DSA 133: Mörderlied - Stefan Schweikert - E-Book

DSA 133: Mörderlied E-Book

Stefan Schweikert

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Beschreibung

"Der Mörder sammelt Trophäen", sagte Gerhalla Isenbrook. "Jedem Toten fehlt ein Finger. Jedem ein anderer. Und offenbar ist das alles, was die Opfer verbindet." Die Suche nach dem Mörder führen Geronius Bosko, den eigenbrötlerischen Ermittler der Garether-Criminal-Cammer, in die Hinterhöfe der Armenviertel und in die Salons der Patrizierhäuser. Zeugen und Hinterbliebene wollen ihn für eigene Zwecke instrumentalisieren und in den eigenen Reihen hat er nicht nur Freunde. Und dann sind da zwei Frauen, die - jede auf ihre Weise - für Bosko unwiderstehlich sind. Denkbar schlechte Voraussetzungen, seiner ungeduldigen Vorgesetzten schnelle Ergebnisse zu liefern. Wie auch soll man einen Mörder finden, wenn alle Spuren ins Nichts führen?

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Biografie

Stefan Schweikertwurde 1965 in Heidenheim an der Brenz auf der Schwäbischen Alb geboren, wo er auch heute lebt.

Erste vollendete Geschichte und erste Veröffentlichung: Die KurzgeschichteLiin der Aventurien-AnthologieAufruhr in Aventurien, 2002 bei Heyne.

Anschließend weitere Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften.

Für seinen Debutroman,Über den Dächern Gareths(2008), kehrte er nach Aventurien zurück. Hier hat auch Geronius Bosko, der Held ausMörderlied, seinen ersten Auftritt.

Im Februar 2010 folgte mitKamaluqs Schlundein aventurisches Dschungelabenteuer, inspiriert von der englischen Afrikaforscherin Mary Kingsley.

Stefan Schweikert ist im Brotberuf Elektroniker, außerdem spielt er Orgel, Piano und Akkordeon in verschiedenen Rockbands.

Titel

Stefan Schweikert

Mörderlied

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 11066PDF

Coverbild: Jon HodgsonAventurienkarte: Ralph HlawatschBuchgestaltung: Ralf Berszuck E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DEREsind eingetragene Marken. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Kapitel 1

DerErstemutig weist den Weg, und strauchelt nicht auf Pfad und Steg, Er geht voran mit festem Schritt, und bist du klug, so gehst du mit.(Ein Kinderreim aus Garethien)

Ich höre ihre Schritte schon im Treppenhaus. Die Tür öffnet sich, und für einen Augenblick huscht das Licht aus dem Flur in mein Zimmer. Dann wird es von ihrer Silhouette ausgesperrt.

Sie braucht kein Licht.

Sie findet den Weg auch so.

Ich habe die Decke bis zum Kinn hochgezogen, schließe die Augen und tu so, als ob ich schlafe.

Sie setzt sich auf die Bettkante und sagt: »Gute Nacht, mein Schatz.« Ich spüre ihre Lippen auf meiner Wange.

Dann steht sie seufzend wieder auf.

Ich flüstere: »Gute Nacht, Mama.«

Wie dumm ich bin!

Sie beugt sich wieder über mich. Ihre Hände streichen durch mein Haar. Die Finger gleiten über Stirn, Wange, Hals. Diese Finger sind so feucht und kalt. Nacktschnecken gleich hinterlassen sie eine unsichtbare Spur auf meiner Haut. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu weinen.

Weinen ist nicht gut.

Das tun nur Angsthasen.

Seit Papa nicht mehr da ist, ist es schlimmer als zuvor. Doch dass er nicht mehr da ist, ist meine Schuld.

Er hat es nicht mehr ertragen.

Er hat mich nicht mehr ertragen.

»Es tut mir so leid, mein Schatz«, flüstert sie, und ich weiß, dass es ihr ernst ist. Sie kann nichts dafür. Es war meine Schuld, ganz allein meine. Aber warum muss sie mich immer wieder daran erinnern?

Erst viel, viel später werde ich es verstehen: Sie will von mir die Worte, die ich ihr nicht geben kann: ›Ich bin dir nicht böse, denn es war nicht deine Schuld, sondern ganz allein meine.‹ Nein, diese Worte werde ich ihr versagen, solange ich lebe oder solange sie lebt.

Tobrischer Hof, Sitz der Garether-Criminal-Cammer, Büro von Gerhalla Isenbrook, am achten Tag des Praiosmondes im Jahre 1033 nach Bosparans Fall.

»Nimm doch Platz, mein lieber Geronius«, sagte Gerhalla Isenbrook.

Geronius Bosko warf seiner Vorgesetzten einen misstrauischen Blick zu. Wenn er ihr ›lieber‹ Geronius war, konnte das nichts Gutes bedeuten. Und in dem Fall blieb er lieber stehen.

»Danke«, sagte er, und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Nun, wie du möchtest.« Isenbrooks Tonfall blieb unverbindlich. Die leitende Amtsherrin der Garether-Criminal-Cammer schob die vor ihr liegenden Papiere in eine Ecke des großen Schreibtischs. Sie hatte niemals etwas Wichtiges offen daliegen. Diese Papiere waren ausschließlich dazu da, hin und her geschoben zu werden. Und da es Geronius geschafft hatte, mit einem schlichten ›Danke‹ seine Vorgesetzte zu verärgern, dauerte es, bis jedes Blatt seinen Bestimmungsort fand.

»Es freut mich, dass du meiner Einladung so prompt gefolgt bist«, fuhr sie endlich fort.

Geronius unterdrückte den Wunsch zu erwidern, dass die ›Bitte um sofortiges Erscheinen‹ keine Bitte im landläufigen Sinne sei. Besonders wenn ihm diese ›Bitte‹ von seiner griesgrämigen Amtsschreiberin mit hämischer Mine übermittelt wurde. Sein gemurmeltes »selbstverständlich« musste als Kritik an der Vorgehensweise genügen.

»Nun, Geronius«, setzte die Isenbrook, angesichts Boskos Maulfaulheit, ein drittes Mal an. »Weißt du, warum ich dich hergebeten habe?«

Vermutlich bin ich mal wieder irgendeinem Pfeffersack auf die Füße getreten, dachte Bosko, und brachte diesen Gedanken mit einem Schulterzucken zum Ausdruck.

»In letzter Zeit sind in Gareth einige besorgniserregende Morde geschehen. Und wir glauben ...«

»Morde sind immer besorgniserregend«, warf Bosko ein.

»Nun, dem ist zweifellos so. Meist sind die Umstände recht offensichtlich: Eifersucht, Neid, Missgunst, Habgier. Ein Bettler wird von einem Dieb wegen ein paar Münzen erschlagen. Oder ...«

»... ein Kaufmann lässt einen anderen meucheln, um unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Der Zweitgeborene tötet den Erstgeborenen, um an Erbe und Titel zu gelangen. Außerdem sollte gesagt werden, dass ...«, unterbrach Bosko sie.

»Mir ist deine Kritik an der praiosgefälligen Ordnung in dieser Stadt wohlbekannt. Wenn du ...«

»... der Begriff Dieb impliziert üblicherweise: Er stiehlt. Ein Dieb mordet nicht automatisch, während ...«

»... mir jetzt wieder deine Aufmerksamkeit schenken würdest, anstatt ...«

»... in anderen Gesellschaftskreisen die Übergänge doch etwas fließender scheinen. Ein ...«

»Halt den Mund!« Sie war aufgesprungen, ihr schmales Gesicht zeigte ungewohnte Röte.

»Verzeiht, Euer Gnaden und Exzellenz«, sagte Bosko, und senkte den Blick.

Gerhalla Isenbrook setzte sich wieder und wartete, bis der Rechtswahrer ihr die gebührende Aufmerksamkeit schenkte.

Geronius schloss die Augen und atmete tief durch. Seine Zunge war mal wieder schneller als sein Verstand. »Es tut mir leid«, presste er zwischen den Zähnen hindurch. Dann folgte jener Satz, den er geflissentlich übte: »Ich wollte nicht an der göttergefügten Ordnung zweifeln.«

Seiner Vorgesetzten schien das als Entschuldigung zu genügen. Versöhnlicher fuhr sie fort: »Ich muss zugeben, dass es auch jener Geisteshaltung, die dir eine erfolgreichere Karriere in dieser Einrichtung versagt, zu verdanken ist, dass ich in dieser Angelegenheit an dich dachte. Da du offensichtlich nicht in der Lage bist, mit deiner Meinung hinter dem Berg zu halten, besitzt du gewisses Vertrauen und gewisse Sympathien in gewissen Kreisen.«

Bosko schaffte es, die Anhäufung gewisser Verklausulierungen nicht zu kommentieren.

»Außerdem ist mir bewusst, dass du durchaus Talente besitzt: Du kannst hartnäckig sein. Du kannst dich in deinen Gegenüber hineinversetzen. Zumindest solange er nicht adeligen Standes oder wohlhabend ist. Du hast ein Gefühl dafür, wenn dich jemand belügt, und kannst um die Ecke denken. Das können wenige.«

Denen, die es können, fehlt irgendwann einmal der Kopf dazu, dachte Bosko. Wie eines Tages auch mir. Wenn ich nicht lerne, den Mund zu halten. Aber Bosko fiel es schwer, angesichts der Komplimente aus dem Mund der Vorgesetzten, sich nicht geschmeichelt zu fühlen. Einen Augenblick zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht.

Das Lächeln wurde erwidert: »Geronius, wir kennen uns jetzt so lange. Ich schätze deine Arbeit. Ich schätze deinen Verstand. Und ich schätze dich! Aber auch nach all den Jahren verstehe ich noch immer nicht, warum du dir das Leben so schwer machst.«

Darauf gab es nun wirklich nichts zu erwidern.

