DSA 153: Tuzak Mortis - Mike Krzywik-Groß - E-Book

DSA 153: Tuzak Mortis E-Book

Mike Krzywik-Groß

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Beschreibung

Am Rande der Schattenlande liegt Tuzak, die Lilienhafte, ein Schmelztiegel aus Piraten, Rebellen und feindlichen Agenten. Als Madajin in seine Heimat zurückkehrt, wird er in eine Intrige aus Mord, Politik und der schmutzigen Vergangenheit der Stadt gezogen. Finstere Mächte ringen um die Vorherrschaft, während der Zauberer sein Glück in der Liebe sucht. Noch ahnt er nicht, dass sich Zukunft und Schicksal der Insel Maraskan ausgerechnet in seiner Heimatstadt entscheiden werden. Tuzak Mortis ist der abschließende, in sich geschlossene Band der Mortis-Trilogie um den maraskanischen Zauberer Madajin.

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Biografie

Mike Krzywik-Großwurde 1976 im verregneten Harz zwischen finsteren Tannen und majestätischen Bergen geboren.

Bereits in jungen Jahren begann sein Herz für Fantasy-Rollenspiele im Allgemeinen und demSchwarzen Augeim Besonderen zu schlagen. Mittlerweile lebt er unter zauberhaften Giebeln und inmitten finsteren Gassen gemeinsam mit seiner Frau in der Hansestadt Lüneburg.

MitTuzak Mortiserscheint der letzte Teil derMortis-Trilogieund beendet die Abenteuer des Zauberers Madajin. In den Jahren zuvor erschienenRiva MortisundAngbar Mortis.

www.krzywikgross.de

Titel

Mike Krzywik-Groß

Tuzak Mortis

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 11010EPUB

Titelbild: Nadine Schäkel Aventurienkarte: Ralph HlawatschTuzakkarte: Hannah Möllmann Lektorat: Michael Fehrenschild, Eevie Demirtel Buchgestaltung: Ralf Berszuck Ebook-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Käfer und Karten

Ein Präludium zu einer verrufenen Insel

von Michael Masberg

»So, so, nach Maraskan willst du?«

Der Qualm hing wie eine Gewitterwolke in dem Hinterzimmer desSold und Säbel. Alriks Augen tränten seit dem Moment, als er es betreten hatte. Er nickte, als er von der Frau mit dem fehlenden Ohr und den gewaltigen Brüsten die Spielkarten entgegennahm.

»Orkendreck«, murmelte der Magier mit dem leichenblassen Gesicht und zog den Rauch seines Zigarillos tief ein. »Da kannst du besser gleich einen Feuerskorpion zum Tanz bitten. Oder lass dir von einem Straßendieb die Kehle durchschneiden, dann sparst du dir die Überfahrt. Was anderes als Gift und Mord erwartet dich nicht auf der Käferinsel.«

»Ich bestreite nicht, dass deine Worte für meine schöne Heimat durchaus zutreffen mögen, Bruderschwester, aber sie werden der Vielfältigkeit Maraskans nicht gerecht.« Der andere Magier trug eine abenteuerliche Kombination aus bunten Stoffen, die Alriks Augen ebenso schmerzten wie der beißende Dunst, der in der Luft hing. »Denn Rur hat die Welt so geschaffen, dass Freude und Leid nebeneinander bestehen. Und doch ist sie schön.« Der Maraskaner beugte sich vor und tätschelte Alriks Wange. »Maraskan ist das Herz der Schöpfung. Nirgendwo ist das Leben pulsierender und atemberaubender als dort, wo dereinst Grors Blick als erstes auf das Geschenk fallen wird.« Der bleiche Magier hustete. »Sicherlich. Und nirgendwo ist der Tod näher.«

»So hat Rur die Welt geschaffen.«

»Frag mal, was der Wirt vomSold und Säbeldir dazu erzählen kann«, sagte Einohr. »Er ist Maraskanveteran und hat seine linke Hand sicherlich nicht aus Nettigkeit auf der Insel gelassen.«

Der Maraskaner zuckte mit den Schultern und stopfte seine Pfeife. »Die Garethjas brachten den Krieg mit ihren Schiffen, um unser freies Königreich zu unterwerfen. Sie haben angefangen, wir haben uns nur verteidigt.«

»Es passierte während des Tuzakaufstands.«

»Schwester, was würdest du machen, wenn du einen ungebetenen Gast im Haus hättest, der in deinen Betten schläft, deine Kammern leer frisst und deine Kinder tötet?« Der Magier plauderte, als würde er ein Kuchenrezept austauschen. »Außerdem scheint es Rurs unergründlicher Plan vorgesehen zu haben, dass Bruder Wirt das Waffenhandwerk gegen den Schankbetrieb tauscht, sodass wir heute bei einer geselligen Partie Boltan zusammensitzen können.«

»Niemand redet sich die Welt so schön wie ein Maraskaner«, murmelte Bleichgesicht.

»Die Weltistschön.«

Alrik schwirrte bereits der Kopf. Dabei hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, einen Blick auf seine Karten zu werfen. Von dieser Partie hing es ab, ob er die fehlenden Dukaten zusammenbekam, die er für die Überfahrt benötigte.

»Schlag es dir aus dem Kopf, Junge«, sagte Bleichgesicht und aschte auf den Boden. »Deine Ohren sind so grün wie die dampfenden Dschungel. Ich gebe dir da drüben keine drei Tage und der Aldeckäfer frisst deine Knochen.«

»Bruderschwester, jetzt erzähle unserem jungen Freund doch keine Schauergeschichten!« Der Maraskaner schüttelte über so viel Unwissenheit den Kopf. »Der Aldeckäfer frisst nur totes Holz. Sein Bruder jedoch, der Alezijnkäfer – und für Unwissende sind sie leicht zu verwechseln, deswegen sehe ich dir deine Worte nach, Fremdiji, errichtet durchaus seine Bauten aus totem Fleisch. Solange du aber am Leben bleibst, Bruder Alrik hast du nichts zu befürchten.« Er schenkte Alrik ein aufmunterndes Lächeln, das jedoch seine Wirkung verfehlte.

»Und wie soll dieser schmächtige Kindskopf überleben? Es grenzt schon an ein Wunder, dass er es überhaupt lebend in dieses Hinterzimmer geschafft hat.« Bleichgesicht musterte ihn mit blutunterlaufenen Augen. »Was willst du eigentlich auf der Käferinsel, Junge?«

»Ich interessiere mich für Schmetterlinge«, sagte Alrik. »Ich bin ein Gelehrter und will ein Buch über sie schreiben.«

Stille legte sich über den Raum. Nur das Knistern verbrennenden Tabaks war zu hören. Einohr und Bleichgesicht sahen zu dem Maraskaner, der sichtlich besorgt schien.

»Magst du dich nicht lieber mit Käfern befassen, Bruderschwester?«, fragte der maraskanische Magier schließlich. »Oder wie wäre es mit Vögeln? Die gefiederten Gesellen meiner Heimat sind ebenfalls ganz bunt und können fliegen. Oh, oder Fische? Nur vom Knochenfisch solltest du dich fernhalten. Aber der Amdeggynsmolch ist ein possierliches Tierchen. Seine Dummheit ist einmalig.«

»Nein.« Alrik war entschlossen. »Ich liebe Schmetterlinge«.

»Dem Jungen ist nicht zu helfen«, murmelte Bleichgesicht.

»Ich habe eine Nichte in Sinoda, Rurijida die Rundliche, die vierfach Gesegnete der viermaligen Bräutigame. Sie wohnt bei Bardojian dem Tellerwäscher, der nicht zu verwechseln ist mit Bardojian dem Tellermacher, der zwei Häuser weiter wohnt und den Kreis ging mit Zadisab, die mit einem Garethja-Schwert zwischen den Arschbacken starb. Bestelle ihr – also Rurijida, nicht Zadisab, die ja schon vor Bruder Boron steht – einen Gruß von mir und sage ihr, Demayasab hat sich sehr über den Würfel gefreut.« Der Maraskaner lächelte gütlich, als wäre damit alles gesagt, und widmete sich wieder ganz seiner Pfeife.

