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Jürgen Resch

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Beschreibung

Höchste Zeit zu handeln!

Jürgen Resch ist als Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe einer der bekanntesten und wirkungsvollsten Umweltaktivisten unserer Zeit. Doch seit Jahrzehnten macht er immer wieder die bittere Erfahrung: Der Staat kapituliert vor den Interessen großer Konzerne. Wider besseres Wissen bleiben Umwelt und Klima auf der Strecke.

Wenn sich daran etwas ändern soll, müssen wir Druck machen, sagt Resch deshalb. Anders ist die Kumpanei zwischen vielen Politikern und Wirtschaftsunternehmen, die nur an ihren Profit denken, nicht aufzubrechen. Mit der Deutschen Umwelthilfe zwingt Resch Politik und Unternehmen zum Handeln: mit zielgerichteten Kampagnen, mit investigativer Recherche und kreativen Aktionen – und mit Klagen vor Gericht.

Dass dies äußerst wirkungsvoll und erfolgreich ist, zeigen die Erfolge: die Durchsetzung des Dosenpfands, die Aufdeckung des Dieselskandals, Dieselfahrverbote für saubere Luft und die Einrichtung von Umweltzonen. Schließlich das erstrittene Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung zwingt, ihr Klimaschutzgesetz nachzubessern: für das Recht von Kindern und Jugendlichen auf eine lebenswerte Zukunft.

Anhand schier unglaublicher Fälle aus mehr als vier Jahrzehnten seines Lebens als Umweltschützer zeigt Jürgen Resch jetzt erstmals, wie Wirtschaft, Politik und Verwaltung Klima- und Umweltschutz zunehmend ausbremsen – und warum wir nicht darauf hoffen können, dass es von selbst besser wird.

Was wir stattdessen tun können: Druck machen! Denn dann wird sich etwas ändern.

  • Den Dieselskandal aufgedeckt, das Urteil des Verfassungsgerichts für mehr Klimaschutz mit erstritten, ein giftiges Pestizit verboten – mit den Kampagnen der Deutschen Umwelthilfe zeigt Geschäftsführer Jürgen Resch beispielhaft, wie man erfolgreich für Mensch und Natur einsteht
  • Aufrüttelnd und anklagend – wie wir endlich echten Umwelt- und Klimaschutz durchsetzen

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Seitenzahl: 388

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Mit der Deutschen Umwelthilfe zwingt Jürgen Resch Politik und Unternehmen zum Handeln: mit zielgerichteten Kampagnen, mit investigativer Recherche, mit kreativen Aktionen – und mit der Durchsetzung von Recht und Gesetz vor Gericht. Denn anders ist die Kumpanei zwischen vielen Politikern und Wirtschaftsunternehmen, die zunehmend nur an Profitmaximierung denken, nicht aufzubrechen. Dass dies äußerst wirkungsvoll ist, zeigen die Erfolge: das Verbot des ultragiftigen Pestizids Endrin, die Durchsetzung des Dosenpfands für den Mehrwegschutz, die Aufdeckung des Dieselabgasskandals, die Durchsetzung von Umweltzonen und Dieselfahrverboten sowie mehr geschützte Fahrradwege, Tempo-30-Zonen und Busspuren für saubere Luft und mehr Lebensqualität in unseren Städten. Schließlich das erstrittene Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung zwang, ihr Klimaschutzgesetz nachzubessern: für das neu geschaffene Grundrecht von Kindern und Jugendlichen auf eine lebenswerte Zukunft. Anhand seiner langjährigen Erfahrungen mit Politik, Wirtschaftsunternehmen und Behörden und seinem immer wieder erfolgreichen Kampf für Umwelt und Klima zeigt Jürgen Resch: Wir sind nicht machtlos, mit Engagement und den wirkungsvollen Mitteln der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaats können wir uns durchsetzen. Es liegt in unserer Hand, sie zu nutzen und Druck zu machen – damit die Politik Mensch und Natur endlich über den Profit stellt.

JÜRGENRESCH, geboren 1960, ist seit 1988 Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH). Sein umweltpolitisches Engagement begann er 1975 als Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Naturschutz Bodensee. Anfang der Achtzigerjahre identifizierte er das Pestizid Endrin als Ursache für ein Vogel-Massensterben am Bodensee und erwirkte dessen bundesweites Verbot. Parallel zum Studium baute er die Kampagnenabteilung des BUND auf und kam 1986 zur DUH, die er seit 1988 als Bundesgeschäftsführer leitet. 2022 wurde Jürgen Resch für seine langjährigen Verdienste für die saubere Luft und den Klimaschutz mit dem Haagen-Smit Clean Air Award der kalifornischen Luftreinhaltebehörde CARB ausgezeichnet, der als »Nobelpreis für Luftreinhaltung« gilt.

Jürgen Resch

Druck machen!

Wie Politik und Wirtschaft wissentlich Umwelt und Klima schädigen und was wir wirksam dagegen tun können

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 08/2023

Copyright © 2023 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR

unter Verwendung eines Fotos von © Imago Images/photothek

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-30118-7V001

www.Ludwig-Verlag.de

Inhalt

Ein Wort vorab

Kapitel 1 – Wie ich zum Umweltschützer wurde

Die Entdeckung der Liebe zur Natur

Der Funke des Widerstands

Eine mündige Bürgerschaft erwacht

Kapitel 2 – Das Gift und die Lobby

Tod am Bodensee

Der Kampf gegen weitere Pestizide

Kapitel 3 – Tschernobyl: Kernschmelze einer Energiequelle und die Verhinderung des Informations-GAUs

Kapitel 4 – Der Kampf gegen die Plastikflut und für Mehrweg

Attacke der Einwegkonzerne

Das Symbol für Nachhaltigkeit: Die Weltausstellung EXPO 2000 ohne Dosen- und Plastikmüll

Das harte Ringen um das »Dosenpfand«

Der Kampf gegen Einwegmüll: eine unendliche Geschichte

Kapitel 5 – Druck machen für sauberes Wasser

Kapitel 6 – Veränderung der Machtbalance zwischen Politik und Konzernen

Kapitel 7 – Der lange Kampf um die Saubere Luft in Deutschland

Dreckige Luft, sterbende Wälder

Smog-Alarm: Autokonzerne gegen den Katalysator

Schwefelfreie Kraftstoffe und schmutzige Diesel-Pkw

Luft und Lobby: Der Kampf um den Dieselpartikelfilter

Die Durchsetzung von Umweltzonen für die Saubere Luft

Kapitel 8 – Dieselgate – das Giftgas-Kartell der Autokonzerne

Wie Dieselgate wirklich begann

Der US-Abgasskandal erreicht Deutschland

Chronik der Ereignisse

Die Ausweitung von Dieselgate auf BMW und Daimler

Wie der Staat die Aufklärung behindert

Dieselgate-Zwischenbilanz nach einem Jahr

Wie der Volkswagen-Konzern versuchte, unsere Aufklärungsarbeit zu verhindern

Der Staat versagt, wir mobilisieren Gerichte und Staatsanwaltschaften

Wir setzen Dieselfahrverbote, Busspuren, Radwege und Tempo 30 durch

Kanzlerin Merkel will Dieselfahrverbote um jeden Preis verhindern

Wir rufen die Bürger dazu auf, selbst die Luftqualität zu messen

Wie der Versuch der Dieselkonzerne scheiterte, die DUH über einen CDU-Parteitag zu beseitigen

Die Gerichte wehren sich gegen den Versuch, den Rechtsstaat auszuhöhlen

Wenn nur noch die Androhung der Zwangshaft gegen Regierungsmitglieder hilft

Wie die Automobilwirtschaft schmerzhaft lernen musste, umweltbezogene Verbraucherrechte zu beachten

Erfolg nach über sieben Jahren Kampf gegen Autokonzerne und Hoffnung für Millionen betrogene Menschen

Kapitel 9 – Der absurde Kampf um den Zugang zu Umweltinformationen

Kapitel 10 – Wer den Klimaschutz blockiert und wie wir ihn mithilfe der Gerichte dennoch durchsetzen

Epilog – Wie wir erfolgreich Umwelt- und Klimaschutz durchsetzen

Danksagung

Für Hannah, Johannes, Marie und Prisca

Ein Wort vorab

Eine elfjährige Schülerin zwingt die Bundesregierung über das Bundesverfassungsgericht zu mehr Klimaschutz. Ein junger Zivildienstleistender deckt ein Vogelsterben auf und setzt das Verbot eines giftigen Pestizids durch. Und ein kleiner Umweltverband stoppt die gemeinsamen Machenschaften von Regierungen, Behörden und Deutschlands mächtigster Industrie. Diese Beispiele habe ich mir nicht ausgedacht. Ich habe sie erlebt. In mehr als 40 Jahren als Natur-, Umwelt-, Klima- und Verbraucherschützer habe ich gesehen: Unsere Demokratie ist lebendig. Und wir als Bürgerinnen und Bürger sind nicht ohnmächtig gegen Entscheidungen aus Politik und Wirtschaft. Jeder Mensch kann Großes bewirken. Oftmals fängt es ganz klein an. Manchmal werden Massenbewegungen daraus. Fast immer braucht es Ausdauer und die Bereitschaft, einfach dranzubleiben und nicht aufzugeben. Meine Erfahrung ist: Am Ende setzt sich zwar nicht immer, aber doch oft das Gute und Richtige durch. Wir können die Welt zum Besseren verändern – wenn wir gemeinsam DRUCKMACHEN.

