interessierte Erwartungshaltung. Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung, was uns jetzt bevorstand, aber alleine die bereits versammelten Massen gaben mir ein Gefühl der Wichtigkeit.

Wir waren bisher noch nie im neuen Musiktheater unserer Stadt gewesen und somit waren wir doppelt neugierig auf die Vorstellung. Was soll ich viel herum reden: Spätestens nach dem zweiten Stück war ich so begeistert, dass ich sofort nach dessen Beendigung in den frenetischen Beifall das Publikums einfiel.

Ich hatte ganz einfach nicht erwartet, dass mich die Töne, der von der Künstlerin ‚Celestina’ genannten Flöte, derart zu berühren vermochten. Dazu kam noch ihr ständiger Hinweis auf die, für sie damit verbundenen und vielfach auch erfüllten, Träume. Ja doch, es war ganz leicht, bei diesen Tönen ins Träumen zu geraten.

Nach Beendigung des Konzertes und nach den mit allerhöchstem Nachdruck geforderten drei Zugaben, verließ ein tief aufgewühltes Publikum den bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal.

Heliane war über meine Begeisterung restlos aus dem Häuschen.

„Ich hab doch gesagt, es könnte dir gefallen!“

„Ich hatte wirklich keine Ahnung, welche Macht diese Musik auf mich ausüben kann! Ich muss dir wirklich von ganzem Herzen dafür danken, dass du mich zu diesem Konzert überredet hast!“

In meiner Verwirrtheit konnte ich mich nicht zurückhalten und erzählte ihr von dem Traum, an den ich jetzt in diesem Augenblick das erste Mal wieder dachte. Natürlich nur den Teil mit der silbernen Gestalt. Und dass ich unmittelbar danach genau wusste, dass ich alles verstanden hatte, obwohl ich mich nicht eines einzigen Wortes hatte erinnern können.

„Auf einem großen grauen Feld ein Hase auf zwei Stelzen saß“, stieß ich plötzlich und ohne besondere Vorwarnung hervor.

„Soll das ein besonderer Scherz sein?“

Fragte Heliane sofort mit einem leichten Spott in der Stimme.

Ich war wie vom Donner gerührt.

„Ich schwöre dir, ich hatte nicht die geringste Ahnung woher das kam! Aber ich weiß jetzt, dass dies der erste Satz war, den die Silbergestalt zu mir sprach!“

„Und was soll das bedeuten?“ fragte sie verwirrt.

„Ich hab keine Ahnung! Vielleicht ist es ein Rätsel?“

Im Grunde meines Herzens war ich ratlos.

„Ein sehr seltsames Rätsel, wenn du mich fragst!“

Mutmaßte sie.

„Es ist ja auch noch nicht vollständig; das war lediglich die allererste Zeile!“ brachte ich gerade noch heraus.

„Also für mich klingt es wie nach einer Suche. Man soll irgendetwas suchen, und wenn man es gefunden hat, klärt sich alles auf.“

Und nach einer Gedankenpause fragend:

„Aber was soll gesucht werden? Ein Schatz? Eine Erkenntnis? Eine Liebe?“

Heliane wusste nicht, was sie von dieser Sache halten sollte.

„Die wäre bereits im Schatz enthalten!“ versuchte ich witzig zu sein.

„Ich mein ja nur. Hast du eine bessere Idee?“

Hatte ich natürlich nicht.

Eine erste Idee

Natürlich ließ mich der Gedanke an diese Zeile nicht mehr los. Ich machte diese Nacht kein Auge zu. Ich wälzte nicht nur mich hin und her, sondern vor allem meine Gedanken. Was wollte der Silbermann von mir? Wozu wollte er mich auffordern?

In meiner Not rief ich Heliane an. Mitten in der Nacht. Ich durfte das. Irgendwann in der Vergangenheit, als Heliane ziemlich ‚down’ war und eine Menge Zuspruch benötigte, haben wir vereinbart, dass der andere jederzeit für ein hilfreiches Gespräch zur Verfügung steht.

Damals erschien mir der Gedanke sehr edel. Ich zerplatzte fast vor Stolz über so viel Selbstlosigkeit. Später war ich mir oft nicht mehr so sicher, ob das eine so gute Idee war. Aber ich stand dazu, auch wenn ich es bis dato nur bis zum Zuhörer gebracht habe. Heute allerdings war ich in der unerwarteten Lage, selbst auf ihre Hilfe angewiesen zu sein.

