Shadowrun: Alter Ratio - Mike Krzywik-Groß - E-Book

Shadowrun: Alter Ratio E-Book

Mike Krzywik-Groß

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Beschreibung

Berlin, 2079. Etwas ist faul im Sprawl an der Spree. Metamenschen verschwinden, offenkundig sinnfreie Geschäfte werden von Unbekannten getätigt, und jemand scheint die antike Kabelmatrix zu reaktivieren, die seit Jahren unter der Stadt brach liegt. Mächte bringen sich in Stellung, doch niemand erahnt das Gewitter, das am Horizont aufzuziehen droht. Und welches die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Aggi und Paul Dante, einst unzertrennliche Freunde, haben sich längst nichts mehr zu sagen. Als sie ihn nun herbeiruft, muss er aus seiner anhaltenden Abwärtsspirale ausbrechen, denn nur gemeinsam können sie sich der Bedrohung stellen. Alter Ratio spielt kurz vor der Rollenspiel-Abenteuerkampagne Netzgewitter, die ebenfalls bei Pegasus Press erscheint.

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EPUB

Seitenzahl: 483

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SHADOWRUN:

ALTER RATIO

Mike Krzywik-Groß

Pegasus Press

35015G

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Andreas Schroth

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Lars Schiele

Umsetzung eBook:

SiMa Design

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2020 bei Pegasus Spiele.

© der deutschen Ausgabe 2021 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Pegasus Spiele GmbH, Am Straßbach 3, 61169 Friedberg (Deutschland)

ISBN 978-3-96928-012-6

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Art is resistance.

—Trent Reznor

Vorwort

Willkommen zurück in der Sechsten Welt!

Es freut mich sehr, dass Sie sich für Alter Ratio entschieden haben. Bevor ich in den Lesespaß dieses Buches überleite, erlauben Sie mir bitte zwei, drei kurze Vorbemerkungen. Diesem Buch tut es sicherlich gut, wenn man etwas über den Kontext erfährt, in dem es sich bewegt und in dem es entstanden ist.

Wie Sie vielleicht wissen, ist Alter Ratio der Nachfolgeroman von Alter Ego. Das bedeutet – und so viel kann ich schon verraten –, Sie werden auf die eine oder andere lieb gewonnene Figur aus Alter Ego treffen. Drei Jahre sind mittlerweile innerhalb der Romanhandlung vergangen, sodass sich die Figuren weiterentwickelt haben (wenn auch nicht immer zu ihrem Vorteil). Dennoch kann es natürlich passieren, dass der eine oder die andere sich auf die Ereignisse aus Alter Ego besinnt und sich an die schlechten, alten Zeiten erinnert. Sollten Sie also völlig spoilerfrei bleiben wollen, würde ich Ihnen raten, den Vorgängerband zuerst zu lesen. Wenn Ihnen dies egal ist und Sie lediglich etwas Zerstreuung in der Welt von Shadowrun suchen, dann liegen Sie mit Alter Ratio völlig richtig. Er behandelt eine abgeschlossene Geschichte – genauso wie sein Vorgänger –, verspricht also ungetrübten Spaß.

Ich möchte Sie auf eine weitere literarische Verknüpfung hinweisen, die mich auf eine besondere Weise stolz macht. Wie bereits erwähnt, ist die Handlung von Alter Ratio in sich geschlossen, nicht jedoch frei von Berührungspunkten zu anderen Produkten. Die große Stärke des Franchises Shadowrun war schon immer, sich nicht auf ein Medium festzulegen.

Als ich 1990 das erste Regelwerk in den Händen hielt, war ich begeistert von elfischen Deckern und vollautomatischen Schusswaffen in Rollenspielen (ich kannte bis dahin nur Schwerter und Magier). Doch das war nicht alles. Es war der Tonfall, die Art, wie Shadowrun sein Narrativ ausbreitete, die mich in den Bann zog. Die kleinen Erzählungen, die Schnipsel am Rande, aus denen sich große Geschichten speisten. Trotzdem hätte Shadowrun ein Rollenspielsystem unter vielen bleiben können, wenn es nicht eines grundlegend anders gemacht hätte als viele andere Systeme: Es erzählt seine Geschichten nicht nur in Quellenbüchern und Abenteuern, sondern auch in Romanen.

Die Trilogie der Macht riss mich tief in das Universum hinein und spätestens seit den Werken des viel zu früh verstorbenen Nigel Findley war ich Feuer und Flamme und wollte immer mehr von dieser Welt. Der besondere Clou dabei war, dass die Romane mit den (politischen) Geschehnissen der Quellenbücher und Abenteuer zusammenhingen. Sie waren eng verwoben mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der fortlaufenden Geschichte Shadowruns und bereicherten diese auf eine Weise, wie es Abenteuer und Quellenbücher allein nicht geschafft hätten. Erinnern wir uns an Dirk Montgomery (welcher letztes Jahr geboren wurde) und seine Begegnungen mit der Universellen Bruderschaft und wir haben ein Gefühl dafür, wie wichtig diese Gruppierung innerhalb der Welt von Shadowrun ist. Romane stoßen ein Tor auf. Sie machen Geschichte erlebbar und zeigen uns Geschehnisse aus einer besonderen Perspektive, selbst wenn sie am Spieltisch nur eine Randnotiz sein sollten. Heute – genau dreißig Jahre später – hätte ich Shadowrun sicherlich vergessen, wenn es nicht die Romanreihe gegeben hätte.

Ähnliches gilt für die Computerspiele. Auch dieses Medium wurde zum Vehikel für die Abenteuer zwischen Konzerntürmen und Drachenodem, nicht minder entscheidend als Rollenspiel und Roman. Die digitalen Spiele erweiterten gekonnt den Kreis derer, die sich für die Sechste Welt begeisterten. Exemplarisch sei hier Shadowrun Dragonfall genannt, das eine Geschichte tief im Metaplot des Rollenspielsystems erzählt.

Genau an dieser Stelle setzt Alter Ratio an.

Der Roman, den Sie in diesem Augenblick in den Händen halten, behandelt Fäden, welche bereits Shadowrun Dragonfall ausgelegt hatte, das im Jahr 2054 spielt. Der Spannungsbogen der letzten fünfundzwanzig Jahre ist kunstvoll gestrafft, so viel kann ich in freudiger Erwartung vorwegnehmen. Es war mir ein großer Spaß, die vielen verstreuten Hinweise aufzusammeln und zu der Geschichte zu spinnen, die Sie nun lesen können.

Und damit kommen wir zur versprochenen letzten Ankündigung, ehe ich Sie in die Geschichte entlasse. Die Geschehnisse rund um Alter Ratio haben eine direkte Verknüpfung zu der Abenteueranthologie Netzgewitter, die ebenfalls im Verlag Pegasus Spiele erschienen ist. Sowohl die dort enthaltenen Abenteuer als auch dieser Roman steigen tief in den Metaplot von Shadowrun ein und beleuchten eine Geschichte aus unterschiedlichen Per­spektiven. Während Sie in Alter Ratio aus den Augen von Aggi und Paul Dante auf die Geschehnisse blicken, macht Netzgewitter diese Ihnen selbst erfahr- und erspielbar. Aber keine Sorge, natürlich werden keine identischen Geschichten erzählt, schließlich sollen Sie sowohl Alter Ratio als auch Netzgewitter genießen.

Eine allerletzte Anmerkung noch, dann ist es auch genug mit crossmedialen Ansätzen und Verwicklungen: Auf der Streamingplattform Spotify finden Sie sowohl zu Alter Ego als auch zu diesem Roman eine Playlist. Wenn Sie also erfahren wollen, wie meine beiden Shadowrunromane klingen, hören Sie hinein, nehmen Sie dazu das Buch in die Hand und sagen Sie mir später, wie es Ihnen gefallen hat.

Ich danke Nigel für seine großartigen Geschichten in dieser geteilten Welt, danke Lars Schiele für das großartige Lektorat und danke Shadowrun für dreißig gemeinsame Jahre.

Im pandemischen Sommer 2020, Lüneburger Metroplex

www.krzywikgross.de

Prolog

Hallo Freunde,

normalerweise hättet ihr hier einen Text von Paul Dante vorgefunden.