»Aber jetzt zurück zu unserem Fall«, nahm Gerhalla Isenbrook den Faden wieder auf. »Wie du richtig erkannt hast, werden in dieser Stadt täglich Menschen durch die Hand eines anderen in Borons Arme geleitet. Meist sind dies einzeln zu betrachtende Fälle von – wie schon gesagt – Habgier, Neid, Missgunst oder Eifersucht. Viele dieser Fälle werden nie geklärt. Und es ist mir bewusst, dass der gesellschaftliche Stand des Opfers bei den Bemühungen unsererseits durchaus eine Rolle spielen kann. Aber du weißt selbst gut genug, wie es um die Ausstattung der Criminal-Cammer bestellt ist. Die letzten Jahre haben es nicht gut mit uns gemeint. Wir können kaum alle Ämter mit fähigen Leuten besetzen. Da kann die Gewogenheit gewisser Interessengruppen durchaus Einfluss auf die Prioritäten hier im Hause haben. Glaub mir, Geronius, ich würde diesen Umstand gerne mit gutem Gewissen verneinen. Keinem tut das mehr weh, als mir.« In Gerhallas Gesicht zeigte sich aufrichtiges Bedauern. »So scheinen diese Defizite auch dazu geführt haben, dass der Fall, den wir zu bereden haben, lange nicht entdeckt wurde.«

Isenbrook verstummte.

»Welchen Fall meinst du? Und warum wurde er nicht entdeckt?«, stellte Bosko die erwarteten Fragen. Das formelle ›Ihr‹ blieb öffentlichen Auftritten und den regelmäßig aufflammenden Disputen vorbehalten.

»Das Problem andem Fallist, dass es sich bis gestern umFällehandelte. Es gab keine Zusammenhänge. Die Opfer sind verschiedenen Standes, kommen aus verschiedenen Stadtteilen, sind verschiedenen Alters und Geschlechts.«

»Und jetzt sind plötzlichZusammenhängeaufgetaucht?«, fragte Bosko argwöhnisch. »Oder waren die Zusammenhänge schon immer da, nur hat sie keiner gesehen?«

»Genau deshalb, weil du solche Fragen stellst, bekommst du den Fall«, sagte Gerhalla Isenbrook zufrieden. »Alles, was die Opfer verbindet – und es wundert mich wenig, dass es so lange keinem aufgefallen ist – ist folgender Umstand: Als man sie auffand, fehlte ihnen ein Finger.«

»Vielleicht von Ratten gefressen?«, schlug Bosko vor.

»In einem Herrenhaus in Tempelhöhe gibt es keine Ratten!«

Hast du ‘ne Ahnung, dachte Bosko. Bloß haben die Ratten da zwei Beine.

Aber er hütete sich, das laut auszusprechen. Denn er wollte diesen Fall haben.

Unbedingt!

»Jedem Opfer fehlte ein Finger«, erklärte Gerhalla Isenbrook. »Jedem ein anderer. Der Täter sammelt Trophäen.«

»Oder der Täter hat selbst keine«, schlug Bosko vor.

Gerhalla Isenbrook lachte über den Scherz.

Seitdem das ehemalige Hotel ›Tobrischer Hof‹ der Criminal-Cammer als Sitz diente, wurde die alte Küche von den Mitarbeitern als Gemeinschaftsraum genutzt. Auch die Handvoll uniformierter Stadtgardisten, die abgestellt waren, in der Cammer den Wachdienst zu versehen oder die Inspectoren bei ihren Einsätzen zu begleiten, konnte man in ihrer freien Zeit hier finden. Einige hatten ihre Habseligkeiten auf dem Speicher verstaut und schliefen in den Verhörzimmern oder Arrestzellen, solange diese nicht für ihren ursprünglichen Zweck gebraucht wurden.

Das Leben war nicht leicht, nicht für einen Gardisten der Stadtwache, und nicht für einen Inspector der Criminal-Cammer. Vielleicht für den erst recht nicht.

Aber will ich es überhaupt anders?, fragte sich Bosko. Als Rechtswahrer, und damit Vorsteher eines der sieben Ämter der Cammer, hatte er immerhin das Privileg eines eigenen Zimmers im Obergeschoss.

Eine Handvoll Menschen war immer anwesend, so auch jetzt, als Geronius den Raum betrat. Einige dösten auf einer Bank in der Ecke, andere saßen am Tisch, in ein Würfelspiel vertieft.

»Torm!«, rief Bosko, obwohl dieser offensichtlich nicht anwesend war.

Wer Bosko nicht hatte kommen hören, schreckte auf und wandte sich dem Rechtswahrer zu.

»Wo ist Torm?«, fragte er.

»Der Gierschlund?«, erwiderte einer der Spieler. »Keine Ahnung. Vielleicht ist er in der Speisekammer?« Er blies die Backen auf.

Die anderen lachten.

»Nenn ihn nicht so, Inspector Rothenborn!«, sagte Geronius. Hane Rothenborn war eigentlich ganz in Ordnung. Aber in Gegenwart seiner Kameraden musste er sich immer hervortun und den Narren spielen. Am Besten auf Kosten anderer. Und Torm war sein bevorzugtes Opfer.

»Sehr wohl, Rechtswahrer.« Hane setzte sich kerzengerade an den Tisch.

Bosko wandte sich zum Gehen. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass einige der Anwesenden jetzt Grimassen zogen. Aber was scherte es ihn? Er hatte Wichtigeres zu tun.

Der Flur, der an der Küche anschloss, führte zum Zellentrakt. Vielleicht war Torm dort zu finden?

Kaum aus der Küche hinaus, hörte er Hane rufen: »Da isser ja. He, Gierschlund! Der Bosko sucht dich. Hast du was ausgefressen?«

Jetzt lachte die ganze Mannschaft.

Geronius ging zurück.

Torm Schlunders Gestalt war – wenn man es freundlich ausdrückte – imposant. Hane hatte es in einem lichten Moment einmal so ausgedrückt: ›Torm ist so breit wie hoch. Und Torm ist kein Zwerg.‹ Dieser Statur und seinem Nachnamen verdankte er den unsäglichen Spitznamen: Gierschlund!

Aber Torm nahm es gelassen.

Zumindest nahm Geronius das an.

Denn Torm redete wenig. In der Küche saß der Endzwanziger meist für sich. Das runde Gesicht von einem Bart geziert, der einem Angroscho zur Ehre gereicht hätte, und von langem braunen Haar umrahmt, blieb verborgen, ob die Zoten und Witze der Anderen ihn zum Lächeln brachten. Da viele dieser Witze auf seine Kosten gingen, war das nicht zu erwarten. Viele der jüngeren Mitarbeiter der Criminal-Cammer hielten Torm für dumm. Die Älteren wussten es besser: Torm hörte zu. Und im Gegensatz zu Bosko überlegte er, bevor er dem Mund aufmachte. Er überlegte gründlich. Wie ein großer Strom in der Ebene, so langsam, aber ebenso beharrlich, bahnten sich die Gedanken ihren Weg durch den großen Kopf in seinen Mund. Viele hatten bis dahin vergessen, worauf Torm überhaupt antwortete.

Aber es lohnte sich, geduldig zu sein.

Bosko wunderte es nicht, dass gerade Torm die Sache mit den fehlenden Fingern aufgefallen war.

Dabei war Torm gar kein Inspector. Der einfache Stadtgardist diente seit fast sechs Jahren der Cammer, war sozusagen eine Dauerleihgabe der Garde. Aber im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte er sich nie ernsthaft um einen Posten als Inspector bemüht. Torm war ein Relikt aus der Zeit, als Garde und Criminal-Cammer noch dem gleichen Dienstherren unterstellt waren. Manche sagten auch, Torm sei bei der Trennung einfach vergessen worden.

Für Geronius war er einer der hellsten Köpfe in der Cammer, und so etwas wie ein Freund – wenn er denn einen hatte.

»Torm, hast du gerade etwas zu tun?«

Der Gardist sah ihn fragend an.

»Also nicht«, schloss Bosko daraus. »Und wenn du gerade dienstfrei hast, dann kannst du das nachholen. Komm mal mit.«

Er klopfte Torm auf die Schulter und drehte ihn zur Tür. Zusammen verließen sie die Stube.

Nach dem Disput mit der Isenbrook und dem Ärger über Hanes Geschwätz musste Geronius an die frische Luft. Leider war auch vor der Tür wenig davon zu finden.

Es wird ein heißer Sommer, dachte er. Die Toten werden noch mehr stinken als sonst.

Draußen in Rosskuppel war die Luft sicher besser als hier. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich dem Werheimer Tor zuzuwenden, das gleich um die Ecke lag. Er ließ es bleiben. Sie gingen nach Süden, vorbei an alten Bürgerhäusern und Stadtvillen, ehe das Labyrinth der Altstadt sie an dem Platz zwischen Tsa- und Ingerimm-Tempel wieder ausspuckte.

Torm hatte die ganze Zeit keinen Ton gesagt. Und Geronius wusste, dass für den Kameraden Floskeln wie: ›Du fragst dich sicher, was ich von dir will‹, überflüssig waren.

»Die Sache mit den Fingern: Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Geronius.

Er erwartete keine schnelle Antwort und ging langsam weiter, um Torm Zeit zum Überlegen zu geben. Umso überraschter war er, als Torm prompt in sanftem Bass erwiderte: »Alle haben gesagt: Ein Finger fehlt. Aber keiner hat gefragt: welcher Finger?«

»Wie meinst du das?«

Langsam gingen sie weiter.

Passanten machten respektvoll Platz, viele senkten den Blick, als würden sie dadurch von der Ordnungsmacht, die Torm eindrucksvoll darstellte, nicht gesehen. An Geronius Zeit in der Stadtgarde erinnerte nur noch das dunkelrote Barett, das er gerne trug. Ansonsten war er wie alle Mitarbeiter der Cammer als solcher nicht zu erkennen.