»Nachdem wir das geklärt haben, meine Herren«, sagte Einohr: »Können wir nun mit dem Spiel beginnen?« Sie griff nach ihrer dicken Zigarre, die bisher unbeachtet den Raum verpestet hatte, und schob sie sich zwischen die Zähne.

Sie nahmen ihre Karten auf. Alrik besah sich sein Blatt und erkannte sofort, dass er verloren hatte.

Über seine Karten hinweg grinste ihn Bleichgesicht an, den Zigarillo im Mundwinkel. »Ärgere dich nicht, Junge. Diese Partie wird dir das Leben retten.«

Tuzak Mortis

»Und die Bestie blickte auf das Antlitz der Schönheit und sie ließ ab vom Töten. Und von diesem Tag an war sie wie tot.«

­—aus King Kong

Prolog

Tuzak, im Phex, 1032 BF

Die Nacht legte sich über dieLilienhafte. Am Horizont konnte man das Lodern mehrerer Feuer erkennen. Rauch stieg in dicken Säulen auf. Der Wind wehte den salzigen Geschmack der Freiheit über das Meer und in die Gassen Tuzaks. Er stieß tagein, tagaus auf Unterdrückung und Kälte. Jedoch nicht in dieser Nacht. Heute regierte wahnhafte Hitze in den Straßen.

Ein schreckliches Heulen drang aus dem Urwald. Die Menschen der Stadt hatten ihre Häuser verlassen, standen beieinander und sprachen aufgeregt. Niemand konnte anfangs in Worte fassen, was vor sich ging – doch es schien etwas Bedeutendes zu sein.

Die Truppen der Besatzer marschierten auf und prügelten die Bürger zurück in ihre Wohntürme. Überhastete Befehle wurden gerufen und Klingen blank gezogen. Im Laufschritt rückten die Soldaten der Fürstkomturei aus, um sich der Bedrohung vor den Toren Tuzaks anzunehmen. Die Kunde eines Aufstandes breitete sich wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus aus.

Debrasab saß noch immer hinter ihrem Schreibtisch und sortierte die hochgewachsenen Berge, bestehend aus zahllosen Schriftrollen mit dem Siegel der Fürstkomturei. Gewissenhaft prüfte sie, im Schein einer einzelnen Lampe, die Schriftstücke. Sie verteilte sie mit geübten Handgriffen auf verschiedene Stapel. Debrasab wollte sich nicht vorwerfen lassen, in diesen unruhigen Zeiten zu Fehlern zu neigen.Auch wenn der Wind rauer weht, muss man seine Pflicht erfüllen, sagte sie immer.

Bereits seit Beginn der Besetzung Tuzaks durch die Truppen des Dämonenmeisters arbeitete sie in der Schreibstube. Nicht nur die nimmersatten Armeen der Besatzer oder die Zwangsarbeiter in den Steinbrüchen dürstete es nach frischem Blut. Die aufgeblähte Bürokratie der Stadt brauchte zahlreiche Hände, um die neuen Anforderungen zu erfüllen. Anträge mussten geprüft und Verfahrensvorgänge vorangetrieben werden. Mehrere Tausend Bürger der Stadt mussten ausgespäht, überwacht und katalogisiert werden. Debrasab hätte zuvor nie geahnt, welcher bürokratische Aufwand hinter den zahllosen Befragungen, Verhaftungen und Exekutionen steckte. Aberhunderte Blätter mussten beschrieben werden. Niemand sollte der Fürstkomturei entgehen können.

Debrasab war nicht besonders stolz auf ihre Arbeit, doch sie erfüllte sie gewissenhaft und ohne eine einzige Beschwerde seitens ihrer Vorgesetzten.Fehler sind der Tod der Schreibstube, sagte sie immer.

Ihren Nachbarn verschwieg sie ihre genaue Tätigkeit für die Besatzer. Debrasab erfand immer langweiligere Geschichten über ihren Alltag, um der Macht des Kladj zu entgehen. Niemand hätte Verständnis dafür gehabt, dass sie denSamthändenzuarbeitete. Ihr selbst wäre es vor wenigen Jahren nicht anders gegangen.

Doch als sie vor die Wahl gestellt wurde, ihren Kindern beim Hungern zuzusehen oder ein paar Heller in der Administration zu verdienen, meldete sie sich umgehend freiwillig für diese Tätigkeit. Sie war bei Weitem nicht die Einzige, die sich bei den neuen Herrschern verdingte.

Debrasabs Aufgabe innerhalb der Schreibstube war es, die schriftlichen Vorgänge einer elementaren Ordnung zukommen zu lassen. Sie war sehr stolz auf das von ihr selbst entwickelte Ablagesystem, welches die Effizienz des Geschäftszimmers um ein Vielfaches erhöhte. Die Beamten konnten nun schriftliche Vorgänge zukünftigen Zeitpunkten zuordnen. Sollte die Befragung eines Gefangenen in zehn Tagen wiederholt werden? Kein Problem! Oder der Inhaftierte in zwei Tagen erneut gefoltert werden? Debrasab sortierte das Formular in eine der unzähligen Schubladen ein, sodass sie am entsprechenden Tag den Kerkermeister unterrichten konnte.Die Wiedervorlage vergisst nie, sagte sie immer.

Debrasab siegelte einen weiteren Haftbefehl, als die Tür aufgestoßen wurde. Vor Schreck verwischte sie das Wachs.

»Beamtin Debrasab«, rief ihr Laufbursche aufgeregt. »Ihr müsst sofort den Palast verlassen! Sie sind überall! In den Straßen fließt das Blut, wie das Wasser im Roab.«

Debrasab erhob mahnend den Finger.

» Hektik ist der faule Bruder der Perfektion. Sie macht uns schlampig, Junge. Das habe ich dir bereits häufig versucht beizubringen.«

»Aber Herrin …!«

»KeinAber, Bursche«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Du ordnest erst einmal dein Haar sowie deine Gedanken, während ich dieses Schriftstück fertig bearbeite. Und du solltest deine Robe säubern, sie ist ja voller Tintenflecken.«

»Aber Frau Beamtin, das ist keine Tinte! Es ist Efferdijn’s Blut …«

Nun schaute Debrasab von ihrer unvollendeten Arbeit auf. Im schwachen Schein der Laterne in dem fensterlosen Raum konnte sie die Flecken auf der Kleidung des Burschen kaum erkennen. Erst auf den zweiten Blick sah sie, dass der Junge die Wahrheit sprach. Er war übersät mit dunklen Blutspritzern. Sie verlor kurz die Fassung.

»Was ist dir widerfahren, Junge?«

»Nicht nur mir! Die ganze Stadt ist voller Leichen. Es sind die Zwangsarbeiter, Herrin. Sie haben sich zusammengeschlossen und ziehen nun mordend durch Tuzak. Sie sind von Sinnen und erschlagen jeden, der zu den Haffajas gehört. Ihr müsst sofort verschwinden! Ihr Ziel ist der Palast.«

Debrasab war für einen Moment versucht, den aufgeregten Worten des Burschen Folge zu leisten. Das Drängen in seiner Stimme hatte sie fast ihre Pflicht vergessen lassen. Debrasab schüttelte jedoch den Kopf und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu.

»Aber Herrin«, unternahm er einen letzten Versuch, ehe der scharfe Blick der Beamtin ihm das Wort abschnitt. Sie legte den Finger auf ihre Lippen und mahnte ihn zur Ruhe.

Entmutigt machte der Bursche auf der Stelle kehrt und rannte fort.

Wo kommen wir denn da hin, wenn man seine Arbeit wegen jedes kleinen Tumultes unterbrechen würde? Meine Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst!

Kurz darauf hörte sie den Burschen schreien. Sein lebloser Körper stürzte die Treppe herab und landete im Eingang ihres Arbeitszimmers.