Paul? Ihr wisst noch, oder? Abgehalfterter Privatdetektiv, ausgebrannter Magier, dessen Ego größer ist als der Fernsehturm am Alexanderplatz?

Ja, genau den Mistkerl meine ich.

Paul hätte euch etwas davon berichtet, wie mies sein Leben in den letzten drei Jahren verlaufen war. Wie er, nach dem endgültigen Verlust seines Mojos, in einer fulminanten Abwärtsspirale zerbrach. Er hätte es natürlich anders benannt, hätte von der unterschiedlichen Qualität von Kacke – von gepresst krümelig bis richtig übles Zeug – fabuliert, damit es nicht ganz so mitleiderregend klänge wie die beschissene Wirklichkeit. Wahrscheinlich hätten seine Ausführungen in irgendeinem Boxerquatsch geendet: dass er ein harter Typ ist, dem das Leben ein ums andere Mal übel mitgespielt hat. So ungefähr wären seine Worte gewesen und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auf sie verzichten können.

Wahrscheinlich hätte er vergessen zu erwähnen, dass wir seit zwei Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben. Dass er sich wie ein Mistkerl aufgeführt hat und nun hoffentlich an seinem Selbstmitleid erstickt. Er hat die Freundschaftskarre mit Schwung gegen die Wand gefahren. Stoßstange verbeult, Motor kaputt, emotionaler Totalschaden.

Ja, den Teil hätte er ausgelassen. Bestenfalls hätte es ein paar Andeutungen zu Mailin und Zeta-ImpChem gegeben, zu seinem kläglichen Versuch, nie wieder Hans Brackhaus zu begegnen und nun vollends auf Privatdetektiv zu machen. Geschenkt. Das war Vergangenheit.

Vielleicht hätte er euch ein paar Worte über Berlin gegönnt. Ich möchte euch mehr geben: Die Stadt an der Spree steht wie keine zweite symbolisch für die Gezeiten der Sechsten Welt. Hier hatten sich im Kalten Krieg Agenten die Klinke in die Hand gegeben, ehe sie zum Utopia so vieler meiner Genossinnen und Genossen wurde. Berlin war der Ort, wo wir Frauen uns in Komitees organisiert haben, uns den Freiraum innerhalb der Systeme erstritten haben, um unsere ganz persönliche Freiheit genauso zu leben, wie wir dem lauten Ruf der politischen Freiheit folgen. Es ist unser großer Wurf, der wichtigste Versuch, das faschistische Regime der Megakonzerne ins Wanken zu bringen. Berlin war viele Jahre Leuchtfeuer am Himmel der neoanarchistischen Revolution und zeigte uns, dass Utopia möglich war. Es war nicht nur ein Hirngespinst – es war da und gab vielen Metamenschen auf der ganzen Welt Hoffnung und einen Ort, wo sie sein durften, wie sie waren, unabhängig von Hautfarben, Metatypen oder Geschlechtern.

Der Status F, der politische Schwebezustand, in dem man permanent die Machtverhältnisse neu austarierte, brachte vor dreißig Jahren ein bisschen Glück und Gerechtigkeit in die Stadt. Noch immer hält die Festung der Emanzipation in einigen Vierteln stand, auch wenn Berlin schon zu großen Teilen wieder in den Rachen der Konzerne geraten ist. Wir werden bleiben.

Dieses Berlin ist mein Berlin. Die Geschichte der Stadt ist auch meine Geschichte. Mein Name ist Aggi, ich bin Deckerin und Neoanarchistin. Ich bin ein Elementarteilchen der DNA Berlins und mir liegt viel daran, dass es so bleibt. Die Befreiung aus kapitalistischen Verwertungsprozessen steht auf unseren Bannern, die Freiheit der Metamenschen ist das oberste Ziel.

Paul hat das nie verstanden.

Aber Paul Dante ist heute nicht hier und dies ist nicht seine, sondern meine Erzählung.

Das Leben war gut zu mir, ich fand in den letzten Monaten fast so etwas wie Frieden mit mir und den Menschen, die mir etwas bedeuten. Die Unsicherheit, das Hadern mit den Konventionen, das Gefühl, immer falsch zu sein, egal was ich mitbringe oder wo und wie ich mich bewege oder spreche, war stiller geworden. Ich entdeckte eine neue Welt voller Schönheit. Es gab Tage, da durften die Nieten meiner Lederjacke weniger spitz sein und eine Umarmung war willkommen und kein Angriff auf meine Integrität.

Ihr Name war Neeka.

Es war das Funkeln in ihren Augen, das all den Mist aus meiner Seele spülte und mir zeigte, wie Leben auch sein konnte. Ihre Worte und ihre Hand, die sie mir reichte, eröffneten mir diese neue Welt. So klar und so zerbrechlich.

Es war eine gute Zeit. Ich schätze mal, dass ich in den letzten Jahren auf mein Karmakonto eingezahlt hatte und ein paar Monate von den Zinsen leben konnte.

Ohne Vorwarnung war das Ersparte aufgebraucht und meine Welt zerbrach.

Aber vielleicht fange ich lieber am Anfang an. Bevor wir uns Gedanken über die Rettung der ganzen, verfluchten Stadt machen mussten und der Schatten des Krieges auf uns fiel.

Kapitel 1

Es war die sechste Sprengladung C12, die sie unauffällig an einer der tragenden Wände des zweistöckigen Gebäudes platzierte. Aggi war alles andere als eine Expertin auf diesem Gebiet, doch auch ihr begrenztes Wissen reichte aus, um zu verstehen, dass wahrscheinlich bereits drei Ladungen Plastiksprengstoff ausreichen würden, das Bunraku-Bordell zum Einsturz zu bringen. Aber sie wollte ein Exempel statuieren. Einen explosiven, zwanzig Meter hohen, feurigen Mittelfinger in Richtung patriarchaler Ausbeutung.

Seit mehr als drei Stunden verbarg sie sich innerhalb der Mauern des Puppenhauses. Sie schlich von Schatten zu Schatten, von Separee zu Separee und wich geschickt den gierigen Freiern und den brutalen Männern der Grauen Wölfe aus, die das Bordell betrieben.

Um die hier arbeitenden Frauen musste sie sich keine Sorge machen. Sie konnten Aggi nicht verpetzen, da sie die Shadowrunnerin nicht einmal bemerkten. Die Wahrnehmung der hier festgehaltenen Frauen war, ebenso wie ihr Bewusstsein, überlagert von einer Personafix-Software. Der allerletzte Drek auf den Straßen: Das Simsinn-Signal war frei von Schutzfiltern und Beschränkungen und drängte die eigentliche Persönlichkeit des Users bis an den letzten Rand seines Verstandes. Stattdessen wurde der Körper durch gechippte Signale kontrolliert. Wehrlos und ohnmächtig mussten die Opfer von Personafix-BTLs die Handlungen ausführen, die das Programm für sie vorsah. Man war Beifahrer in seiner eigenen Horrorgeisterbahn.

Im Dolls’ Club wurden den zweiundzwanzig Frauen und sieben Männern hypersexuelle Persönlichkeiten aufgespielt. Bunraku bedeutete auf Japanisch so viel wie Puppentheater. Genau darum ging es im Dolls’ Club. Es war ein Puppenspiel mit menschlichen Marionetten, und die Freier zahlten Unsummen, da gewöhnliche Prostitution ihnen nicht mehr genügte.

Aggi hatte vor, das widerwärtige Geschäft ein für alle Mal zu beenden.

Sie stellte den Zünder scharf. Ein Icon blinkte in ihrem Sichtfeld auf und zeigte damit an, dass ihr Cyberdeck Zugriff auf den Sprengsatz hatte. Der erste Teil des Plans lief glatter, als sie gedacht hatte. Nun musste sie bloß noch lebend aus der Sache herauskommen.

Die junge Frau erhob sich und stellte sich mit dem Rücken an die mit Plastiksamt bezogene Wand. Die Deko des Bunraku-Bordells beschränkte sich auf dunkle Vorhänge, rote Beleuchtung und mit Plüsch bezogene Taschentuchspender. Der eigentliche Glanz wartete in der Augmented Reality auf den Besucher des Hauses, so plärrte es zumindest die Werbung in der Matrix in die Welt hinaus.