Es genügt heute nicht mehr, nur mit gutem Beispiel voranzugehen oder mit guten Argumenten für Natur- und Klimaschutz zu werben. Zunehmend werden geltende Gesetze von der Industrie und sogar vom Staat missachtet. Wir sind mehr denn je darauf angewiesen, Recht und Gesetz vor Gericht durchzusetzen. Unser Kernsatz lautet: Nicht beklagen, sondern verklagen. Gerade wenn es um die Saubere Luft, den Schutz der Natur und vor allem um die Durchsetzung des Klimaschutzes geht.

Die Machtbalance zwischen Wirtschaft und Politik hat sich dramatisch zugunsten wirkmächtiger Industriekonzerne verschoben. Relativ ungeniert regieren heute Energie-, Finanz- und vor allem die Automobilkonzerne in Deutschland durch – während sie gleichzeitig öffentlich geloben, immer grüner und klimafreundlicher zu werden.

Der eskalierende Klimawandel und das dramatisch zunehmende Artensterben sind Zwillingskrisen! Sie beeinflussen sich gegenseitig und verstärken die Umweltkatastrophe. Und in beiden Krisen wirken dieselben Kräfte, die eine Bewältigung und Lösung behindern.

Diese Krisen werden immer dramatischer. Diejenigen, die darauf aufmerksam machen, Handeln einfordern und durchsetzen, werden von einflussreichen Konzernen zunehmend verfolgt und bedroht. Darüber muss ein öffentlicher Diskurs stattfinden. Bürger wie Verbände müssen Verstöße und Missstände vor Gericht bringen können. Deshalb braucht es Menschen, die aktiv werden, gemeinsam handeln und wirklich DRUCKMACHEN, um so die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.

Wir können es uns nicht mehr leisten, Zeit zu verlieren, da die Gefahr besteht, gefährliche Klima-Kipppunkte zu überschreiten. Wir müssen heute DRUCKMACHEN. Um Natur- und Klimaschutz wirksam durchzusetzen, bedarf es so lange verstärkt der Gerichte, bis Politiker wieder die Leitlinien der Politik bestimmen. Wir müssen Wirtschaft und Regierungen durch Gerichtsverfahren zwingen, die Gesetze zu beachten und verbindliche internationale Verpflichtungen zum Arten- und Klimaschutz wie das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 oder das Montrealer Naturschutzabkommen von 2022 einzuhalten.

Die Veränderung muss von unten kommen. Mit diesem Buch möchte ich Beispiele für erfolgreiches bürgerschaftliches Engagement zeigen, über die Analyse bestehender Missstände zum Handeln aufrütteln und Mut machen, sich selbst zu engagieren und DRUCK zu MACHEN!

Drei Grundvoraussetzungen sind dafür erforderlich:

Es ist wichtig, die Faszination der Natur mit allen Sinnen und so früh wie möglich zu erfahren. Nur so können ein tieferes Verständnis für die Natur und Respekt ihr gegenüber entwickelt werden. Und nur so kommt es zum entsprechenden Handeln, um sie zu erhalten.Eine lebendige demokratische Zivilgesellschaft kann nur funktionieren, wenn sich Menschen für sie engagieren und sich durch Sachkunde und Engagement Respekt und Durchsetzungskraft erarbeiten können, sei es durch öffentliche Wirkung oder juristische Siege. Wichtig ist die »Augenhöhe« gegenüber Wirtschaft und Politik. Dafür braucht es unerschrockene freie Medien und eine unabhängige, Recht und Gesetz verpflichtete Justiz.Schließlich braucht es die Bereitschaft, auch einmal laut und unbequem zu sein, und den Mut, für die eigenen Überzeugungen auch einmal in der Kritik zu stehen. Damit ermutigen Sie andere Menschen, aktiv zu werden. Und immer wieder Insider, die uns ganz unerwartet als Whistleblower mit entscheidenden Hinweisen dabei helfen, wirkmächtig gegen einseitige Wirtschaftsinteressen zum Schaden für Mensch und Umwelt anzukämpfen.

Und deshalb ist dieses Buch ein Appell und ein Mutmacher: Ich möchte nicht bekehren und nicht belehren, sondern Ihnen schildern, was mir begegnet ist und bis heute begegnet, an Missständen aber auch an bürgerschaftlichem Engagement und an tollen Menschen, die daran etwas geändert haben. Ich erzähle Ihnen, wie ich zum Umweltschützer wurde, welche Erfahrungen ich über die Jahre sammeln konnte in so unterschiedlichen Gebieten wie dem Naturschutz, dem Kampf gegen Pestizide, gegen Vermüllung und für Mehrweg, bei der Durchsetzung der Sauberen Luft, der Aufdeckung von Dieselgate und im Klimaschutz. Ich hoffe, Ihnen damit auch Mut zu machen. Vielleicht können Sie eigene Lehren daraus ziehen. Und ich hoffe, Sie stimmen mit mir am Ende in ein paar Dingen überein, die mir wichtig sind und für die ich dieses Buch geschrieben habe.

Eine der wichtigsten Lehren für mich ist: Engagement lohnt sich. Egal wo und egal ob mit einem kleinen Beitrag oder einem großen. Anregungen wird Ihnen dieses Buch genug geben, wie Sie aktiv werden können. Also lassen Sie uns gemeinsam gerade jetzt DRUCKMACHEN.

Kapitel 1  Wie ich zum Umweltschützer wurde

Die Entdeckung der Liebe zur Natur

Die Liebe zur Natur habe ich meinen Eltern zu verdanken. Jeden Sonntag ging es raus in die Natur. Und zwar bei jeder Witterung. Ein Leitsatz meiner Eltern lautete: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlecht angezogene Leute.« Wir wanderten bei Regen wie Sonnenschein durch die Wiesen und Wälder in der Vulkankegellandschaft des Hegau. Bei gutem Wetter mit Picknickkorb und Decke. Und bei schlechtem Wetter mit Regenjacke und dickem Pulli. Es gab ja so vieles mit allen Sinnen zu entdecken: Die Zauberwelt der Wiese mit ihren Heuhüpfern, Schmetterlingen, ihren Raupen und Spinnen. Rehe und Füchse, die uns ganz nahe kamen, wenn wir ruhig stehen blieben und sie uns nicht wittern konnten. Und die vielen Beeren, Kräuter und Pilze, die unterwegs genascht oder daheim zubereitet wurden.

Mein Vater verstand es, uns Kindern durch spannende Geschichten die Wunderwelt der Natur nahezubringen. Eine ganz besondere Anziehungskraft übte das Wasser aus.

Von Singen nach Moos am Bodensee waren es nur 15 Kilometer. Wir hatten lange kein Auto. Und so fuhren wir bei gutem Wetter im Sommer mit dem Fahrrad und einem aufblasbaren Gummi-Segelboot im Anhänger an einen besonders naturnahen und an Wasservögeln reichen Ort des Schwäbischen Meers – an die Radolfzeller Aachmündung.

