DSA 117: Kamaluqs Schlund - Stefan Schweikert - E-Book

DSA 117: Kamaluqs Schlund E-Book

Stefan Schweikert

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Beschreibung

Meridiana - dampfende Regenwälder voll fremder Kulturen und exotischer Geschöpfe, eine Welt voller Abenteuer und Geheimnisse. So träumt Junkerstochter Elanora, wenn sie wieder einmal zurückbleibt, während Vater und Brüder sich in den Dschungel aufmachen. Doch diesmal kehren die drei nicht zurück. Kurzentschlossen reist Elanora ihnen hinterher. Sie ahnt nicht, auf was sie sich einlässt - zumal sich jemand an ihre Fersen heftet, der nicht das geringste Interesse daran hat, dass der Junker und seine Söhne gerettet werden ...

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Biografie

Stefan Schweikert, Jahrgang 1965, lebt in Heidenheim auf der Schwäbischen Alb. Im ›Brotberuf‹ Elektroniker, von Berufung Musiker, Keyboarder und Komponist in verschiedenen Rockbands.

Erster Besuch in Aventurien mit der Nordlandtrilogie auf dem PC. Danach wollte er wissen, wer Borbarad ist, und setzte die Reise mit diversen Regel-, Abenteuer- und Regionalbänden sowie fast allen Romanen fort.

Er schreibt seit 2001, veröffentlichte einige Kurzgeschichten, darunter Beiträge für die DSA-Anthologien Aufruhr in Aventurien und Unter Aves Schwingen. 2008 erschien mit Über den Dächern Gareths sein erster Roman.

Titel

Stefan Schweikert

Kamaluqs Schlund

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11047EPUB

Titelbild: Arnd DrechslerAventurienkarte: Ralph HlawatschLektorat: Ronald HahnBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Signifikant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-89064-137-9E-Book-ISBN 978-3-86889-645-9

Fernweh

»Hoch oben in den immergrünen Regenbergen, in einem Tal, umgeben von fünf mächtigen Gipfeln, träumt die alte Echsenstadt von vergangener Pracht. Jenseits des Tales und jenseits der Stadt führt der Weg in eine tiefe Schlucht, und jenseits der Schlucht, da ist Kamaluqs Schlund.«

Im fernen Süden Meridianas, in einem namenlosen Dorf am Meer der Sieben Winde, hörte ich erstmals von jenem Ort, der den stolzen Namen des Jaguargottes trägt. Seit diesem Tage folge ich den Spuren, lausche den Gerüchten, damit sie mich auf den Weg führen. Spärlich sind die Spuren, und die Gerüchte sind vermengt mit Sagen und Liedern.

»Dein Weg führt dich zurück in die Zeit, in der die Wälder noch jung waren und die Menschen noch Kinder. Doch hab acht! Kein Tabu der Waldmenschen liegt auf ihm, und doch wird er gemieden. Keine Mauer umgibt ihn, und doch ist er geschützt. Wenn es dir erlaubt ist, die Wächter zu passieren, so werden dir die Diener den Zutritt zu Kamaluqs Schlund verwehren. Wenn es dir erlaubt ist, Kamaluqs Schlund zu betreten, so werden die Herren dir verwehren, wieder zu gehen. Und wenn es dir erlaubt ist, Kamaluqs Schlund wieder zu verlassen, so werden die Götter dir verwehren, davon zu berichten.«

Und doch ist all das gelungen. Wie sonst konnte ich davon erfahren? Warum sollte ich den Ort nicht wiederfinden?

»Sein Geheimnis ist sein Schild. Sein Schild ist sein Geheimnis. Und ist sein Schild nicht zugleich dein Tod, so ist sein Geheimnis doch dein Schicksal.«

Ist es nicht die erhabene Aufgabe des Forschers, solche Geheimnisse dem Regenwald zu entreißen?

Fünf Berge, fünf Gipfel.

Wie soll ich sie in der endlosen Kette des Regengebirges ausmachen?

Sind auch die Geschichten um Kamaluqs Schlund mehr Poesie als Manifest, so hat sich dieser eine Satz schon bewahrheitet. Der Gedanke, Kamaluqs Schlund zu finden und davon zu berichten, lässt mich nicht mehr los. Sein Geheimnis ist mein Schicksal. Ist sein Schild auch mein Tod?

(Aus den Aufzeichnungen des Junkers Wolfhart von Wilderklamm)

Elanora von Wilderklamm musste wieder einmal zu Hause bleiben. Schweigend sah sie der Kutsche nach, die auf dem Weg hinab ins Tal zwischen den Bäumen verschwand. Der Wind ließ eine Strähne roten Haares vor ihren Augen tanzen. Elanora schob sie zurück unter die Pelzkappe und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Es war sicher nur der Wind, der ihr Tränen in die Augen trieb. Sie zog den wollenen Umhang fest um die Schultern und wandte sich ihrem Zuhause zu. Einen Augenblick zögerte sie, denn sie hatte den Eindruck, dass Mutter sie in die Arme schließen wolle. Doch dann senkte die Junkerin von Wilderklamm den Blick.

Elanora ging ins Haus und in ihr Zimmer hinauf. Auf dem Weg zum Fenster zog sie die Kappe vom Kopf, löste die Fibel an ihrem Umhang und ließ ihn von den Schultern gleiten. Ihr Blick ging hinab ins Tal, wanderte über die abgeernteten Felder, die strohgedeckten Dächer der Bauernkaten und die staubige Straße entlang. Jene Straße, die den Junker von Wilderklamm und seine Söhne nun zuerst nach Nordosten, nach Angbar führte, von dort über die Reichsstraße nach Havena, und dann weit fort ins ferne Meridiana. Und das alles ... ohne sie!

Etwas strich um Elanoras Beine. Sie fuhr zusammen und schaute nach unten: Kiro, ihr rotgetigerter alter Kater, hatte sich hereingeschlichen und bettelte schnurrend um Aufmerksamkeit. Sie schob ihn unwirsch mit dem Fuß beiseite, worauf er sich beleidigt aufs Bett zurückzog. Seine Augen leuchteten aus dem Halbdunkel zu ihr herüber. Der Kater tat Elanora sofort leid, aber sie selbst konnte nun am allerwenigsten Mitleid ertragen, nicht einmal den stummen Trost des Tieres.

Schnell richtete sie den Blick wieder nach draußen. Und so blieb sie stehen, reglos und still, das Gesicht der Scheibe zugewandt, bis die Sonne hinter den Koschbergen versank und es klopfte.

Sie rief nicht »Herein«, sie straffte nur die Schultern und lauschte. Die Tür wurde geöffnet. Jemand kam ins Zimmer. Elanora erkannte die leichten Schritte des Hausmädchens Lana. Die Bedienstete entzündete den Kandelaber, hob Umhang und Mütze auf und verließ den Raum so wortlos, wie sie gekommen war.

Eine hochgewachsene Gestalt tauchte in der Fensterscheibe auf: Rotes Haar, im Nacken zu einem straffen Knoten gebunden, schimmerte im Schein der Kerzen. Das Licht verwischte die ewig mädchenhaften Sommersprossen und die feinen Falten um die grünen Augen, doch das Gesicht wirkte im Kontrast zu dem dunklen Hauskleid unnatürlich blass. Elanora erwiderte den Blick des Geistergesichts und neigte den Kopf in einer unausgesprochenen Frage: Warum? Warum darf ich nicht mit?

Wie erwartet gab ihr Spiegelbild keine Antwort. Stattdessen hörte sie die Stimme ihres Vaters: »Dieses Mal werden wir nicht lange unterwegs sein, mein Kind«, hatte er am Morgen gesagt. »Spätestens, wenn im Tsa die Krokusse durch den Schnee schauen, sind wir zurück.«

Aber darum ging es nicht.

Es spielte keine Rolle, wann er zurückkam.

Es ging nicht darum, dass er fort war.

Es ging darum, dass er ohne sie auf Reisen ging.

Sie wollte mit!

Ihre Lippen zitterten kaum merklich. Die Jahre vergeblichen Wartens hatten ihren Mund in einen strengen Federstrich verwandelt.

Ein Gespenst bin ich geworden, dachte sie. Alt und blass – und so unwirklich wie dieses halb durchsichtige Spiegelbild.

Elanora wusste, worüber die Bediensteten hinter ihrem Rücken tuschelten: Das Fräulein von Wilderklamm! Es hat den dreißigsten Tsatag hinter sich und keinen abbekommen. Und sie wird wohl auch keinen mehr kriegen, der etwas taugt. Aber es ist ja auch kein Wunder. Statt sich herauszuputzen und sich einen Bräutigam zu suchen, versteckt sie ihre durchaus vorhandenen Reize unter einem Altjungfernkleid, verzieht das Gesicht zu einer Trauermine und träumt davon, wie die Brüder mit dem Vater auf Entdeckungsreise zu gehen.

Elanora seufzte.

Das mit dem »keinen abgekriegt« stimmte nicht ganz; die letzte Liebelei lag zwar schon eine Weile zurück, aber wenn Rahja ihren Tribut forderte, wozu gab es die gelegentlichen Besuche in Angbar oder Gareth? Mit einem hatte das Gesinde jedoch recht: Seit sie alt genug war, um zu verstehen, warum der Vater immer wieder für einen halben Götterlauf oder länger aus ihrem Leben verschwand, war sie von dem Wunsch beseelt, ihn zu begleiten.

Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging.

Es klopfte ein weiteres Mal an der Tür. Wieder trat jemand ins Zimmer.

Ein zaghaftes Räuspern.