Die AR war eine ähnliche Enttäuschung wie das Sicherheitssystem der Grauen Wölfe. Die entsprechenden Vorkehrungen waren weniger darauf ausgelegt, jemanden am Eindringen zu hindern. Ihr Schwerpunkt lag auf schierer Muskelkraft der Schlägertypen, die zahlungsunwillige Freier, oder solche, die die Ware beschädigten, schnell und brutal entfernen konnten. Niemand rechnete mit einer Shadowrunnerin, die sich zur besten Geschäftszeit in das Bordell schlich, um es bis auf die Grundmauern niederzubrennen.

Mit einem leisen Klick rutschte die Automatikpistole aus dem Holster an ihrem Oberschenkel in ihre rechte Hand. Die PPSK-4 war ursprünglich ein Design der russischen Geheimpolizei UGB. Üblicherweise konnte man sie zu einem handlichen Kästchen zusammenfalten, doch dank Aggis Modifikationen war dies nicht mehr möglich. Sowohl der Faltmechanismus als auch der Lasermarkierer waren demontiert und durch eine halbwegs aktuelle Smartgun ersetzt. Leider reichte der Platz der kompakten Pistole nicht mehr dazu, ein Gasventilsystem nachzurüsten, sodass Aggi bei der handelsüblichen Schulterstütze blieb, welche sie mit einem Ruck auszog. Der erweiterte Munitionsschacht ermöglichte es ihr, den Munitionstyp frei zu wählen. Sie hatte in das Baby ein Vielfaches des Originalpreises investiert, aber Aggi mochte die vollautomatische Handfeuerwaffe.

Zweimal atmete sie tief durch, ehe sie sich mit der kabellosen Matrix verband und auf den Host des Bunraku-Bordells zugriff. Das System war lächerlich. Innerhalb von zwei Wimpernschlägen hatte sie die vollständige Kontrolle übernommen.

Aggi aktivierte ihr subvokales Mikrofon. »Neeka? Bist du da?«

»Check. Kann losgehen, sobald du so weit bist.« Die tiefe Stimme der Frau hatte bereits nach der ersten Silbe eine beruhigende Wirkung auf Aggi.

»Dann fangen wir an.«

Sie sandte einen kurzen Impuls durch die Matrix, der mehrere Agentenprogramme ihres Decks aktivierte. Die fleißigen Helfer stoben davon und machten in der virtuellen Realität ihren vorprogrammierten Job. In den Stunden vor Beginn des Runs hatte Aggi sie in akribischer Kleinarbeit programmiert und perfekt auf ihre Aufgaben eingestellt. So wurde nicht nur die Beleuchtung ausgeschaltet und die Klimaanlage auf drei Grad Celsius heruntergefahren, sondern alle audiofähigen Endgeräte spielten auf voller Lautstärke.

Aggi aktivierte die Nachtsichtgläser ihrer Sonnenbrille und der in Dunkelheit gehüllte Flur, von dem zahlreiche kleine Zimmer, die mit nicht mehr als einer Matratze ausgestattet waren, abgingen, wurde für sie taghell. Keinen Augenblick zu früh, denn kurz darauf stolperten zwei Schläger der Grauen Wölfe aus dem Hinterzimmer, das ihnen als Aufenthaltsraum diente. In ihren Händen hielten sie Betäubungsschlagstöcke, an deren Enden elektronische Entladungen flackerten.

Die Deckerin betätigte mit einem kurzen neuralen Impuls den Auslösemechanismus ihrer PPSK-4 und jagte den türkischen Faschisten einen Feuerstoß Flechettemunition entgegen. Die dicht gepackten Metallsplitter der einzelnen Projektile fächerten im Anflug auf die beiden Männer auseinander und schnitten durch Fleisch und Sehnen wie ein erhitztes Messer durch Butter. Getroffen von mehreren Hundert Schrapnellfragmenten hatten sie keine Überlebenschance.

Zufrieden wandte sich Aggi ab und stürmte den Flur entlang. »Schweine minus zwei«, funkte sie Neeka tonlos zu.

»Roger. Werde nicht übermütig. Halte dich an den Plan.«

Das Haus war voller Menschen, Freier und Prostituierter. Aggi hatte keinen Respekt vor den Faschisten, welche die Frauen hier versklavten, auch das Wohlergehen der Freier war ihr egal. Inte­graler Bestandteil ihres Plans war jedoch, möglichst viele der Frauen zu retten, die nach wie vor ihrer Programmierung gehorchten.

Das nötige Programm schlummerte bereits seit einigen Stunden in ihrem Arbeitsspeicher. Ein gedanklicher Impuls und es erwachte zum Leben. Das Agentenprogramm, welches Aggi wie eine Mischung aus Tinkerbell und Endzeitpunk designt hatte, schlug mit den schwarz- und lilafarbenen Flügeln und verschwand in dem lokalen Host des Puppenhauses. Mittels eines verrosteten Zauberstabs verteilte TinkerPunk auf die ausführenden Programme des Systems regenbogenfarbenen Glitzerstaub. Mit einem virtuellen Zischen beendete sie deren Funktion und fragmentierte das Kontrollprogramm in unzählige Pixel. Alle beteiligten Frauen und Männer wurden umgehend vom System getrennt.

Der Auswurfschock hallte vielfach durch die schmalen Flure des Gebäudes wider. Aggi sah über die angezapften Überwachungskameras, wie sich die Befreiten in Krämpfen wanden. Viele gingen zu Boden, die meisten kotzten den billigen Teppich voll. Gerne hätte sie den Frauen diese Erfahrung erspart, aber es ging nur auf die harte Tour.

Innerhalb von dreißig Sekunden erwachten die unfreiwilligen Prostituierten aus ihrem erzwungenen Schlaf. Der richtige Moment für eine Durchsage über das hausinterne Komm. Aggi aktivierte das Audiofile und wandte sich dem Hinterausgang zu.

»Hier spricht die Sprawlguerilla. Dieser Ort männlicher Perversion wird ausgelöscht. Sie haben sechzig Sekunden Zeit, das Gebäude zu verlassen, ehe wir es in die Luft jagen. Das ist keine Übung, ihr widerlichen Macker! Und an die Faschisten von den Grauen Wölfen: Fickt euch!«

Laute Schreie ertönten und das Trampeln von Füßen verriet Aggi, dass ihre Ansage ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Lächelnd fügte sie hinzu. »Ladys? Heute ist der Tag der Selbstbefreiung! Erwürgt eure Peiniger mit den Ketten, die sie euch angelegt haben. Wir sind für euch da, Schwestern. Trefft uns am hinteren Ausgang.«

Sie wechselte auf ihr subvokales Mikrofon. »Wie sieht’s von außen aus?«

Neekas Stimme meldete sich. »Es kommt Bewegung auf. Ich sehe aktuell niemanden, der unsere Ansage ignoriert. Drek, ich habe mich getäuscht! Zweiter Stock, viertes Zimmer.«

»Verflucht, von da komme ich doch gerade!« Kurz bevor Aggi die Tür zur hinteren Gasse aufmachen und aus dem Gebäude entkommen konnte, hielt sie inne und machte auf dem Absatz kehrt. »Wo muss ich lang?«

Neeka raunte über Funk. »Zwei Treppen rauf, links den Flur entlang. Dritte Tür rechts. Das Schwein hat sich aus dem Staub gemacht, aber die Frau an der Wand gefesselt zurückgelassen.«

»Wäre ja auch zu schön, wenn etwas glattlaufen würde«, knurrte Aggi und erklomm die Treppe.

Frauen und Männer, die meisten nur spärlich bekleidet, kamen ihr entgegengerannt. Keiner nahm sonderlich Notiz von ihr, alle waren damit beschäftigt, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Aggi hatte Mühe, der schieren Masse an Personen physisch etwas entgegenzusetzen. Sie war weder besonders groß noch kräftig. Also nutzte sie so gut es ging ihre Geschicklichkeit, um sich durch die auf sie zudrängende Menge zu bewegen. Zweimal schlug sie allzu hartnäckigen Dränglern mit dem Kolben ihrer Automatikpistole mitten auf die Stirn. Wenige Augenblicke später konnte sie ihren Weg fortsetzen.