Die Natur der Bodenseeregion war für unsere Familie Arbeits- und Erholungsort zugleich. In Singen am Fuße des Vulkankegels Hohentwiel betrieben meine Eltern eine kleine Drogerie. Mein Vater kannte aus seiner Jugend im Thüringer Wald und durch die Ausbildung zum Drogisten die Pflanzen und ihre heilende Wirkung. So wurden bei uns in der Familie die meisten Erkrankungen mit Kräutertee behandelt, und so erfuhren wir auch früh, welche Kräuter gegen Erkältung, Husten oder Kopfweh helfen. Meinem Vater war es wichtig, nicht nur fertige Produkte zu verkaufen, sondern sein Wissen über die heilende Kraft der Natur anzuwenden und weiterzugeben. Das tat er, indem er als Spezialität unserer kleinen Drogerie Teemischungen aus getrockneten Wildkräutern anfertigte und verkaufte.

Es war ein großes Vergnügen, mit ihm die Blätter und Blüten der Heilkräuter auf den blumenreichen Wiesen des größten deutschen Vulkankegels zu sammeln. Die steilen Blumen- und Kräuterwiesen des Hegau wurden so zu regelmäßigen Ausflugszielen unserer Familie. Wir Kinder wurden in alle Einzelschritte – Sammeln, Trocknen, Mischen und Abpacken der Kräuter – einbezogen. Es war sogar meine ganz ureigene Aufgabe, die getrockneten Blätter und Blüten auf der messingfarbenen Bizerba-Waage – sie wird bis heute bei mir in der Küche benutzt – abzuwiegen, in selbst gebastelte Papiertüten abzupacken und zu beschriften. Die Mitarbeit in der elterlichen Drogerie machte mehr Spaß, als in den Kindergarten zu gehen. Und tatsächlich war ich dort relativ selten.

Es waren vor allem diese wertvollen Stunden in der Natur am einzigen arbeitsfreien Wochentag meiner Eltern, in denen ich meine Liebe zu unserer Umwelt entdeckte. Dabei haben mich – so erzählt es meine Mutter – schon als Kleinkind die Vögel ganz besonders begeistert. Bereits als Baby wuchs ich mit einem zahmen, oft in der Wohnung frei herumfliegenden Wellensittich auf.

Aber ungleich eindrucksvoller waren die Tiere des Waldes und in der heckenreichen Landschaft des Hegau. Die erste Vogelstimme, an die ich mich bewusst erinnere, war der Ruf des Kuckucks. Und eines meiner ersten Worte soll sein Name gewesen sein. Mein Vater erzählte mir, während ich auf seinen Schultern saß, zu den unverkennbaren Rufen spannende Geschichten. Dass der Kuckuck im Frühjahr aus Afrika zu uns kommt und anderen Vögeln heimlich ein Ei ins Nest legt. Und dass die kleinen Kuckucke so herzzerreißend nach Futter betteln, dass die viel kleineren Zaunkönig- und Rohrsänger-Stiefeltern den ganzen Tag unablässig Insekten in den weit aufgerissenen Schnabel stopfen.

Auch in der Grundschulzeit verbrachte ich die Nachmittage oft in der Drogerie, am liebsten aber in der Natur: bei den Laub- und Grasfröschen, Erdkröten und Ringelnattern in sumpfigen Riedflächen und mit der Beobachtung von Mäusebussarden, Turmfalken und Schwarzmilanen bei ihren imposanten Flugmanövern.

Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als ich eine junge Amsel entdeckte, die aus dem Nest gefallen war. Ich wollte sie retten und nahm sie mit nach Hause. Doch der Versuch, sie aufzupäppeln, ging schrecklich schief. Die tote junge Amsel am nächsten Morgen zu sehen, war ein Schock. Und es war mein Fehler: Ich hatte ihr das falsche Futter gegeben. Mein Wunsch zu helfen war größer gewesen als mein Wissen über das Tier. Doch das, so beschloss ich, sollte nie wieder vorkommen. Von einem Schulfreund, dessen Vater Revierförster war, lernte ich die richtige Fütterung. Egal ob Körner- oder Insektenfresser, die Jungvögel benötigten möglichst eiweißreiche Nahrung. Und das hieß: Ich musste Insekten suchen, in den Wiesen mit dem Kescher Heuschrecken fangen und mit der Fliegenklatsche Stubenfliegen erlegen.

Beim nächsten Jungvogel, den ich halb erfroren am Waldrand fand, erlebte ich dann den Lohn meiner Mühen: Einen jungen Grünfinken zog ich erfolgreich auf, und er war fast während meiner ganzen Schulzeit, zumeist frei fliegend im Wohnzimmer, mein gefiederter Begleiter. Immer wieder päppelte ich fortan kranke und verwaiste Jungvögel auf, und immer mehr von ihnen überlebten. Bald begannen Nachbarn und Bekannte, ebenfalls verletzte und verwaiste Vögel bei mir abzugeben. Und ohne dass ich es damals als Grundschüler schon hätte erkennen können, war das Fundament für meinen späteren Beruf, meinen passionierten Einsatz für die Natur gelegt.

Meine eigenen Erfahrungen haben mir später gezeigt, wie wichtig es ist, die Liebe zur Natur schon in frühester Kindheit zu entdecken. Als junger Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe startete ich 1988 die Aktion »Jugend erlebt Natur«. Wir warben dafür, im Schulunterricht eben nicht nur durch Lehrbücher und Filme, sondern ganz direkt die Natur erleben zu lassen. Es ging uns darum, das »Natur erleben« aus dem Klassenraum direkt in den Wald, in die Bachniederung und zum Wegesrand zu verlegen. Wir gewannen den Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz als Unterstützer. Bereits seit meiner Gymnasialzeit stand ich mit ihm in Briefkontakt. Ich erinnere mich noch lebhaft an ein entscheidendes Gespräch über die Frage, ab wann denn dieses schulische »Natur erleben« beginnen solle. In der weiterführenden Schule oder bereits in der Grundschule? Er antwortete sehr entschieden: »Früher!« Also schon im Kindergarten? Seine Antwort: »Nein, noch früher!« Schon Kleinkinder müssten mit allen Sinnen die Wunderwelt der Natur erleben – nur so würden sie die Natur fühlen und eine Verbindung aufbauen. Mich hat diese Botschaft sehr berührt, denn sie entsprach ja ganz genau meiner eigenen Erfahrung.

Zurück ins Jahr 1971. Nachdem unsere kleine Drogerie gegen die neu entstehenden Einkaufszentren mit ihren Billigpreisaktionen nicht mehr bestehen konnte, zogen wir vom badischen Singen ins württembergische Friedrichshafen. Meine Leidenschaft für die Aufzucht von Jungvögeln nahm ich mit und widmete mich nun auch der Pflege verletzter Greifvögel und Eulen. Bis heute üben diese sogenannten Beutegreifer eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Über den reinen Tierschutz hinaus entwickelte sich schließlich mein Interesse am Schutz und Erhalt ihrer Lebensräume.

Über die Freilassung eines aufgepäppelten Waldkauzes kam ich in Kontakt mit Gerhard Knötzsch, einem Realschullehrer und begnadeten Vogelkundler und Naturschützer. Er nahm mich als Zwölfjährigen unter seine Fittiche und mit zu den winterlichen Wasservogelzählungen am Bodenseeufer, bei denen pro Monat an einem Stichtag rund um den See von ehrenamtlichen Vogelkundlern die Zahl der durchziehenden und überwinternden Wasservögel erfasst wurde. Schon bald erhielt ich meine eigene mehrere Kilometer lange Beobachtungsstrecke und war mächtig stolz auf die übertragene Verantwortung.

Vor allem aber führte er mich in den praktischen Schutz bedrohter Arten und den körperlich anstrengenden, die Lebensräume pflegenden Naturschutz ein. Durch die vielen im Zweiten Weltkrieg auf Friedrichshafen abgeworfenen Bomben prägten kreisrunde, langsam verlandende Tümpel mit Fröschen und vielen Libellen Wälder und Felder. Jetzt wurden sie rasend schnell mit Bauschutt und Abfällen verfüllt. Die ehemals landschaftsprägenden feuchten Wiesen, Seggenwiesen und Niedermoore wurden im Rahmen der amtlichen Flurbereinigung trockengelegt. Als besonders schmerzlich empfand ich das großflächige Fällen der im Frühjahr weiß und rosa blühenden hochstämmigen Apfel- und Birnbäume. Ersetzt wurden sie durch enge Reihen maschinell bewirtschafteter Intensivobstplantagen.