Elanora drehte sich um und sah Lana, die zappelig in der Tür stand.

«Was ist?«, fragte sie barscher als beabsichtigt.

Das Dienstmädchen senkte den Kopf und flüsterte: »Entschuldigt, Herrin. Eure werte Mutter ... sie ... die Junkerin von Wilderklamm ...«

»Ich weiß, wer meine Mutter ist.«

Lana errötete und suchte nach Worten. »Euer Wohlgeboren. Die Herrin hat wieder Suppe gemacht«, stieß sie dann hervor und verzog den Mundwinkel.

Ich sollte sie für die Respektlosigkeit tadeln, dachte Elanora, ließ es aber bleiben. »Wo ist sie?«, fragte sie stattdessen.

»In der Gesindeküche«, antwortete Lana.

»Ich komme.« Elanora folgte dem Mädchen.

Elanora betrat energischen Schrittes die Küche und blieb abrupt stehen. Die Gesichter Nanes, der Köchin, und Growins, des alternden Gutsverwalters, zeigten offensichtliche Erleichterung. Sie grüßten höflich, blieben aber angesichts des in der Küche herrschenden Chaos steif an der Wand stehen. So wie es aussah, musste sich die Junkerin gleich nach der Abreise des Gatten und der Söhne hierherbegeben haben. Jetzt war die Herrin von Wilderklamm über einen Kessel gebeugt und brabbelte vor sich hin. Überall waren Essensreste verstreut, Gewürztiegel und Töpfe lagen umgekippt auf der Anrichte oder zerbrochen am Boden.

Vielleicht ist es ihre Art, das Alleinsein und die Sorgen um die Familie zu verarbeiten, überlegte Elanora. Aber so lässt sie mich ganz allein zurück.

Sie hätte sich gern länger dem Selbstmitleid hingegeben, aber das gehörte sich für eine Junkerstochter nicht. Zumindest nicht vor dem Gesinde. Also wies sie Nane und Growin mit einem Nicken an, die Küche zu verlassen, und wandte sich der Junkerin zu.

»Mutter«, sagte sie. «Was machst du da?«

Die Angesprochene zuckte zusammen, wischte die Hände an dem schmutzigen grünen Brokatkleid ab und rief: »Ela! Schatz! Heute fliegen wir zu unseren Schwestern, der Trank ist bereit!«

»Ja, Mutter«, seufzte Elanora und versuchte, trotz der aufkommenden Verzweiflung ein wenig Würde zu bewahren. »Komm, ich bringe dich in dein Zimmer.«

»Aber Kind! Der Trank! Wir ...«

»Der Trank darf gern noch etwas kochen. Ich kümmere mich darum und bringe ihn, wenn er fertig ist. Komm jetzt. Bitte.«

Die Junkerin nickte. »Ich bin müde. Den ganzen Nachmittag habe ich gearbeitet.« Sie ließ sich von Elanora und Lana in ihr Zimmer führen.

Während Lana ihrer Herrin beim Waschen und Umziehen half und sie anschließend ins Bett brachte, holte Elanora den starken Beruhigungstrank, den sie von der Dorfhexe bekommen hatte.

»Hier, trink«, sagte Elanora und setzte den Kelch an Mutters Lippen.

Mutter schluckte gehorsam.

»Du kommst doch mit?«, fragte sie dann.

»Ich komme gleich«, antwortete Elanora.

Die Junkerin hatte die Augen geschlossen und lächelte.

»Flieg zu deinen Schwestern«, flüsterte Elanora. »In deinen Träumen.«

Dann verließ sie mit Lana das Zimmer.

»Herrin?«, fragte das Dienstmädchen. Es ging respektvoll einen Schritt hinter Elanora her.

»Ja, Lana?«

»Es wird immer schlimmer.« Das Mädchen hauchte es fast.

»Es wird immer schlimmer«, bestätigte Elanora.

»Aber sie ist doch keine ... Sie ist doch keine echte ...«

»Nein, Lana. Das weißt du doch. Sie ist keine Hexe«, sagte Elanora.

Die Dorfhexe war längst zu dem Schluss gekommen, dass die Junkerin von Wilderklamm der Göttin Satuaria in etwa so nahe stand wie ein durchschnittlicher Hügelzwerg. Und auch ein durchreisender Magier hatte bestätigt, dass der Mutter keinerlei arkanes Potenzial innewohnte. Auf eine Untersuchung durch einen Priester der Peraine oder des Praios wollte der Junker verzichten. Der eine hätte seine Frau der Obhut der Noioniten empfohlen, der andere – noch schlimmer – unter Umständen nach Zeichen von Besessenheit und götterlästerlicher Präsenz gesucht. Auf jeden Fall wäre der Schaden für den Ruf der Familie zu groß gewesen. So gewöhnten sich Familie und Gesinde im Laufe der Zeit daran – so gut es eben ging. Aber in einem hatte Lana recht: Es wurde immer schlimmer. Immer öfter geschah es, dass die Junkerin für Stunden, gar Tage, glaubte, eine Hexe, eine Tochter Satuarias zu sein.

»Nane wollte gerade das Abendessen vorbereiten«, sagte Lana. »Die Herrin muss da schon seit Stunden in der Küche gewesen sein, so wie es da aussieht – Verzeiht!«

»Schon gut. Ich weiß, dass es auch für euch nicht einfach ist. Aber ich weiß nicht, wie wir Mutter helfen können. Und jetzt sind Vater und Ardan und Darian auch wieder weg, und ich bin ganz all...« Elanora verstummte. Normalerweise vermied sie Vertraulichkeiten mit den Bediensteten. Aber sie sehnte sich nach jemandem, bei dem sie sich aussprechen konnte. Und Canteha begleitete den Junker bis nach Angbar, würde frühestens übermorgen zurück sein.

»Aber die Suppe ist sehr lecker«, plapperte das Mädchen, ermutigt von Elanoras Offenheit. Es stockte, als ihm klar wurde, was es gesagt hatte.

»Was? Du hast davon gekostet?« Empörung wallte in Elanora auf. Sie blieb stehen. Das Mädchen rannte sie fast um.

Lana senkte den Kopf.

»Sprich!«, rief Elanora.

»Ihr werdet doch niemanden entlassen, wenn ich es Euch erzähle?«, sagte Lana. »Es ist nämlich nicht böse oder respektlos gemeint.«

»Wenn du es mir sofort erzählst, kann es sein, dass ich niemanden vor die Tür setze.«

Lana schien einige Augenblicke zu brauchen, um den Sinn des Satzes zu verstehen, dann sagte sie: »Vor ein paar Götternamen, ich glaube, es war im vergangenen Rahja, da kam Nane in die Küche, als die Frau Junkerin gerade anfangen wollte, ihre Hexensuppe zu kochen. Nane konnte die Herrin doch nicht aus der Küche werfen! Und sie wollte sie auch nicht allein lassen, um Euch zu holen. Da ist sie einfach bei ihr geblieben und hat sich angesehen, was die Herrin macht, und geguckt, dass nichts Ungutes im Topf landet. Als die Herrin dann gegangen ist, wollte Nane alles fortkippen, aber dann kam ich dazu, und da hab ich ... hab ich gesagt – Man kann doch die guten Sachen nicht so einfach wegwerfen. Ich hab es dann gekostet. Es schmeckte sehr gut – und ... Die Frau Junkerin ist eine hervorragende Köchin. Und seitdem ... seitdem ...« Lanas Gesicht hatte eine tiefrote Farbe angenommen.

»Und seitdem?«, forderte Elanora.

Lana schwieg, eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel.

»Kann es sein -« Elanora holte Luft. »Kann es sein, dass – wenn ich jetzt nach unten gehe – das ganze Gesinde um den Suppentopf versammelt ist und sich zufeixt, dass es von der verrückten Junkerin bekocht wird? – Und dass das jetzt schon ein halbes Jahr so geht?«

Lana sank noch mehr in sich zusammen und nickte. »Aber die guten Sachen ...«, stieß sie unter Tränen hervor.

Elanora schnürte es die Kehle zu. Sie unterdrückte den Drang, das Mädchen zu schlagen. »Lass mich allein«, stieß sie hervor.

»Ja, Herrin«, flüsterte Lana. »Soll ich das Abendessen auf Euer Zimmer bringen?«

»Etwa die von meiner Mutter gekochte Suppe?«, schrie Elanora und hob die Hand.

»Aber Herrin!«, rief Lana und ging in die Knie.

»Geh mir aus den Augen!«

»Bitte! Ich bitte untertänigst um Vergebung, Euer Wohlgeboren. Weist mich nicht aus dem Haus. Wohin soll ich denn gehen?« Lana lag jetzt auf den Knien vor ihr.

Elanora merkte, dass sie noch immer die Hand erhoben hatte. Sie ließ sie sinken.

Der Wunsch, das Mädchen zu schlagen, war vergangen und machte unendlicher Müdigkeit Platz.

»Lass mich in Ruhe«, keuchte sie. »Lasst mich alle in Ruhe.« Sie wandte sich ab und ging davon. Jetzt hatte sie Mühe, den Rücken gerade und den Kopf erhoben zu halten. »Haltung bewahren«, murmelte sie sich ermutigend zu. Aber sie bebte am ganzen Leib. Sollte das dumme Gör – und mit ihm das ganze Gesinde – eine Nacht lang davor zittern, dass sie die ganze undankbare Bande in Schimpf und Schande vor die Tür setzte.

Dann blieb sie stehen. Ohne sich noch einmal umzudrehen rief sie: »Hier wird niemand entlassen!« Und sie ging weiter.