„Liebe, liebe Heliane! Ich weiß dass es zehn nach Drei ist, aber ich finde ganz einfach keinen Schlaf. Ich bin seltsam aufgewühlt. Wenn du kannst, tröste mich, bitte, ein Wenig!“

„Ach, Joachim! Wenn du wüsstest! Eigentlich dürfte ich es dir ja gar nicht sagen, aber ich habe auf deinen Anruf gewartet! Schon als du dich so unkonzentriert verabschiedet hast, wusste ich, dass das noch nicht das Ende des Tages ist!“

„Ach du! Du denkst immer zuerst an mich! Ich wollte, ich hätte so viel Einfühlungsvermögen wie du!“

Ich war richtiggehend gerührt.

„Nun übertreib ’mal nicht! Ich mach mir eben auch so meine eigenen Gedanken, nicht nur du.“

„Gut. Also: Ich denke auch dass es ein Rätsel ist. Und ich denke, dass ich nur nach und nach die einzelnen zielführenden Hinweise bekomme. Ich hab’ zwar keine Ahnung, wie der Silbermann das bewerkstelligt, aber es scheint jedenfalls mir so“, brachte ich meine diesbezüglichen Gedanken auf den Punkt.

„Da könntest du durchaus Recht haben. Ich hab’ mir auch überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, irgendwie heraus zu bekommen, worum es letzten Endes geht.“

Heliane dachte immer, dass sich jedes Rätsel aus der ersten Angabe heraus auflösen lässt. Und wenn doch nicht, war es in ihren Augen eben kein gutes Rätsel.

„Darüber habe ich ebenfalls bereits spekuliert, aber es gibt – für mich wenigstens – nicht den kleinsten brauchbaren Hinweis.“

Ich konnte mit diesem kryptischen Text ganz einfach nichts beginnen.

„Zerlegen wir diesen Hinweis einmal mit Blick auf seine Sinnhaftigkeit: >Auf einem großen grauen Feld ein Hase auf zwei Stelzen saß<. Was also könnte es bedeuten?“

Joachim war verblüfft, dass Heliane den ganzen Satz noch immer im Kopf hatte.

„Beginnen wir mit dem großen grauen Feld. >Groß< ist ein äußerst dehnbarer Begriff, er wird uns kaum weiter helfen. Ein >graues Feld<. Das könnte ein Wiesenstück im Nebel, ein umgeackertes Feld im Winter oder auch ein betonierter oder zumindest eingeebneter Platz sein. Inwieweit ist das von Belang?“

„Vielleicht ist nicht die Beschaffenheit, sondern die Leere das Merkmal um welches es geht?“ mutmaßte sie.

„Es ist ja nicht ganz leer. Ein Hase auf zwei Stelzen sitzt dort!“

Dieser Einwand meinerseits war eigentlich eher dumm, dachte ich sofort.

„Dann stell dir nur einmal seine Einsamkeit, seine Verlorenheit dort vor! Für ihn ist es primär leer!“ konterte sie augenblicklich.

„Und warum ein Hase? Wofür steht ‚Hase’? Was symbolisiert er?“

Meine Phantasie ließ mich komplett im Stich.

„Fruchtbarkeit!“ Fast schon triumphierend kam es ihr von den Lippen.

„Na Bravo! Und was tu ich nun mit der Fruchtbarkeit?“

Nicht nur völlig phantasielos auch noch stur. Was war nur los mit mir? Warum wollte, oder konnte ich das Offensichtliche nicht sehen?

„Überleg doch, was sich hinter der Fruchtbarkeit eigentlich verbirgt: Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Partnerschaft, ... Liebe?“

Heliane war richtig nachsichtig mit mir.

„Natürlich. Aber ich suche gar keine Partnerschaft! Ich bin mit meinem derzeitigen Zustand ganz zufrieden!“

War gelogen. Im Grunde meines Wesens war ich durchaus auf der Suche. Nur jetzt noch nicht, redete ich mir meistens ein.

„Wirklich? Hab ich nicht erst vor ein paar Monaten einen langen und intensiven Vortrag über die Nachteile des Single-Lebens ertragen?“

Natürlich wusste Heliane das ebenso gut wie ich.