Ich half Gerhard Knötzsch in seinem Kampf um den Erhalt des auf alte Obstbäume angewiesenen drosselgroßen Steinkauzes, eine der kleinsten Eulenarten Deutschlands. Durch den Einsatz von Pestiziden, vor allem aber durch den Verlust von alten Obstbäumen mit ausreichend großen Naturhöhlen drohte der Steinkauz am Bodensee auszusterben. Eins der letzten nennenswerten Vorkommen befand sich im Friedrichshafener Hinterland. So half ich beim Bau, beim Aufhängen, Kontrollieren und im Winter auch bei der Reinigung von mardersicheren, einen Meter langen Bruthöhlen für diesen im Mittelalter als Totenvogel verfolgten und so in Deutschland fast ausgerotteten Kauz. In den Wintermonaten reparierten und reinigten wir die vorhandenen Brutröhren, bauten jedes Jahr Dutzende neue und befestigten sie an geeigneten Bäumen. Was für ein Erfolgserlebnis, wenn wir dann im Frühling nachts kontrollierten, ob die Höhlen angenommen wurden und dort tatsächlich Steinkäuze mit ihrem markanten Ruf »Ku-witt« ihr Revier markierten.

Der Bodensee entstand erst vor vierzehntausend Jahren am Ende der letzten Eiszeit. Die für ihn typischen Weichholz-Auwälder und im Sommer überfluteten Schilfflächen sind bis auf wenige Reste verschwunden. Neben dem Wollmatinger Ried bei Konstanz ist das Eriskircher Ried bei Friedrichshafen das größte naturnah erhaltene Feuchtgebiet am deutschen Bodenseeufer. Über Jahrhunderte wurden die nährstoffarmen Riedwiesen zur Gewinnung von Einstreue in den Tierställen genutzt. Dadurch blieben sie frei von Weiden, Erlen und Faulbaum.

Tatsächlich konnten wir mit unserer winterlichen Arbeit im Eriskircher Ried den weltweit größten Bestand vieler Hunderttausend blau blühender Sibirischer Schwertlilien und seltener Orchideenarten erhalten. Ihre Blüte im Mai und Juni ist auch heute noch ein ganz besonderes Naturschauspiel. Aber es ging und geht nicht nur um den Schutz einzelner Arten. Im Windschatten der Arbeit für den Erhalt von »Iris sibirica« und Knabenkräutern ging es uns um viele weitere Pflanzen-, Schmetterlings- und Wirbeltierarten, die »nebenbei« von unserer praktischen Naturschutzarbeit profitierten.

Einer meiner Lieblingsvögel war die Bekassine, die »Himmelsziege«. Wer sie einmal bei ihrem Balzflug gesehen und gehört hat, wird sie nicht mehr vergessen. Der braun gesprenkelte Schnepfenvogel mit seinem langen Schnabel brütete damals noch in den ausgedehnten Riedflächen des Eriskircher Riedes. Das Männchen wirbt mit einem exzentrischen Balzflug um die Gunst und Aufmerksamkeit eines Weibchens. Für diesen Tanz in der Luft hat es sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Die Himmelsziege fliegt steil hinauf in den Himmel über den Riedwiesen und lässt sich aus großer Höhe fast senkrecht herabfallen. Dabei spreizt sie ihre besonders geformten äußeren Schwanzfedern, die ein weithin hörbares meckerndes Geräusch – daher der volkstümliche Name – erzeugen.

Jedes Jahr zwischen November und März fanden Pflegeeinsätze statt, bei denen wir auf den Riedwiesen mit Sensen, Balkenmäher und Spitzhacke mühsam die sich ausbreitende Verbuschung wieder zurückdrängten. Es war eine beschwerliche Arbeit, und der harte Kern der Engagierten bestand aus wenigen Personen. Meine Aufgabe wurde es deshalb bald, weitere Freiwillige für unsere winterlichen Einsätze anzuwerben.

Ich gab mir redliche Mühe, meine Mitschülerinnen und Mitschüler zu überzeugen. Das allein genügte nicht. So warb ich um freiwillige Helfer über Berichte in den Lokalausgaben der Schwäbischen Zeitung und des Südkuriers, bei denen ich mir als freier Mitarbeiter ein Zeilenhonorar von 12 Pfennigen verdiente.

Dabei lernte ich zwei Dinge. Erstens: Je besser und konkreter ich beschrieb, warum die Arbeit wichtig und notwendig war und was genau wir mit einem Arbeitseinsatz erreichen wollten, desto eher wurde der Sinn der Arbeit gesehen. Und je besser wir dabei besondere handwerkliche Fertigkeiten einzelner Freiwilliger berücksichtigen konnten, desto motivierter halfen sie mit und kamen beim nächsten Mal von sich aus wieder.

Zweitens: Solche Pflegeeinsätze mussten Spaß machen. Es durfte nicht nur um die Arbeit gehen. Daher gab es am Ende immer ein gemütliches Zusammensein mit gemeinsamem Grillen und heißen Getränken, die ich auf dem Fahrradanhänger ins Ried transportierte.

So gelang es tatsächlich, nicht nur einzelne, sondern Dutzende freiwillige Helfer zumeist an Samstagnachmittagen ins Ried zu lotsen. Und ganz nebenbei wurden diese Menschen für den praktischen Schutz des größten Riedgebietes am Bodensee-Nordufer begeistert. Viele der so gewonnenen Helfer blieben ihr Leben lang dem Naturschutz verbunden.

Wenn der Winter vorbei war, interessierten mich die im Frühjahr singenden, ihre Reviere abgrenzenden und schließlich brütenden Vögel. Vor Schulbeginn, oft noch vor Sonnenaufgang, fuhr ich mit dem Fahrrad ins Ried – mit Fernglas, Flurkarte und Protokollblock.

Wasservögel lassen sich relativ einfach bestimmen. Mit Fernglas oder Fernrohr sind sie selbst auf Entfernungen von über einem Kilometer gut zu beobachten und zu bestimmen. Anders die quirligen Singvögel im Schilfröhricht und in der dicht bewachsenen Weichholzaue. Immer in Bewegung und im grünen Blätterwald versteckt, verraten sie sich vor allem durch ihre individuellen Rufe und unterschiedlichen Gesänge.

Es waren ja die Vögel, die mich zum praktischen Naturschutz gebracht hatten. Und so wollte ich im Frühjahr wissen, welche Auswirkungen unsere winterliche Plackerei hatte. Und das möglichst genau. Es fing mit den Nachtigallen an. In warmen Mainächten lieferten sich die Nachtigallen-Männchen wahre Gesangswettbewerbe. Auf einer Karte verzeichnete ich die genauen Standorte der Sänger und gaben ihnen Schulnoten für ihren Gesang. Mein ehrgeiziges Ziel war, alle brütenden Vogelarten und ihre Reviere zu erfassen.

Es war eine spannende Aufgabe, über mehrere Jahre hinweg im Frühjahr die Brutvögel eines Teils des Eriskircher Riedes vollständig zu kartieren und so herauszufinden, wie viele Grauspechte, Teich- und damals auch noch Drosselrohrsänger, Zwergrohrdommeln, Grauschnäpper und Klappergrasmücken im Naturschutzgebiet lebten. Ihre Brutreviere lassen sich ziemlich genau bestimmen, da die männlichen Sänger mit ihren wechselnden Singwarten die für uns Menschen unsichtbaren Reviergrenzen verraten.

Bis heute bereitet es mir große Freude, die Rufe von Pirol und Grauspecht oder auch Teile des Nachtigallengesangs so zu pfeifen, dass ich tatsächlich für einen Artgenossen gehalten werde und eine Antwort erhalte.

Bereits während dieser Bestandsaufnahmen in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre setzte der Rückgang von Vogelarten ein, die auf intakte Moore und andere Feuchtgebiete, aber eben auch auf landwirtschaftlich genutzten Flächen angewiesen sind. Schaue ich mir heute die alten Aufzeichnungen an, so dokumentieren sie das sich bis heute fortsetzende, ja beschleunigte Verschwinden der Bekassine, des Drosselrohrsängers und der Zwergrohrdommel als Brutvögel des Eriskircher Riedes.