»Ich geh ab und zu in denMorgenstern«, sagte Torm. »Da sitzen ja immer ein paar von der Stadtgarde. Und Anfang Rahja, da höre ich wie einer erzählt, dass sie gerade eine tote Frau in Heldenberg gefunden haben. Der hat ein Finger gefehlt, und es hat so ausgesehen, als sei er ihr kurz vor oder nach dem Tod abgeschnitten worden. Da frag ich: ›War es der rechte Ringfinger?‹ Der Kerl schaut mich an, als sei ich der leibhaftige Namenlose. Er sagt: ›Es war der rechte Ringfinger. Woher weißt du das?‹ Und ich sag: ›Ich hab’s nicht gewusst. Ich hab’s nur vermutet. Der war jetzt dran.‹ Da glotzen die anderen noch seltsamer. ›Es war nicht der Erste‹, erkläre ich. ›Einer von euch hat’s mir erzählt.‹ Und so war’s auch: Schon im Phex hat mir nämlich einer von der Stadtgarde erzählt, dass sie zu einem Toten im Arenaviertel gekommen sind. Der ist aus dem Fenster gefallen, oder vielleicht auch gesprungen. Zumindest war es nichts weiter Wichtiges, meinten sie. Sie hatten schon den Leichensammler geholt, damit der Mann auf den Anger kommt. Da machen die Nachbarn einen Zinnober, von wegen, der Mann sei umgebracht worden, weil dem Mann fehlt der Zeigefinger, und der sei ihm nicht einfach so abgefallen. Ich fand, das war damals eine nette Geschichte. Allein schon, weil ich nicht dachte, dass sich im Arenaviertel die Leute noch umeinander scheren, wenn sie nicht wenigstens miteinander verwandt sind. Wie gesagt: Ich hab nicht mehr an die Geschichte gedacht. Aber dann werden wir selbst im Ingerimm von der Perainekirche gerufen, weil eine ihrer Geweihten getötet worden ist. Da habe ich es selber gesehen.«

Das war eine außergewöhnlich lange Rede für Torm. Jetzt verstummte er und ging langsam weiter. Geronius wartete geduldig, dass Torm seine Gedanken sammeln konnte.

»Was hast du selbst gesehen?«, fragte er schließlich.

»Weißt du, Rechtswahrer – weißt du, dass die Leute nicht mehr bluten, wenn sie tot sind?«

Worauf wollte Torm hinaus? »Die Leute bluten nicht mehr, wenn sie tot sind«, bestätigte Geronius vorsichtig.

»Man hat sie erwürgt«, sagte Torm schließlich. »Mit einem Strick. Die Geweihte meine ich. Aber da war Blut. Die Wunde war frisch, wo man ihr den Mittelfinger abgeschnitten hat. Also glaube ich, man hat ihn abgeschnitten, als sie gerade tot war. Und man hat den Finger mitgenommen. Der war nämlich nicht mehr da.«

»Und da dachtest du, das sei eine Serie?«

»Bei der Geweihten noch nicht. Da waren’s ja erst zwei. Aber als mir die Gardisten die Sache mit der Frau in Heldenberg erzählt haben, da habe ich mir Gedanken gemacht. Ein Zeigefinger im Phex, ein Mittelfinger im Ingerimm und ein Ringfinger im Rahja. Da muss man sich doch Gedanken machen!«

Wenn es einem auffällt, so wie dir, dachte Geronius. Wer sonst kann sich nach einem Vierteljahr noch an irgendwelche Gardistengeschichten erinnern?

»Du meinst also, da bringt einer Leute um und sammelt deren Finger. Er geht die Reihe durch. Einen Finger nach dem anderen.«

Torm nickte: »Ja. Aber ...«

»Und was ist mit dem Daumen?«, unterbrach ihn Bosko. »Da hätten wir ja noch eine fehlende Leiche. Das erste Opfer, wenn deine Theorie stimmt.«

Torm zuckte mit den Schultern. »Hab ich mir auch schon überlegt. Aber das müssten wir spätestens nach der nächsten Leiche wissen. Das müsste dann der linke Daumen sein, oder der linke Zeigefinger.«

Torm konnte ganz schön kaltschnäuzig sein, stellte Geronius fest.

»Aber erst müsste doch der kleine Finger ... Die Frau in Heldenberg war also nicht die Letzte?«

»Vorgestern war ich mit Rechtswahrer Marnek in Tempelhöhe. Da hat man jemand mit ’nem Leuchter den Schädel eingeschlagen. Und es fehlte sein rechter kleiner Finger. Fein säuberlich abgeschnitten, wie mit einem Fleischermesser.«

»Und dann bist du zu der Isenbrook?«

»Da war ich schon im Rahja, nach der Geschichte aus’mMorgenstern. Ich bin erst zu Rechtswahrer Marnek, weil ich ihm ja zugeteilt war. Aber den hat es nicht interessiert. Und Ihre Gnaden und Exzellenz Isenbrook war auch nicht sonderlich beeindruckt. Nur der Marnek war so sauer, dass ich eine Woche Latrinendienst bekam, weil ich ›hinter seinem Rücken agiert habe‹. Deshalb hab’ ich dieses Mal den Mund gehalten. Aber die Mutter von dem Toten in Tempelhöhe, die ist zu der Isenbrook. Und die Frau Pulether hat sich nicht abwimmeln lassen.«

Bosko schwieg.

Da fügte Torm hinzu: »Die Pulether ist ’ne einflussreiche Frau. Sie weiß natürlich nichts von den anderen drei Toten. Aber die Isenbrook und der Marnek standen trotzdem ganz schön blöd da. Die Isenbrook hat sich an meine Geschichte erinnert und mich geholt. Dieses Mal hat sie besser zugehört.« Ein Hauch von Stolz schwang in Torms Stimme mit.

Ist etwas an der Sache dran?, überlegte Bosko. Läuft da jemand durch die Stadt, bringt Menschen um, und schneidet ihnen die Finger ab? Oder sind das nur Zufälle? Es kann in den vergangenen Monaten noch ein Dutzend Tote gegeben haben, denen ein Finger fehlt. Nur hat sie keiner gefunden. Oder Torm hat nichts davon gehört. Eine haltlose Theorie also, geboren im dicken Kopf des Gardisten? Halt! Jetzt mache ich es mir zu einfach. Torm hat sich das sicher gut überlegt, ehe er die Pferde scheu macht.

»Und jetzt sollst du die Sache richten?«, riss ihn Torm aus seinen Gedanken.

»Ja«, sagte Bosko. »Und du hilfst mir dabei.«

Das Haus von Jobdan Pulether in Tempelhöhe, um die Mittagszeit am selben Tag.

Jobdan Pulether lebte und starb in einem kleinen, gepflegten Stadthaus in einer Seitengasse am Ostmarkt. Geronius und Torm betraten es durch einen düsteren Windfang. Das dahinter liegende Zimmer nahm fast das gesamte Erdgeschoss ein. Das Licht der Mittagssonne wurde durch Vorhänge gedämpft und ließ die hellen Steinfliesen orangerot leuchten. Der große Tisch mitten im Raum wirkte ungewöhnlich hoch und massiv. Der Haustür gegenüber standen zwei schmale Betten. Den Wänden entlang reihten sich Schränke und Regale, ein verschlossener Sekretär und ein Tisch, auf dem Mörser und Tiegel bereitstanden.

»Jobdan Pulether war ein Heiler?«, fragte Geronius.

»Ein studierter Medicus, Rechtswahrer«, bestätigte Torm.

Eine Tür führte in einen kurzen Flur mit Treppenhaus. Dahinter lagen die Küche und die Vorratskammer, von der aus man in den Keller gelangte. Nach dem sich Geronius einen kurzen Überblick über das Erdgeschoss verschafft hatte, ging er zurück in das erste Zimmer. Der Boden bestand aus sauber gefugten Steinfliesen und schien erst kürzlich gewischt worden zu sein. Vermutlich hatten die Angehörigen die Spuren der grausigen Tat beseitigt. Das war ärgerlich, aber Geronius konnte sich alles noch von Torm beschreiben lassen, auf dessen Gedächtnis man sich verlassen konnte.

Geronius erwartete nicht, etwas Neues zu entdecken. Rechtswahrer Marneks Leute waren gründlich, da machte er sich keine Gedanken. Aber nur wer das Opfer kannte, lernte auch den Täter kennen.

Eine Vitrine zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter der Glastür reihten sich Phiolen, Flaschen und Tiegel. Er öffnete die Tür und nahm ein Glas heraus. Ein graugrünes Pulver war darin. Die Beschriftung war mit einer sauberen, kleinen Schrift ausgeführt.

»Rahjalieb-Tee«, sagte Geronius. Das kannte er. Er nahm eine dunkle Flasche, gerade mal so groß wie sein Daumen. »Olginsud?«, las er.

Torm meldete sich zu Wort: »Ein äußerst seltenes Heil- und Stärkungsmittel. Die Elixiere hier müssen ein Vermögen gekostet haben. Wenn es ein Dieb war ...«

»... wusste er nichts von ihrem Wert«, vervollständigte Geronius den Satz. »Auch ich hätte sie stehen lassen. Aber wir gehen ja nicht von einem Raubmord aus.«

»Die Tatsache, dass nichts gestohlen wurde, lässt darauf schließen, dass es sich nicht um einen Raubmord handelt«, ergänzte Torm.

»Richtig», sagte Geronius. »Das hat Linnert – Rechtswahrer Marnek – gesagt, nicht? Aber wissen wir überhaupt, ob nichts gestohlen wurde?« Er erwartete keine Antwort und stellte das Glas zurück.

Noch einmal schaute er sich um.

Es war zu dunkel.

Die Sonne stand jetzt im Zenit. Aber sobald sie nicht mehr direkt in die Gasse schien, konnte man sicher kaum die Hand vor den Augen sehen. Kein Medicus konnte so arbeiten, ob mit offenen oder zugezogenen Vorhängen.