Debrasab schaute auf und sah die halb verhungerten Gestalten, die mit blutigen Haumessern und Schnittern bewaffnet ihr Refugium stürmten. In ihren Augen loderte das Feuer der Vergeltung und noch etwas anderes, das Debrasab erst auf dem zweiten Blick erkannte. Es war blanker Wahnsinn, der den Blutrausch der Zwangsarbeiter antrieb.

Debrasab wandte sich ab und griff nach dem Siegelstempel. Sie presste das Werkzeug auf das flüssige Wachs und beendete ihre Arbeit in dem Moment, als sich die Frauen und Männer auf sie stürzten.

***

Tuzak überwand seine dunkelste Stunde. In einem Ausbruch von brutaler Gewalt befreiten sich die Menschen von ihren Unterdrückern. Unter der Führung eines in Ungnade gefallenen Karmoth-Gardisten sprengten sie ihre Ketten und richteten ein tagelanges Blutbad in den Straßen an. Von einem niederhöllischen Rausch ergriffen, kannten sie keine Gnade und kein Vergeben. Die Gräueltaten waren unbeschreiblich. DasTuzaker Schlachtfestwar gleichermaßen der tiefste Punkt und der erste Lichtschein seit Jahren.

Nachdem die Fürstkomturei aus den Mauern gedrängt war und sich Stille über die Gassen Tuzaks senkte, kamen die Menschen vorsichtig aus ihren Häusern. Es dauerte einen vollen Tag, bis sie verstanden, dass ihre vormaligen Besatzer in ihrem eigenen Blut lagen. Tuzak war frei.

Innerhalb von fünf Tagen riefen sich elf neue Herrscher aus. Sie nannten sichKöniginoderHaran, doch keiner von ihnen überlebte länger als zwei Tage. Mal war es das Festessen, welches vergiftet war, oder die ausgetretenen Stufen des Palastes wurden zum Verhängnis des neuen Usurpators.

Erst als Kolonel Orsijin vom Hira mit seinenWipfeltigern, einer allseits geachteten Rebellengruppe, den Dschungel und die Berge verließ, um in die Stadt einzumarschieren, erfuhr Tuzak einen zarten Hauch von Stabilität. Doch es sollte noch viele Monde dauern, bis sich die ausgedörrteLilienhaftevon den Schrecken der Besatzung langsam erholte.

Dort, in den Wehen einer neuen Gesellschaft, beginnt unsere Geschichte.

Vertraue keinem See, in den du nicht getaucht bist – 1036 BF

Madajin schreckt aus dem Schlaf auf. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich in den Traumwelten fremder Länder befunden. Die Erinnerungen vergangener Abenteuer mischten sich mit der lebhaften Phantasie des Maraskaners. In dieser Nacht war er der Held von Riva und der Schurke von Angbar. Oder war es umgekehrt? Bruchstücke des Traumes setzten sich neu zusammen und verklärten die verwaschene Erinnerung.

Noch während er sich den Schlaf aus den Augen rieb, fragte er sich, was ihn – bei Rur – nur dazu gebracht hatte, mitten in der Nacht aufzuwachen.

Seine Gedanken flossen wie zähflüssiger Honig. Erst nach und nach wurde ihm bewusst, dass er sich unter Deck des SeglersEfferdsliebbefand. Das Schwanken seiner Kammer unterstrich seine Erkenntnis. Madajin zog sich die Wolldecke über die Schultern und wollte erneut einschlafen, ehe er innehielt.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Er richtete sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Ihm war klar, dass sich ein Fehler in das Bild geschlichen hatte, das er wahrnahm. Nur welcher könnte das sein? Und warum war er erwacht?

Wie zur Antwort vernahm er ein lautes Poltern. Das Trampeln von Stiefeln erklang über ihm auf dem Deck des Schiffes.Vielleicht zieht ein Sturm auf und die Mannschaft ist im Begriff, die Zedrakke unwetterfest zu tauen, überlegte Madajin. Doch das Gefühl der Unsicherheit blieb und raubte ihm den Schlaf.

Mühevoll quälte er sich aus seiner Hängematte. Auf Zehenspitzen tapste Madajin zu seinem Gepäck und zog den kurzen Zauberstab hervor. Einen Moment später erhellte ein sanftes Glühen den Raum. Er blickte sich im Bauch des Schiffes um, sah die zahlreichen Hängematten und die gestapelten Kisten des Laderaums. Schlagartig wurde ihm klar, was ihm anfangs merkwürdig erschienen war.

Er war allein.

Als er die Überfahrt von Khunchom in seine Heimat Tuzak gebucht hatte, war ihm nur die Option einer Gemeinschaftsunterkunft auf derEfferdsliebübriggeblieben. Die wenigen Kajüten waren bereits vergeben gewesen. Aber die Aussicht, endlich wieder maraskanischen Boden unter seinen Füßen zu spüren, ließ ihn nicht an der Überfahrt zweifeln, und so hatte er umgehend der Kapitänin Rudlevs seine Zusage gegeben, zusammen mit der Mannschaft im Frachtraum zu nächtigen. Eben diese Mannschaft fehlte nun.

Das nervtötende Schnarchen der letzten Tage, die lautstarken Flatulenzen nach dem Verzehr von zu vielen Bohnen und das schlaftrunkene Gemurmel der tulamidischen Seeleute war ersatzlos verschwunden. Nur die Geräusche an Deck der Zedrakke verrieten ihm, dass er sich nicht auf einem Geisterschiff befand.

Madajin warf sich seine Magierrobe über den Kopf und schlüpfte in seine Sandalen. Wenn er schon einmal wach war, konnte er auch nachsehen, was hinter dem aufgeregtem Gestampfe steckte.

Vorsichtig erklomm er die knarzenden Stufen, die zu einer Luke im hinteren Teil des Schiffes, nahe den Deckaufbauten, führten. Madajin öffnete sie einen Spalt und wäre vor Schreck fast die Leiter hinab gestürzt, als sein Blick auf den Tumult an Bord der Zedrakke fiel.

Große Teile der Besatzung standen auf dem Deck zusammen. Madajin sah das Blitzen von gezogenen Klingen im Mondlicht. Entermesser, Säbel und scharfe Dolche ruhten in der Hand jeder Frau und jedes Mannes an Bord. Sie hatten sich versammelt, um den Anweisungen Kapitänin Rudlevs zu lauschen. Die spindeldürre Frau mit dem verfilzten Haar sprach ungewöhnlich leise, sodass Madajin ihre Worte kaum vernehmen konnte. Das war sonst nicht ihre Art, wenn er an ihren üblichen Befehlston dachte. Madajin spitze die Ohren und tatsächlich konnte er einzelne Wörter heraushören.

» … es … an der Zeit. Die Trottel denken immer noch … Hafen von Jergan. Wir … überwältigen. … guten Preis … Schnappt sie euch!«

Madajin verstand immer noch nicht, was vor sich ging, doch ihm entgingen nicht der aggressive Unterton und das hämische Grinsen der Kapitänin.

Welche Trottel? Und was haben wir mit dem noch immer von den Haffajas besetzten Jergan zu tun? Wir fahren doch nach Tuzak!

Als die Matrosen mit griffbereiten Waffen auf ihn zukamen und die Heckaufbauten ansteuerten, wurde ihm klar, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Rasch ließ er die Klappe der Luke fallen und zog sich in die Dunkelheit des Frachtraumes zurück.

Kurz darauf hörte er Schreie.

Mit zwei schnellen Schritten sprang er die Leiter hinab. Er rannte durch den Bauch des Schiffs, ohne genau zu wissen wohin. Die Deckluke wurde aufgerissen, und flackernder Lichtschein fiel in den Innenraum. Geistesgegenwärtig versteckte sich Madajin hinter einem Stapel Kisten. Er hörte die Stimmen mehrerer Matrosen.