Im Herbst galt meine Leidenschaft der Beobachtung des Vogelzugs. Diese Passion ist mir bis heute geblieben. Der Bodensee ist eine natürliche Barriere für in den Süden ziehende Vögel. Die meisten Arten meiden die direkte Wasserüberquerung und ziehen die 50 km lange Uferlinie entlang in einem schmalen Band nach Westen. Im Bereich der Einmündung des Flüsschens Rotach ist der Vogelzug besonders eindrucksvoll zu beobachten.

An kalten Herbsttagen ziehen hier Tausende Bussarde, Schwarzmilane und Rohrweihen vorbei, zusammen mit Zehntausenden an Kleinvögeln, die in einem schier endlosen schmalen Schlauch nach Westen entlang des Ufers in wärmere Winterquartiere ausweichen.

Besonders nach Kälteeinbrüchen zählten wir Zehntausende Schwalben, Lerchen, Grasmücken, Rohrsänger und Drosseln, die in niedriger Höhe vorbeizogen. Gemeinsam mit meinem Schulfreund Matthias Hemprich, der bis heute neben Gerhard Knötzsch die Entwicklung der Brut- wie Wintervogelwelt am Bodensee weiter protokolliert, richteten wir in einem umgebauten Bauwagen eine Vogelzug-Beobachtungsstation ein und erfassten – so systematisch dies neben der Schule möglich war – über mehrere Jahre hinweg die Zahl der durchziehenden Arten. Der Vergleich unserer damaligen Zählungen mit heutigen Vogelbeobachtungen zeigt uns, wie sehr sich die Zahl der Vögel verringert hat.

Große Schwärme von Kiebitzen oder Feldlerchen waren Ende der Siebzigerjahre beispielsweise ganz normal – heute sind sie eine Seltenheit ebenso wie durchziehende Bekassinen, Trauerschnäpper, Gartenrotschwanz und die Schilfbewohner Teich-, Sumpfrohrsänger sowie Rohr- und Schlagschwirl. Besonders erschreckend ist der Rückgang der Zahl über fast alle Vogelarten hinweg.

Meine Liebe zur Natur und das Interesse für die vielfältige Vogelwelt entwickelte sich mehr und mehr zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die mir ungemein Spaß machte. So sehr, dass ich später in den Schulferien für die Vogelwarte Helgoland den Vogelzug auf der offenen Nordsee auf einer Forschungsplattform beobachtete und noch ein paar Jahre später in einer Forschungsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft die Zugstrategie unserer Singvögel bei der Überquerung des Mittelmeeres und anschließend der Sahara in der Libyschen Wüste in Ägypten untersuchte.

Allerdings war es mir schon in der Schulzeit zu wenig, mich nur als Chronist auf das Studium und die Dokumentation des damals bereits festgestellten Rückgangs und Verschwindens von Arten zu beschränken. Es war ja nicht zu übersehen, wie praktisch jeden Monat irgendwo wertvolle Lebensräume von heute auf morgen einfach verschwanden. Abgesehen von den Naturschutzverbänden schienen die Behörden nicht dagegen einzuschreiten. Wer es wagte, im Naturschutzgebiet Eriskircher Ried Schlüsselblumen zu pflücken oder Äste mit Weidenkätzchen mitzunehmen, der wurde verwarnt, und ihm drohte gar ein Bußgeld. Die sommerliche Mahd einer Orchideenwiese im Naturschutzgebiet hingegen war und ist bis heute »ordnungsgemäße Landwirtschaft«.

Das aktive Wegschauen der Behörden bei wirklich schwerwiegender Naturschädigung empörte mich – ich wollte etwas dagegen tun. In den Siebzigerjahren wurden selbst in Naturschutzgebieten Pestizide gespritzt, hochstämmige Obstbäume gefällt und Intensivobstplantagen angepflanzt, Riedwiesen weiter trockengelegt und Straßen quer durch wertvolle Lebensräume gebaut. Am Bodenseeufer war keine Feuchtwiese, kein Streuobstbestand und bei Futterknappheit nicht einmal eine Orchideenwiese vor Eingriffen geschützt. Ich wollte unbedingt etwas gegen die Naturzerstörung unternehmen – und mir wurde bewusst, dass es dafür einen systematischen Ansatz brauchte, um der systematisch von Politik und Wirtschaft vorangetriebenen Zerstörung zu begegnen.

Manchmal bieten sich Gelegenheiten, die vielleicht nur einmal im Leben kommen.

Ein Jahr vor meinem Abitur verbrachte ich meine Sommerferien als Hilfsvogelwart des Vereins Jordsand zum Schutz der Seevögel auf der Hallig Norderoog in der Nordsee. Eines Tages kam der damalige Jordsand-Vorstand Uwe Schneider vorbei und erzählte von einer einwöchigen Studienreise zu Schutzgebieten und zu den führenden Köpfen des modernen Naturschutzes in Großbritannien. Ich wollte unbedingt mit dabei sein und bot ihm an, die Reise fotografisch zu dokumentieren. Das Problem war nur: Die Reise fand während der Schulzeit statt. Und ich war mir sicher, keine Genehmigung zu erhalten. Also blieb ich dem Unterricht unentschuldigt fern, was mir einen Verweis samt Gespräch beim Direktor bescherte. Denn tatsächlich nahm mich Uwe Schneider mit. Gemeinsam mit der leidenschaftlichen Naturschützerin Loki Schmidt, der Frau des damaligen Bundeskanzlers, und einer kleinen Gruppe deutscher Vogelkundler besuchten wir die schon damals sehr professionell betriebenen Naturschutzstationen Europas in England, Schottland und Wales. Durch Loki öffneten sich wie von Zauberhand alle Türen, und ich hatte als Schüler die einmalige Gelegenheit, mit den damals bedeutendsten britischen Vogelexperten und Naturschützern zu sprechen, die ich bislang nur aus Büchern und Artikeln kannte.

Besonders beeindruckte mich der Austausch mit Sir Peter Scott, dem Mitbegründer des WWF, der auch das Panda-Logo entworfen hat. Ich stellte ihm meine drängendsten Fragen: Wie kann es gelingen, den Rückgang und das Aussterben von Tierarten zu stoppen oder gar umzukehren? Peter Scott faszinierte mich. Er hatte zu jeder Frage eine Geschichte oder ein Beispiel aus seiner eigenen Arbeit parat – beispielsweise, wie er und seine Mitstreiter große Schutzgebiete ausweisen konnten, in denen Wildgänse, Sing- und die seltenen Zwergschwäne nun ohne Störungen zu Zehntausenden überwinterten. Anders als in deutschen Naturschutzgebieten zu dieser Zeit üblich, wurden die Menschen in Großbritannien aber nicht aus den Reservaten herausgehalten, sondern aktiv mit einbezogen. An sichtgeschützten Stellen wurden komfortable Beobachtungsplattformen errichtet, sodass die Menschen die Natur genießen konnten, ohne die Tiere zu stören. Gleichzeitig machten die Forscher ihre Arbeit transparent und zeigten, wie sie über den bei jedem Vogel etwas anders ausgeprägten gelben Schnabelfleck der Zwergschwäne deren Zug- und Familienverhalten erforschten. Auf diese Weise gelang es ihnen, mit den Schutzmaßnahmen nicht nur das Aussterben der Arten zu stoppen, sondern die Menschen von der Notwendigkeit des Naturschutzes zu überzeugen.

Sir Peter Scott, aber auch seine übrigen britischen Kollegen zeigten uns auf dieser Reise persönlich ihre in diesem Sinne erfolgreichen Naturschutzprojekte, die gleichzeitig mehreren Zwecken dienten. Scott und seine Mitstreiter konnten so zum Beispiel den seit Jahrzehnten ausgestorbenen Fischadler durch einen konsequenten Schutz seiner Lebensräume wieder als Brutvogel heimisch machen. Dabei sorgten sie zugleich für perfekte Beobachtungsmöglichkeiten in der Nähe des Adlerhorstes, um durch die Möglichkeit, diesen majestätischen Vogel beim Aufziehen seiner Jungen zu beobachten, Tausende Besucher für den Naturschutz zu begeistern. Da das Beobachtungshaus perfekt in die Landschaft eingepasst war, wurden die Adler von den vielen Menschen nicht gestört. Und die nahe gelegenen Ortschaften profitierten ökonomisch von den Naturtouristen, die hier übernachteten oder Restaurants besuchten. Dies führte dazu, dass Naturschützer und die Dorfbewohner ein gemeinsames Interesse hatten: Dieser Fischadler muss sich wohlfühlen und auch im nächsten Jahr wieder seinen Bruthorst beziehen. Einen solch ganzheitlichen Ansatz im Naturschutz kannte ich in Deutschland nicht.