An den Wänden waren mehrere Kerzenhalter, und über dem Tisch hing eine mehrflammige Öllampe, die über ein Seil herabgelassen werden konnte.

Das brachte ihn auf einen anderen Gedanken. Er ging die Regale entlang.

Auf einer Kommode fand er, was er suchte: drei hufeisenförmige Abdrücke, an denen das Holz dunkler war.

Er ging zu den Fenstern und zog die Vorhänge auf. Einige Passanten sahen ihn erschrocken an, als er im Fenster erschien. Was sie wohl dachten? Pulether war seit zwei Tagen tot. Es musste sich herumgesprochen haben. Als Mitarbeiter der Criminal-Cammer war er nicht als Teil der städtischen Ordnungsmacht zu erkennen. Was in den zwielichtigeren Gegenden Gareths durchaus seinen Vorteil hatte, konnte anderswo zum plötzlichen Auftauchen der Stadtgarde führen. Er winkte Torm zu sich, damit die Leute auch seine blaue Uniform sehen konnten, und ging zurück zu der Kommode.

»Hier hat er gestanden«, sagte er.

»Rechtswahrer?«

»Der Leuchter, mit dem man ihn erschlagen hat. Hier hat er gestanden. Vermutlich Jahre.« Wie zur Bestätigung fuhr er mit den Fingern über die Holzfläche und erwartete fast, die Abdrücke im Holz zu spüren. »Jobdan Pulether mochte keine Veränderungen. Komm mit!«

Sie gingen hinaus in den kleinen Flur und die Treppe hoch. Auch in diesem Stock lagen auf der Rückseite des Hauses zwei kleine Räume. Der eine war leer, im anderen stand ein Bett, ein kleiner Tisch und ein Schrank. Geronius dachte, es sei ein Gästezimmer, ehe er sah, dass der Schrank mit schlichter, aber gut gearbeiteter Kleidung gefüllt war.

»Pulether war nicht verheiratet?«, fragte Geronius.

»Nein.«

»Er lebte hier allein?«

»Ja.«

Das Ritual war vertraut. Sie hatten es schon unzählige Male durchgespielt. Geronius wollte sich ein eigenes Bild von der Angelegenheit machen. Und deshalb antwortete Torm nur auf die Frage, die gestellt wurde, und gab keine weitere Information preis.

»Er hatte eine Haushälterin.«

»Ja.«

»Sie wohnte aber nicht hier.«

»Ja.«

Das Wohnzimmer lag zur Straße hin und hatte wiederum eine beeindruckende Größe. Die Möbel waren alt, aber bestens gepflegt, alles war Ton in Ton aus dunkelrot glänzendem Holz, vermutlich Mahagoni. Ein üppig gemusterter ovaler Teppich bedeckte einen Teil des Dielenbodens.

»Wie alt war Pulether eigentlich?«, fragte er.

»Einundfünfzig«, sagte Torm.

Kaum älter als ich, dachte Geronius. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, im Zimmer eines Greises zu stehen. Alles ist sauber und ordentlich. Und jedes Möbelstück sieht so aus, als sei es seit Jahren nicht mehr verrückt worden. Genau wie der Leuchter unten.

Er stöberte in den Schränken und Kommoden. Was er entdeckte, barg keine Überraschungen, im Gegenteil. Immer mehr bestätigte sich das Bild eines traditionsverhafteten, langweiligen Gelehrten. Er lebte in Wohlstand, protzte aber nicht damit. Geronius fand auch keine Anzeichen für heimliche Laster und Ausschweifungen.

Ein Detail auf dem Teppich störte seine Überlegung.

Er ging in die Knie und betrachtete es genauer. Was er zunächst für einen Teil des Musters gehalten hatte, erwies sich als eine Reihe dunkler Flecken. Sie waren trocken und hinterließen rostbraune Spuren an seinen Fingern, als er darüber fuhr.

»Der Pulether ist hier oben erschlagen worden?«, fragte er überrascht.

»Jawohl, Rechtswahrer.«

»Das hast du mir nicht gesagt.«

»Nein.«

»Das ist merkwürdig«, sagte er und sah Torm an.

»Du hast mich nicht gefragt«, sagte dieser.

»Nein, nicht das. – Etwas anderes ist merkwürdig.«

Torm schwieg.

Sie gingen wieder nach unten. Geronius betrachtete noch einmal die dunklen Spuren, dort, wo der Leuchter gestanden hatte. »Merkwürdig«, sagte er noch einmal, und bedauerte, dass Torm nicht die gewünschte Frage aussprach: ›Was ist merkwürdig?‹

Der Keller brachte keine neuen Erkenntnisse. In dem angenehm kühlen Gewölbe lagerten einige Lebensmittel. Zwei Fässchen mit Wein ließen immerhin darauf schließen, dass Pulether zwar langweilig, aber kein Asket gewesen war.

Im Hinausgehen betrachtete Geronius noch einmal den großen Tisch in Pulethers Arbeitszimmer. Seine Hand glitt über die Platte. Sie war glatt und sauber. Er kniete sich hin und spähte schräg über die Fläche.

»Der Tisch ist so alt, wie alles hier«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Aber die Platte ist entweder abgeschliffen worden, oder der Herr Medicus hat in der Hauptsache Dumpfschädel behandelt. Ich sehe keine Kratzer und Flecken.«

»Meister Pulether hatte nicht den besten Ruf«, sagte Torm.

»Nicht?«

»Als wir vorgestern hier waren, habe ich mit den Nachbarn gesprochen.«

»Und was sagen die Nachbarn?«

Torm schwieg eine Weile.

Dann schloss er die Augen, räusperte sich und sagte: »›Wenn einer fragt, dann hab ich’s nicht gesagt, aber der Pulether war ein Stümper.‹ oder ›Nichtmal als Feldscher hätte der was getaugt.‹, ›Der Mann war ein Träumer. Wer gesund bleiben wollte, der ist zu einem anderen Medicus.‹, ›Wen der Jobdan in den Fingern hatte, der konnte sich anschließend nicht mehr über den Pfusch beklagen.‹, ›Der Pulether hatte das Herz am rechten Fleck. Aber er hatte auch zwei linke Hände.‹, ›Was ihm Mutter Peraine versagt hat, das hat auch Mutter Pulethers Geld nicht alles wettgemacht.‹« Torm öffnete die Augen. »So was, in der Art, reden die Leute.«

»Na, dann hat die Sache doch etwas Gutes. Immerhin sorgt Mutter Pulethers Geld und Einfluss dafür, dass sich jemand auch für die drei anderen Toten interessiert. Vielleicht sollten wir mal mit ihr reden.«

Anwesen der Familie Pulether, Tempelhöhe, etwas später.

Die Familie Pulether besaß keinen Adelstitel, sie führte keine Regimenter, und ihr Name zierte kein Handelskontor. Aber in jedem bedeutenden Tempel Gareths fand sich ein Familienmitglied. Offiziere der Stadtwache trugen den Namen. Und sollte man – mochten einen die Götter davor bewahren – vor das Alt-Garether Friedensgericht zitiert werden, so konnte es geschehen, dass man vor dem ehrenwerten Richter Radulf Pulether Rechenschaft abzulegen hatte. Die Pulethers besetzten Ämter in der städtischen Verwaltung und am Kaiserhof. Dem Hause Gareth standen sie seit Generationen treu zur Seite, und das Kaiserhaus vergalt die Treue. Immer standen sie in der zweiten oder dritten Reihe, aber nie fehlten sie dort. Heute waren die Pulethers wohlhabender und einflussreicher, als so manche Familie des Stadtadels. Kaum einer wusste es. Aber so gefiel es ihnen.

Geronius Bosko nannte die Pulethers ›Lakaien in Lackschuhen‹. Für ihn waren sie Knechte, in Knechtschaft fett geworden, und auch noch stolz darauf.

Er kannte nur Verachtung für sie.

Als die Matriarchin der Familie Pulether Geronius in der Halle ihres Anwesens empfing, wurde diese Verachtung auf eine harte Probe gestellt. Ihr Kleid war schwarz, ein Trauerkleid nach alter Vinsalter Mode und recht offenherzig geschnitten. Jedoch schien der Leib, den es verhüllte, Boron soeben noch entwischt zu sein. Und als die alte Frau ihm »Mein Junge ist tot!« entgegengreinte, da kam in Bosko der Verdacht auf, dass allein diese Stimme Golgari, den göttlichen Raben, der ihre Seele über das Nirgendmeer hätte tragen sollen, in die Flucht geschlagen hatte.

»Mein Junge ist tot«, klagte die alte Frau noch einmal. »Ich will wissen, wer schuld daran ist!«

MeinJunge?, dachte Bosko. Jobdan Pulether war bei seinem Ableben über fünfzig gewesen. Aber der Sohn blieb wohl auf ewig ›mein Junge‹.

Die Alte war jetzt heran.

»Mein Jobdan ...«, begann sie noch einmal.

Hätte sie geheult und geschrien, wäre Geronius damit fertig geworden. Aber das gurgelnde Geräusch, mit dem ihre Stimme brach, die winzige Träne, die sich aus dem Augenwinkel stahl, und ganz besonders das Zittern ihrer Oberlippe, das die ganze Beherrschung dieser stolzen, alten und fürchterlich schlecht gekleideten Frau zeigte, das war zu viel für Bosko.

»Es tut mir leid«, sagte er. Und er meinte es auch.

Geronius Bosko hatte Mitleid mit dem Feind. Wenn sich das herumsprach, war sein Ruf ruiniert.

»Es tut mir leid, gnädige Frau«, begann er noch einmal. »Aber ich muss Euch einige Fragen stellen.«

Die Pulether nickte.