***

Am nächsten Morgen waren Lana und die anderen Bediensteten sehr still und scheu. Ihre Stimmung besserte sich aber zunehmend, als sie merkten, dass Elanora kein Wort über den vergangenen Abend verlor.

Was hätte sie auch sagen sollen?

Gleich nach dem Frühstück sah sie nach der Mutter. Die saß schon angezogen in ihrem Zimmer und begrüßte Elanora mit der gleichen höflichen Distanziertheit, die sie stets dann an den Tag legte, wenn sie »normal« war. Nichts wies darauf hin, dass sie sich an die Ereignisse des vergangenen Nachmittags und Abends erinnerte oder sich fragte, was sie in dieser Zeit gemacht hatte.

Aber auch das war normal.

Nach einem kurzen Gespräch, bei dem sie die Arbeiten und Erledigungen der nächsten Tage berieten, begab sich Elanora in Vaters Arbeitszimmer und blätterte in dessen umfangreichen Aufzeichnungen. Seit sie lesen konnte, schmökerte sie in seinen Reiseberichten. Wenn der Junker auf einer Queste war, verschwand sie ganze Nachmittage in seiner Welt und stellte sich vor, bei ihm zu sein. Sie betrat die undurchdringlichen, von unbekannten Gerüchen und Geräuschen erfüllten Dschungel Meridianas, erklomm Berge und überquerte Flüsse. Grün überwucherte Ruinen uralter Städte ragten vor ihr auf. Rätselhafte Katakomben und unergründliche Höhlen offenbarten ihre Geheimnisse im Schein des Fackellichts. Mutig stellte sie sich Kreaturen mit tödlichen Fängen und Stacheln. Sie lernte die Sprachen fremder Völker und erwarb sich ihren Respekt und ihre Bewunderung. Und dann kehrte sie zurück, beladen mit Schätzen und – was noch wichtiger war – erfüllt von Geschichten und Abenteuern, denen die Menschen in der Heimat atemlos lauschten.

»Aber bei den Wilderklamms hüten die Frauen das Haus, bis die Männer von Krieg und Abenteuer zurück sind. So ist es Tradition, so wird es immer bleiben«, murmelte Elanora und schob Vaters Aufzeichnungen beiseite. So sehr sie es auch versuchte, heute gelang es ihr nicht, in seine Welt zu fliehen.

Es war so ungerecht!

Warum konnte sie nicht jemand anderes sein? Irgend­jemand, nur keine von Wilderklamm.

Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte wieder hinaus.

Die stolze Burg Wilderklamm, ein bescheidenes, zweigeschossiges Herrenhaus, umgeben von Stallungen, Wirtschaftsgebäuden und einem morschen Palisadenzaun, lag auf einem Bergrücken am Rande der Koschberge. Zu Füßen des Berges trat ein ungestümer Bach aus der Klamm, die dem Tal und dem Adelsgeschlecht den Namen gab. Elanora wünschte sich manchmal, ihre Vorfahren hätten bei der Namensgebung ein wenig mehr Fantasie aufgebracht. Nach Osten hin weitete sich die Klamm zu einem engen, sanft abfallenden Tal, welches den Menschen – Bauern wie Junkersfamilie – ein gutes Auskommen sicherte. Ansonsten schien das Tal von der Welt da draußen vergessen. Der Greifenpass im Norden und Fürstenhort im Süden waren nicht fern, wenn man ein Adler war, aber Elanora trennte davon mehr als nur die schroffen Grate des Gebirges.

»Das Land von Junker Wilderklamm, es ist nicht breit, doch es ist lang«, sangen die Bauern manchmal in der Dorfschänke. Der Rest des Textes lobte weitere Breiten und Längen der Wilderklammer und ließ Elanora gelegentlich erröten. Manchmal kamen Abenteurer in die Schenke und brachten neue Lieder mit. Meist verschwanden sie nach einer durchzechten Nacht in der Klamm, um in das Gebirge vorzudringen. Die meisten kamen nach wenigen Tagen triefnass zurück und begaben sich erneut in die Dorfschenke, um ihre Kleider zu trocknen und ihre Kehle zu befeuchten. Anderen gelang es, höher in die Klamm zu steigen. Auch sie kamen meist triefnass zurück. Der Bauer, der sie aus dem Wilderbach fischte, begrub sie auf dem Boronanger an der Biegung des Flusses. Manche kehrten überhaupt nicht zurück. Ob sie oben geblieben waren, oder einen anderen Weg zurück gefunden hatten, erfuhr keiner im Tal. Und so erfuhr auch niemand, ob denn noch etwas zu holen war, hoch oben, in der längst verlassenen Zwergenbinge, der Elanora die wilderklammschen Traditionen und Erbfolgeregeln zu verdanken hatte.

Als die Binge noch bewohnt gewesen war, hatte reger Verkehr in der – von den Zwergen damals sicher ausgebauten – Klamm und im Tal darunter geherrscht. Die geschäftstüchtigen Ahnen des Junkers hatten den Eindruck gewonnen, dass die Angroschim lieber mit Männern über Warenpreise und Wegzölle verhandelten. Also gab die zukünftige Erbfolgeregel den Söhnen den Vorrang. Auch eine erstgeborene Tochter konnte keine Herrin auf Burg Wilderklamm werden. In der Not – sprich: mangels männlichen Nachwuchses – durfte auch mal der Gatte der Tochter den Titel übernehmen. Aber zuerst kamen die Söhne.

Nun war die Binge schon seit mehreren Menschengenerationen verlassen. Die Regel hatte keine Grundlage mehr, blieb jedoch um der Tradition willen erhalten. Wer hätte sie auch ändern sollen? Ein zweitgeborener Junker würde nie die Regel verändern, welche ihm selbst Land und Titel gebracht hatte. Und wer sich wunderte oder beklagte, bekam auch noch zu hören, dass eine Tradition, die sich über tausend Jahre im Garether Kaiserhaus bewährt hatte, für die Wilderklammer Junkerschaft nicht schlecht sein konnte.

Elanora störte es nicht, niemals Junkerin zu werden. Sie war seit Jahren die eigentliche Hausherrin. Die wilderklammsche Tradition erwartete zwar, dass die Töchter zeitig den Traviabund schlossen oder ein anderes Auskommen fanden – schließlich sollten sie nicht nutzlos am bescheidenen Familienvermögen nagen – aber dank der »besonderen Umstände« – der zunehmenden Verwirrtheit der Mutter – nahm es der Junker gern in Kauf, dass Elanora ganz untraditionell weiterhin unverheiratet auf dem Anwesen lebte – und sich nebenbei um alles kümmerte.

Etwas anderes tat Elanora weh und nagte Tag für Tag an ihrem Gemüt: Während sie das Haus hütete, begleiteten die Zwillinge – ihre Brüder Ardan und Darian, fünf Götterläufe jünger als sie – den Herrn Vater auf seinen Expeditionen, seit sie alt genug dazu waren.

***

Am folgenden Tag ging Elanora immer wieder nach draußen und beobachtete das Geschehen im Tal. Einmal zog ein Bauer mit einem Handkarren zu einem Feld, etwas später überquerten einige Rehe die Straße. Doch das war es nicht, worauf sie wartete.

Sie ging hinüber zu den Wirtschaftsgebäuden und öffnete die Tür zum Pferdestall. Die Tiere waren auf der Koppel, nur die kleine Familienkutsche stand abgedeckt in der hinteren Ecke des Stalls. Kurz beschlich Elanora ein seltsames Gefühl. Sollten der Vater und die Brüder noch hier ... Aber das war Unfug: Der Junker war ja mit der Mietkutsche aus Angbar unterwegs.

Am frühen Nachmittag – Elanora war gerade wieder in Vaters Aufzeichnungen versunken – glaubte sie, auf dem Hof Hufgeklapper zu hören.

Sie ging hinunter in die Halle.

»Lana!«, rief sie.

»Euer Wohlgeboren?« Das Mädchen, stellte Elanora bewundernd fest, erschien wie aus dem Nichts.

»Ist Canteha zurück?«

»Ja, Euer Wohlgeboren. Er ist drüben bei den Pferden«, antwortete Lana prompt.

Elanora schaute das Mädchen eindringlich an.

Es errötete.

Elanora hüllte sich in ihren Umhang, ging aus dem Haus und überquerte den Hof. Das Tor zum Pferdestall stand jetzt offen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Kiro kam angerannt und sprang ihr zwischen die Füße, sodass sie stolperte. Sie ging in die Knie und streichelte ihn. Der Kater schnurrte und strich um ihre Waden.

Er hat mich seit Vaters Aufbruch nicht mehr besucht, dachte Elanora. Oder genauer: Seit ich ihn an dem Abend getreten habe. Glaubt er, dass er mich genug gestraft hat oder merkt er, dass meine Stimmung sich bessert?

Sie kraulte ihn noch mal zwischen den Ohren, stand dann auf und ging weiter.

Kiro folgte ihr.

Fiona, die braune Stute, stand gestriegelt in ihrer Box und kaute Heu. Zaumzeug und Sattel hingen an ihren Plätzen. Elanora strich dem Pferd über den Hals und schaute sich um. Ein schleifendes Geräusch kam von oben. Ein Haufen frischen Heus fiel aus der Luke im Heuboden. Elanora und Kiro mussten zur Seite springen, um nicht darunter begraben zu werden.

»Canteha!«, rief sie. »Bist du da oben?«

Sie hörte Schritte. Die Beine eines Mannes erschienen auf der Heubodenleiter. Gleich darauf stand Canteha vor ihr. Trotz der herbstlichen Kühle war sein Oberkörper unbedeckt.