Die einwöchige Studienrundreise in England öffnete mir die Augen. Es konnte also gelingen, die Natur zu schützen, ohne die Menschen mit Stacheldraht auszusperren, sondern indem man sie durch gezielte Öffnungen von der Schönheit der Natur und damit von der Notwendigkeit ihres Schutzes überzeugt.

Der Funke des Widerstands

Ich wusste genau, wofür ich mich einsetzen wollte – und wogegen. In den Siebzigerjahren war die Bundesrepublik einseitig auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet – koste es, was es wolle. Wirtschaft und Politik gaben sich in Sachen Naturerhalt kaum Mühe: Groß und billig sollten Straßen, Landungsstege, Hafenanlagen oder Baugebiete errichtet werden. Rücksicht auf die Umwelt? Fehlanzeige! Gefährdete Arten und Lebensräume wurden nicht geschützt. Selbst der intensive Ackerbau und das Spritzen von Insekten- und Pflanzengiften wurde in Naturschutzgebieten toleriert. Meine Heimat, die ich als Kind und Jugendlicher schätzen und lieben gelernt hatte, verschwand. Und ich merkte, dass das Aufpäppeln verletzter Vögel und Pflegearbeiten in den immer weniger werdenden Riedflächen mir nicht mehr reichte.

So kam ich zur »Arbeitsgemeinschaft Naturschutz Bodensee«, und als ich mit gerade einmal 15 Jahren in deren Vorstand gewählt wurde, begann für mich ein ganz neues Kapitel. Nun lernte ich, wie man Informationsveranstaltungen und Protestaktionen organisiert, Leserbriefe und Pressemitteilungen so abfasst, dass sie einen Effekt erzielen, und schließlich auch die mühsame, aber wichtige Arbeit, fundierte Stellungnahmen zu Bauprojekten zu schreiben.

Es war herausfordernd, es war spannend, und es war ein gutes Gefühl, gemeinsam mit Gleichgesinnten für den Erhalt der Natur zu kämpfen. Allerdings erschien mir dies anfangs wie ein Kampf gegen Windmühlen. Unsere Stellungnahmen gegen Baumaßnahmen oder Leserbriefe wurden in der Schwäbischen Zeitung oft nicht abgedruckt oder in Kommentaren mit Häme bedacht. Auch die Planungs- und Genehmigungsbehörden interessierten sich nicht für unsere Argumente. Berechtigte Einwände oder Gegenvorschläge wurden ignoriert. Auf unsere Stellungnahmen hin gab es in der Regel nicht einmal eine Eingangsbestätigung.

Besonders beliebt war das Spiel der städtischen Bauverwaltung: Fakten schaffen über Nacht.

So erhielt ich eines Tages einen Anruf über Bauarbeiten mit Motorsägen und Baggern in einer geschützten Uferzone in Friedrichshafen. Die Natur sollte einem Weg weichen. Ich war zwischenzeitlich zum amtlichen Naturschutzwart des Bodenseekreises ernannt worden und hatte einen grünen Naturschutzwart-Dienstausweis mit Landeswappen erhalten. Gedacht war er dafür, Besucher von Naturschutzgebieten zu kontrollieren, damit sie die Wege nicht verlassen und keine Weidenkätzchen oder Schlüsselblumen abschneiden und mitnehmen. Angesichts der wirklichen Probleme des Naturschutzes nutzte ich meinen Ausweis aber vor allem, um die Zerstörung der Natur durch illegale Eingriffe bis hin zu ungenehmigten Baumaßnahmen zu verfolgen.

Ich hatte schon einige ärgerliche Eingriffe von Landwirten erlebt, die während der Orchideenblüte geschützte Feuchtwiesen mähten oder gar in Ackerland umbrachen. Oder Bauunternehmen, die einen Tümpel mit Bauschutt verfüllten. Dass nun aber sogar ein städtischer Bautrupp Natur zerstörte, das war neu. Voll von jugendlichem Zorn und mit der Souveränität, die mir mein Naturschutzwart-Ausweis in meinen Augen verlieh, fuhr ich mit dem Fahrrad zum Ort des Geschehens – einem unberührten und bislang unzugänglichen Uferabschnitt mit reichem Vorkommen an Nachtigallen und weiteren bedrohten Vogelarten. Ich zückte meinen Ausweis und erklärte den Mitarbeitern des städtischen Bauamtes, dass sie sofort mit den Arbeiten aufhören müssten. Diese seien illegal, und ich wüsste, dass es keine Genehmigung für den Bau eines Uferweges in diesem geschützten Uferbereich gebe.

Ich wurde ausgelacht. Die Arbeiter setzten an, den nächsten Baum zu fällen. Doch ganz so einfach ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Es gelang mir, an den Männern vorbeizukommen. Ich steuerte auf genau diesen Baum zu, kletterte hinauf, so schnell ich konnte, und blieb in drei Meter Höhe sitzen. Unverrückbar, egal, was sie riefen und womit sie drohten. Ich blieb sitzen, bis endlich die Polizei eintraf. Als die Beamten mich zum Verlassen des Baumes zwingen wollten, konterte ich mit der Aufforderung, sie sollten Rücksprache mit der Unteren Naturschutzbehörde im Landratsamt nehmen. Dort würde man ihnen bestätigen, dass die Baumaßnahme der Stadtverwaltung tatsächlich illegal war.

So geschah es, und die Baumfällungen und der illegale Wegebau wurden gestoppt. Meine spontane Baumbesetzung war ein Erfolg. Was allerdings bereits zerstört war, blieb zerstört und wurde nicht rückgängig gemacht. Bis heute endet der illegal begonnene Weg an dieser Stelle. Immerhin blieb auf diese Weise ein Stück unzugängliches Naturufer erhalten. Eine Strafe für diese illegale Baumaßnahme musste die Stadt natürlich nicht zahlen.

Als ich Herbst 2020 eine Rede im Protestcamp Dannenröder Forst in Hessen vor über tausend Baumschützern hielt und die von Hundertschaften der Polizei geschützten riesigen Baumaschinen zum Bau einer sechsspurigen Autobahn A49 durch einen einzigartigen alten Buchenwald sah, musste ich an meine eigene Baumbesetzung denken. Junge Menschen im selben Alter wie ich seinerzeit, die sich aber nicht für wenige Stunden in drei Metern, sondern für Monate in Baumhäusern in 30 Metern Höhe gegen die Zerstörung eines einzigartigen Buchenwaldes für eine rechtswidrig durchgepeitschte Autobahn-Altplanung wehren. Doch obwohl dieser Autobahn-Neubau weder notwendig noch mit dem Klimaschutz sowie dem Grundgesetz vereinbar ist, sicherte die Polizei diesmal diese Baumaßnahme.

Während es den Baumbesetzern im Hambacher Forst nach zehn Jahren Widerstand und trotz mehrerer später als rechtswidrig entschiedener Räumungsversuche gelungen ist, einen Teil des rheinischen Braunkohlereviers vor einem weiteren Abbau klimaschädlicher Braunkohle zu bewahren, ist der Widerstand gegen den Braunkohleabbau in Lützerath ebenso gescheitert wie der gegen die A49 im Dannenröder Forst. Verantwortlich ist dafür die unverändert auf Straßenbau ausgerichtete Verkehrs- und fehlende Klimaschutzpolitik der etablierten Parteien CDU/CSU, SPD und FDP. Und die kaum andere »Realpolitik« der Grünen, sobald sie an einer Regierung beteiligt sind.

Mit der Blockade von Straßen und Flughäfen kämpfen die meist jugendlichen Aktivisten folgerichtig für den Klimaschutz im Verkehrssektor. Ihre Forderungen sind dieselben, die ich stellte, als ich Ende der Siebzigerjahre auf einem Baum über einer laufenden Motorsäge saß: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Einhaltung von Recht und Gesetz.