»Wo ist der Kerl?«

»Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Eben schnarchte er noch in seiner Hängematte.«

»Wenn wir ihn finden, schneide ich ihm die Kehle durch. Dieses dämliche Gebrabbel treibt mich schon seit Tagen in den Wahnsinn.«

»Halt dich zurück, verstanden? Der Maraskaner ist ein Zauberer, er wird einen hohen Preis auf dem Sklavenmarkt von Jergan erzielen. Wir gehen vor, wie es die Kapitänin befohlen hat.«

»Aber dann lass mich zumindest dem Hundesohn eins überziehen.«

»Nein, obwohl er mich allein gestern zwölfmal beleidigt hat. Mein Knüppel sehnt sich nach seiner hässlichen Fresse.«

Madajins Herz raste. Die Mannschaft war hinter ihm her. Und nach allem was er hörte, konnte er nicht mit einer sanften Gefangennahme rechnen.

Er schaute sich um und überdachte seine Fluchtmöglichkeiten. Der direkte Weg aus dem Bauch des Schiffes war durch seine Häscher versperrt. Auch die größere Ladeluke bot ihm keine Alternative. Der Rumpf der Zedrakke war in mehrere Parzellen unterteilt, doch Madajin konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ob es dort noch einen weiteren Weg an Deck gab.

Verzweiflung ergriff ihn, als sein Blick auf eine Öffnung in der Decke fiel, durch die dicke Taue geführt wurden. Massive, in den Boden eingelassene Eisenringe sorgten für eine Umsetzung der Seile. Welche Funktion diese Konstruktion hatte, erschloss sich ihm nicht, aber Madajin vermutete, dass es sich um eine Art Lastkran handeln könnte oder es Teil der Takelage war.

Das könnte meine Rettung sein!

Die Öffnung war sehr schmal, aber Madajin glaubte, dass es für seinen schlanken Leib reichen müsste. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass er die Konstruktion nicht ohne weiteres erreichen konnte. Zwar lagen nur wenige Schritte zwischen ihm und den Tauen, doch dieser Bereich war für die Matrosen frei einsehbar.

Madajin wäre nicht er selbst, wenn er schnell klein beigeben würde. Er legte sich daher flach auf den Bauch und nahm seinen einen Schritt langen Magierstab in die Hand. Vorsichtig robbte er an den Rand der ihm Deckung gebenden Kisten. Leise streckte er sich, mit dem Stab in der Hand, über die Distanz des Durchganges hinweg. Nur noch wenige Fingerbreit fehlten ihm, bis er die massiven Eisenringe mit der Spitze des Magiersteckens berühren konnte. Er schob seinen Körper eine Winzigkeit weiter, immer in der Angst, dass die messertragenden Seeleute ihn entdecken würden. Er spürte den Widerstand des Metallringes am Ende seines Steckens und flüsterte eine Zauberformel. Niemand bemerkte sein magisches Tun. Schnell zog er sich in die Deckung der Kisten zurück und beobachtete aufgeregt sein Werk.

Die Eisenringe verfärbten sich zunehmend braun, wurden brüchig und eine erste Schicht blätterte ab. Wenn Madajin genau hinschaute, konnte er sehen, wie sich die auf Spannung gehaltenen Taue durch das vormals unnachgiebige Material drückten. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Sollte sein Plan funktionieren, war er in wenigen Minuten an Deck der Zedrakke.

Und was dann?

Noch während die Frage in seinem Verstand wiederhallte, näherten sich Schritte. Der rasselnde Atem eines Mannes, der in den letzten Stunden zu große Mengen Tabak geraucht hatte, drang an Madajins Ohr. Leise rappelte sich der noch immer auf dem Bauch liegende Zauberer auf und ging in die Hocke. Er spähte um die Ecke der Kiste und sah einen grobschlächtigen Tulamiden mit einem schartigen Entermesser in der Hand, der direkt auf ihn zukam. Schnell zog Madajin den Kopf wieder ein. Er steckte den Magierstab in den Hosenbund und bereitete sich auf die komplizierten Figuren des Rur’Uzat vor. Er wusste nicht, ob er dem Mann gewachsen war, aber kampflos sollten sie ihn nicht kriegen.

Der Matrose kam vorsichtig näher. Weniger als zwei Schritte trennten ihn von Madajins Versteck. Der Zauberer hielt die Anspannung kaum noch aus. Sein Atem ging stoßweise und so laut, dass er befürchtete, der Matrose könnte ihn allein dadurch entdecken.

Mit einem Knall brach das Metall des ersten Eisenringes. Das gespannte Tau riss nach oben und zerrte an den weiteren Ringen. Das stark verrostete Metall hielt dem Ruck einen Augenblick stand, ehe es aufgesprengt wurde.

Der Matrose machte vor Schreck einen Satz nach hinten, als das nunmehr befreite Tau nach oben schnellte. Madajin sah seine Chance gekommen. Er sprang auf und hechtete dem Seil nach. Seine Hände fanden an der Schlaufe des Taus Halt und der Zauberer wurde in die Höhe katapultiert. Als die schmale Öffnung auf ihn zu raste, war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob sie breit genug für ihn war.

***

Schwielige Männerhände schoben sie auf das Deck der Zedrakke. Inmitten der anderen Passagiere wurde Rajida mit vorgehaltener Klinge und dem einen oder anderen Faustschlag vor die Kapitänin geführt. Wer dem rohen Vorgehen der Besatzung Widerstand bot, wurde umgehend niedergeknüppelt. Erst vor wenigen Augenblicken hatte der Sohn der hinter ihr stehenden Tuchhändlerin aufzubegehren versucht und lag nun blutend am Boden.

Rasch beschloss die junge Rajida abzuwarten, ehe sie noch selbst zum Ziel der Attacken wurde. Was auch immer dazu geführt haben mochte, dass sie mitten in der Nacht aus ihrer Schlafstätte gerissen und an Deck geführt wurde, würde sicherlich nicht jetzt beendet werden. Wollte die Mannschaft derEfferdsliebsie tot sehen, hätten sie ihr im Schlaf die Kehle durchgeschnitten, anstatt sie zu wecken. Zumindest hätte Rajida es so gemacht.

In der Dunkelheit der Nacht konnte sie am Horizont kein Land ausmachen. Die Zedrakke musste sich noch immer auf hoher See befinden.

Ein Großteil der Seeleute umringten die Passagiere und stellten sie in einem Halbkreis auf. Die dürre Kapitänin kam auf sie zu stolziert, während Rajida versuchte, mit einem Vorhang aus schwarzem Haar ihr Gesicht zu verbergen. Sie musste sich so unauffällig wie möglich verhalten, wollte sie lebend aus dieser Geschichte herauskommen.

»Meine verehrten Passagiere«, begann die Kapitänin mit einem süffisanten Lächeln. »Da ihr schon seit ein paar Tagen meine Gäste auf derEfferdsliebseid, sehe ich es als meine Pflicht an, euch über eine klitzekleine Kursänderung zu informieren. Wir werden nicht wie geplant den Hafen von Tuzak anlaufen. Ach bei Bahamuth, was soll jetzt noch das Versteckspiel: Wir hatten nie vor, dort anzulegen! Stattdessen freue ich mich, euch noch ein paar Tage länger zu beherbergen auf unserer Reise nach Jergan.«

»Beim Göttervater! In die Schattenlande!«, entfuhr es der Tuchhändlerin an Rajidas Seite, die sich noch immer um ihren verletzten Sohn kümmerte.

»Nein, die lahme Himmelsfunzel hat sicherlich nichts mit unserer Reise zu tun. Ihr alle werdet einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt einbringen.«

Ein Raunen ging durch die versammelte Menge und Menschen begannen zu weinen.

»Aber eines kann ich euch versprechen: Ihr werdet leben! Das kann sich allerdings ganz schnell ändern, wenn jemand versucht, sich gegen mich oder meine Getreuen zu stellen. Verstanden?«

Rajida fluchte innerlich. Dies war ihre erste Reise, und sie war noch nicht einmal an ihrem Ziel angekommen und befand sich bereits in der Gefangenschaft einer heimtückischen Sklavenhändlerin. Wenn ihre Herrin das erfahren würde, wäre sie von diesem wichtigen Auftrag schneller wieder abgezogen, als sieTuzaksagen konnte.