Aggi erreichte die erste Etage und wandte sich umgehend der nächsten Treppe zu. Sie musste sich beeilen, wollte sie den Countdown der Zünder nicht noch verschieben, was mehr als ungünstig wäre. Wenn man eine Drohung aussprach, in diesem Fall, das Gebäude zu sprengen, musste man diese auch einhalten.

Plötzlich tauchte ein Schatten vor ihr auf. Sie krachte hart gegen den fassähnlichen Brustkorb eines Mannes, der plötzlich auf der unteren Stufe der Treppe stand. Sie hatte ihn schlichtweg nicht gesehen.

Der Aufprall nahm ihr nicht nur die Luft, sondern ließ sie auch zu Boden gehen. Hart schlug sie mit ihrem Steiß auf den Linoleumboden und kam sitzend vor dem Unbekannten, der sie wie ein Berg überragte, auf. Ein rasch geführter Tritt traf ihr Handgelenk. Schmerz explodierte und die Automatikpistole entglitt ihrer Hand und schlitterte weit über den Flur.

»Das war’s Schätzchen«, sagte der Mann mit unheilvollem Unterton. »Du und deine Emanzenfreundinnen haben genug Revolution gespielt. Wird Zeit, dass ich dir mal ordentlich den Hintern versohle, Kleines.«

Aggi wollte zu der Holdout-Pistole an ihrem Fußgelenk greifen, doch eine riesige Faust traf sie hart am Jochbein und ließ sie hintenüberfallen. Ihr Hinterkopf schlug auf den Boden und ihre Schmerzrezeptoren wussten gar nicht mehr, welche Stelle sie ihrem Gehirn zuerst melden sollten.

Sie versuchte, sich aufzurappeln, doch ein weiterer Tritt traf ihr Gesicht, und Blut schoss ihr aus der Nase, während sie erneut zu Boden ging. Tränen füllten ihr Blickfeld und sie fühlte sich bodenlos fallen. Der Schmerz an ihrer Hüfte, als sie weitere Treffer einstecken musste, war fast eine willkommene Abwechslung. Trotzig blinzelte sie auf ihren Peiniger, der fest entschlossen schien, sie hier und jetzt zu Tode zu prügeln.

Im nächsten Moment explodierte sein Kopf.

Blut, Gehirn und Schädelsplitter regneten auf Aggi ein, die sich nur mit einer geistesgegenwärtigen Rolle nach links vor dem auf sie stürzenden Körper retten konnte. Leblos schlug der Leichnam neben ihr auf.

»Sorry, meine Schöne, ich war kurz abgelenkt«, hörte sie Neekas Stimme über Funk.

Aggi spuckte Blut und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Was verstehst du eigentlich unter Feuerschutz?«

»Ich habe ihn doch ausgeschaltet, oder etwa nicht?«, hielt Neeka dagegen. »Auf die Füße, los jetzt. Du musst da raus!«

Aggi fluchte laut und kam mühsam auf die Beine. Die Welt drehte sich und sie musste sich am Treppengeländer festhalten, um nicht zu stürzen. »Schon auf dem Weg«, antwortete sie und sammelte ihre Automatikpistole ein, ehe sie schweren Schrittes die Stufen erklomm. »Aber ich gehe nicht alleine.«

»Mach keinen Mist, draußen hat die Schießerei bereits begonnen. Du musst da weg!«

Aggi vertraute ihrer Freundin blind, auch wenn das Rauschen in ihren Ohren verhinderte, dass sie Geräusche von weiter weg als fünf Metern wahrnehmen konnte. Vor dem Gebäude hatten sich ihre Chummers auf die Lauer gelegt. Sie sollten den Grauen Wölfen, aber auch den Freiern zeigen, dass Widerstand zwecklos war. Anscheinend waren die Männer zu dumm, um das zu verstehen.

Aggi hatte das zweite Stockwerk erklommen und folgte der Beschreibung Neekas. Die Deckerin durchquerte, so schnell sie ihre wackligen Beine trugen, den Flur. Nach wenigen Metern erreichte sie das Zimmer. Es wirkte, als sei es von H. R. Giger persönlich eingerichtet worden. Die an der Wand befestigten Ketten waren leer.

»Scheiße, Neeka, hier ist niemand mehr!«

»Hinter dir!«, hörte sie die erschrockene Stimme der Scharfschützin. Geistesgegenwärtig warf sie sich nach vorne. Fast zeitgleich erklang ein Schuss. Das Projektil erfasste ihre Panzerjacke und zerrte an dem mit Kevlar ausgelegten Stoff. Ihr Körper wurde durch die kinetische Energie herumgewirbelt und sie schlug hart zwischen diversen Folterwerkzeugen auf. Reflexhaft feuerte sie eine Salve Explosivgeschosse in Richtung der Eingangstür, durch die sie gerade gesprungen war. Große Einschusslöcher zerrissen weite Teile der gegenüberliegenden Wand.

»Wo ist der Bastard?«

»Er kommt den Flur runter. Der Wichser hatte sich im Nachbarzimmer versteckt.«

Mit einer wenig eleganten Bewegung rollte sich Aggi hinter einen mit rotem Leder bezogenen Sockel. Noch immer lief ihr Blut aus der Nase. In schnellen Zügen schnappte sie durch den Mund nach Luft.

»Er hat die Frau«, erschallte es aufgeregt über Funk. »Sie ist seine Geisel.«

»Drek.« Aggi wechselte mit einem virtuellen Befehl die Munitionsart ihrer Waffe, schließlich wollte sie keine Unschuldige mit der hochexplosiven Munition gefährden.

»Okay du Schlampe, schmeiß deine Scheißknarre weg, sonst knall ich das Luder hier ab.«

Aggi lugte um den Sockel herum und sah einen männlichen Zwerg mit einer Ares Predator in der Hand. Die Mündung ruhte über dem Herzen der nackten Frau, die er brutal gepackt hielt.

»Wie heißt du, Schwester?«

»Was interessiert dich, wie die Bitch heißt? Schmeiß die Kanone weg oder ich mache euch beide kalt«, brüllte der Mann, sodass das gemurmelte »Savina« seiner Geisel fast unterging.

»Okay, Arschloch, du hältst mal eben die Füße still und ich komm raus. Keinem muss hier etwas passieren, verstanden? Und, Savina: Alles wird gut, vertraue mir.«

Aggi hob die Arme und stand ganz langsam auf.

Neeka meldete sich über Funk. »Was zum Teufel machst du da? Ich habe kein freies Schussfeld. Geh sofort wieder in Deckung, der Typ knallt dich ab! Ich wiederhole: kein Schussfeld!«

Doch Aggi hörte die Worte ihrer Freundin nicht. Ihr Verstand konzentrierte sich auf die Tiefen der Matrix. In der Augmented Reality konnte sie das System der Pistole des Mannes klar erkennen. Die passive Matrixsicherheit der Waffe war höher, als sie gehofft hatte. Aber ein Zurück gab es nun nicht mehr, schließlich stand sie offen und mit erhobenen Händen vor dem Mann und ließ ihre Waffe fallen.

»Recht so, Schlampe! Und jetzt machen wir uns schön zusammen auf den Weg hier raus. Mein Boss wird sich freuen, dich kennenzulernen.«

Sie reagierte nicht.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er und schob seine Geisel einen Schritt auf Aggi zu.

Diese blickte abrupt auf. »Savina, runter«, sagte sie mit ruhiger Stimme, während sie den virtuellen Befehl Munition auswerfen gab. Der Streifen der Ares Predator landete zeitgleich mit Savina auf dem Boden. Der Faschist blickte Aggi verblüfft an, die mit drei schnellen Schritten Anlauf nahm und dem Kerl die Schulter ins Gesicht rammte. Er wurde zurückgeworfen und taumelte auf den Flur.

Wütend blickte er zu ihr auf. »Das wirst du bereuen.«

Dann traf ihn Neekas Schuss in den Rücken und zerfetzte ihm das Herz.