Bosko öffnete den Mund – und stockte. Diese Frau hatte ihn mit ihrem Auftritt völlig aus dem Konzept gebracht. Kaum einen halben Tag mit der Angelegenheit betraut, wusste er wenig über Jobdan Pulether und dessen verfrühtes Ableben und überhaupt nichts über die anderen Opfer.

Er versuchte es mit einer Floskel: »Gibt es jemanden, der Eurem Sohn Übles wollte? Der ihm nach dem Leben trachtete?«

Die Trauer wich aus dem Gesicht der Alten. Obwohl die Frau fast zwei Köpfe kleiner war als Bosko, schaffte sie es, ihn von oben herab anzusehen. »Natürlich gab es den!«, sagte sie. »Sonst wäre er jetzt nicht tot. Oder was meint ihr? Aber – bevor ihr mich das auch noch fragt: Ich weiß nicht, wer es war. Das herauszufinden, ist Eure Aufgabe.«

»Euer Sohn war ein Heiler, er ...«

»Er war ein Medicus, Kerl!«, schnappte sie. »Ein studierter Medicus. Er hat den Leuten geholfen. Und so dankt man es ihm.«

»Aber könnte es nicht sein, dass einer seiner Patienten ...«

»Wollt ihr ihn jetzt auch noch schlechtmachen? Kennt ihr keinen Respekt vor den Toten?«

Wunderbar, dachte Bosko. Innerhalb von drei Sätzen habe ich es mir bei dieser Frau verscherzt.

Er versuchte es mit einem Themawechsel. »Kannte Euer Sohn vielleicht eine Frau aus Heldenberg, eine Frau namens ... Torm? Wie hieß sie gleich noch?«

»Wir haben den Namen des Heldenbergopfers bislang nicht herausfinden können, Rechtswahrer.«

Und jetzt habe ich öffentlich bekannt gegeben, dass ich keine Ahnung habe.

Der empörte Blick, der ihn traf, offenbarte, dass auch die Pulether das so sah.

»Aber wir haben andere Namen«, half ihm Torm aus der Verlegenheit. »Anjun Winkelhauser, ein Privatgelehrter, etwa im Alter Eures Sohnes, gnädige Frau. Und Perdia Maurenbrecher, eine Perainegeweihte, Mitte vierzig.«

»Genau«, improvisierte Geronius. »Diese beiden würden doch gut in den Bekanntenkreis Eures Sohnes passen. Hat er die Namen jemals erwähnt. Oder habt ihr sie vielleicht selbst einmal kennengelernt. Torm kann Euch sicher eine genauere Beschreibung geben.«

»Torm kann es mir sicher sagen«, wiederholte die Pulether leise. »Dieser Halbork in Eurem Gefolge hat wenigstens seine Arbeit gemacht. Im Gegensatz zu Euch, Rechtswahrer Bosko. Aber ich muss Euch enttäuschen. Jobdan ist zwar mein Sohn, aber ich habe mich in sein Privatleben nicht eingemischt. Vielleicht war das nicht richtig. Nein, die Namen sagen mir nichts. Warum fragt ihr sie nicht selbst? Moment einmal, soll das heißen ...«

Sie senkte den Blick, atmete hörbar ein und aus. »Ihr könnt sie nicht mehr fragen, nicht wahr? Sie sind tot. Sie sind genau so tot wie mein Sohn.«

Die Pulether drehte Geronius den Rücken zu und machte sich daran, den Salon zu verlassen. »Ein Gelehrter und eine Geweihte also«, sagte sie, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. »Und eine unbekannte Dritte. Jemand geht in der Stadt um und tötet ehrenwerte Leute. Ihr habt es gewusst, und habt nichts dagegen unternommen. Nein. Gar nichts. Ihr seht sogar zu, wie mein Jobdan umgebracht wird.«

Es war offensichtlich, dass für die Dame des Hauses das Gespräch beendet war.

»Verdammt!« Bosko trat nach einem Stein, der sich als Teil des Straßenpflasters entpuppte.

Der Schmerz tat gut.

»Verdammt, verdammt, verdammt! Was bin ich bloß für ein Hornochse!«, rief er und humpelte ein paar Schritte.

»Warum hast du mich nicht aufgehalten«, fuhr er Torm an, der hinter ihm ging.

Torm senkte den Blick.

»Nein!«, sagte Geronius hastig. »Du kannst nichts dafür. Ich hätte niemals blindlings zu dieser Pulether marschieren dürfen.«

»Ich hätte dich aufhalten müssen«, sagte Torm.

»Hättest du nicht.«

»Jawohl!«

Jetzt verscherzte er es sich auch noch mit Torm! Der konnte am allerwenigsten dafür. Er blieb stehen und wandte sich dem Gardisten zu: »Ich bin hier der Einzige, der Mist gebaut hat. Die Isenbrook reißt mir den Kopf ab, wenn sie die Sache mit der Pulether mitbekommt. Wenn ich ihr das nächste Mal unter die Augen trete, muss ich etwas vorweisen können. Sonst bin ich den Fall ganz schnell wieder los. Also ganz von vorne: Wir haben vier Tote. Jedem wurde ein Finger abgeschnitten. Jedem ein anderer. Und es waren gebildete Leute, oder so etwas Ähnliches. Eine Geweihte, ein Privatgelehrter und ein Medicus. Passt die Frau aus Heldenberg dazu? Die ohne Namen. Dann könnte die alte Pulether sogar recht haben, und jemand hat es auf Gebildete, Gelehrte oder Höherstehende abgesehen.«

Sie setzten ihren Weg fort.

Geronius ging gerne durch Tempelhöhe. So manche Straße war hier gesäumt von Bäumen und Hecken, hinter denen sich alte Villen verbargen. Viele standen dort seit der Rohalszeit, andere waren deren Stil nachempfunden, mit Türmchen und Erkern, Ornamenten und Spruchbalken in verschnörkeltem Bosparano an der Front. Kleine Parks gab es, mit lichten Wäldchen, Brunnen und Bänken. Und auf der Kuppe des Hügels lag der weitläufige Rahjapark, der die Halle der Ekstase umgab. Von dort oben konnte man die ganze Stadt überblicken.

Geronius mochte das Viertel, auch wenn er die Menschen, die hier lebten, nicht wirklich verstand: die Gelehrten und die Künstler, und so manche, die sich dafür hielten. Nur langsam drängten die Reichen und Neureichen in das Viertel, um den Hauch der Leichtigkeit zu atmen und zugleich die Luft mit ihrer Penetranz zu verpesten. Geronius war gerne in Tempelhöhe, aber heute erreichte die heitere Gelassenheit seine Seele nicht.

Sie waren schon wieder in Nardesheim, als Torm sagte: »Die Frau in Heldenberg, ich habe sie mir angesehen.»

Geronius war überrascht.

»Ich dachte, ich mach das, bevor sie auf den Boronanger kommt.«

Was machte Torm eigentlich außerhalb seiner Dienstzeit?, fragte sich Bosko. Außer sich Leichen ansehen. Und sich Gedanken machen, über Fälle, die es offiziell nicht gibt.

»Sie war Mitte dreißig«, sagte Torm, »etwa achteinhalb Spann groß und schlank. Hellbraunes Haar. Gesicht und Arme waren gebräunt, die Hände rau, einige Schwielen. Sie hat hart gearbeitet. Sie könnte eine Handwerkerin gewesen sein. Sie trug ein schlichtes Kleid mit Schürze. Keine Schuhe. Also eher eine Magd. Ihr Bein war einmal gebrochen und ist dann schlecht geschient worden. Sie muss ein wenig gehumpelt haben. Nein, ich glaube nicht, dass sie zu den anderen gepasst hat.«

»Unser Mörder ist also kein Gelehrtenhasser?«

»Der Meister Winkelhauser hatte schon bessere Tage gesehen. Schlug sich als Schreiber im Arenaviertel durch.«

»Der Winkelhauser war der Erste, hast du gesagt. Im Arenaviertel. Dann war die Geweihte dran. Der Perainetempel ist im Schlossviertel. Unsere namenlose Magd fand man in Heldenberg. Und der Pulether lebte in Tempelhöhe. Da geht jemand einen weiten Weg, um Finger abzuschneiden. Könnte es sein, dass da ein Schema zu erkennen ist?«

»Ehrwürden Maurenbrecher leitete ein Siechenhaus in Sonnengrund«, wandte Torm ein. »Da ist sie auch gefunden worden.«

»Hm«, murmelte Bosko. Es war sicher ehrenhaft, ein Siechenhaus im elendsten Viertel Gareths zu führen, aber ...

»... unser Mörder sucht seine Opfer wohl doch nicht in der besseren Gesellschaft«, vollendete er den Gedanken laut. »Eine Magd, die keiner vermisst, und ein heruntergekommener Schreiberling. Wie passt da der Pulether wieder rein?«

Geronius kam nicht weiter. In seiner Begeisterung über den verzwickten Fall hatte er das Pferd von hinten aufgezäumt. Die Untersuchung von Jobdan Pulethers Haus war richtig gewesen, er hatte etwas entdeckt, das Marnek nicht gesehen oder dem er keine Bedeutung beigemessen hatte. Aber war das ein Grund, übermütig zu werden und schnurstracks dieser Vettel in die Arme zu laufen?

Er musste sich besser vorbereiten, er musste die anderen Toten kennenlernen, so wie er es von vornherein hätte machen sollen. Und er brauchte mehr Leute. Torm war ein guter Zuhörer, und er zog die richtigen Schlüsse. Aber er brauchte noch jemanden, der nicht zimperlich war und den Leuten auf die Füße treten konnte.

»Wir gehen jetzt zurück in den Hof. Und dann dröseln wir die Sache ganz von vorne auf.«

Tobrischer Hof, an diesem Abend.