Im Geiste überschlug Rajida ihre bisherige Reisezeit und den noch vor Kurzem eingeschlagenen Kurs. Soweit sie dies beurteilen konnte, dürften sie nicht allzu weit von der Küste Maraskans entfernt sein.

Nachdem die Kapitänin ihr hässliches Schauspiel beendet hatte, würden sie sicherlich irgendwo an Bord eingesperrt, überlegte Rajida. Vielleicht konnte sie dann, wenn sich die erste Aufregung legte, für ein paar Momente den wachsamen Augen ihrer Wärter entgehen und flüchten. Mit Hilfe eines Fasses oder einer Planke sollte es ihr möglich sein, Maraskan zu erreichen. Sie war eine gute Schwimmerin. Wenn ihre Berechnungen stimmten …

Ein Knall unterbrach ihre Überlegungen. Erschrocken blickte die junge Frau auf und sah, dass sich eines der Seile aus der Verankerung gerissen hatte. Es schnellte in die Höhe und peitschte dabei über das Deck. Schreiend warfen sich die Menschen zu Boden. Eine unglückliche Seefrau wich nicht schnell genug aus und wurde durch das pfeilschnelle Tau hart getroffen und über Bord geschleudert. Die Kapitänin konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken.

Zur gleichen Zeit wurde aus dem Bauch des Schiffes eine Gestalt ausgespien, die sich an das Tau klammerte. Rajida sah einen Mann mit unzähligen Zöpfen der, wie ein Fisch am Haken einer Angel, empor geschleudert wurde. Das Seil wickelte sich um den zentralen Mast und beschleunigte den aus vollem Halse schreienden Mann nur noch weiter. Noch ehe Rajida verstand, was genau vor sich ging, sah sie ihn auf sich zurasen. Sein Griff löste sich von dem Tau, und er ging, wie das Geschoss einer Belagerungsmaschine, in eine ballistische Flugbahn über. Sie wollte sich ducken, doch es war zu spät.

Der Mann prallte gegen sie und riss Rajida von den Füßen. Seine Hände krallten sich in ihr Kleid, und sein Körper riss ihren mit. Im hohen Bogen wurden beide über die Bordwand geschleudert. In einem Moment der Stille klammerten sie sich aneinander, ehe sie klatschend ins Meer stürzten.

Die Schönheit der Welt

Wie brüchige Zähne ragten die hellen Felsformationen in die Höhe. Soweit das Auge reichte, bildeten sie ein Bollwerk gegen das Meer. Große Vögel zogen im Aufwind ihre Kreise an der Küste Maraskans. Eine grüne Krone thronte in mehreren Dutzend Schritt Höhe über den schroffen Klippen. Vereinzelte Lianen und Äste wuchsen über den Rand, jedoch ohne Chance, jemals den kieselbewehrten Strand in weiter Tiefe zu erreichen.

Unter einem blauen Himmel schoben sich die Wellen gemächlich auf den schmalen Streifen und wuschen die Steine glatt. Die Gischt umspielte zwei Körper, die nah beieinander bäuchlings am Ufer lagen. Ihre Kleider klebten in Fetzen an ihren Leibern. Ein unbedachter Beobachter hätte sie anfangs für die Leichen von Schiffbrüchigen halten können, wenn sich der Mann nicht bewegt hätte.

Unter lautem Prusten kam Madajin zu sich. Er würgte Salzwasser hoch, spie es aus und schüttelte den Kopf, sodass seine Zöpfe einen wilden Tanz aufführten, um seinen Verstand zu klären.

Was ist geschehen? Wo bin ich? Wie komme ich hier her? Und wer ist diese … wunderschöne Frau?!

Noch ehe er sich den ersten drei Fragen stellen konnte, blieb sein Blick auf der Unbekannten haften, die neben ihm am Strand lag. Die Reste ihres Kleides offenbarten mehr, als sie verbargen. Ihr schlanker Körper war braungebrannt und von einer Zartheit, die wenig harte Arbeit kennengelernt hatte. Er kam nicht umhin, ihre Rundungen zu bewundern.

Noch während er sie anstarrte, regte sich die Frau und hob den Kopf. Ihr Haar fiel ihr strähnig ins Gesicht. Schmale Augen, die etwas zu eng beieinander standen, blinzelten ihm entgegen. Ihre Wangen erinnerten ihn an Seide. Ihre anmutigen Lippen formten ein Wort, doch Madajin verstand es nicht. Zu sehr war er damit beschäftigt, die Linien der Stupsnase zu verfolgen.

Im nächsten Moment übergab sich die Schönheit und würgte Meerwasser hervor. Ihr Leib bäumte sich in Schüben auf, um auch die letzten Reste der salzigen Flüssigkeit sowie schleimige Brocken auf die Kiesel zu erbrechen.

Madajin verzog kurz das Gesicht, ob dieser unerwarteten Störung seiner Libido. Doch selbst dieser harte Aufprall seines Begehrens auf dem Boden der Wirklichkeit konnte seine Verzückung nicht wegwischen. Diese Frau musste das wunderschönste Geschöpf sein, das Rur jemals Gror zum Geschenk machte.

»Preiset die Schönheit«, wisperte er.

Erst nach und nach setzen sich die Erinnerungssplitter zu einem Bild zusammen. Nun fiel ihm wieder ein, wie er an Bord derEfferdsliebwar und sich die Besatzung über die Passagiere hermachte. Madajin erinnerte sich an seine waghalsige Flucht und den Sturz ins Meer. Danach verschwammen seine Erinnerungen zu Bruchstücken von Wellen, Kälte und Dunkelheit.

»Schau weg«, röchelte die Frau.

Madajin war gar nicht bewusst, dass er sie immer noch anstarrte. Schnell tat er, wie ihm geheißen und blickte zur Seite.

»Ich will nicht, dass du mich so siehst. Ich gebe ein erbärmliches Bild ab.« Sie spuckte mehrmals auf den Strand und wischte sich den Mund ab.

»Herrje nein, du bist … also ich meine … wunderschön. Also nicht im Moment vielleicht, du siehst grässlich aus.« Als sie ihn finster anstarrte, fügte er schnell hinzu: »Ich meine … im Hinblick auf unsere Lage … ich meine …«

»Vielleicht hältst du einfach mal den Mund.«

»Schweigen? O ja, natürlich! Ich kann sehr gut schweigen. Ich habe schon häufig in meinem Leben nichts gesagt«, stammelte er. »Kennen wir uns nicht irgendwoher?«

Sie richtete sich auf und versuchte ihr Kleid so zu drapieren, dass es möglichst viel Haut verbarg. »Bist du irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen? Wir sind zusammen auf der Zedrakke gefahren, bis du mich über Bord geworfen hast, du Tollpatsch.«

Langsam dämmerte es Madajin. Das zauberhafte Geschöpf musste die Dame sein, die während ihrer gemeinsamen Reise ihr Gesicht unter einer tiefen Kapuze verborgen hatte. Nicht einmal er hatte es geschafft, einen Blick auf dieses wunderschöne Gesicht zu werfen.

»Ich muss wohl bitten! Ich habe dich nicht über Bord geworfen. Ich habe dich vor der sicheren Wiedergeburt gerettet.«

»Mich gerettet? Ich kam sehr gut klar, ehe du wie ein Wahnsinniger aus dem Rumpf des Schiffes geschossen kamst und mich mit dir gerissen hast. Was fällt dir eigentlich ein? Du hättest mich umbringen können!« Sie stand auf und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Du wärst schon lange beimTraurigen Bruder, wenn ich nicht gewesen wäre. Oder glaubst du etwa, die Matrosen hätten dich verschont? Zeigst du so deine Dankbarkeit?« Auch Madajin war aufgesprungen und funkelte sie an.

»O ja, genau. Vielen Dank, mein gelobter Held, dass du mich aus den Fängen des Bösen befreit hast.« Ihre Worte waren samtweich. »Wenn du mir bitte folgen würdest, ich habe da noch ein Problem mit meinem Turm, der von einem Drachen bedroht wird. Und auch mein Königreich braucht noch einen Ritter in strahlender Rüstung, der es vor dem Untergang rettet. Bist du mein Held?« fügte sie zuckersüß an.