Er verneigte sich. »Euer Wohlgeboren, verzeiht, dass ich nicht gleich kam, aber ich wollte zuerst das Pferd versorgen und mich um den Stall kümmern.«

Elanora nickte. »Es ist gut. Ich war nur etwas ungeduldig. Bitte, mach ruhig alles fertig. Ich habe Zeit.« Ja, dachte sie, Zeit ist wohl das, was ich im Überfluss habe.

Canteha zögerte.

»Nun mach schon!«, rief Elanora. »Es hat wirklich Zeit!«Und ich schaue dir gern zu, fügte sie in Gedanken hinzu und lachte. Sie war überrascht, aus ihrem eigenen Mund ein so unbeschwertes Mädchenlachen zu hören.

Canteha wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Euer Vater und Eure Brüder sind gut in Angbar angekommen«, rief er und verteilte das Heu in den Pferdeboxen. »Sie sind sofort weitergereist. Ich schätze, sie sind inzwischen auf dem Greifenpass.«

»Das ist schön«, erwiderte Elanora knapp und genoss den Anblick des arbeitenden Mannes. Die Muskeln unter seiner kupferfarbenen Haut bewegten sich wie lebende Tiere. Elanora ertappte sich bei dem Wunsch, sie zu berühren.

Ob Lana und er ...? So, wie das Mädchen vorhin errötete ...

Sie verspürte einen Hauch von Eifersucht.

Gleich darauf verdrängte sie das Gefühl. Es ging sie nichts an und außerdem war es albern: Sie und Canteha!

»Euer Wohlgeboren, ich bin soweit«, sagte Canteha endlich, stellte die Heugabel beiseite und kam zu ihr.

»Canteha«, sagte Elabora tadelnd, »wie oft soll ich es dir noch sagen! Früher hast du mich Ela genannt, oder Nori, oder ... und du ... Du darfst es auch noch heute.«

»Verzeiht, Herrin Elanora. Aber das wäre nicht angemessen. Ich bin nur der Stallbursche – und Ihr seid die Gutsherrin.«

»Ach Canteha! Ich bin nur die Tochter des Junkers, und du weißt genau, was das bei den Wilderklamms bedeutet. Du bist zumindest der Stallmeister. Außerdem sind wir wie Geschwister aufgewachsen.«

»Aber inzwischen ist mir bewusst, wo mein Platz in der zwölfgöttlichen Ordnung ist.«

»Rede keinen Unsinn. Du bist kein Sklave mehr, sondern ein freier Mann!«

»Ich bin dem Herrn Junker auch dankbar für alles. Aber es ist doch nicht recht, Euch Spitznamen zu geben.« Er sah sie nachdenklich an, und fügte dann hinzu: »Aber sprecht, was führt Euch zu mir?«

»Hättest du nicht Lust, ein wenig mit mir spazieren zu gehen? Du könntest mir von früher erzählen. Vom Süden.«

»Herrin Elanora. Ich begleite Euch gerne, wenn Ihr es wünscht. Aber Ihr wisst, dass ich kaum Erinnerung an früher habe. Euer Vater hat mich auf dem Al’Anfaner Sklavenmarkt gekauft. Da war ich vielleicht fünf. Und davor habe ich auf einer Plantage gelebt. Verzeiht meine Wortwahl, aber ich habe so viel vom Dschungel gesehen wie Ihr.«

Elanora nickte. »Ich weiß, ich weiß. Aber versuch es doch einfach. Versteh mich doch!« Sie seufzte, wandte sich ab und ging forschen Schritts zum Burgtor hin.

»Ich verstehe schon«, hörte sie Canteha murmeln.

Sie blieb stehen und schaute zu ihm zurück.

Canteha zog sein Hemd an, schloss die Stalltür und folgte Elanora. Gemeinsam setzten sie den Weg fort.

»Canteha?«, begann Elanora.

»Ja Herrin ... Elanora?«

»Warum darf ich nicht mit? Und warum kann ich mich damit nicht abfinden?«

»Weil Ihr eine von Wilderklamm seid«, beantwortete Canteha beide Fragen.

Schweigend gingen sie weiter.

Südlich und westlich des Bergrückens, auf dem Burg Wilderklamm stand, lag eine schmale Senke, dahinter stieg das Gelände steil an. Auf einige hundert Schritt war der Hang spärlich bewaldet und bot massenhaft Plätze, um die Aussicht über die Burg und das Tal zu genießen. Die schroffe Klamm zu ihrer Linken und die schneebedeckten Berge dahinter lagen zu dieser Tageszeit schon im Schatten des Gebirges, aber das Tal selbst war nach Osten hin noch sonnendurchflutet. Der Wilderbach schillerte silbern, die Bergwälder leuchteten in ihren Herbstfarben.

Elanora hatte heute keinen Blick dafür. Ihre Gedanken waren bei Canteha und dem, was er gesagt hatte. Die dunkle Haut und der fremdländische Name täuschten. Canteha war so sehr Mittelreicher wie sie, und – abgesehen von einer Sache – noch mehr den wilderklammschen Traditionen verhaftet.

Als der Vater Canteha vor fast dreißig Jahren von einer Reise mitgebracht hatte, sprach der Junge kein Wort Garethi. Doch der Junker hatte ihn wie einen Adoptivsohn aufgezogen. Canteha wurde ein treuer Spielkamerad für Elanora und später auch für die Zwillinge. Ein richtiger Bruder.

Aber als er ins Mannesalter kam, veränderte er sich. Er zog sich immer mehr von Elanora und ihrer Familie zurück und suchte stattdessen Kontakt zu den Bediensteten und Dorfbewohnern.

Eines Tages trat er vor den Junker und bat ihn, in den Pferdestall ziehen zu dürfen, um sich fortan als Stallbursche zu verdingen.

Elanora hatte ihren stolzen Vater nie zuvor aber auch danach nie wieder so nahe an den Tränen gesehen. Er hatte Canteha gefragt, was er falsch gemacht hätte und was er ändern solle: Er sei doch fast ein Sohn für ihn.

Doch Canteha hatte mit allem Respekt und fester Stimme erwidert, der Junker von Wilderklamm habe selbstverständlich nichts falsch gemacht und alles sei gut so. Dass er wie ein von Wilderklamm erzogen worden sei, dafür sei er artig dankbar, denn so wisse er inzwischen, was sich gehöre und wo sein Platz sei. Er wäre eben kein von Wilderklamm und würde nimmer einer werden. So sei die zwölfgöttliche Ordnung!

So gut war Canteha erzogen worden. Ein Koscher und Wilderklammer durch und durch! Und er glaubte zu wissen, wohin er gehörte, ob es dem Ziehvater oder Elanora gefiel oder nicht.

So hauste Canteha seither im Stall. Er hatte als Stallbursche gearbeitet und war später zum Stallmeister befördert worden. Canteha war der einzige Bedienstete, dem der Junker nie Befehle erteilte, den er immer nur bat. Was für Canteha kein Unterschied war, er erfüllte die Bitten des Junkers wie einen Befehl. Bis auf eine: Als der Junker Canteha gefragt hatte, ob er ihn auf einer Expeditionen begleiten wolle, hatte er höflich, doch bestimmt, abgelehnt. Der Herr von Wilderklamm hatte dies mit einem traurigen Lächeln akzeptiert. Canteha war auf dem Anwesen geblieben.

Und noch etwas war geblieben: Das Zimmer, das Canteha bis zu seinem fünfzehnten Tsafest bewohnt hatte, war auf des Junkers Befehl unverändert geblieben: »Dort lebt mein verschollener Sohn, ob es ihm gefällt oder nicht.«

Trotzdem hatte Elanora das Gefühl, in Cantehas Gegenwart einen Hauch der ersehnten Ferne zu spüren. Oder war es nur die Erinnerung an eine Kindheit, in der die Zukunft noch voller Verlockungen und Abenteuer war?

Im Frühling kam der Junker mit seinen Söhnen zurück. Dann würde es ihr endlich gelingen, ihn zu überzeugen, dass er sie auf die nächste Reise mitnehmen musste.

***

Travien Kerlingson war mit sich völlig im Reinen. Der sanft abfallende Hang gewährte einen Blick über das Hochtal mit der Ruinenstadt, der einem gewöhnlichen Abenteurer den Atem stocken ließ. Doch Travien war nicht gewöhnlich. Wenn das alte Blaublut recht hatte, wartete jenseits der Steinhaufen etwas Besseres auf ihn. Der Anblick, der Traviens Glückseligkeit in geradezu alveranische Sphären hob, lag deutlich näher. Und er lag im wörtlichen Sinne: Seine Begleiter waren nach dem anstrengenden Aufstieg zu Boden gegangen. Und da waren sie immer noch. Sie schnauften und schwitzten, den Rücken ans Gepäck gelehnt, oder lagen im Dreck und schnappten nach Luft. Er hingegen stand aufrecht zwischen seinen Begleitern. Da wusste Travien, dass sich die Jahre aufopfernder und selbstvergessener Übung gelohnt hatten.

Ein leises Hüsteln riss ihn aus der Selbstbetrachtung.

Er drehte sich um.

Natürlich: Die Krähe verdarb das ganze Bild! Die Magierin stand, entspannt auf ihren Stab gestützt, einige Schritte hinter ihm. Keine Schweißperle zeigte sich auf ihrem faltigen Gesicht. Das lange, graue Haar war, wie immer, akkurat nach hinten gebunden, die schwarze, mit feinen roten Mustern durchwirkte Robe bauschte sich leicht im Wind. Und sie lächelte auf ihn herab!