Linnert Marnek hatte sich hochgearbeitet. Innerhalb eines Jahrzehnts war aus dem ehemaligen Gardisten der Stadtwache der Rechtswahrer und Leiter des fünften Amtes der Criminal- Cammer geworden. Er war fünfunddreißig, hatte allen Grund stolz zu sein, und er genoss es, Geronius Bosko vorzuhalten, dass er es jetzt schon so weit gebracht hatte wie der Ältere. Und noch viel weiter bringen würde!

Bosko! Dieses Furunkel am Arsch der Criminal-Cammer! Es war nicht schwer gewesen, etwas über den Kerl herauszufinden: Bosko hatte es in der Stadtwache bis zum Hauptmann gebracht und dann vergessen, wem sein Treueschwur galt. Statt sich um die Belange seiner Vorgesetzten zu kümmern, hatte er sich lieber mit den Gardisten herumgetrieben. Einer unehrenhaften Entlassung war er vor zwanzig Jahren durch die Flucht zur Criminal-Cammer zuvorgekommen. Und hier hatte man ihm irgendwann das verwaiste sechste Amt zugeschoben. Ein Zweipersonenamt, bestehend aus einem alternden Hauptmann mit mürrischer Miene und losem Mundwerk und seiner Amtsschreiberin, einem Faktotum, das vermutlich erst von Golgari persönlich von ihrem Schreibtisch weggebracht werden konnte.

Umso mehr ärgerte es Linnert, dass Bosko außerhalb der Hierarchie der Cammer zu stehen schien. Da er alleine kaum etwas ausrichten konnte, rekrutierte er unter den Gardisten und Inspectoren wie ihm beliebte und wie er es gerade für richtig hielt. Die Isenbrook und die Rechtswahrer der anderen Ämter schien das nicht zu stören. Im Gegenteil. Bosko bekam meist die Fälle, die die anderen sowieso nicht haben wollten. Außerdem war Bosko – wenn er es sich leisten konnte – so großzügig und hilfsbereit, dass Linnert Marnek schlicht kotzen wollte.

Ihm ging es ums Prinzip.

Normalerweise.

Dieses Mal ging es auch noch um etwas anderes.

Bosko schnüffelte in einem Fall herum, der ihm gehörte.

Dieses Mal ging es auch um die Ehre.

Und jetzt marschierte Bosko in die Cammer, den Gierschlund im Schlepptau. Der Schlunder! So blöd, wie er fett war. Im Augenblick gehörte er ihm!

»Geronius, warte!«, rief Linnert, da Bosko schon in dem Flur zu Isenbrooks Büro verschwinden wollte.

»Oh! Hallo Linnert. Alles in Ordnung?« Bosko lächelte unverbindlich.

»Gehst du zu der Isenbrook?«

»Mm«, nickte Bosko.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Würde es etwas ändern, wenn dem so wäre?«

»Nein.«

Bosko machte sich wieder auf den Weg.

Linnert folgte ihm.

»Torm, du kannst jetzt Pause machen. Ich sag bescheid, wenn ich dich brauche«, sagte Bosko.

»Schlunder, du gehst in mein Büro. Ich habe Arbeit für dich«, sagte Linnert.

»Linnert, ich brauche Torm.«

»Wenn du ihn brauchst, kannst du ihn zu Hause treffen. Torm gehört mir.«

»Torm gehört zur Garde. Jedes Amt kann ihn einsetzten.«

»Aber gerade setze ich ihn ein. Bilde dir nichts darauf ein, dass die Isenbrook einen Narren an dir gefressen hat! Was treibt ihr denn in ihrem Büro, wenn ihr alleine seid?«

»Das kannst du sie auch selbst fragen.«

»Was kann Rechtswahrer Marnek mich selbst fragen?«

Die Isenbrook war so lautlos wie unvermittelt in der Tür aufgetaucht.

»Kommt rein. Alle drei«, sagte sie.

Im Büro von Gerhalla Isenbrook, gleich anschließend.

Die Abneigung war gegenseitig.

Linnert und Geronius standen vor Gerhalla Isenbrooks Schreibtisch, so weit auseinander, wie es eben ging, ohne dass es lächerlich wirkte. Torm hatte sich an der Tür platziert, ebenfalls darauf bedacht, keinem der Männer näher zu stehen als dem anderen.

Wortlose Diplomatie, dachte Geronius.

»Also, was kann Rechtswahrer Marnek mich selbst fragen, Geronius?«, wollte die Isenbrook wissen.

Geronius Blick ging von seiner Vorgesetzten zu Linnert und zurück. Die Verlockung war da, ›Er möchte gerne wissen, was wir in deinem Büro so alles treiben. Er ist nämlich der Überzeugung, dass ich nur deshalb hier bin, weil du einen Narren an mir gefressen hast‹, zu sagen. Es wäre zu schön, das Gesicht der beiden zu sehen. Und noch schöner, zu erleben, wie Gerhalla Linnert zur Schnecke machte. Aber er zögerte. Er hatte oft genug am eigenen Leib erfahren, welche Konsequenzen unbedacht ausgesprochene Worte nach sich zogen. Gerhalla hatte trotzdem zu ihm gestanden. Hatte sie vielleicht tatsächlich ›einen Narren an ihm gefressen‹?

»Rechtswahrer Marnek hat sich beklagt, dass ich Torm für den Fall Pulether einsetze«, sagte er stattdessen. »Und er wollte wissen, ob das denn seine Richtigkeit hat. Er meint, er braucht Torm selbst.« Das war zwar falsch, aber nicht gelogen.

Linnert sah ihn überrascht an. Jetzt hatte Bosko etwas gut bei ihm, und beide würden es nicht vergessen. Für Linnert war es vermutlich sogar unangenehmer, in Geronius’ Schuld zu stehen, als von der Isenbrook heruntergeputzt zu werden.

»Und wofür benötigt Rechtswahrer Marnek den Schlunder so dringend?«

»Das muss er dir jetzt wirklich selbst sagen, Euer Gnaden und Exzellenz.« Geronius würde seine Vorgesetzte nie vor Dritten mit den Vornamen anreden, aber er wusste, dass der vertraute Ton, den sie anschlugen, Linnert schlicht wahnsinnig machte.

Gerhalla wandte sich Marnek zu. »Nun?«, sagte sie. »Was habt Ihr dazu zu sagen?«

»Der Fall gehört dem Fünften«, stieß Marnek hervor. »Warum habt Ihr ihn ihm gegeben, Euer Gnaden und Exzellenz?«

»Welcher Fall gehört dem fünften Amt? Ihr wart mit der Aufklärung des Todes der Geweihten in Sonnengrund betraut. Und mit dem Fall Pulether. Rechtswahrer Bosko kümmert sich um die Sache mit den fehlenden Fingern.«

»Aber es konnte doch keiner ahnen, dass diese Toten miteinander zu tun haben. Zwei der Fälle sind nie der Cammer angetragen worden.«

»Einer hat die Zusammenhänge schon im letzten Monat bemerkt.« Gerhalla Isenbrook hob den Blick und wandte sich an Torm, der noch immer still an der Tür stand: »Torm Schlunder!«

»Jawohl, Euer Gnaden und Exzellenz?«

»Vortreten!«

Torm schaffte es, exakt zwischen Geronius und Linnert zu stehen zu kommen.

»Gardist Schlunder. Ich werde das nicht vergessen. Wie lange dienst du schon der Cammer?«

»Fast sechs Jahre, Euer Gnaden und Exzellenz.«

»Aber du gehörst noch immer zur Stadtgarde?«

»Jawohl, Euer Gnaden und Exzellenz.«

»Hättest du denn gerne einen festen Platz in der Criminal- Cammer? Als Inspector?«

»Jawohl, Euer Gnaden und Exzellenz!«

»Leute wie dich können wir brauchen. Aber du weißt sicher, dass es dauern kann.«

»Jawohl, Euer ...«

»Du kannst jetzt gehen. Warte draußen auf Geronius.«

»Jawohl, Eu ...«

»Weggetreten!«

Geronius hatte das einseitige Gespräch mit Vergnügen verfolgt. Gerhalla Isenbrook bekleidete zwar keinen militärischen Rang, sie war Geweihte des Nandus, aber den Kasernenhofton beherrschte sie trotzdem.

Sobald Torm die Türe hinter sich geschlossen hatte, setzte Linnert an: »Jetzt hat er den Fall und Schlunder! Das geht nicht ...«

»Rechtswahrer Marnek! Was hier geht und was nicht, entscheide ganz alleine ich. Wenn wir nicht blind und taub gewesen wären, dann wäre dieser Fall vielleicht schon gelöst. Dann gäbe es vielleicht keinen toten Pulether. Ich habe Rechtswahrer Bosko mit dem Fall betraut, weil ich ihn für den geeigneten Mann halte, Rechtswahrer Marnek. Hegt Ihr irgendwelche Zweifel an meiner Entscheidung?«

»Nein, Euer Gnaden und Exzellenz.«

»Das freut mich zu hören. Ich erwarte Eure Kooperation. Ihr setzt Bosko umgehend in Kenntnis, was ihr in den Fällen Ihrer Gnaden Maurenbrecher und Meister Pulether herausgefunden habt. Ist das klar?«

»Jawohl, Euer Gnaden und Exzellenz.«

»Gut.«

Die Isenbrook wandte sich Geronius zu, der Mühe hatte, nicht vor Schadenfreude zu platzen. »Gibt es schon etwas Neues, Geronius?«

»Ich war bislang nur in Jobdan Pulethers Haus. Linnerts Leute haben es gründlich untersucht. Es gibt nur eine Kleinigkeit, die mir aufgefallen ist: Pulether wurde im oberen Stock erschlagen. Der Leuchter hat jedoch ursprünglich im Erdgeschoss gestanden. Der Täter muss ihn nach oben genommen haben. Woraus ich schließe, dass der Täter nicht in Tötungsabsicht ins Haus gekommen ist, als er jedoch nach oben gegangen ist, mit Vorsatz gehandelt hat.«

»Und woraus schließt du, dass Pulether den Leuchter nicht selbst nach oben genommen hat?«, fragte Gerhalla.