„Das waren doch nur allgemeine Überlegungen, die rein gar nichts mit unserem geordneten Leben zu tun haben!“

Ich weiß zwar nicht wieso, aber schon wieder war ich in der Verteidigungsstellung gelandet.

„Also schön. Aber was hat es dann mit den Stelzen auf sich?“ Zaghaft versuchte ich wieder Boden zu gewinnen.

„Weil man von einem erhöhten Standpunkt aus weiter sieht? Vielleicht hat er gerade jemanden verloren und trauert mit den zurück gebliebenen Erinnerungen? Oder er trauert über eine verlorene Zeit und verpasste Gelegenheiten?“

Sie schien sich überaus sicher in ihrer Interpretation zu fühlen.

„Eine ganz hervorragende Interpretation! Und da wir das jetzt geklärt haben, können wir uns wieder dem Schlaf widmen! Gute Nacht!“

Irgendwie fühlte ich mich überrumpelt. Ich wollte getröstet und nicht belehrt werden!

*~ *~ *

Am nächsten Morgen war ich so verschlafen, dass ich wie benommen ins Büro stolperte und mich verzweifelt auf meine Aufgabe zu konzentrieren versuchte. Was mir jedoch absolut nicht gelang. Ganz im Gegenteil, meine Gedanken wanderten wie von selbst immer wieder zu dem im Grunde nichts sagenden Satz ‚Auf einem großen grauen ...’.

>Er dachte stumm und mit Bedauern an sein verlor’nes Augenmaß<

Was war das denn? Wo kam der Satz jetzt her? War das etwa die noch nicht offenbarte Fortsetzung? Plötzlich war ich ganz sicher: Das konnte, ja, das musste es sein! Nicht dass ich irgendetwas damit beginnen konnte, aber ja, es passte! Zumindest reimte es sich. Das war immerhin etwas.

Sofort rief ich Heliane an. Was auch sonst hätte ich tun sollen? Anstatt einer Begrüßung fiel ich sofort mit der neuen Zeile über sie her. Sie stockte hörbar einen Moment, dann sagte sie:

„Jetzt weiß ich was das Ganze soll! Du hast, oder hattest, eine (fast-)Freundin und hast sie irgendwie verloren, bevor du ihrer noch sicher hättest sein können!“

„Wie um alles in der Welt kommst du auf eine derart weit hergeholte Interpretation?“

Ich war mehr als verblüfft. Wie konnte sie derart rasch, und wie aus dem Ärmel geschüttelt, eine dermaßen profunde Interpretation hervorbringen?

„Na ganz einfach: Du wusstest es – damals, offenbar – hast dich jedoch nicht getraut, sie nochmals zu erobern und danach hast du es überhaupt vergessen!“

Ihre Stimme klang so sicher, als wüsste sie um diese Person und mein Verhältnis zu ihr!

„Und das alles erkennst du aus diesem konfusen Satz?“ Ich konnte es nicht fassen.

„Jetzt lass es gut sein. Wir reden abends weiter.“ Und sie legte auf.

Wenn es je einen Grund gab, mich fristlos zu entlassen, dann heute. Es war mir völlig unmöglich, mich auf irgendeine sinnvolle Tätigkeit auch nur vorübergehend zu konzentrieren. Alles was ich zuwege brachte, waren sinnlose Kritzeleien auf meiner Schreibunterlage.

Dabei ging ich so immens wichtigen Fragen nach, wie: wozu benötige ich eine Schreibunterlage, wenn ich praktisch nie auf Papier schrieb? Oder ich saß nur da, stierte Löcher in die Luft und versuchte mich zu erinnern, wann und wo ich mich jemals in einer Phase der – unerwiderten – Verliebtheit befand.

Aber vielleicht war sie gar nicht unerwidert? Vielleicht war ich nur zu ... Unerfahren? Unbedarft? Unaufmerksam? ... um es zu merken? Wer weiß das schon so genau und dann noch nach – wahrscheinlich – so langer Zeit!