Wie er dieses Weib verabscheute!

Aber wenn der Horasier, sein Auftraggeber, recht hatte, würde er sie noch brauchen.

Wen noch?, überlegte er und wandte sich wieder schöneren Anblicken zu.

Seit sie Nasha verlassen hatten, war der Expeditionstrupp auf zweiunddreißig Männer und Frauen angewachsen. Auf wie viele konnte er zählen, wenn es hart auf hart kam? Klar: Das mittelreichsche Blaublut und seine Söhne konnten Ärger machen, aber sie hatten ihren Zweck schon erfüllt. Und unter den Leuten, die sich in Nasha angeschlossen hatten, befanden sich einige, die mit ihrer Mischung aus Ehrenkodex und Aberglaube eher lästig als hilfreich waren. Aber die meisten standen Phex und Kor näher als Hesinde und Rondra. Alles in allem konnte er sich wohl auf gut zwanzig Leute verlassen. Das waren genug.

»Gehen wir weiter«, riss ihn die Magierin aus seinen Überlegungen. »Es wird bald dunkel.«

Du siehst nicht so aus, als hättest du Angst vor der Dunkelheit, wollte Travien zurückgeben. Immerhin war er hier der Anführer. Doch stattdessen hörte er sich sagen: »Habt ihr die hochgelehrte Magistra nicht gehört? Steht auf, ihr faules Pack! Es geht weiter.« Er spuckte aus. Hochgelehrte Magistra! Alte Ackerkrähe würde besser passen. Aber warum sollte er sich mit ihr streiten? Sie würde schon noch sehen, wer hier der Herr war. Das alte Blaublut, diesen Junker von Wilderklamm, hatte Travien recht schnell in die Schranken verwiesen. Spätestens seit Nasha wusste der Herr Wohlgeboren auch genau, wo sein Platz war. Aber an der Krähe biss sich Travien die Zähne aus.

»Kerlingson heißt du? Travien? Ich werde es mir merken. Und du, Bursche, nenn mich einfach hochgelehrte Magistra, das genügt fürs erste«, hatte die Magierin gesagt, als sie sich der Expedition im Auftrag des Horasiers angeschlossen hatte. Ihren richtigen Namen hatte sie niemandem genannt. So war sie zur Krähe geworden. Wegen ihres langen grauen Haars und ihrer flatternden schwarzen Robe. Und ganz besonders wegen ihrer dunkel schillernden Augen, die jeden taxierten wie die einer Krähe das Schlachtfeld des vorigen Tages: Welch ein Festmahl, sagten diese Augen. Beginne ich mit der Nase oder labe ich mich zunächst an der Zunge? Der Tisch ist reichlich gedeckt. Krähenfraß waren sie, das wusste Travien seit der ersten Begegnung mit der Magierin.

Natürlich wagte niemand, die Krähe in ihrer Gegenwart so zu nennen. Aber wie schnell sogar der Dümmste in Traviens Truppe das »hochgelehrte Magistra« über die Lippen brachte, war schon unheimlich. Das ganze Weib war unheimlich!

Seufzend nahmen die Männer und Frauen ihr Gepäck wieder auf. Der Junker kam zu Travien herüber, sein knallrotes Gesicht ließ befürchten, dass er gleich tot umfallen würde.

Noch ehe Travien etwas sagen konnte, wandte sich die Krähe an den alten Mann und fragte: »Und? Wo ist es, Bursche?«

Unter anderen Umständen hätte Travien es lustig gefunden, dass die Krähe auch den Alten Bursche nannte.

»Euer hochgelehrte Magistra«, setzte von Wilderklamm an, »ich würde es begrüßen, wenn Ihr mich Euer Wohlgeboren nennt. Seht: Ich biete Euch den gehörigen Respekt, da kann ich doch erwarten ...«

»Papperlapapp!«, unterbrach ihn die Krähe. »Wo ist dieses Loch?«

»Kamaluqs Schlund? Nun, wenn meine Recherchen exakt sind, müsste sich der so titulierte Ort – ich möchte noch einmal erwähnen, dass es mit Sicherheit kein aus der mohischen Mythologie und Sprache abgeleiteter Name ist, denn die Mohahas würden ihren Jaguargott niemals mit einem steinernen Schlund versehen. Ich schließe also daraus ...«

»Das Belehren überlass den Gelehrten«, fuhr die Krähe dazwischen. »Komm zur Sache, Kerl! Beantworte meine Frage!«

Manchmal konnte die Magistra fauchen wie eine Hafenhure, aber dieses Mal war Travien froh, dass sie den Redeschwall des Blaubluts unterbrach.

»Ja – sofort – verzeiht«, knickte von Wilderklamm ein. »Seht Ihr das Tal zwischen dem zweiten und dritten Berggipfel uns gegenüber? Es ist steiler und tiefer eingeschnitten als die anderen. Und könnt Ihr auch sehen, dass sich von der Stadt aus ein Weg in Serpentinen dort hinauf zieht? Einst muss es eine prächtige Straße gewesen sein, aber heute sieht man ...«

»Was habe ich gerade gesagt?«, ging die Magierin ein weiteres Mal dazwischen.

»Ich soll nicht belehren. Ich weiß. Nun, wenn Ihr den Kopf schräg legt, könnt Ihr auch erahnen, warum dieser Ort Kamaluqs Schlund genannt wird. Am Eingang der Schlucht seht Ihr eine Felsformation, die fast wie der Kopf einer Katze – oder eines Jaguars beziehungsweise Kamaluq – aussieht. Das Maul ist weit aufgerissen. Das Ganze ist natürlich verzerrt. Man braucht schon eine gewisse Fantasie, um es zu erkennen, aber – das ist Kamaluqs Schlund. Da bin ich sicher.«

Die Krähe nickte.

Travien konnte den Kopf drehen und wenden, er erkannte nichts. Da drüben war eine Schlucht. Wie hundert andere auch. Aber wenn die beiden Alten sicher waren, sollte es ihm recht sein.

»Also los!«, rief er, fröhlicher, als ihm zumute war. »Schauen wir uns den Katzenkopf doch mal näher an. Und dann schauen wir, was sich dahinter verbirgt.«

»Wir müssen natürlich noch die Diener um Erlaubnis fragen«, wandte das Blaublut ein. »Obwohl der Begriff Diener natürlich nur eine unzureichende Übersetzung aus dem Mohischen ist. Es ...« Junker Wilderklamm stockte. Dann fügte er eilig hinzu: »Ein Mohahastamm bewacht diesen Ort. Er wird uns sicher einen Blick auf Kamaluqs Schlund gewähren.«

»Es wird nicht bei einem Blick bleiben«, erwiderte die Krähe. »Und ich frage auch keinen Diener im Lendenschurz um Erlaubnis. Los jetzt!« Sie setzte sich an die Spitze des Zuges.

Travien folgte.

Obwohl er genaue Anweisungen von seinem Auftraggeber hatte, gefiel ihm die Sache immer weniger. Die Krähe hatte keine Ahnung von den Gegebenheiten des Dschungels. Und vom Umgang mit den Waldmenschen ganz zu schweigen! Ihre Arroganz und Unverschämtheit konnte ihnen allen zum Verhängnis werden. Vielleicht sollte Travien die Befehle des Horasiers einfach vergessen und das verfluchte Weib bei der nächsten Gelegenheit an die Blutfische verfüttern.

Travien lächelte bei dem Gedanken.

In diesem Augenblick drehte sich die Krähe zu ihm herum. Auch sie lächelte. Sie lächelte wie eine Lehrerin, die einen Schüler bei einem missglückten Streich erwischt hat.

Sie kann mir in den Kopf schauen, dachte Travien.

Das Lächeln der Krähe wurde noch breiter.

***

Der Schnee schmolz auf den sonnenbeschienenen Hängen. Krokusse und Schneeglöckchen brachen durch das schwindende Weiß. Gespannte Erwartung herrschte auf Burg Wilderklamm und im Dorf. Die bevorstehende Rückkehr des Junkers und seiner Söhne versetzte alle in Aufregung. Ein Fest stand bevor. Wie immer, wenn Wolfhart von Wilderklamm auf seinen Stammsitz zurückkehrte.

Aber keine Kutsche rollte auf den sprießenden Rasen vor dem Herrenhaus, kein Vater polterte durchs Portal, braungebrannt und mit wildem Bart. Der Tsa neigte sich schon dem Ende zu und niemand kam, nicht einmal eine Nachricht. Elanora begann sich Sorgen zu machen. Auch die Mutter und die Bediensteten wurden unruhig. Geflüstert wurde im Dorf: Hatte der Junker in der Fremde ein – wenn auch frühes, so doch wenig überraschendes – Ende gefunden?

Dann, eines Nachmittags Anfang Peraine, rollte eine fremde Kutsche auf den Hof. Ein kräftiger Mann in den Dreißigern stieg aus. Er war gepflegt, aber etwas stutzerhaft gekleidet. Elanora beobachtete vom Fenster aus, dass er zur Tür ging und klopfte. Sie wartete, bis Lana ihn eingelassen hatte, und ging dann in die Halle.

Der Fremde hatte den Hut abgenommen und präsentierte einen kahlen Scheitel, der von einem zum Pferdeschwanz gebundenen Haarkranz umrahmt war.