»Pulether war ein Pedant. Alles in dem Haus muss schon seit Jahren an der gleichen Stelle gestanden haben. Man konnte die abgedunkelten Spuren des Leuchterfußes auf einer Anrichte im Erdgeschoss erkennen. Er ist jahrelang höchstens beim Staubwischen bewegt worden.«

»Und woher willst du wissen, dass es genau dieser Leuchter war? Du hast ihn doch nie gesehen. Er ist in der Asservatenkammer«, mischte sich Linnert ein.

»Sollen wir ihn holen?«, fragte Geronius provozierend.

»Was macht dich so sicher?«, fragte Gerhalla Isenbrook.

»Ich vertraue Torms Augen und Verstand«, sagte Geronius.

Linnert Marnek machte ein Gesicht, als hätte Geronius gestanden, er sei ein Dummkopf.

»Seht ihr, Rechtswahrer Marnek«, sagte Gerhalla Isenbrook. »Deshalb hat Bosko den Fall. Habt Ihr die Sache mit dem Leuchter auch bemerkt?«

Marnek schüttelte den Kopf und senkte den Blick.

»Was sind deine nächsten Schritte?«, wandte sich Gerhalla Isenbrook wieder an Geronius.

»Ich werde die anderen Tatorte aufsuchen. Ich muss mir ein Bild von allem machen. Morgen früh gehe ich mit Torm ins Arenaviertel und spreche mit den Leuten, die diesen Schreiber gekannt haben. Wie Linnert schon richtig angemerkt hat, wurde der Tod von Anjun Winkelhauser nicht von der Cammer untersucht.«

»Nein«, bestätigte die Isenbrook. »Die Stadtwache war vor Ort, hat der Angelegenheit aber keine größere Bedeutung beigemessen. Beim Tod der Geweihten in Sonnengrund wurde von der Priesterschaft angefragt, ob wir uns diesem Fall widmen könnten, was wir natürlich taten. Rechtswahrer Marnek war auch mit diesem Fall betraut.« Sie nickte Marnek zu, fuhr jedoch fort, ehe dieser zu einer Erklärung ansetzen konnte. »Die Tote in Heldenberg entging wiederum unserer Aufmerksamkeit. Außer der von Schlunder, natürlich. Ich muss zugeben, dass ich der Sache eine größere Beachtung hätte schenken müssen. Erst als bei dem Pulether Fall Rechtswahrer Marnek den abgeschnittenen Finger erwähnte, erinnerte ich mich wieder an das, was Torm erzählt hat. Aber da war es schon zu spät. Die Alte Pulether macht uns die Niederhöllen heiß. Wenn sie erfährt, dass ihr Sohn schon das vierte Opfer eines Serienmörders ist, dann gute Nacht. Du weißt, dass die Pulethers großen Einfluss besitzen?«

Geronius nickte. Der brennende Kloß in seinem Magen wuchs zu stattlicher Größe heran.

»Dann verrate ich dir auch, dass mit der Matriarchin nicht gut Kirschen essen ist. Sei dieses eine Mal behutsam, und wäge jedes Wort zwei Mal ab, wenn du zu ihr gehst. Was du zweifellos tun musst.«

Geronius hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden.

Gerhalla Isenbrook war eine kluge Frau, sie konnte gut beobachten, mindestens so gut wie Geronius oder Torm. Und sie kannte ihn sehr gut. Ihre Miene verfinsterte sich.

Es folgte eine unangenehme Stille.

»Geronius«, sagte sie endlich – und so ruhig und unverbindlich wie immer, »ich möchte über jeden deiner Schritte informiert werden. Gibt es sonst noch etwas?«

»Torm allein reicht nicht«, sagte Geronius. »Er hört zu, er sieht hin, und er zieht die richtigen Schlüsse. Aber wir müssen das Leben von vier Menschen kennenlernen. Von einem kennen wir nicht einmal den Namen. Ich brauche jemanden, der mit den Leuten reden kann, der die richtigen Fragen stellt. Jemanden, der auch einmal nicht zimperlich sein kann.«

»Bist du nicht selbst der richtige Mann dafür?«

»Du weißt, was ich meine.«

»An wen hast du gedacht?«

»Ich dachte an Maline Harnischmacher.« Maline war nicht nur schlagfertig, sie war auch noch hübsch. Bei männlichen Opponenten ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

»Maline arbeitet für das erste Amt«, warf Marnek ein. »Und ich habe gehört, dass sie bei den Almadanern gerade an einer ganz dicken Sache dran sind.«

Davon hatte Bosko auch gehört. Aber da die Hauptfrau den Kampf gegen die Bande der Almadaner als eine persönliche Angelegenheit betrachtete, war es auch für einen Rechtswahrer unklug, Gerüchte über das Erste Amt zu verbreiten. Gerhalla Isenbrook sah das genau so.

»Ich weiß nicht, was Ihr gehört habt, aber Inspectorin Harnischmacher ist unabkömmlich.«

Linnerts Miene erhellte sich.

»Du kannst Hane Rothenborn haben«, sagte da die Isenbrook.

Linnerts Züge erstarrten. »Hane ist jetzt aber wirklich mein Mann!«, rief er. »Er ist mein bester Inspector. Ihr könnt ihn mir nicht auch noch wegnehmen!«

»Inspector Rothenborn ist mit den Fällen Maurenbrecher und Pulether vertraut. Was liegt näher, als ihn zu nehmen. Seht es als persönlichen Ansporn, Rechtswahrer Marnek. Je schneller Geronius den Fall löst, desto schneller bekommt Ihr Euren besten Mann zurück. Oder was meinst du, Geronius.«

Der war so erfreut über die Schmähung Marneks, wie er entsetzt war, Hane am Hals zu haben. »Hane? Der ist ein Schwätzer«, sagte er. »Außerdem macht er sich gerne über Torm lustig. Es ist nicht gerade hilfreich, wenn sich die beiden ...«

»Und? Kann sich der Schlunder nicht wehren? Oder braucht er ein Kindermädchen? Rothenborn kennt zwei der Fälle. Er kann reden. Und er ist nicht zimperlich. So jemanden wolltest du doch?«

»Ja. Aber ...«

»Schlunder und Rothenborn!«

Geronius wusste es: Das war die Strafe dafür, dass er bei der Pulether gepatzt hatte. Er musste froh sein, dass sie ihn nicht vor Linnert einem Kopf kürzer gemacht hatte.

»Jawohl«, sagte er kleinlaut. »Jawohl, Euer Gnaden und Exzellenz.«

»Gut. Dann ist alles geklärt. Ihr könnt jetzt gehen.» Gerhalla Isenbrook erhob sich.

Die beiden Rechtswahrer gingen zur Tür. Linnerts Miene war unergründlich. Geronius vermutete, dass es ihm wie ihm selbst erging. Sollte er sich am Leid des anderen erfreuen oder die eigenen Wunden lecken?

»Auf ein Wort noch, Geronius«, sagte Isenbrook.

Er wandte sich um. Seine Vorgesetzte hatte die Hände auf den Schreibtisch gestützt.

Auch Linnert war geblieben.

»Rechtswahrer Marnek, ich danke Ihnen.«

Linnert verneigte sich und verließ mit mürrischer Mine den Raum.

Als die Tür zu war, winkte Gerhalla Isenbrook Bosko zu sich her.

»Du hast es versaut, mit der alten Pulether«, sagte sie so leise, dass es ein Lauscher an der Tür nicht hören konnte.

Geronius senkte den Blick. Er wollte erklären, wie es dazu gekommen war, aber seine Vorgesetzte hob die Hand und unterband jede Erwiderung.

»Wird sie hier erscheinen?«, fragte sie.

Geronius zuckte mit den Achseln.

»Schlunder und Rothenborn. Und ich möchte Ergebnisse sehen, ist das klar?«

Geronius nickte.

»Du weißt, dass du damit gut davonkommst?«

Was sollte er sagen? Geronius nickte noch einmal.

In den Straßen des Arenaviertels, am Morgen des 9. Praios.

Das Arenaviertel galt als das Armenhaus Alt-Gareths. Es war nicht so heruntergekommen wie das Südquartier oder Meilersgrund, aber die lagen außerhalb der Stadtmauer, und im Gegensatz zu den anderen Bezirken innerhalb des schützenden Rings waren hier die Spuren der Zeit, als das Feuer vom Himmel fiel, noch deutlich zu sehen. Jenseits der Hauptstraßen und großen Plätze waren die Villen und Bürgerhäuser zu Mietskasernen verkommen. Auf den ausgebrannten Fundamenten einer vergangenen Zeit thronten Holzhütten, errichtet aus Abfällen und Hoffnungslosigkeit. Vertriebene aus den Schwarzen Landen hausten zusammen mit den Landflüchtigen und gefallenen Glücksrittern in den Trümmern des alten Hippodroms. Im Laufe der Zeit hatten sie die Arena in ein bizarres Konstrukt aus Bruchsteinmauern, Bretterverschlägen und Zeltplanen verwandelt. Als Tagelöhner, Diebe und Bettler lebten sie auf der Praios Angesicht zugewandten Seite dieses Monstrums. Aber in dessen Eingeweide stieg nicht einmal die Stadtgarde. Es hieß, dass die Gespenster, die dort umgingen, noch das Harmloseste waren, das den Glücklosen erwartete.

Im Gegensatz zum Hippodrom war das Immanstadion wieder seinem ursprünglichen Zweck zugeführt worden. Wenn die ›Rebellen von Gareth‹ spielten, hielt der Anblick des Elends nicht einmal die Bewohner der besseren Viertel von einem Besuch ab.

Das Stadion ließen Geronius und Torm links liegen, und sofort wurde die Straßen wieder schlechter. Menschen lungerten in düsteren Durchgängen und beobachteten misstrauisch jeden Schritt der Passanten.