»Das ist ungerecht!«

»Vielleicht in deiner Welt.«

»Warum bist du so gemein zu mir?«

»Ach, halt die Klappe.« Sie verschränkte die Arme und wandte sich von ihm ab.

Eisige Stille stand wie eine Mauer zwischen ihnen. Madajin war verwirrt und wusste nicht, wie er auf diese raue Abfuhr reagieren sollte. Doch Schweigen gehörte sicherlich nicht zu seinen Tugenden, sodass er nach wenigen Augenblicken erneut das Wort ergriff.

»Ich heiße übrigens Madajin, Madajin ohne Großvater.«

»Rajida«, antwortete sie schnippisch.

»Schön dich kennenzulernen.«

Sie schenkte ihm einen giftigen Blick über die Schulter.

»Und was machen wir jetzt?« fragte sie.

»Ich bin auf dem Weg nach Tuzak. Wir könnten es zusammen suchen«, schlug er vor.

»Weißt du denn, wo wir sind?«

»Nein«, gestand er. »Ich weiß noch nicht einmal, was genau an Bord des Schiffes geschehen ist.«

»Sie wollten uns in die Fürstkomturei verschleppen und auf dem Sklavenmarkt verschachern. Die Kapitänin steuerte Jergan an. Aber wenn ich mich nicht irre, änderte sie erst kurz vor unserer Gefangennahme den Kurs. Wir dürften also in der Nähe derLilienhaftensein. Fragt sich nur, auf welcher Seite der Grenze.«

»Du glaubst, dass wir in den Schattenlanden sind?« stieß Madajin erschrocken aus.

»Die Grenze verschiebt sich immer mal wieder um ein paar Meilen, aber nach allem, was ich gehört habe, dürfte sie zurzeit ein gutes Stück nördlich von Tuzak sein.«

»Das will ich ja wohl auch meinen!« Madajin hatte unzählige Geschichten über den besetzten Teil seiner Heimat gehört. Menschen wurden in niederhöllischen Ritualen geopfert, und die Flora selbst litt unter dem dämonischen Einfluss. Man konnte sich selten entscheiden, ob man von einem lebenden Leichnam oder einer beseelten Pflanze gefressen werden mochte. Im Land der Haffajas konnte einen beides ereilen, wusste der Kladj zu berichten.

»Hast du etwa Angst?«

Madajin drückte seinen Rücken durch. »Natürlich nicht! Und auch du brauchst dich nicht fürchten, denn ich bin ein Zauberer!«

»Tatsächlich?« fragte Rajida skeptisch.

»Ja, ich zeige es dir.«

Madajin streckte den Arm aus. Mit geöffneter Hand konzentrierte er sich auf seinen Zauberstab. Zwar konnte er ihn nicht sehen, aber das magische Band, das zwischen ihnen gewoben war, verband ihn ein Leben lang mit seinem Fokus. Deutlich spürte er ein Ziehen, das ihm verriet, dass er eine astrale Brücke zu seinem Stab aufgebaut hatte. Er befahl dem Stecken, zu ihm zurückzukehren.

Doch lange Zeit geschah nichts.

»Bist du dir sicher, dass du ein Magier bist?«

»Aber ja, ich habe vor vielen Jahren an der Schule des Wandelbaren in Tuzak studiert.«

»Das muss dann aber schon ziemlich lange her sein. Die Akademie wurde vor anderthalb Jahrzehnten geschlossen, alter Mann.«

»Ich bin höchstens zehn Götterläufe älter als du«, maulte er. »Ich gehörte zum vorletzten Semester. Ich bereiste in der Zwischenzeit die Länder der Unwissenden und habe so manches Abenteuer bestanden. Ich entlarvte einen Dämonenbeschwörer in Riva und deckte eine Verschwörung in Angbar auf.«

»Jetzt bin ich aber beeindruckt«, kommentierte sie trocken.

»Ich habe dir nichts getan. Kannst du das bitte einmal sein lassen?«

»Wenn du es sein lässt, bei jeder Gelegenheit anzugeben.«

Madajin schnaufte frustriert. Er wandte sich wütend ab und rannte schnurstracks in seinen apportierten Zauberstab, der vor ihm in der Luft schwebte. Fluchend hielt er sich die schmerzende Nase. Rajida trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Oberarm. Sofort wurde Madajin abwechselnd heiß und kalt.

»Verzeih bitte, manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Ich wollte dich nicht verletzen … oder dafür verantwortlich sein, dass du dies selbst tust«, fügte sie schmunzelnd hinzu.

Er sah in ihr Gesicht, das nur wenige Handbreit von dem seinen entfernt war. Madajin verlor sich in ihren dunklen Augen. Der Schmerz war vergessen und er war kurz davor, sie küssen zu wollen. Ein Prickeln lag in der Luft.

Rajida wandte sich abrupt von ihm ab und betrachtete die Klippen. »Wir müssen einen Weg dort hinauf finden.«

Er würde ihr überall hin folgen.

***

Eine Stunde später hatten sie einen schmalen Pfad entdeckt, der sie die steilen Klippen hinaufführte. Der Aufstieg war beschwerlich und nicht ganz ungefährlich, denn ein Fehltritt würde den sicheren Tod bedeuten.

Sie erreichten in schwindelerregender Höhe ein Plateau, hinter dem sich der berüchtigte Dschungel Maraskans ausbreitete. Atemlos und erschöpft hielten sie inne.

Vor ihnen erstreckte sich eine schier undurchdringliche Welt aus verschiedenen Grüntönen. Gigantische Bäume ragten mehr als sechzig Schritt in die Höhe und warfen tiefe Schatten über den Boden, der mit Farnen, Sträuchern und Gräsern ein Sammelsurium der Geschenke Rurs bildete. Im Vergleich zu den Wäldern des Kontinents neigte scheinbar jede Pflanze der Insel zum Riesenwuchs. Im Zwielicht des Blätterdaches wuchsen Blumen in allen erdenklichen Farben und bildeten Farbtupfer, dieSchwester Tsazu Ehre gereicht wurden. Zwei Schritt hohe Blumen mit armdicken Stängeln und Blüten in Violett und Türkis wechselten sich mit regenbogenfarbigen Knollen ab, die aus der Rinde manches Baumes wuchsen. Der Geruch von frischer Erde, der Duft der Blumen und die Ausdünstungen der Pflanzen bildete eine Mischung, die Madajin verzauberten.

In all den Jahren im Exil hatte er versucht, die Schönheit der maraskanischen Welt tief in seinem Herzen zu halten. Er hatte sie gehegt und gepflegt, wie eine zerbrechliche Glasphiole behütet, um sich die Erinnerung an das Geschenk Rurs zu bewahren. Häufig hatte er in kalten Nächten von Maraskan geträumt. Das Heimweh war an manchen Tagen schier erdrückend gewesen, so sehr hatte er sich zurück auf seine Insel gesehnt.

Niemals wurden seine verblassten Erinnerungen dem gerecht, was er nun vor sich sah. Tränen schossen ihm in die Augen, als er auf die Knie sank.

»Zu Hause«, hauchte er. Frei von jeder Scham ließ er seinen Tränen freien Lauf. Wie reißende Bäche flossen sie über seine Wangen und benässten seine zerschlissene Kleidung.

»Was ist mit dir?« fragte Rajida. Sorge lag in ihrer Stimme.

Er blickte zu ihr auf. »Ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen, als in diesem Moment. Jahre wünschte ich mir diesen Augenblick herbei. Und nun, da ich wieder zu Hause bin, kann ich es kaum in Worte fassen. Wir sind das Wunder, Bruderschwester.«

Madajin war entrückt im Hier und Jetzt und starrte minutenlang auf den Urwald, der vor Leben pulsierte. Überall krabbelte, kletterte und wimmelte es. Das Grün als Solches schien sich zu bewegen, zu verschwimmen und wieder neu zusammenzusetzen. In wenigen Momenten sah er mehr Vierbeiner, Achtbeiner und Vielbeiner als in einer ganzen Woche im Kosch.