Wenn das so weiter ging, konnte ich gleich den Hut nehmen! Also machte ich Nägel mit Köpfen: Ich nahm mir einen Monat Urlaub. Bei Bedarf verlängerbar. Das war zwar nicht im Sinne meines Chefs, aber irgendwie schien er zu merken, dass bei mir etwas ganz außergewöhnliches im Busch war. Außerdem war sowieso gerade Saure-Gurken-Zeit und daher ließ er wohl Gnade vor Recht ergehen.

Danach ging ich nach Hause und konnte kaum erwarten, bis Heliane ebenfalls kam. Dort erwartete mich jedoch eine Überraschung der Extraklasse: Sie war schon da!

„Wieso bist du hier? Es ist doch erst halb Vier?“

„Ich hatte so ein Gefühl, dass du jemanden benötigen könntest, der dich einerseits am Boden hält und andererseits vorwärts treibt.“

Heliane war ungemein praktisch veranlagt, was mir bisher offensichtlich entgangen war.

„Und da hast du dir vorsichtshalber gleich einmal frei genommen?“

Ich wusste nicht, was ich von ihr halten sollte. Und wie kam sie eigentlich darauf?

„Na sicher! Gleich einen Monat. Hast du doch sicherlich auch getan, sonst wärst du nicht auch schon hier!“ Sie war nicht nur praktisch, sie war auch hellseherisch veranlagt, wie es aussah.

„Du bist unglaublich! Aber wahrscheinlich hast du insofern Recht, als ich allein sowieso hoffnungslos überfordert bin. Ich wäre noch nicht einmal auf den Gedanken verfallen, dass das so etwas Ähnliches wie ein Auftrag für mich ist.“

Ich fügte mich in mein offenbar bereits von ihr festgelegtes Schicksal.

„Na siehst du. Also alles okay?“

Sie war dermaßen zufrieden, als wäre sie persönlich davon betroffen.

„Natürlich! Aber wieso bist du dir eigentlich so sicher? Und wer, bitte, sollte mir diesen Auftrag geben? Und warum?“

Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen.

„Eins nach dem anderen. Zuerst einmal schauen wir uns nochmals an, was wir bisher haben.“ Eben die Praktikerin.

„Aus meiner Sicht nicht besonders viel, wenn überhaupt. Immer vorausgesetzt wir liegen – du liegst – mit der Auftrags-Vermutung richtig!“

So rasch war ich von der Theorie – ihrer Theorie! – nicht überzeugt.

„Erstens: Alles andere ergibt überhaupt keinen Sinn. Und Zweitens: Da es dich derart ‚gepackt’ hat, müssen wir uns wohl oder übel damit auseinander setzen. Dann Drittens: Wenn nicht irgendjemandes Absicht dahinter steckt, würde es dich nicht dermaßen beschäftigen. Und schließlich Viertens: So abgebrüht bist du nicht, dass dich etwas derart Interessantes kalt ließe!“

Heliane wusste ganz genau, was erforderlich war, um mein Interesse hoch zu halten.

Ich gebe zu, ich war von ihrem Engagement beeindruckt. Vielleicht, oder eher wahrscheinlich hatte sie nicht nur Recht, sie glaubte offensichtlich auch an ein erfolgreiches Ende dieser Suche.

Der Beginn der Suche

„Du meinst also, ich sollte mir langsam darüber Gedanken machen, wen ich suchen sollte?“

Im Grunde genommen wusste ich nicht, wo ich sinnvollerweise beginnen sollte.

„Nicht nur sollte, sondern musst!“ Sie war nicht zu bremsen.

„Aber ich habe überhaupt keinen blassen Schimmer, wo ich mit einer Suche beginnen soll; oder meinetwegen muss!“

Meine Ratlosigkeit hatte sich in keiner Weise verändert.

„Irgendwie muss doch aus dem Rätseltext auch hervorgehen, wer der Betroffene dieser Suche ist. So völlig blindwütig führt die Suche nirgendwo hin. Sehen wir uns den zweiten Satz nochmals im Detail an: >Er dachte stumm und mit Bedauern an sein verlor’nes Augenmaß<“ Sie stellte den Text richtiggehend vor, sodass er klar und deutlich vor unseren Augen stand.

„>Stumm und mit Bedauern<: Keine Ahnung, was das bedeuten kann. >Verlorenes Augenmaß<: Mit irgendetwas übers Ziel hinausschießen, aber womit, wobei?“ Wie immer bisher war ich ratlos.