»Und du weißt, wo wir hin müssen?«, fragte Geronius.

»Da vorne müsste es sein«, sagte Torm.

Sie gingen auf eine Kreuzung zu. Händler mit Kiepen und Handkarren boten ihre Waren feil. Schmutzige Kinder spielten im Schatten der bröckelnden Fassaden. Zielsicher bog Torm wieder ab. Im Staub der Straße konnte man Teile des ehemaligen Pflasters sehen, den Rest hatten die Anwohner vermutlich für Ausbesserungen an den Häusern verwendet. Immerhin gab es einige Geschäfte und Handwerker. Ein Kesselflicker ging unter einem ausgebleichten Ladenschild seinem Gewerbe nach. Es lohnte sich nicht, teure Kerzen oder Lampenöl zu verschwenden, wenn die Sonne umsonst schien. Ein Altkleiderhändler bot seine Ware dösend in einem Stuhl vor dem Laden an. Als sich Geronius und Torm näherten, verschwand ein etwa zehnjähriges Mädchen eilig von der Auslage. Geronius lächelte traurig, er ließ eine Hand über die Waren des Händlers gleiten. Die Sachen waren alt und geflickt, aber sauber und von guter Qualität. Lohnte es sich, dafür die Freiheit oder eine Hand zu riskieren?

»Wir sind da«, sagte Torm.

Das Haus war schmal und neigte sich über die Straße, als wolle es sich aus der Umklammerung der Nachbargebäude befreien. Zwei spitze Gauben ragten aus dem Dach. Eine niedrige Tür führte in einen düsteren Tunnel, der nach fünfzehn Schritt in den Hinterhof mündete. Die Luft roch abgestanden, nach Essensresten und menschlichen Ausdünstungen. Sie gingen die Treppe hoch. Nach vier Stockwerken standen sie an einer steilen Holzstiege, die zu einer Dachluke führte. Geronius stieg hoch und klopfte.

Niemand öffnete.

Er drückte gegen die Luke, und diese sprang auf.

Der Dachboden war durch Bretterwände aufgeteilt. Vier Türen gingen vom Gang ab. Licht fiel durch eine Fensteröffnung an der dem Innenhof zugewandten Seite.

»Winkelhauser ist auf der Straße gefunden worden, er muss nach vorne raus gewohnt haben«, sagte Geronius.

Ehe er an eine Tür klopfen konnte, hörten sie Schritte auf der Stiege. Eine kratzige Stimme rief: »Was macht ihr denn da oben?«

Schon war ein blanker, leberfleckiger Kopf in der Luke zu sehen. Der Mann, der zu ihnen hochstieg, war Mitte fünfzig, klein und hager. »Was wollt ihr hier?«, rief er, unbeeindruckt davon, zwei bewaffnete Männer, einen davon in der Uniform der Stadtgarde, zu sehen.

»Ich bin Geronius Bosko, Rechtswahrer der Garether Criminal-Cammer, und es würde mich freuen, wenn du deinen Ton mäßigen würdest. Und – um auf deine Frage zurückzukommen – wir suchen das Zimmer von Anjun Winkelhauser.«

»Der hat hier kein Zimmer. Der haust jetzt bei den Würmern«, erwiderte der Mann.

»Wir wissen, dass er tot ist. Wir wollen nur das Zimmer sehen, in dem er gewohnt hat.«

»Was interessiert’s euch? Die Garde war doch da, als er wie’n Sack Gekröse auf der Straße lag. Haben ihn wegschaffen lassen, zu den Würmern. Und ich muss mir ’nen neuen Mieter suchen.«

»Du bist also der Hausbesitzer? Können wir jetzt sein Zimmer sehen? Und seine Sachen!« Geronius wurde ungeduldig.

»Sachen? ’Ne Handvoll kluger Bücher und ein paar Lumpen, die nicht mal die Motten haben wollten? Die hab’ ich verscherbelt, um meine Kosten zu decken.«

»Du kannst seine Sachen nicht einfach so verkaufen. Wenn er Angehörige hat ...«

»Hat er aber nicht!«

»Kerl! Wir wollen jetzt sein Zimmer sehen. Und das ist keine Frage, also mach hin! Oder soll ich alle Türen eintreten, damit du mich verstehst? Ich fang am besten da hinten an.« Er ging in Richtung Hinterhof, dort lag Winkelhausers Kammer mit Sicherheit nicht.

»Sachte, sachte, Herr Rechtswahrer. Natürlich dürft Ihr dem Winkelhauser seine Kaisersuite sehen. Ist ja nichts abgesperrt.«

Er öffnete eine Tür und ließ sie ein.

Die Kammer war größer, als Geronius vermutet hatte. Sie hatte zur Straße hin eine schräge Wand, aber wegen der breiten Dachgaube wirkte der Raum nicht bedrückend. Außerdem war der ganze Bretterverschlag weiß getüncht. Geronius hatte schon schlimmere Absteigen gesehen.

Außer einer Strohmatte und einer wurmstichigen Truhe war nichts in der Kammer.

Geronius öffnete die Truhe. Auch sie war leer.

»Wo sind seine Sachen?«, fragte Geronius.

»Weg!«, sagte der Mann. »Ist keiner gekommen, der sie haben wollte, und ich muss auch sehen, wo ich bleibe. Ist doch nichts mehr so wie früher. Das ganze Elend. Dabei war das mal eine richtig anständige Straße. Und jetzt schau dir an, was ich für Hungerleider aufnehmen muss!«

»Der Hungerleider, der hier jetzt haust, ist wohl unsichtbar? Oder findest du keinen, der deine Wuchermiete zahlt?«

»Herr Rechtswahrer, ich bin ja ein guter Mensch. Ein Wohltäter, möchte ich fast sagen. – Aber ich bin auch ein Geschäftsmann und muss von etwas leben.«

»Vielleicht würde es helfen, wenn du mal ausfegst.« Er ging in die Knie. Staub tanzte im Licht der Morgensonne. Unter der fingerdicken Staubschicht waren schmutzige Fußabdrücke zu erkennen. Wann hatte es zuletzt geregnet? Das war Wochen her. »Ich sehe hier die Fußspuren der letzten zwanzig Besucher.«

»Ich hatte keine zwanzig Interessenten! Der Winkelhauser war ein ordentlicher Mann. Ein Gelehrter. Er hat das Zimmer sogar selbst getüncht. So jemanden findet man nicht alle Tage. Es wird alles immer schlimmer!«

Seit er sie eingelassen hatte, war der Hausherr zugänglicher, aber diese mitleidheischende Weinerlichkeit machte die aufkeimende Sympathie bei Geronius wieder zunichte.

Er ging zur Dachgaube. Eine Tierhaut, auf einen Holzrahmen gespannt, verschloss die Fensteröffnung. Auch so hielt man den Wind und Regen ab und ließ trotzdem etwas Licht ein.

Geronius nahm den Rahmen ab, stellte ihn behutsam beiseite und beugte sich aus dem Fenster. Das Schindeldach war steil. Nur eine Katze konnte sich hier oben halten. Er beugte sich noch weiter nach vorne. Der Fensterrahmen drückte ihm gegen die Hüfte. »Wie groß war der Winkelhauser eigentlich?«, fragte er.

»Vielleicht zwei Finger größer als Ihr, Herr, vielleicht auch nicht.«

»Er wird kaum hinausgefallen sein. Dazu sitzt das Fenster zu hoch.«

»Er ist gesprungen, Herr. Gesprungen, weil er das ganze Elend nicht mehr ertragen hat. – Ich kann’s ja verstehen. Manchmal denk ich mir, der Anjun hat’s richtig gemacht. Wenn ich nur ...« Er brach seufzend ab.

Ich kann dir helfen, dachte Geronius. Wenn du nicht das Maul hältst, helfe ich dir gleich hier und jetzt.

»Gesprungen kann man das kaum nennen«, sagte er. »Er muss rausgeklettert sein, und ist dann abgerutscht. Oder jemand hat ihn hinausgestoßen. Was für eine Statur hatte der Winkelhauser?«

»Statue? Der Winkelhauser hatte keine ...«

»Statur, Blödmann, Statur! War er dick oder dünn?«

»Etwa wie ihr, Herr Rechtswahrer. Hatte vielleicht noch etwas weniger auf den Rippen, vielleicht auch nicht. Aber – nichts für ungut, Herr – Ihr müsst mich nicht einen Blödmann nennen, bloß weil ich Euer Gelehrtenbosparano nicht versteh.«

Geronius rutschte zurück in die Kammer. Als er den Rahmen wieder in die Fensteröffnung setzte, fragte er: »War das Fenster eigentlich zu, als der Winkelhauser gestorben ist?«

»Natürlich nicht, Herr. Wie wär er sonst rausgekommen?«

»Hast du es gesehen, oder nur geraten?«

»Ich – hab – ich ...«

»Du hast es also nicht gesehen.«

»Mein Zimmer ist hinten raus, Herr Gardist. Hab gar nichts mitbekommen, bis zum Morgen. Aber da hab ich es dann gesehen: Das Fenster war offen.«

»Nur waren bis dahin schon ein Dutzend Leute hier drin, haben gegafft und sich an Winkelhausers Sachen bedient, sodass dir nur noch ein paar Bücher und Lumpen blieben.«

»Woher wisst ihr, dass hier ... Herr ...«

»Ich habe Augen und Ohren. Gibt es jemand, der etwas gesehen hat? Jemand muss die Stadtgarde gerufen haben.«

»Vielleicht war’s die Jochmeier. Die steckt ihre Nase überall rein.«

»Wer ist die Jochmeier, und wo finde ich sie?«

»Gleich gegenüber. Sie ist die Krämerin hier in der Straße. Die Letzte. Weiß auch nicht, wie die das macht, wo’s uns anderen doch so schlecht geht.«