Das Ranger Arms SM-5 Scharfschützengewehr lehnte an der Wand des kleinen Zimmers im hinteren Teil des besetzten Wohnblocks. Um es vor Stoßschaden zu bewahren, waren weite Teile des Laufes mit Stofflappen umwickelt, die sich bis über den Schalldämpfer zogen. Neeka versuchte vergebens, pfleglich mit der Präzisionswaffe umzugehen, doch sie konnte es nicht vermeiden, das Gewehr hin und wieder an einem Türrahmen oder an einem Mauerstück anzuschlagen. So war sie die meiste Zeit damit beschäftigt, das Ranger Arms, das deutlich älter war als sie selbst, neu zu kalibrieren. Die polnischsprachige Software war dabei alles andere als hilfreich, verstand sich mittlerweile aber zumindest mit ihrer kantonesischsprachigen Smartgunverbindung.

Die Wände des Zimmers, welches sie für die kommenden sechzehn Stunden ihr Zuhause nannte, waren lediglich verputzt und mit Dutzenden Schichten Graffiti überzogen. Nach gefährlichen Aktionen – wie dem Aufmischen eines Puppenhauses der Grauen Wölfe – kehrten sie und Aggi nicht in ihr jeweiliges Zuhause zurück, sondern verbrachten mindestens vierundzwanzig Stunden in einem Safehouse. In diesem Fall in einem besetzten Haus im neoanarchistischen Osten Berlins.

Neeka setzte sich vorsichtig auf die fleckige Matratze, um nichts von den aztlanischen Essensboxen zu verschütten, die um sie herum geöffnet standen, und betrachtete neugierig die Straßenkunst an den Wänden des Zimmers. Diverse Verunglimpfungen von rechten Politikern aus weiter Vergangenheit wechselten sich mit pointierter Kapitalismuskritik ab. Sie lachte auf, wahrscheinlich war das Geschmiere älter als das Ranger Arms und sie zusammen.

Die Orkin war noch keine zwanzig Jahre alt, was bei ihrer kurzlebigen Spezies allerdings nicht mehr als jung galt. Orks starben früh – auf die eine oder andere Weise.

Biologisch lag die Grenze bei fünfunddreißig, vielleicht vierzig Jahren. Wenn man gut auf sich achtete, gesund aß, täglich sein AthYoga absolvierte und all die anderen Dinge tat, welche ihr die Gesundheitssoftware ihres billigem Kommlinks stets unter die Nase rieb, waren noch ein paar Bonusjahre drin. Ihr genaues Alter kannte sie nicht. Niemand war da gewesen, um ihr zu sagen, an welchem Tag sie geboren worden war. Als sie alt genug war, suchte sie sich den einzigen Feiertag raus, der ihr etwas bedeutete, und behauptete seitdem, es wäre ihr Geburtstag. Dabei handelte es sich um den 31. Oktober. Halloween, übermorgen.

Kein Ork, den sie kannte, hatte die magische Vierzig erreicht. Die meisten verbluteten auf irgendeiner Straßenkreuzung oder verendeten sabbernd auf der heruntergekommenen Couch, während ein BTL-Chip ihnen das Hirn grillte. Die häufigste Todesursache in ihrem Bekanntenkreis waren Ordnungskräfte. Dabei war es für die betroffenen Orks völlig egal, ob die Cops Knight Errant oder sonst wie hießen. Die bezahlten Schläger zertrümmerten ihnen die Schädel, wann immer sie auffielen. Selbst die eigenen Leute der alternativen Polizeidienste Berlins waren kaum besser als die rassistischen Bastarde der Konzerne. Genossen waren sie, ja klar, aber Orks gehörten niemals ganz dazu. Sie galten als ungestüm, nicht zivilisiert und dumm. Dieses Wissen wurde Neeka bereits als Kind eingetrichtert. Dafür brauchte sie nicht einmal das staatliche Schulsystem der Allianz Deutscher Länder, welches lediglich die menschliche Lerngeschwindigkeit berücksichtigte, sich aber für die Belange der früh pubertierenden Orks nicht interessierte. Scheiße, es gibt sogar gottverdammte Statistiken darüber, dass sie Orks heutzutage häufiger lynchen als noch im letzten Jahrzehnt, dachte sie wütend.

Niemand half ihr, auf den Straßen Ostberlins groß zu werden. Niemand gab ihr gute Ratschläge oder zeigte ihr, wie sie ihre altmodischen Schnürsenkel zu binden hatte. Neeka war auf sich gestellt, musste hart werden, weil die Welt hart zu ihr war. Sie schlug sich regelmäßig, nutzte ihre Größe und Muskelkraft, um sich Respekt zu verschaffen. Im selben Maße, wie sie dem Klischee ihres Metatypus entsprach, verlor sie sich selbst und ihre Menschlichkeit. Zu Beginn ihrer Pubertät war nicht mehr als ein kleiner, verhärteter Kern von Empathie und Zärtlichkeit übrig, der zu verdorren drohte. Der Rest war überlagert von Wut gegen alles und jeden, vor allem gegen sie selbst.

Dann begegnete sie der Sprawlguerilla und ihr Handeln fokussierte sich auf ein Ziel. Sie konnte all ihrer Wut über den täglichen Rassismus, den widerwärtigen Sexismus und den erstickenden Klassismus ein Gesicht geben. Die hässliche Fratze des Kapitalismus, dessen zehn apokalyptische Reiter die Megakonzerne der Welt waren, bekam nun ihren Zorn ab und sie konnte diese Wut mit Gleichgesinnten ausleben.

Bei der Sprawlguerilla fand Neeka das, was einer Familie am nächsten kam. Ein Zuhause, wo man sich zumindest bemühte, achtsam mit ihr umzugehen. Auch wenn sie es anfangs nicht bemerkte, war das freundliche Umfeld, das sie mit all dem, was sie mitbrachte, nahezu bedingungslos akzeptierte, genau das, was sie davor rettete, ein Arschloch zu werden. Zuerst fand sie ihr Lachen wieder, ehe sie ein halbes Jahr lang jeden Abend damit zubrachte, sich in den Schlaf zu weinen. Die wiederentdeckten Gefühle, die sie sich zuletzt als Fünfjährige erlaubt hatte, brachen aus ihr heraus und veränderten sie. Dann fand sie Aggi und ihr Leben stand kopf.

Die klein gewachsene Deckerin mit der blauen Haartolle, die Dinge in der Matrix anstellen konnte, von denen Neeka nicht mal gewusst hatte, dass sie theoretisch möglich waren, verzauberte sie bereits bei ihrer ersten Begegnung. Neeka fühlte sich in ihrer Nähe anfangs plump und ungelenk, aber die Menschenfrau gab ihr niemals einen Anlass dazu, was das unangenehme Gefühl der Unzulänglichkeit von Woche zu Woche mehr erstickte. Seit vier Monaten lief ihr Techtelmechtel und Neeka wollte keine einzige Stunde davon missen. Wie häufig hatte sie gegen die kleinbürgerlichen Werte und die romantisierende Konzerndoktrin gewettert und nun warf sie ihrer Freundin schmachtende Blicke zu und zählte die Minuten, bis sie sich wiedersahen. Crazy Shit, dachte sie schmunzelnd.

Die als Vorhang an den Türrahmen genagelte Plastfaserdecke wurde zur Seite gezogen und Aggi betrat den Raum. Sie kam zu Neeka und beugte sich herab, um ihr einen langen, leidenschaftlichen Kuss zu geben. Ihr Herz hüpfte höher. Drek, das sind doch keine verfluchten Geigen, oder?

Aggi strich ihr über die ausrasierte Schläfe (sie mochte das Gefühl der geschorenen Haare unter ihren Fingerspitzen, wie Neeka wusste) und sie ließ sich von Aggi die langen, schwarzen Haare, die ihr über die linke Schulter fielen, zerwühlen.

Scheiß auf bürgerliche Werte, der Drek hier ist cool!

Sie erwiderte den Kuss und wollte Aggi zu sich auf die Matratze ziehen, doch die Frau löste sich aus der Umarmung und der verliebte Gesichtsausdruck auf ihrem Gesicht wurde ernst. »Danke, meine Schöne.«

»Wofür«, fragte Neeka unbeholfen.

»Du hast mir die Haut gerettet. Die Faschos hätten mich plattgemacht.«

Neeka winkte ab. »Das ist mein verdammter Job, Liebste. Ich bin die mit dem Scharfschützengewehr, falls du dich erinnerst. Ich stehe in einer langen Tradition von Frauen, die dämliche Nazis weggesnipert haben. Nenn mich Neeka Pawlitschenko«, entgegnete sie grinsend.