Zurück in meine Jugendjahre und zu den lokalen Bauskandalen am Bodensee, gegen die wir ankämpften. Es waren vor allem der öffentlich-rechtliche Hörfunk und das Fernsehen, die uns halfen, Rechtsverstöße von Politik und Wirtschaft in die Öffentlichkeit zu bringen. Bürgermeister, Landräte und Leiter von Straßenbauverwaltungen mussten sich den kritischen Fragen der Presse stellen und wurden bei nachgewiesenen Verstößen massiv kritisiert. Das Mittel der Skandalisierung öffentlichen Fehlverhaltens funktionierte, solche illegalen Baumaßnahmen des städtischen Bauamtes gab es fortan nicht mehr.

Die wirklich großen Eingriffe in die Natur erfolgten jedoch mit Ansage und im Rahmen offizieller Planungen, mit denen diese durch Baugenehmigungen oder Planfeststellungsbeschlüsse »legalisiert« werden sollten.

Am 24. Dezember 1976 wurde das Bundesnaturschutzgesetz beschlossen, das Umweltverbänden in Paragraf 29 ein Mitwirkungsrecht bei allen Planungen zusprach, die mit »Eingriffen in Natur und Landschaft« verbunden sind. Nur ein Jahr zuvor waren der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegründet worden. Für mich als jungen Umweltschützer war dies eine spannende Zeit, die neuen Chancen des Engagements auszuloten.

Eine Erkenntnis aus der Betonier- und Asphaltierwut der Siebzigerjahre war: Wir dürfen uns nicht überrumpeln und vor vollendete Tatsachen stellen lassen. Je früher wir mit einer fundierten Stellungnahme die Schwachstellen identifizierten und öffentlich anprangerten, desto größer war unsere Chance, den Eingriff in die Natur abzumildern oder zu verhindern.

Meine erste eigene Stellungnahme zu einem Großprojekt, die ich für unseren Naturschutzverband erarbeitete, betraf die Planung einer zentralen Mülldeponie namens »Weiherberg« für den gesamten Bodenseekreis.

Der vorgesehene Standort der Mülldeponie zwischen Friedrichshafen und Markdorf war ein ehemaliges Militärgelände aus der Nazizeit, auf dem unter anderem V2-Raketen getestet worden waren. In den nach dem Krieg gesprengten, mehrere Stockwerke in die Tiefe ragenden Bunkeranlagen und in dem direkt angrenzenden Hepbacher-Leimbacher Ried hatten sich über drei Jahrzehnte seltenste Insekten- und Pflanzenarten bis hin zur vom Aussterben bedrohten Strauchbirke (Betula humilis), einem Eiszeitrelikt, bewahrt. Vor allem war das für die Deponie vorgesehene, von der Natur zurückeroberte Militärgelände aber einer der wichtigsten Amphibien- und Reptilienlebensräume am Bodensee-Nordufer.

Als ich von den Plänen hörte, war ich entsetzt. Wieder sollte ein einzigartiges Biotop zerstört werden und das nur wenige Kilometer vom Trinkwasserspeicher Bodensee entfernt. Maßnahmen zur Müllreduzierung, zur Sortierung und Kompostierung organischer Bestandteile oder gar zum Recycling von Kunststoffen waren nicht geplant. Vielmehr sollte einfach inmitten der in der letzten Eiszeit geformten, in Ost-West-Ausrichtung liegenden tropfenförmigen Hügeln, Drumlins genannt, ein riesiger, schmutziger Müllberg entstehen. Eine Abfallpolitik aus der Steinzeit, wie wir diese Planung bezeichneten.

Trotzdem gelang es uns nicht, den Bau der Deponie an diesem Standort zu verhindern. Landwirtschaftliche Flächen kamen für den planenden Landkreis genauso wenig infrage wie Forstflächen. Nein, ausgerechnet in diesem wertvollen Amphibien- und Reptilienlebensraum sollte ein Müll-Drumlin entstehen. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Eingriff zu minimieren und das unmittelbar angrenzende Niedermoor unter Naturschutz stellen zu lassen. Schließlich durfte die Mülldeponie ja keine Gefahr für das Grundwasser und den Bodensee darstellen.

Tatsächlich war nämlich geplant, den Bau so billig wie möglich durchzuziehen. Um Kosten zu sparen, sollte eine Abdichtung der Deponie zum lehmigen, aber mit Kieslinsen durchzogenen Untergrund entfallen.

Unsere entscheidende Aufgabe war es nun, dieses Thema in die Öffentlichkeit zu tragen und eine Umplanung durchzusetzen. Mit unserer Stellungnahme, aber vor allen Dingen durch unseren Druck über die Öffentlichkeit und die Androhung rechtlicher Schritte wegen der unmittelbaren Gefahr für die Wasserqualität schafften wir es, eine durchgehende Sohlabdichtung der Mülldeponie durchzusetzen.

Für mich als damals 17-jährigen Schüler war die Verkleinerung der Fläche, die Unterschutzstellung des angrenzenden Niedermoors und die Durchsetzung eines verbesserten Grundwasserschutzes ein Teilsieg für die Umwelt und zugleich ein erster persönlicher Erfolg. Die monatelange Arbeit an einer fundierten Stellungnahme, Fernseh- und Hörfunkbeiträge, Kontakte zu Landespolitikern und die Drohung mit möglichen Klagen erzielten Wirkung und zeigten mir, dass sich der Einsatz lohnt. Es sind Erfolge wie dieser, die mich geprägt haben und mir immer wieder Mut machten, weiterzuarbeiten.

Heute wissen wir, dass der ursprünglich aus Kostengründen von den Behörden geplante Verzicht auf die Sohlabdichtung zu einer massiven Wasserverschmutzung und damit zu einer unmittelbaren Gefahr für den Bodensee als wichtigstem Trinkwasserspeicher Mitteleuropas geführt hätte. Ähnliche fundierte Stellungnahmen anderer Naturschützer haben in den letzten Dekaden in sicher vielen Zehntausend Fällen ebenso dazu beigetragen, dass Schäden für die Umwelt verhindert oder minimiert werden können, und zeigen, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement gerade auch »vor Ort« ist.

In den Folgejahren perfektionierten wir unsere Stellungnahmen, und es gelang uns, durch die Mischung von fachlich fundierten Stellungnahmen, einer begleitenden Öffentlichkeitsarbeit und dem Mittel der Verbandsklage besonders umweltschädliche Bauprojekte gänzlich zu verhindern oder massive Umplanungen durchzusetzen. Da wir uns hierfür besonders eindeutige Fehl- und Falschplanungen aussuchten und diese jeweils sehr intensiv bearbeiteten, stieg unsere Erfolgsquote steil an.

So geschah es auch, als wir mit einem Projekt von Uhldingen-Mühlhofen zu tun bekamen, einer kleinen Gemeinde am Bodensee, bekannt für ihr Freilichtmuseum mit dem Nachbau von prähistorischen Pfahlbauten. Und dieser Fall sollte ein besonderer für mich werden, denn wir setzten uns mit unserer kritischen Stellungnahme erstmals durch, bewirkten eine komplette Umplanung – durch den Gang vor Gericht und eine höchstrichterliche Entscheidung zu unseren Beteiligungsrechten.

Aber von Anfang an: Die Gemeinde plante einen Neubau des Landungsstegs, der ökologisch die Flachwasserzone schädigen und auch ästhetisch extrem hässlich in massivem Beton ausfallen würde. Wir fragten uns, wie wir diesen Eingriff verhindern könnten. Die Planungsunterlagen enthielten keine Aussagen über die Auswirkungen auf die überwinternden oder brütenden Vogelarten. Wir wussten aus Wasservogelzählungen, dass die Flachwasserzone, die an das Naturschutzgebiet Seefelder Aachried angrenzte, von Tausenden überwinternden Wasservögeln genutzt wurde. Die für eine Stellungnahme eingeräumte Zeit genügte zudem nicht im Entferntesten, eigene Untersuchungen anzustellen.