»Euer Wohlgeboren Elanora von Wilderklamm«, sagte er mit einer Verbeugung. »Danke, dass Ihr mich empfangt.«

Elanora nickte. »Wer seid Ihr?«

»Ihr erinnert Euch nicht? Wie schade. Ich dachte ...« Er verstummte.

Elanora glaubte, ihn zu erkennen: »Jakus? Jakus Halminger?«

»Nun, dann habe ich doch einen bleibenden Eindruck bei Euch hinterlassen, meine liebe Elanora.«

Elanora spürte die Zweideutigkeit, mit der Halminger auf gewisse Eindrücke anspielte. Die Junkerstochter hätte Jakus doch eher als Jugendsünde bezeichnet und die Erinnerung an ihn erfolgreich verdrängt.

»Nun, du scheinst es ja zu etwas gebracht zu haben, lieber Jakus«, sagte Elanora. »Aber sag an: Was führt dich zu mir?«

»Können wir das nicht in einer intimeren Umgebung bereden?«

Wieder diese Anspielungen!

Sie nickte. »Komm mit. Tee? Oder vielleicht Wein?«

»Tee wäre schön.«

»Lana! Mach Tee und bring ihn ins Schreibzimmer.«

Elanora setzte sich hinter Vaters Schreibtisch und hieß Halminger ebenfalls Platz nehmen.

Sie schwiegen, bis Lana den Tee serviert und sich wieder zurückgezogen hatte.

Elanora nippte an ihrer Tasse.

»Nun? Was verschafft mir die Ehre?«

Auch Halminger trank, setzte dann die Tasse langsam ab und lächelte. »Wie lange ist es her? Fünfzehn Jahre?«

»Siebzehn. Ich habe sie gezählt«, erwiderte Elanora.

»Ich dachte, du würdest dich freuen, mich wiederzusehen. Immerhin waren wir einst ein Paar.«

»Wirklich? Der Sohn des Dorfschmieds hat es geschafft, die Tochter des Junkers zu verführen. Ich war fast noch ein Kind.«

»Das warst du nicht; eindeutig nicht«, sagte Halminger lächelnd.

»Hm«, murmelte Elanora nur. Gerade zur Frau gereift, hatte sie den stattlichen Burschen aus dem Dorf angehimmelt. Und der bekam, was er wollte. Fast ein halbes Jahr trafen sie sich in Ställen und auf den Wiesen. Bis Vater dahinter kam.

»Und als diese Beziehung abrupt beendet wurde, warst du so enttäuscht, dass du das Weite gesucht hast«, sagte Elanora.

»Aus gutem Grund: Ich glaube nicht, dass es dir gefallen hätte, wenn ich mich gegen die Prügel gewehrt hätte, die mir dein Vater angedroht hat, wenn ich ihm noch einmal über den Weg laufen würde.«

Elanora kommentierte Halmingers verschrobenen Erklärungsversuch mit einem Hüsteln.

Er fuhr fort: »Wenn du mir ein Zeichen gegeben hättest, hätte ich zu dir gestanden. Ich hatte dich wirklich gern.«

»Wie du schon sagtest: Mein Vater hätte es nie akzeptiert. Und heute weiß ich auch, dass es besser so war.«

»Ja. Ich war nicht standesgemäß. Aber mir wäre es egal gewesen!«

Elanora lachte: »Dir? Natürlich. Dir konnte es egal sein. Du hattest ja nichts zu verlieren. Aber wie es scheint, hast du eine andere gefunden, deren Namen und Vermögen du heiraten konntest. Oder hast du die Kleider und die Kutsche geliehen? Oder gar gestohlen? Verzeih mir, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du es mit ehrlicher Arbeit geschafft hast.«

Halminger wurde blass, seine Züge starr. »Ehrliche Arbeit? – Fräulein von Wilderklamm«, sagte er förmlich. »Ich habe es tatsächlich durch harte Arbeit zu etwas gebracht. Was Ihr nie verstehen werdet.«

Elanora zog scharf die Luft ein. »Nun – Wenn es damit geklärt ist, so sagt mir endlich, was Euch hierherführt, Herr Halminger. Die alten Zeiten werden es wohl nicht sein.«

»Nun, ich dachte, ein Appell an die alte Liebe würde es vielleicht etwas leichter machen. Aber wie Ihr wollt ...« Er holte Luft und sprach dann weiter: »Wie ich hören musste, sind der Junker und seine Söhne überfällig. Muss man sich da Sorgen machen?«

»Ich weiß nicht, was Ihr gehört habt. Noch weniger weiß ich, was es Euch angehen sollte. Und überhaupt: Woher wollt Ihr wissen, wann mein Vater zurückzukommen gedachte?«

»Woher ich es weiß? Ich weiß es so gut wie Ihr.«

»Das ist doch keine Antwort! Ihr redet wirr, wie mir scheint.«

»Und mir scheint es, dass Euch Eure eigene Situation nicht bewusst ist. Schenkte der Junker von Wilderklamm seiner Tochter und Verwalterin dieses stolzen Anwesens so wenig Vertrauen?«

»Wovon sprecht Ihr?«

Halminger schüttelte den Kopf. Er wirkte ernsthaft überrascht. »Ist Euch nie etwas merkwürdig vorgekommen?« Er schaute sich in der Schreibstube um und wies mit einer ausladenden Geste auf die papierbeladenen Regale. »Habt Ihr Euch nie gefragt, wo all die Schätze und Artefakte sind, von denen Euer Vater berichtete? Ja! Ich kenne die Reiseberichte des Junkers. Er ist kein Unbekannter in Gelehrten- und Forscherkreisen. Wenn auch nicht auf die Art und Weise, wie Ihr es Euch vielleicht wünscht. Überhaupt nicht. Darf ich Euch aufklären?« Er lächelte schmallippig. »Der Herr Junker hat bei der Gemeinschaft der Freunde des Aves in Vinsalt vorgesprochen und ist fortgeschickt worden. Er war bei der Kaiserlich Derographischen Gesellschaft in Gareth. Nicht einmal die wollte seine Expeditionen unterstützen! Aber seine Reiseberichte sind dort bekannt. Jeder kann sie lesen – zur Belustigung!«

»Wie könnt Ihr es wagen!«

»Ich kann es wagen! Ich kann noch viel mehr! Euer törichter Vater und Eure missratenen Brüder haben von ihren unzähligen aufwändigen und teuren Expeditionen nicht so viel Gold oder andere Preziosen mitgebracht, wie unter meinen Fingernagel passen! Dieser Umstand hat Euer Familienvermögen doch sehr in Anspruch genommen. Auch wenn ich inzwischen glauben darf, dass Euch diese Tatsache bislang verborgen blieb. Aber da kann ich Abhilfe schaffen: Um die Reise zu finanzieren, von der Euer Vater offenbar nicht zurückzukehren scheint ...« Halminger nahm genüsslich einen Schluck aus der Teetasse. »... hat er sich eine nicht unerhebliche Summe geliehen. Und zwar von mir! Ich versichere Euch, dass Jakus Halminger – der Sohn des Dorfschmieds, wie Ihr schon hervorgehoben habt – es nicht durch Geschenke zu Wohlstand gebracht hat! Er wird auch in diesem Fall nicht auf sein Eigentum verzichten. Leider muss ich befürchten, dass Euch bald nicht einmal mehr das Kleid gehört, das Ihr tragt.«

Er musterte Elanora noch einmal. Dieses Mal zog er ihr mit seinen Blicken eindeutig die Kleider vom Leib.

Sie schaute angewidert weg.

Halminger zog ein Bündel Papiere aus der Tasche und warf es vor Elanora auf den Tisch.

Sie konnte die feine Handschrift ihres Vaters erkennen. Die meisten Papiere waren Schuldscheine. Die eingetragenen Summen machten sie schwindlig.

»Dies bringt Euch und Eure Mutter in den Schuldturm. Vielleicht könnt ihr den Rest Eures Lebens in der Gosse Gareths verbringen. Vielleicht dürft Ihr noch ein paar Jahre versuchen, Euer adeliges Fleisch an den Mann zu bringen.«

»Wie könnt Ihr es wagen? Verdammt! Was wollt ihr?« Je lauter Elanora wurde, desto mehr senkte Halminger die Stimme. Gelassen sagte er: «Ich kenne die eigenwilligen Regelungen, die Eure Familie in Erbfolgeangelegenheiten getroffen hat. Wie Euch sicher bewusst ist, wird Euch Wilderklamm niemals gehören! Sollten Euer Vater und Eure Brüder nicht in absehbarer Zeit zurückkehren, so gehen Titel und Ländereien an den nächsten männlichen Verwandten. Und das ist Euer Vetter Vitus von Oberbruch, der – wie ich gern sage – ein guter Freund von mir ist.«

»Vitus ist ein ebensolcher Nichtsnutz wie sein Vater. Ihr kommt natürlich in seinem Auftrag?«

»Mag sein, dass Euer Onkel keine Zierde der Familie war. Aber Vitus hat sich als geschäftstüchtiger erwiesen, als Ihr glaubt. In seiner Sammlung fehlen nur noch ein Titel und ein Stammsitz ...«

Elanora zog scharf die Luft ein.