»Dann hast du also über dreihundert Nazis erschossen, ja? Für deine einhundertsechzig Jahre siehst du aber noch verdammt gut aus. Und dieses Wort, weggsnipert, gibt es das überhaupt?« Sie gab Neeka einen weiteren Kuss und ihre Augen leuchteten vor Dankbarkeit. »Leider müssen wir noch über ein anderes ernstes Thema sprechen.«

»Was ist geschehen?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Aggi. »Den Frauen, die wir befreit haben, geht es den Umständen entsprechend beschissen. Sie waren Beifahrer bei einem BTL-Trip, der ihre realen Körper den Freiern zum Fraß vorwarf. So weit, so mies. Aber bei einer von ihnen, Savina, stimmt etwas nicht.«

»Der Geisel? Was meinst du damit? Denkst du, sie steht noch loyal zu den Wölfen?«

»Nein. Ich glaube, Savinas Gehirn hat übel auf die ganze Chipperei reagiert.«

»Wen wundert es. Der Dreck macht dich zu einer willenlosen Sklavin. Keine Frau kann das so ohne Weiteres wegstecken. Ich kann mir diesen Scheiß nicht mal im Ansatz ausmalen. Es war cool, den Laden abzufackeln.«

»Ja, das war es. Aber Savina … sie zeigt andere Reaktionen als die übrigen Frauen. Entzugserscheinungen, sie zittert am ganzen Körper, schwitzt wie im Hochsommer und die Vitalwerte tanzen Pogo. Ich mache mir Sorgen, dass das unsere medizinischen Möglichkeiten übersteigt. Ich habe schon Faizah gefragt, aber die ist als Straßenhexe zwar ’ne echt gute Heilerin, nur von BTL-Entzug hat sie leider überhaupt keine Ahnung. Eiswerder wäre noch eine Möglichkeit, aber ich dachte mir, vielleicht kannst du Miray fragen, ob sie sie untersuchen könnte?«

Miray war Medizintechnikerin und spezialisiert auf psychotrope Software und Headware. Sie arbeitete nur gelegentlich mit der Sprawlguerilla zusammen, aber oft genug, dass man ihr vertrauen konnte. Seit einem intensiv ausgelebten Streit zwischen ihr und Aggi vor ein paar Jahren hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Zu beider Unverständnis konnte Neeka hingegen ausgezeichnet mit Frau Doktor, wie sie Miray gern nannte. Die Medizintechnikerin war einst daran beteiligt gewesen, einer gewissen Mailin Nowak einen neuen Weg zu ebnen, hatte sich dabei aber nachhaltig mit Aggi verkracht. Neeka hatte nie ganz verstanden, was damals vorgefallen war.

»Das mache ich am besten gleich. Sie ist seit der KFS-Krise eine gefragte Frau und hat wenig Zeit. Wenn in Savinas Hirn irgendeine Scheiße weiterläuft, möchte ich das lieber früher als später klären.«

»Wollen wir zumindest noch kurz zusammen essen?« Aggi deutete auf die Plastikverpackungen auf der Matratze.

Neeka stand auf und überragte ihre Freundin um zwei Köpfe. »Lass mich die Sache erst in Gang bringen. Vielleicht ist es nur ein kurzes Telefonat und dann können wir beide etwas Zweisamkeit genießen.«

Neeka täuschte sich. Nachdem Miray erfahren hatte, was den Frauen angetan worden war, bat sie, Savina umgehend in ihre Schattenklinik bringen zu lassen.

»Sorry, Liebes, ich muss gleich los«, wandte sie sich an Aggi. »Frau Doktor lässt man nicht warten. Sie hat einen Soforttermin angeboten«, entschuldigte sie sich mit einem Lächeln.

»Soll ich mitkommen?«

Neeka verzog das Gesicht. »Das ist jetzt keine ernst gemeinte Frage, oder? Ich komme schon klar. Anton kann mich und Savina mit dem Transporter rüberfahren. Ich melde mich, sobald ich wieder hier bin.«

Neeka schloss ihre Freundin in die Arme und genoss die Wärme ihres Körpers und den vertrauten Geruch ihrer Haut. Aggi konnte ihr Lächeln nicht sehen und Neeka hätte es nicht zugegeben, aber niemals sonst fühlte sie sich derart geborgen wie in dieser Umarmung. Das tiefe Gefühl, genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit dem richtigen Menschen zu sein, wogte wohlig warm durch sie hindurch.

Kapitel 2

»Alter, du stinkst wie meine Oma«, schimpfte Bert mit breitem niederländischem Akzent, als er Paul einen Teller voller Fritten brachte. »Du siehst aus, als hättest du in deinem Wagen geschlafen.«

»Bullshit«, entgegnete der Privatdetektiv und nahm dem Besitzer von Berts Burger Laden das Bier ab, welches er in der anderen Hand hielt. »Was denkst du eigentlich über mich?«

Der Holländer mit dem orangefarbenen Hautton grübelte kurz nach. »Ich bin mir nicht sicher. Du kommst wie lange hierher?«

»Wie lange gibt’s den Laden schon?«

»Genau, sehr lange kommst du hierher. Aber du hast noch nie so scheiße ausgesehen wie in den letzten Monaten. Bist du irgendwie krank oder so was?« Er wich einen Schritt zurück. »Etwa ansteckend?«

»Du kannst mich mal, Bert! Ich habe lediglich ’nen echt beschissenen Job zu erledigen. Das ist alles.«

Bert musterte ihn weiterhin skeptisch. »Musst du dafür in eine Toilette steigen, oder was?«

»Verdammt, ja, wenn du es wissen willst! Jemand vermisst ein paar alternative Kanalarbeiter in Pankow und ich schaue mal nach dem Rechten.«

»In der Kloake«, lachte Bert. »Na da haben sie aber ’nen Dummen gefunden. Ich hoffe, sie bezahlen dich anständig, sodass du deinen Deckel bei mir begleichen kannst.«

»Ja, ja doch! Hör auf mich zu nerven und lass mich meine Fritten essen. Du bekommst dein Geld schon noch.« Paul hatte keine Ahnung, wie er von den mageren Piepen, die er für die Suche bekam, auch nur ein Sarghotel bezahlen sollte, geschweige denn sein Essen. »Schreib es erst mal an, ich komme Ende der Woche vorbei und zahle.«

Bert warf ihm einen finsteren Blick zu und ging kopfschüttelnd zurück in die kleine Küche seines Imbisses. Lautes Magenknurren war Pauls Startschuss, sich über die Pommes herzumachen. Er hatte heute lediglich ein knappes Frühstück gehabt, welches er nach einigen ekelhaften Entdeckungen in der Kanalisation – was sonst sollte man dort auch vorfinden? – in hohem Bogen dem Abwasserkanal überantwortet hatte. Das Bier spülte den Geschmack weg, während das Fett der frittierten Kartoffeln seinen ersten Hunger stillte.

Kaum war die Flasche leer, brachte ihm Bert eine weitere. Man konnte über den Imbissbesitzer sagen, was man wollte, seine Kundschaft hatte er immer gut im Blick. Es gab selten ein Wort zu viel von Bert, und immer die richtige Menge Bier, von der wundervollen Mayonnaise mal ganz abgesehen. Umso verwunderlicher war es, dass er sich Paul gegenübersetzte.

»Sage mal, wo ist eigentlich die Kleine mit den blauen Haaren, mit der du ein paarmal hier warst?«

Paul verschluckte sich an einem Pommesstäbchen.

Bert sah ihn interessiert an. »Ist sie deine Tochter?«

Er brauchte einen großen Schluck Bier, um nicht mehr husten zu müssen, und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, son Quatsch. Wie kommst du darauf?«

»Sie ist kein Mädchen, die etwas mit so alten Männern wie dir oder mir anfangen würde. Du bist ein Dinosaurier ohne Haare. Aber trotzdem wart ihr vertraut miteinander, das habe ich gesehen. Sie war die Letzte, die es noch mit dir ausgehalten hat. Also, was ist mit der blauen Heideroosjes?«

»Sie ist … war eine Freundin.«

»Du hast es also verbockt, ja?«, fragte Bert mit wissendem Kopfnicken.