Wir protestierten gegen die Verletzung unserer Anhörungsrechte nach dem für uns entscheidenden § 29 des Bundesnaturschutzgesetzes. Doch die Gemeinde war fest entschlossen, den Bau durchzuziehen, und die Genehmigungsbehörde wollte den klar gesetzeswidrigen, massiven Betonbau am Bodenseeufer durchwinken. Die Zeit war knapp, und Geld für einen Rechtsanwalt hatten wir auch nicht. Zu unserem großen Glück erklärte sich der pensionierte Richter Klaus Roth-Stielow bereit, uns als Rechtsbeistand kostenfrei zu unterstützen. Mit ihm an unserer Seite hatten wir auf einmal die Chance, auch mit harten juristischen Bandagen zu kämpfen. Und zum ersten Mal erlebte ich, dass wir die fatale Planung der zuvor übermächtigen Behörden, der öffentlichen Hand, im Gerichtssaal stoppen konnten. Ich lernte, dass Gerichte die wichtigsten Verbündeten bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz im Natur- und Umweltschutz sind.

Es war unser erster juristischer Coup: Das Verwaltungsgericht Sigmaringen und in zweiter Instanz der Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg gaben uns recht und stoppten die Planung. Das Gericht befand, dass wir in unseren Beteiligungsrechten beeinträchtigt waren, weil uns nicht alle für die Beurteilung der Baumaßnahme notwendigen Unterlagen ausgehändigt worden waren.

Es war für mich eine prägende Erfahrung, zu erleben, welche Wucht Gerichtsurteile dem Umweltschutz geben können.

Mit dieser und später einer weiteren von uns erstrittenen Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, diesmal zum Ausbau des Jachthafens von Friedrichshafen, wurden die Rechte der Umweltverbände in allen Planfeststellungsverfahren mit bundesweiter Wirkung gestärkt. Wir hatten mit Bestätigung der Gerichte durchgesetzt, dass es eben nicht genügt, eine Pro-forma-Anhörung der Umweltverbände durchzuführen. Und dieses Grundsatzurteil wurde von den Behörden beachtet: Es führte zu gründlicheren Planungen und zur vollständigeren Offenlegung aller Antragsunterlagen und Gutachten. Es sorgte dafür, dass die Zivilgesellschaft, hier vertreten durch klageberechtigte Umweltverbände, tatsächlich in die Lage versetzt wurde, eine fundierte Stellungnahme abzugeben.

Zum ersten Mal erlebte ich aber auch, wie aus der Wut der vor Gericht unterlegenen Regierungspartei CDU und ihrer Repräsentanten Diffamierungen und Einschüchterungsversuche folgten. Nach der Aufdeckung und dem mehrmals erfolgreichen Stopp widerrechtlicher Baumaßnahmen bezeichnete mich der CDU-Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat von Friedrichshafen öffentlich als »Umwelt-Gaddafi«. Ich musste mich mit einer Klage vor Gericht dagegen zur Wehr setzen.

Noch massiver war aber eine andere Reaktion auf meine frühe Umweltarbeit: Eines Tages bedrohte mich der beauftragte Rechtsanwalt der Gemeinde Uhldingen-Mühlhofen mit einer Schadenersatzklage in Millionenhöhe. Ich konnte nach dem Anruf nicht gut schlafen; so etwas hatte ich nicht erwartet. Und ich konnte nicht einordnen, wie wahrscheinlich der Erfolg einer solchen gegen mich persönlich gerichteten Klage wäre. Nochmals prüften wir unsere Argumente und kamen zu dem Ergebnis, dass unsere Stellungnahme berechtigt und die Planung rechtswidrig war. So lösten diese Drohungen bei mir das Gegenteil dessen aus, was beabsichtigt war: Ich war mir in der Ablehnung der Baumaßnahme noch sicherer und ließ mich nicht einschüchtern und vom Klageverfahren abbringen, das wir durch alle Instanzen hindurch gewannen. Diese frühe Erfahrung half mir später bei ungleich wuchtigeren Schadenersatzklagen und Drohungen durch Automobil- und Chemiekonzerne, die Nerven zu bewahren und nicht einzuknicken.

Ganz entscheidend war damals wie auch heute ein hervorragender Rechtsbeistand. Klaus Roth-Stielow, ein pensionierter Richter des Oberlandesgerichts Stuttgart, war nicht nur in diesem Rechtsstreit für mich ein Geschenk des Himmels. Er half mir über mehr als 20 Jahre hinweg und bis über seinen neunzigsten Geburtstag hinaus, den ganz überwiegenden Teil unserer Klagen auch zu gewinnen und so dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Ein Vorbild – und ein Beispiel für pensionierte Juristen, wie sie der Zivilgesellschaft und hier insbesondere den Umweltgruppen helfen können, ihre und die Rechte der Natur besser gegen Staat und Industrie durchzusetzen.

Damals wie heute veränderte sich auch das Gewicht unserer Argumente: Wegen unserer juristischen Erfolge wurden wir endlich ernst genommen. Auf einmal führten wir als Umweltverband bei behördlichen Erörterungsterminen Gespräche auf Augenhöhe. Wenn wir, wie bei einer Bundesstraßenplanung geschehen, erst drei Tage vor dem Erörterungstermin die Unterlagen erhielten, erklärten wir im Termin, dass es uns in dieser kurzen Zeit nicht möglich war, uns ausreichend vorzubereiten, und dann wurde der Termin aufgehoben und neu festgesetzt. Vor allem aber: Fundierte Hinweise auf bedrohte Tierarten und unverhältnismäßige Eingriffe in die Natur wurden immer öfter ernst genommen. Vielleicht auch, um eine neue Klage zu vermeiden. Heute beträgt oft die eingeräumte Zeit zur Bewertung eines mehr als hundertseitigen Gesetzes- oder Verordnungsentwurfs weniger als einen Tag.

Schon in den Siebzigerjahren brannte sich die Erkenntnis ein: Nur wenn du Druck machst und dir Respekt verschaffst, wenn durch gute Argumente und erfolgreiche Aktionen und Gerichtsverfahren Erfolge eintreten, wirst du ernst genommen – und dann kannst du wirklich etwas bewirken.

Die Drohung mit Schadenersatz in Millionenhöhe hat eine oft unsichtbare Zwillingsschwester: Das Angebot einer diskreten Zahlung für die Bereitschaft, die Bedenken fallen zu lassen.

Im Falle der 1986 geplanten Erweiterung des Dornier-Werkes am Bodenseeufer in einer der letzten unverbauten Grünzonen bei Immenstaad veröffentlichte ich die mir zugespielten internen Unterlagen über diese von der Landesregierung bereits abgenickte Baumaßnahme unmittelbar am Bodenseeufer. Dornier träumte von großen Aufträgen für die US-Regierung zur Raketenabwehr im Weltraum: Viertausend neue Arbeitsplätze sollten auf 26 Hektar Bodensee-Uferfläche geschaffen werden. Dort, wo allein 21 besonders bedrohte Tierarten lebten, vom Eisvogel bis zum Schwalbenschwanz. Das Nachrichtenmagazin DERSPIEGEL veröffentlichte damals exklusiv unsere Dornier-Papers. Die Empörung über diesen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bereits sehr weit vorbereiteten Coup der zwischenzeitlich von Daimler aufgekauften Luft- und Raumfahrtfirma war groß und schlug bundesweite Wellen.

Durch unsere Veröffentlichung der geheimen Absprachen zwischen Daimler, Dornier und der Landesregierung zu einer rechtswidrigen Naturzerstörung am Bodensee und durch die Vorlage eigener Untersuchungen und wissenschaftlicher Nachweise über das Vorkommen seltener Tier- und Pflanzenarten im vorgesehenen Baugebiet gelang es uns, eine breite Ablehnung bei den Bürgerinnen und Bürgern auszulösen.

Dornier suchte das Gespräch, und unter vier Augen bot mir doch tatsächlich mein Gesprächspartner für den Fall, dass wir unseren Widerstand aufgeben würden, eine hohe Spende an, mit der wir machen könnten, was wir wollten. Zum Beispiel Natur an anderer Stelle schützen. Ich entgegnete ihm, wenn ich mich auf einen derartigen Deal einließe, müsste Dornier nicht einmal die Spende überweisen. Es genüge, der Öffentlichkeit zu erzählen, dass wir dazu bereit gewesen wären, gegen Geld unsere Bedenken zurückzuziehen. Wir wären für alle Zeit unsere Glaubwürdigkeit los.