»Aber ich darf Euch beruhigen. Es ist ihm nicht bekannt, wie nahe er der Erfüllung seiner Wünsche ist – noch nicht. Oder, um Eure Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht in Vitus’ Auftrag hier.«

»Nicht? Was wollt Ihr dann?«

»Nun, ich wüsste, wie wir diese hochpeinliche Angelegenheit aus der Welt schaffen könnten, ohne dass Ihr das Gesicht verliert. Und natürlich, ohne dass ich ein Vermögen verliere. Obwohl mein Einsatz schon etwas höher sein wird als der Eure: Der würde sich auf ein bescheidenes Ja beschränken.«

Elanora schwante Übles. Zornig rief sie: »Du schwafelst, Jakus! Sag doch, was du von mir willst, damit ich dich endlich vom Hof jagen kann!«

Halminger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Süßlich lächelnd wechselte auch er wieder zu einem vertraulichen Ton: »Wie du wünschst, meine Liebe. Und wie schon gesagt: Meine Tüchtigkeit und ein angemessener Lebenswandel haben es mir erlaubt, beachtliche Rücklagen zu bilden, von denen wiederum ein Teil in die fixen Ideen deines Vaters geflossen sind. Auch wenn es nicht mein Ruin wäre, so möchte ich doch nicht darauf verzichten. Aber ich wäre bereit, sie – und noch viel mehr – in eine Ehe einzubringen.«

»Du willst mich heiraten? Aber du bist nicht einmal ...« Elanora verstummte.

»Ich bin nicht von Stand«, beendete Halminger den Satz. »Darauf hast du mich schon mehrfach hingewiesen. Aber ich bin deine Rettung.«

»Du meinst, du bekommst jetzt, was ich dir vor siebzehn Jahren versagt habe?«

Halminger lachte: »Elanora, es ist nicht deine zweifellos gereifte Schönheit, die mich dieses Angebot machen lässt. Ich lege keinen Wert mehr darauf, dich zu berühren, Fräulein.«

Sein Blick strafte ihn Lügen. Und dieser Blick machte Elanora Angst.

Da sie keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, fuhr Halminger zufrieden fort. »Wie gesagt, ich kenne das Erbrecht der Wilderklamms. Ist kein direkter männlicher Nachfahre vorhanden, fällt der Junkerstitel an den Ehemann der ältesten Tochter, noch ehe er in eine indirekte Erblinie – sprich: zu deinem Vetter – wechselt. Du könntest hierbleiben, und deine Mutter natürlich auch.«

Elanora senkte den Blick. Halminger sollte nicht sehen, dass ihr Tränen in die Augen traten. Verzweiflung überkam sie. Sie war ihm ausgeliefert. Denk nach! Denk nach!, dachte sie.

Doch in ihrem Kopf herrschten nur Panik und Verwirrung. Um irgendetwas zu tun, schob sie die Schuldscheine auf dem Tisch hin und her. Sollte sie sie einfach nehmen und zerreißen? Ihre Hand zitterte. Halminger hatte sicher noch weitere – oder Abschriften und Zeugen. Er würde es ihr nicht so leicht machen. Außerdem war er ihr körperlich weit überlegen.

Dann sah sie etwas.

»Dieser Schuldschein ist noch gar nicht fällig«, rief sie überrascht. Sie nahm einen weiteren, überflog auch diesen. »Fällig zum Ersten im Boronmond ... auch dieser.«

Es war eine Kleinigkeit, aber sie genügte, um in Elanora wieder einen Hauch von Zuversicht zu wecken. Sie hob den Kopf und sah Halminger in die Augen.

»Dein Vater ist jetzt verschwunden«, sagte er. »Warum warten, bis alles zu spät ist? Warum ...?«

»Warum glaubst du, dass er tot ist?«, fragte sie leise. Ihre Stimme wurde fester. »Warum glaubst du, dass er und meine Brüder nicht zurückkommen? Hast du etwas damit zu tun? Was hast du mit ihnen gemacht, du Dreckskerl?« Elanora sprang auf.

Halminger schien sowohl über den Stimmungswechsel als auch über ihre Anschuldigung überrascht. »Ich?«, rief er und zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. »Ich habe nichts damit zu tun! Ich bin kein Mörder!«

»Nicht? Mag sein. Zumindest bist du ein Leichenfledderer! Ein Aasgeier! Du fällst über sie her, ehe sie kalt ... nein, ehe sie überhaupt tot sind. Mein Vater lebt! Und er wird zurückkommen! Verschwinde! Und wage es nicht, dich hier noch einmal blicken zu lassen!«

Halminger stand ebenfalls auf. Gelassen sammelte er die Schuldscheine ein und sagte: »Wir werden sehen. Wir werden sehen, mein Schatz. Ich habe dir eine Chance gegeben. Mag sein, dass diese Schuldscheine erst im Boron fällig sind. Aber du solltest einen anderen Tag noch viel mehr fürchten: Ein Jahr und einen Tag, nachdem dein Vater sein Land verlassen hat, wird dein lieber Vetter Vitus über diese Türschwelle treten und sein Recht fordern.«

»Das ist Unsinn! Mein Vater war doch nicht schon bei seiner Abreise verschollen! Unzählige werden ihn gesehen haben, bevor er in Havena das Schiff bestiegen hat! Und in Chorhop werden sich Zeugen finden. Und in ... in ... Das wird der Fürst genauso sehen!«

»Mag sein, mag aber auch nicht sein. Ich würde dir empfehlen, schon mal mit der Suche nach Zeugen zu beginnen. Und was sie auch sagen werden: Vitus wird näher an seinem Ziel sein als je zuvor. Es sei denn ... Nun, denk darüber nach. Ein wenig Zeit hast du ja noch, es dir zu überlegen. Aber das nächste Mal wirst du betteln müssen. Und ich werde dich kriechen lassen.«

»Eher lande ich in der Gosse, als dich zum Junker zu machen, Jakus!«

»Warte ab. Du ahnst nicht, wie tief du fallen kannst, Elanora-Schatz. Und es wird mir ein Vergnügen sein, dich dabei zu beobachten.« Er verneigte sich tief. »Ich finde den Weg hinaus selbst.«

***

Noch immer gab es kein Lebenszeichen vom Vater und den Brüdern. Am liebsten hätte Elanora Jakus Halmingers Besuch vergessen. Aber sie musste seine Drohung ernst nehmen, und jeder Tag, den sie verstreichen ließ, brachte Jakus Halminger oder Vetter Vitus näher an die Erfüllung ihrer Wünsche.

Wer konnte ihr helfen? Das Ansehen der Familie stand auf dem Spiel! Schon jetzt wurde zu viel über den ausbleibenden Junker geflüstert. Bald würde es kein Geflüster, sondern Gerede sein. Dann würden dem Gerede die wildesten Gerüchte folgen. Und wenn diese Gerüchte zu Vitus vordrangen – oder wenn etwas von den Schuldscheinen bekannt würde ... sie wollte gar nicht daran denken!

Elanora vermutete, dass Halminger über Spitzel verfügte, die ihn über jeden ihrer Schritte unterrichteten, aber sie konnte nicht länger abwarten. Mitte Peraine machte sie sich mit Canteha auf den Weg nach Gareth. Es würde niemandem ungewöhnlich vorkommen, denn sie besuchte die Reichshauptstadt ein oder zwei Mal im Jahr.

Die einwöchige Reise verlief ereignislos. Nachdem sie sich in einer Herberge eingemietet hatten, überließ Elanora es Canteha, bei einigen Handwerkern und Händlern Einkäufe zu tätigen. Das meiste hätte es auch in Ferdok oder Angbar gegeben, aber Waren aus dem fernen Gareth waren immer etwas Besonderes, auch wenn die eine oder andere Töpferware vielleicht sogar von einem Koscher Handwerker gefertigt worden war und jetzt in die Heimat zurückkehrte.

Canteha war beschäftigt. Elanora machte sich auf den Weg in die Neu-Garether Weststadt, zum Anwesen der Kaiserlich-Derographischen Gesellschaft. Wenn Jakus Halminger nicht gelogen hatte, war der Junker von Wilderklamm dort bekannt, und sie konnte Informationen über seine letzten Reisepläne erhalten. Vielleicht erfuhr sie auch, ob sein Ruf in Gelehrtenkreisen wirklich so schlecht war.

***

Prainor Munter, Leiter der Kaiserlich-Derographischen Gesellschaft, empfing Elanora in seinem bescheidenen Büro. »Was führt Euch zu mir, Euer Wohlgeboren?«, fragte er.

»Mir wurde mitgeteilt, mein Vater sei im vergangenen Jahr bei Euch vorstellig geworden.«

»Oh, der Junker von Wilderklamm war ein gern gesehener Gast in unseren Räumen. Aber es ist richtig: Im Rondra des vergangenen Jahres habe ich ihn das letzte Mal gesprochen.«

»Um was ging es bei der Unterredung?«

»Er bat mich um Unterstützung bei seiner nächsten Reise. Ich musste ihn aber leider enttäuschen.«

»Warum?«

»Ihr müsst mich verstehen ... Unsere Möglichkeiten schränkten sich in den letzten Götterläufen doch zunehmend ein. Wir sind gezwungen, ein möglichst optimales Verhältnis zwischen Aufwand und zu erwartendem Ergebnis zu erzielen.«

»Was soll das heißen?«

»Die Expeditionsvorhaben Eures Vaters haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten doch als etwas – blauäugig erwiesen.«

»Ich kenne seine Reiseberichte.«

»Ich kenne sie auch. Verzeiht mir die harten Worte, aber seine Berichte lassen häufig Zeugnis hesindegefälliger Forschung vermissen. Es ist alles etwas blumig, und vieles fern der Realität. Es mangelt an Fakten. Ich glaube, Euer Vater war – verzeiht mir noch einmal: Er ist sehr belesen, und es erschien – erscheint ihm als Pflicht, von all seinen Reisen mit den abenteuerlichsten Theorien zurückzukehren. Einmal will er Spuren des legendären Elefantenfriedhofes gefunden haben, ein anderes Mal die Überreste einer vergessenen Stadt der Achaz. – Aber nie konnte er uns Genaueres, Nachprüfbares berichten. Keine Artefakte, nicht einmal Angaben zur Lage der von ihm mutmaßlich entdeckten Orte konnte er machen. Es liest sich alles sehr schön. Euer Vater hätte seine Berichte aber besser an den Aventurischen Boten verkauft. Seine Geschichten sind doch ein wenig ... äh ... phantastisch.«

In Elanoras Eingeweiden brannte es, so entsetzt war sie über das, was sie aus dem Mund des Gelehrten hörte.