Rajida wurde unruhig. »Können wir jetzt weiter? Es ist noch ein weiter Weg nach Tuzak und ich hätte auch nichts gegen eine Wasserstelle und etwas Essbares einzuwenden.«

Verwundert wandte sich ihr Madajin zu. »Empfindest du denn nicht das Gleiche? Erkennst du etwa nicht die Schönheit?«

Rajida knabberte an ihrer Unterlippe. »Doch, es ist sehr hübsch hier. Trotzdem möchte ich nicht in Schönheit sterben, indem ich auf dieser Klippe verdurste. Kannst du also bitte wieder aufstehen und mit mir kommen?«

Madajin starrte sie fassungslos an. Er brauchte mehrere Momente, ehe er fragte. »Wann warst du das letzte Mal in unserer Heimat?«

»Noch nie. Ich bin im Exil aufgewachsen. Vor dem Schlafengehen erzählte mir meine Tante immer Geschichten über unsere Heimat. Es kommt dem hier schon sehr nahe.«

»Dann kannst du es nicht verstehen. Dann erkennst du nicht Rurs Daumenabdruck auf diesem Land?« Enttäuschung lag auf seinem Gesicht.

»Jetzt reicht es mir aber.« Sie trat auf ihn zu und zog ihn mit einem Ruck auf die Füße. »Ich weiß nicht, welche Rauschgurke du gegessen hast, aber ich habe keine Lust mehr, auf dich zu warten. Ja, es ist bezaubernd und ich verstehe, dass du ganz entzückt bist. Trotzdem habe ich genug von deiner Verklärung.« Sie schob ihn auf das Dickicht des Urwaldes zu.

Zuerst wollte Madajin aufbegehren und sich weigern, weiter zu gehen. Doch Rajidas Entschlossenheit wischte seinen aufkeimenden Widerstand fort.

Was hat diese Frau nur an sich, das mich alles vergessen lässt?

Während sie tiefer in das Unterholz des Dschungels eindrangen, ließen sie die Klippen hinter sich. Das Grün umschloss sie nach wenigen Schritten. Die Küste der Insel hätte hundert Meilen entfernt sein können. Riesige Wurzeln spannten sich wie Brücken über ihren Köpfen. Rajida und Madajin bahnten sich einen Weg zwischen den vermodernden Leibern hölzerner Giganten, die unter ihrem eigenen Gewicht zerborsten waren. Madajin beugte sich unter wagenradgroßen Blättern hindurch, dabei ließ ihn der Gedanke an seine Begleiterin nicht los. Er ging hinter ihr, beobachtete ihre geschmeidigen Bewegungen, bewunderte die Sanftheit ihrer Gesichtszüge, wenn sie sich umwandte, und bemerkte den harmonischen Klang ihrer Stimme. Jedes freundliche Wort ihrerseits war ihm eine Offenbarung, jedes spöttische Wort verletzte ihn tief. Noch niemals zuvor empfand er Vergleichbares für einen Menschen.

War da etwa Magie im Spiel?

Der Gedanke schoss durch seinen Verstand und ließ ihn schaudern. Während seines Studiums in Tuzak hatte er von astralen Tränken gelesen, die einen Menschen zu einem willenlosen Opfer voll brennender Leidenschaft degradieren. Unter den Elfen soll es Vergleichbares geben. Blicke einem von ihnen zu lange in die Augen und du unterliegst seinem Zauber, sagte man.

Nachdenklich kratze sich Madajin am Kopf. Er musste diesem Verdacht auf den Grund gehen. Wenn er über sein Verhalten der letzten Stunden nachdachte, war dies alles andere als rational gewesen. Er behandelte Rajida in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft wie ein höheres Wesen. Einer Statue gleich hob er sie auf ein Podest, um sie anzuhimmeln.

Nein, hier stimmt doch etwas ganz und gar nicht!

Er musste Gewissheit haben. Madajin konzentrierte sich auf das astrale Geflecht und ließ Rajida nicht aus den Augen. Leise murmelte er die magische Formel.

Nichts geschah.

Anfangs befürchtete er, dass sein Zauber missglückt sei, denn das passierte ihm häufiger. Doch dem war nicht so. Zur Sicherheit sprach er noch einen zweitenOdem Arkanum, der jede Spur von Magie in ein rötliches Leuchten getaucht hätte. Abermals passierte nichts.

Madajin schluckte schwer. Wenn Rajida ihn nicht verzaubert hatte, keinerlei Fluch gesponnen oder mit Hilfe von astralen Tränken seinen Willen gebrochen hatte, und sie obendrein kein Höheres Wesen wieSchwester Tsaoder derTraurige Bruderwar, blieb nur eine logische Erklärung übrig.

Madajin hatte sich verliebt.

Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche

Die wenigen Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch das Blätterdach fanden, wurden spärlicher. Nicht mehr lange und Rajida und Madajin würden in der Dunkelheit der Nacht jegliche Orientierung verlieren. Schon jetzt wussten sie nicht, wo sie sich befanden. Madajin hatte nur eine Ahnung davon, dass sie in Richtung Südosten gingen, auch wenn er sich nicht sicher war.

Sie bahnten sich einen Weg durch das Dickicht, bis sie eine kleine Lichtung erreichten. Der Bewuchs bildete einen fast kreisrunden Platz, dessen Zentrum ein Tümpel war. Das Brackwasser wurde von zahllosen Mücken, Moskitos und Insekten, die Madajin nie zuvor gesehen hatte, umschwirrt. Ihre Chitinpanzer glitzerten im Schein der untergehenden Sonne, als wollten sie jedem unbedachten Wanderer eine Warnung aussprechen:Das ist unser Revier!

Rajida ignorierte oder übersah diese deutlichen Anzeichen. Sie stürmte auf das Wasserloch zu, ging in die Hocke und stillte ihren Durst in tiefen Zügen. Noch ehe Madajin einschreiten konnte, hatten sich Dutzende der kleinen Quälgeister auf die junge Frau gestürzt. Ihrem menschlichen Vorbild nacheifernd, tranken sie in vollen Zügen.

Schon nach wenigen Momenten schlug Rajida wild um sich. Doch die größer werdende Wolke der Insekten wollte nicht von ihrem überraschenden Abendschmaus ablassen.

»Diese garstigen Viecher!« Sie schlug sich mit der flachen Hand auf den Arm. »Ist hier irgendwo ein Nest?«

»Komm da weg, Rajida! Solang du an dem Tümpel bleibst, werden sie dich zerstechen.«

Sie wollte ihm widersprechen, doch Hunderte Mücken senkten sich über sie. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Rajida sprang auf die Füße. Sie schützte ihren Kopf mit den Armen und rannte zu Madajin. Er konnte bereits Dutzende Einstiche auf ihrem Körper ausmachen. Geistesgegenwärtig ballte er die Faust und deutete auf den Schwarm, der Rajida zu verfolgen schien. Sie schrie vor Angst, rannte an ihm vorbei, während Madajin eine magische Formel sprach.

Einen Augenblick später regnete es tote Insekten. Zu Hunderten fielen sie auf den Waldboden, als hätte sie ihre Lebenskraft schlagartig verlassen. Madajin grinste breit und rief Rajida nach: »Siehst du, ich bin doch ein Zauberer!« Sie hielt inne und blickte über ihre Schulter zu ihm zurück. »Fürchte dich nicht, holde Maid«, fügte er theatralisch an. »Dein magischer Ritter beschützt dich vor den fliegenden Heerscharen. Sie werden dir nicht wieder zu Leibe rücken.«

»Gilt das auch für die dort?« Rajida deutete mit dem Finger auf etwas, das in seinem Rücken lag. Erst da fiel ihm das durchdringende Summen auf.