»Wie kommst du darauf, dass ich schuld bin? Die Kleine kann mir gestohlen bleiben. Sie spielt ihre Revolution, während ich mich ums Business kümmere.«

»So nennst du es also, wenn du durch die Kloake spazierst.«

Wütend haute Paul die Bierflasche auf den Tisch. Es war bei Weitem nicht seine erste am heutigen Tage. Der Alkohol war wie ein Teilchenbeschleuniger für seine Wut.

Paul sprang auf. »Lasst mich doch alle mit eurem Mist alleine! Ja, ich krieche für dreißig Mücken in der Kanalisation rum. Und, habe ich schon eine Spur gefunden? Nein! Wahrscheinlich bin ich nicht mal die paar Kröten wert!«

Bert stand ebenfalls auf und hob beruhigend die Arme. »Nun komm erst mal wieder runter. Keiner will dir etwas Schlechtes.«

Doch Paul wollte nicht mehr zuhören, wollte sich nicht den Fragen von Bert stellen oder gar sich und der Welt eingestehen, dass er Mist gebaut hat.

Wieder und wieder.

Wütend fuhr er herum, stürmte aus dem Imbiss und ließ einen sprachlosen Bert zurück, der sich schulterzuckend den übrigen Gästen zuwandte. Von ihnen hatte kaum jemand Notiz von Pauls Auftritt genommen.

Das Erste, was Paul auf der Straße sah, war ein Mülleimer, welchen er mit voller Wucht über die Straße trat. Er ignorierte den Schmerz in seinem Fuß, ließ sich vor den kurz aufblickenden Passanten nichts anmerken und ging humpelnd zu seinem Opel Commodore. Der Wagen war ein Nachbau des legendären Modells aus dem letzten Jahrhundert, hatte mittlerweile jedoch so viele Jahre auf dem Buckel, dass er nur noch von Rost zusammengehalten wurde. Noch nicht einmal die Farbe des Lacks war mehr klar zu erkennen.

Paul öffnete die Fahrertür und räumte die Decke beiseite, die ihn in der letzten Nacht gewärmt hatte.

»Sollen sie mir doch alle gestohlen bleiben«, murmelte er und startete den Verbrennungsmotor. Röhrend erwachte dieser zum Leben und rüttelte Paul und den Wagen ordentlich durch. Ohne ein bestimmtes Ziel lenkte er den Opel in Richtung Potsdam.

Die beinahe einstündige Fahrt brauchte Paul, um sein Gemüt wieder herunterzukochen. Noch immer ärgerte er sich über Bert und dessen dämliche Fragerei nach Aggi. Was sollte er dem Holländer auch sagen? Ich habe die junge Frau verletzt, war ein Riesenarschloch und so liegen die Dinge nun mal? Wahrscheinlich hätte Bert lediglich in die Hände geklatscht und gesagt, dass er es gewusst hatte. Blöder Mistkerl!

Ohne nachzudenken hatte Paul den Weg zum Arcanum gewählt. Die kleine Lounge mit angeschlossener Tanzfläche im Holländerviertel war recht beliebt unter den Erwachten der Stadt und über deren Grenzen hinaus. Paul war schon ein paar Jahre nicht mehr hier gewesen. Das Arcanum war wie eine verblasste Erinnerung aus einem anderen Leben. Aus einer Zeit, als Paul noch zu den angesagten hermetischen Magiern der Stadt gehörte und Clubmitglied war. Diese Zeiten waren zwei bis drei persönliche Katastrophen her und so wirkte die Lounge eher wie ein schmerzender Stachel in seinem alten, mürben Fleisch.

Er betrachtete seinen Cyberarm, mit dem er den Wagen steuerte. Unter dem Ärmel seiner Jacke blitze das Chrom der nicht mehr ganz zeitgemäßen Technik hervor. Die metallenen Fingerglieder tippten auf seinen neuralen Impuls hin auf das alte Kunstleder des Steuerrades, fast so, als wäre es sein echter Körper. Wie früher, titelten die AR-Werbeeinblendungen der Cyberschlachtereien, wo man Mensch und Maschine dauerhaft verband. Manche behaupteten sogar, die Cyberware wäre der Biologie überlegen. Es gab nicht wenige Dudes und Heißsporne, die sich ihre gesunden Arme und Beine abnahmen, um in den zweifelhaften Genuss von Chrome zu kommen. Meist zogen sie jedoch realistischere, das heißt mit Kunsthaut überzogene Modelle vor. Trotzdem war es Paul ein Rätsel, wie man sich freiwillig so verstümmeln lassen konnte. Er war nie besonders begeistert von seinem Körper gewesen und behandelte ihn meist mies, aber er war alles, was er hatte. Diese Hülle sollte ihn möglichst intakt bis ins Grab begleiten.

Mit dir fing alles an.

Als er seinen Arm verlor, verlor er auch einen Großteil seiner magischen Fähigkeiten. Der klägliche Rest hielt ihn beruflich noch ein paar wenige Jahre über Wasser, doch auch das war lediglich ein Abklatsch vergangener Zeiten.

Heute würde er seinen zweiten Arm für die Fähigkeit hergeben, in den Astralraum zu blicken. Natürlich war das widersprüchlich, nichts konnte seine Magie zurückholen, schon gar keine weitere Verstümmelung, und doch würde er alles geben, um noch einmal durch den Astralraum zu gleiten und ferne Metaebenen zu besuchen.

Der Druck seiner angespannten Finger ließ das Lenkrad knirschen. Paul atmete zweimal tief durch und versuchte sich vergeblich zu entspannen.

Kurz nach zweiundzwanzig Uhr parkte er den Wagen auf der Straße vor dem Arcanum. Röhrend erstarb das Geräusch des Motors und wie jedes Mal sandte Paul ein Stoßgebet an das Pantheon der Autobauer von Rüsselsheim, Wolfsburg, Detroit und woher die Teile auch stammen mochten, die in dem alten Commodore steckten, dass er später wieder anspringen möge.

Mühsam quälte er sich vom Fahrersitz und merkte, als er auf den breiten Bürgersteig vor dem Arcanum trat, dass er mindestens zwei Drinks zu viel intus hatte. Davon lässt sich ein Paul Dante doch nicht aufhalten, dachte er, stellte den Kragen seines Mantels auf, um sich vor der kühlen Nacht zu schützen, und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Mit leicht wankenden Schritten trat er in den zu dieser Zeit noch leeren Eingangsbereich des Clubs und nickte der Türsteherin, einer streng blickenden kleinen Trollin in einem maßgeschneiderten Anzug, zu.

»Bin noch ein bisschen früh dran, was?«, sagte er, um das Eis zu brechen, und wollte gerade an der Frau vorbeigehen, als diese sich ihm in den Weg stellte.

Kurz hatte Paul das Gefühl, die Sonne verfinstere sich, als ihre zwei Meter dreißig große Gestalt vor ihm aufragte. Durch die gewaltigen Hörner an ihrem Kopf wirkte sie noch bedrohlicher als ein gewöhnlicher Troll, aber vielleicht war es auch nur ihr unnachgiebiger Blick, der Paul innehalten ließ.

»Nur für Mitglieder.«

»Da hat aber jemand gelernt, die Kerninformationen in so wenige Wörter wie möglich zu verpacken, was?«

Sie blickte ausdrucklos auf ihn herab. Lediglich ihre Hand wanderte kaum merkbar näher an ihren Betäubungsschlagstock heran.

»Nur für Mitglieder.«

»Okay, Schätzchen«, setzte er an, als plötzlich die mächtige Faust der Trollin nach vorne schnellte und ihn hart am Kinn traf. Die Welt explodierte um ihn herum und Paul ging zu Boden wie ein nasser Sack.

Sein Rücken schlug hart auf und für zehn Sekunden drehte sich alles. Er beschloss, lieber liegenzubleiben.

Den Schlag hatte er weder kommen sehen, noch hatte er damit gerechnet, dass die Türsteherin derartig schnell war. Sie musste eine Ki-Adeptin sein oder sie hatte hochmoderne Reflexbooster eingebaut. Zu seinem Glück hatte sie nicht mit voller Wucht zugeschlagen.