»Ich glaube nicht, dass mein Vater ein Phantast ist. Aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Er ist jetzt schon fast zwei Götternamen überfällig. Ich mache mir allmählich Sorgen.« Elanora konnte Munters mitleidvollen Blick nicht ertragen und senkte den Kopf. Dann stieß sie hervor: »Ich muss ihn finden!«

»Ich habe schon seit Wochen mit seinem Besuch gerechnet. Wir müssen das Schlimmste annehmen«, sagte Munter.

»Ihr müsst mir helfen«, sagte Elanora. »Ich kann doch nicht ...«

»Es tut mir leid. Ich verfüge nicht über die Mittel zur Finanzierung einer Rettungsexpedition. Aber ich kann mich umhören. Immer wieder treten junge und mutige Leute an uns heran, die für eine gute Sache und wenig Geld ins Abenteuer ziehen wollen. Ihr solltet nicht zu wählerisch sein oder zu lange zögern. Wie mir zu Ohren gekommen ist, hätte das dauerhafte Ausbleiben Eurer Angehörigen unangenehme Folgen für Euch.«

»Woher ...« Elanora schluckte. »Ihr wisst Bescheid? Jakus Halminger hat mit Euch gesprochen?«

Munter nickte. »Ich werde selbstverständlich Stillschweigen bewahren, solange ich kann. Seid versichert, ich hege keine Sympathie für diesen Herrn. Er hat mir seine Absichten nicht eröffnet, aber es ist offensichtlich, dass er weder Euch noch Eurem Vater wohlgesinnt ist und es ihm Vergnügen bereitet, Euch in Schwierigkeiten zu bringen. Daran werde ich mich nicht beteiligen.«

»Dann wisst Ihr auch, dass meine finanziellen Möglichkeiten zurzeit begrenzt sind. Könnt Ihr mir trotzdem irgendwie helfen?«

Munter schüttelte den Kopf. »Jetzt bedaure ich, dass ich Eurem Vater und seinen Plänen so wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.« Er ging nun in der Schreibstube auf und ab. »Wenn ich mich recht an unser Gespräch erinnere, plante der Junker von Wilderklamm, seine Queste in Chorhop zu beginnen und von dort nach Nasha und dann nach Südosten in den Dschungel zu reisen. Irgendwo dort, an den Hängen des Regengebirges vermutet er einen Ort, den er Kamaluqs Schlund nennt. Kamaluq ist der Jaguargott der Waldmenschen, wie Ihr vielleicht wisst.« Abrupt blieb er stehen, stützte die Hände auf den Schreibtisch und sah Elanora an. »Der Name Kamaluqs Schlund ist mir nie zuvor untergekommen, deshalb musste ich annehmen, dass es sich um ein weiteres – vergebt mir ein letztes Mal – Hirngespinst Eures Vaters handelt.« Er setzte die Reise durch die Schreibstube fort. »Ich gewähre Euch selbstverständlich Einsicht in unser Kartenmaterial und all unsere Aufzeichnungen Meridiana betreffend. Aber ich kann Euch versichern, dass Ihr diesen Ort auf keiner unserer Karten finden werdet. Es tut mir leid.« Er setzte sich wieder hin. »Bei seinen früheren Reisen hatte Euer werter Vater einen Verbindungsmann in Chorhop, der ihm Träger, Führer und Dolmetscher besorgte. Sein Name ist mir entfallen, aber wenn ich mich recht entsinne, erwähnt er ihn in seinen Aufzeichnungen.« Er lächelte. »Ja! Ich habe sie gelesen. Auch wenn sie aus derographischer Sicht nicht sehr erhellend sind, sind sie doch gut geschrieben. So, wie Euer Vater schreiben kann, wundert es mich, dass Euch nie der Wunsch gepackt hat, ihn zu begleiten.«

***

Während die Familienkutsche über die Reichsstraße nach Hause schaukelte, ging Elanora Munters letzte Bemerkung nicht aus dem Kopf. Was hätte sie darauf antworten sollen? Dass der Vater ihr Betteln all die Jahre ignoriert hatte? Dass ein Fräulein von Wilderklamm das Haus hüten musste, auch wenn sie diese Tätigkeit nicht ausstehen konnte? Dass sie eine brave Tochter war, die tat, was der Vater befahl?

Aber jetzt musste sie handeln.

Munter hatte es noch einmal deutlich gemacht: Wenn sie nicht nach den Verschollenen suchte, würde es keiner tun.

Und da während ihrer Abwesenheit keine neuen Nachrichten von den Vermissten gekommen waren, wurde der Plan zur Gewissheit. Schon einen Tag nach der Rückkehr auf Burg Wilderklamm suchte Elanora Canteha auf. Ohne seine Unterstützung würde sie es nicht schaffen.

Sie fand ihn an der Pferdekoppel. An den Zaun gelehnt beobachtete er die Stuten mit den Frühjahrsfohlen.

Er schien ihr Kommen zu bemerken, denn er sagte, ohne sich umzudrehen: »Vier Fohlen. Alle gesund. Sie werden Euch auf dem Herbstmarkt sicher gutes Geld bringen.«

»Das ist schön«, erwiderte Elanora automatisch. Sie stand jetzt neben ihm am Zaum. »Canteha?«

»Ja, Herrin?« Er wandte sich ihr zu und senkte den Blick.

»Kann ich dir vertrauen?«

»Selbstverständlich, Euer Wohlgeboren.«

»Ich meine: Kann ich dir wirklich vertrauen? Kann ich dir so vertrauen, wie früher – als wir Geschwister waren?«

»Natürlich könnt Ihr mir vertrauen. So wie früher. So wie immer. Auch wenn wir nie Geschwister waren. Aber erzählt mir doch, was Euch bedrückt.«

»Ich muss fort. Ich muss Vater und die Zwillinge finden. Sonst verliere ich alles.« Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. »Können wir irgendwo hin, wo uns niemand sehen und hören kann?«

Canteha bot seine Hand an. Elanora nahm sie dankbar. Sie gingen in den Pferdestall. Elanora ließ sich auf einem Strohballen nieder. Canteha setzte sich neben sie, seine Hand noch immer in der ihren.

Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, so erleichtert war sie, sich endlich aussprechen zu können. Als sie fertig war, wartete sie gespannt, was Canteha dazu sagte.

Er saß vornüber gebeugt da, den Kopf gesenkt. Dann richtete er sich gerade auf und schaute Elanora direkt in die Augen.

Noch immer schwieg er.

So hat er mich schon lange nicht mehr angesehen, durchfuhr es sie. Und ich habe es nicht einmal bemerkt. Seit Jahren hat er mir nicht mehr in die Augen geschaut, hat den Blick gesenkt, wie ein Diener. Ich habe mich beklagt, dass er in mir nicht mehr die Freundin und Schwester sieht. Dabei habe ich nicht einmal bemerkt, dass ich ihm begegne wie eine Herrin einem Diener!

Sie drückte Cantehas Hand etwas fester.

Canteha sagte: »Ihr erwartet doch nicht, dass ich Euch begleite?«

»Nein. Natürlich nicht. Ich glaube, du bist hier mehr zu Hause als ich. Ich habe eine andere Aufgabe für dich. Wenn Mutter ihre – Launen hat, dann muss jemand auf sie aufpassen. Growin und Nane sind zwar zuverlässig, aber nicht mehr die Jüngsten. Deshalb brauche ich hier jemanden, der sich mit allem auskennt, jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Ich möchte dich bitten, hier nach dem Rechten zu sehen. Mutter liebt dich wie einen Sohn, auch wenn sie es nicht oft zeigt und du es nicht wahrhaben willst. Das Gesinde vertraut dir. Auch im Dorf weiß man, dass du so gut wie der Ziehsohn des Junkers bist. Keiner wird deine Entscheidungen in Zweifel ziehen.«

Sie drückte Cantehas Hand noch etwas fester.

»Wenn Ihr es wünscht. Ich werde alles tun, um Euch nicht zu enttäuschen, Herrin.«

Elanora lächelte.

Noch immer schaute er ihr direkt in die Augen. Cantehas Gesicht schien plötzlich so nah, sie konnte jede Pore in seiner Haut sehen, die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn. Und sie wünschte sich, er käme noch näher.

»Sag nicht immer Herrin zu mir«, flüsterte sie.

»Wie Ihr wünscht – Elanora.« Er verstummte.

Wenn er es jetzt versucht, ich würde nicht zurückweichen ... Elanora wartete.

»Früher habt Ihr viel gelacht«, sagte Canteha plötzlich.

»Früher. Als wir Geschwister waren«, flüsterte Elanora und ärgerte sich sofort.

»Ja, früher. Aber wir waren nie Geschwister.« Canteha erhob sich.

Der Zauber war verflogen. Elanora seufzte leise, ging zurück ins Haus und machte sich umgehend an die Arbeit. Sie wollte die peinliche Szene schnell vergessen. Au