Ein rascher Schulterblick offenbarte ihm eine schwarze Wolke über dem Tümpel. Sein Verstand konnte ihm nicht erklären, welches Phänomen sich dort in der Größe eines Pferdes bildete, bis er in dem dunklen Schatten einzelne Insekten ausmachen konnte. Ein spitzer Schrei entfuhr seiner Kehle, ehe er die Beine in die Hand nahm und an Rajida vorbei stürmte. Er brach durch das Unterholz, nicht darauf achtend, was vor ihm lag. Er wollte nur weit, weit weg von diesem Horror sein. Rajida folgte ihm auf dem Fuße.

Sie liefen durch den Dschungel, bis ihre Lungen brannten. Mehr als einmal stürzten sie und mussten sich rasch wieder aufrappeln, um nicht von der dunklen Wolke verschluckt zu werden. Erst als das Summen schon lange hinter ihnen verklungen war, blieben sie nach Luft schnappend stehen.

Rajida ließ sich zu Boden sinken. Ihre Brust hob und senkte sich stoßweise. Madajin erging es nicht besser. Er ging neben ihr in die Hocke. Übelkeit hatte seinen Magen fest im Griff. Er war kurz davor, sich zu übergeben.

»Was … was war das?« fragte sie.

Madajin rang nach Luft. »Keine Ahnung. Ich … glaube … die Wolke hatte … Augen.«

»Du spinnst!«

»Es war … nicht natürlich. Hässlich … ungeschaffen … böse.«

»Du meinst, es liegt … an dem Einfluss … der Fürstkomturei? Dann sind wir im Herrschaftsbereich der … Dämonenbeschwörer?«

»Ja«, antwortete er knapp. Sein Blick war starr auf die Büsche wenige Schritte entfernt gerichtet.

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Deswegen.« Madajin deutete neben sich.

In der zunehmenden Dunkelheit lagen zwei Brustharnische. Auf ihnen prangten zwei rote, gekreuzte Schwerter auf schwarzem Grund – das Wappen der Heptarchie des Helme Haffax.

Neben den Rüstungen lagen jeweils Helm, Schwert, Hose und Stiefel. Madajin wunderte sich, denn es sah so aus, als hätte jemand die Kleidung so aufgereiht, dass allein der Soldat in ihr fehlte.

Doch wer sollte so etwas tun? Handelte es sich um einen Witz?

Madajin kroch näher. Erst als das seltsame Stillleben zum Greifen nahe war, erkannte er, dass die Rüstung keineswegs leer war. In ihr steckte die Haut eines Menschen, die wie eine Decke über den Knochen lag. Es erinnerte ihn an ein zu groß geratenes Kleid. Er erkannte deutlich Haare und Umrisse von Gesichtszügen.

Madajin würgte und kostete seinen Magensaft. Rajida krabbelte auf allen vieren von den zwei Leichen fort, die kaum noch als Menschen zu erkennen waren.

»In was für einer Hölle sind wir hier gestrandet?« ihre Stimme klang atemlos. »Wer stiehlt den Menschen Fleisch und Muskeln, sodass nur eine Hülle übrig bleibt?«

Madajin wischte sich das Erbrochene mit dem Ärmel fort. »Wer auch immer es war, ich möchte ihm nicht begegnen.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, doch ein Knacken im Unterholz ließ ihn erstarren. Auch Rajida musste es gehört haben, denn ihre Augen weiteten sich angsterfüllt.

Es folgte ein Knarzen, Schaben und Scheppern. Dies konnte nicht von einer Kreatur alleine stammen, durchfuhr es Madajin.

Eine weibliche Stimme erklang in breitem tobrischen Akzent. »Sie sind hier entlang gegangen. Den Fußspuren nach zu urteilen, schlichen sie durch das Geäst. Vielleicht wollten sie die Gegend auskundschaften.«

»Das will ich ihnen auch raten«, brummte ein blecherner Bass. »Denn wenn sich herausstellt, dass sie fahnenflüchtig sind, dann wird es keine Gnade geben. Sich unerlaubt von der Karmoth-Garde zu entfernen, kommt einem Hochverrat gleich.«

Rajida krabbelte lautlos zu ihrem Begleiter. Sie deutete ihm mit erhobenem Finger vor ihren Lippen zu schweigen. Sie richtete sich auf allen vieren auf und riskierte einen Blick über die Büsche hinweg. Schnell legte sie sich wieder flach auf den Boden. »Es ist eine komplette Einheit. Mindestens zwanzig Soldaten«, flüsterte Rajida. »Was machen wir jetzt?«

»Wir könnten aufspringen und rennen«, bot Madajin an.

Sie verzog das Gesicht. »So ein Blödsinn«, zischte sie ihn an. »Wir verstecken uns. Dort drüben zwischen dem Blattwerk.«

Er folgte ihr, so leise er konnte, bäuchlings unter das schützende Dach eines Gebüsches. Während sich Rajida nahezu lautlos unter den Ästen verbarg, knackte und knirschte es, als Madajin versuchte, sich zu verstecken. Er handelte sich einen strafenden Blick ein.

»Hier drüben, Blutschwester! Hier liegt etwas.«

Madajin fluchte innerlich. An den Bewegungen des Unterholzes konnte er sehen, dass sie ebenfalls die Überreste der Soldaten entdeckt hatten.

Nun ist es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis sie uns drankriegen.

Und dann sah er sie. Frauen und Männer, gerüstet in Leder. Verschwitzte Haare ragten unter ihren Helmen hervor. Mit grimmigen Blicken suchten sie die Umgebung ab. Ihre Gesichter waren hart und erinnerten Madajin an die vielen Halunken, denen er in den verruchten Ecken Rivas begegnet war. In den Händen hielten sie lange, kantige Schwerter zum Schlag bereit. Madajin kannte die besondere Schmiedekunst der Klingen. Sie waren nach der maraskanischen Art derNachtwindegeformt. Ihm schauderte es, den Feind mit den Waffen seines Volkes in den dämonischen Klauen zu sehen.

Noch nie zuvor war er den Soldaten der Karmoth-Garde oder irgendeiner anderen Einheit der Besatzer begegnet. Einzig der Kladj über die grausamen Taten der Haffajas drang an sein Ohr und fachte seinen Zorn an. Wie viele seines Volkes mussten unter diesen Klingen gestorben sein? Wie viele wurden in Kellern zu Tode gefoltert oder auf dämonischen Altären geopfert?

Aus dem schillernd grünen Bewuchs trat eine Frau, wie Madajin noch keine zuvor erblickt hatte. Gekleidet in eine zerbeulte Plattenrüstung war sie der Inbegriff von brutaler Wildheit. Die Haare standen ihr vom Kopf ab und waren beschmiert mit einem klebrigen Öl. Ihr Gesicht erinnerte an ein getrocknetes, brüchiges Flussbett. Unzählige Narben zogen Furchen über ihre Wangen. Ein Ohr fehlte, und als sie zu sprechen begann, sah Madajin, dass sie ihre Zähne zu scharfkantigen Dornen angespitzt hatte.

»Dieses dämliche Pack hat sich von der örtlichen Tierwelt verspeisen lassen. Diese Narren!«

»Aber Herrin, was für ein Tier frisst den Menschen und lässt seine Haut zurück? Es muss das Werk der Zauberer des Shîkanydads gewesen sein.«

Ein Rückhandschlag des Panzerhandschuhs der Bluttemplerin schickte den Soldaten zu Boden. »Du wagst es, mir zu widersprechen? Du bist genauso dumm wie unwissend.« Sie beugte sich zu dem Karmoth-Gardisten hinab und zog ihn am Kragen zu sich. Ihr Gesicht war nur wenige Fingerbreit von seinem blutverschmierten Antlitz entfernt. »Die Maraskanfeder jagt in ihrer Gier auch nach Zweibeinern. Sie stürzten sich zu Dutzenden auf ihr Opfer. Sie dringen in jede mögliche Körperöffnung ein und fressen ihre Beute von innen heraus auf. Wenn du mir noch ein einziges Mal widersprichst, werfe ich dich in ein Nest dieser handtellergroßen Hundertfüßer und pisse auf deinen Hautsack.«