Tränen verklärten sein Sichtfeld, doch die Umrisse der sich über ihn beugenden Trollin waren nicht zu übersehen. »Nur für Mitglieder. Schätzchen.«

»Ich habe schon kapiert«, jammerte Paul. »Aber dafür muss man doch nicht gleich handgreiflich werden.« Er mühte sich in eine sitzende Position und massierte vorsichtig seinen Kiefer.

»Das war für das Schätzchen.«

Beschwichtigend hob er die Arme und stand ungelenk auf. »Mein Fehler, kommt nicht wieder vor.«

»Du solltest respektvoller mit Frauen umgehen. Sonst werde ich nicht die letzte sein, die dir den Arsch versohlt.«

Paul wollte eine bissige Erwiderung loslassen, hielt sich jedoch zurück. Es war nicht nur die Angst vor einem weiteren Kinnhaken, sondern er wusste schlichtweg, dass er im Unrecht war. Meist hielt ihn das nicht davon ab zu handeln, ganz im Gegenteil, aber er wollte seinem alten Dickschädel zumindest einmal die Chance einräumen, schlauer zu werden.

»Okay, okay, du hast ja recht! Lässt du mich jetzt rein, damit ich mein Kinn mit etwas Eis kühlen kann?«

»Nope.«

»Ach, komm schon, was soll der Mist. Was habe ich denn falsch gemacht? Früher gab es doch auch Tagesmitgliedschaften!«

»Du bist nicht in der Verfassung für das Arcanum.«

»Die zwei, drei Bier …«

»Du stinkst, dein Mantel ist noch knittriger als dein Gesicht …«

»… und du kannst keine Magie mehr wirken«, ergänzte Faizah, deren geisterhafte Gestalt wie aus dem Nichts neben der Trollin erschien. Die schlanke Frau war in ein langes Gewand gehüllt. Ein Tuch war luftig um ihren Kopf geschwungen, während ein goldener Ring ihre große Nase betonte. Dunkle Augen voller Weisheit blickten ihn an.

Paul sah sie verdutzt an. »Was zum Teufel machst du hier draußen?«

Die Straßenhexe zog sich ihren breiten Schal enger um die Schultern, als würde sie in der kühlen Oktobernacht frösteln, auch wenn lediglich ihre astrale Projektion auf dem Gehweg vor dem Club stand.

»Ich hörte drinnen, dass hier ein glatzköpfiger Mundaner Ärger macht, da wollte ich kurz nachschauen, ob es sich nicht um meinen alten … Freund Paul Dante handelt. Und siehe da, ich hatte recht.«

»Was heißt hier Mundaner? Ich bin doch kein Nicht-Zauberer!«

Faizah verzog das Gesicht. »Dann lass uns doch dieses Gespräch im Astralraum fortführen.«

»Ach, komm schon Fai, es ist für mich nicht besonders leicht.«

»Das sehe ich.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Trotzdem wirst du das Arcanum nie wieder betreten, und das weißt du.«

»Ihr könnt mich alle mal«, setzte er an und wollte sich gerade wutentbrannt abwenden, als Faizah rasch auf ihn zuschwebte. Ihre geisterhaften Hände legten sich auf seine Wangen und ihr Blick hielt ihn gefangen. »Du bist traurig, Paul. Ich kann es verstehen, auch wenn ich deinen Verlust niemals erfühlen werde. Du hast alles verloren: dein Talent, deine Berufung, deine Wohnung und deine Freunde.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst«, erwiderte er zähneknirschend.

»Das mache ich nicht, um weitere Wunden zu reißen. Aber du musst es hören, um es zu akzeptieren. Du hast selbst Aggi, die immer zu dir aufgeschaut hat und jede deiner exzentrischen Eigenarten mitgetragen hat, vergrault.«

»Sie hat niemals …«

»Doch, das hat sie. Und auf irgendeine mir nicht erklärliche Weise hat sie etwas in dir gesehen, was ich schon lange nicht mehr in dir erkennen konnte. Sie war dein letzter Freund und auch den hast du vertrieben. Du musst ein paar Dinge verstehen. Paul, du bist kein Magier mehr. Vielleicht bist du noch nicht einmal mehr ein Privatdetektiv.«

»Aber ich habe einen Auftrag«, protestierte er und machte einen Schritt von ihr weg.

Mildes Lächeln erfüllte ihr Gesicht. »Ja, und du wirst sicher noch viele wichtige Dinge in deinem Leben bewegen. Aber nicht hier im Arcanum und nicht so, wie du im Moment aufgestellt bist.«

Wütend erhob er die Stimme, sodass sich die Trollin zur Sicherheit neben ihm aufbaute. »Was soll das werden, Faizah? Willst du mich therapieren? Kommt gleich ein guter Ratschlag an den alten Freund, mit dem man nichts mehr zu tun haben möchte?«

»Nein Paul, kein guter Ratschlag. Nicht von mir und nicht an dich. Du würdest ihn nicht annehmen können. Das, was dir fehlt, ist etwas völlig anderes.«

»Und das wäre was?«

»Hoffnung.«

Das Wort traf ihn so unvorbereitet wie der Schlag der Türsteherin wenige Augenblicke zuvor. Der weiche Ausdruck in Faizahs Gesicht war für ihn nicht mehr zu ertragen. Wortlos drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Das Wort Hoffnung hallte von seiner Schädeldecke wider wie tiefes Donnergrollen.

Kochend vor Wut setzte er sich auf den Fahrersitz seines Opels und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. Ein Blick auf den Eingang des Clubs zeigte ihm, dass Faizahs Gestalt genauso plötzlich verschwunden war, wie sie zuvor aufgetaucht war.

Er wollte das alles nicht mehr. Keine Fragen mehr von Bert, keine schlauen Sprüche von der Straßenhexe. Fast war er versucht, noch einmal auszusteigen, um sich mit der Trollin zu schlagen – vielleicht würde es ihm dann besser gehen –, als sein Kommlink klingelte.

Zornig meldete er sich. »Was?«

»Hier ist Aggi. Wir müssen reden.«

Kapitel 3

Zwei Tage zuvor

»Wir sind da«, sagte Anton und steuerte den verbeulten Lieferwagen auf einen Parkplatz neben einem größeren Flachbau. Die Dunkelheit der Nacht wurde ausschließlich durch die Scheinwerfer des Fahrzeugs verdrängt. In dieser Gegend gab es keine öffentliche Stromversorgung und auch die Neoanarchisten hielten sich hier eher bedeckt. Bis vor Kurzem hätte Neeka noch gesagt, dass dieser Stadtteil Vory-Land sei, doch nachdem die unterschiedlichen Zweige der russischen Mafia in den letzten Monaten damit begonnen hatten, sich gegenseitig in die Luft zu sprengen, wusste man nicht genau, wer eigentlich gerade das Sagen hatte.

Das galt jedoch nicht für besagtes Gebäude, vor dem ihr Fahrer Savina und sie absetzte. Der Eingangsbereich hatte einst aus mehreren doppelflügligen Glastüren bestanden, von denen die meisten im Verlauf der Jahre mit Panzerplatten verschweißt worden waren. Nur noch an der Neonschrift über der Tür konnte man die alte Funktionsweise des Gebäudes erkennen. In wackligen Lettern stand dort Karl Kombatmage: Der Film – das letzte Zeugnis des ehemaligen Kinos.

Frau Doktor hatte ihr berichtet, dass an diesem Ort noch bis in die 2060er Jahre hinein 2D-Filme gezeigt wurden. Eine immer kleiner werdende Schar von Liebhabern hatte damals dieses Lichtspielhaus frequentiert und sich sowohl illegal gemoddete Versionen der aktuellen Blockbuster als auch Perlen der Jahrtausendwende wie Matrix oder Lawrence von Arabien angeschaut.

Neeka hatte kein Verständnis für antike Kunst, und so ging es dem Großteil der Zuschauer, sodass das Kino vor fünfzehn Jahren geschlossen hatte und seitdem leer stand. Kurz bevor es vollends verrotten konnte, kam Miray und richtete ihre Schattenklinik in einem der Kinosäle ein.

Savinas ging es seit zwanzig Minuten immer schlechter. Ihr Bewusstseinszustand war am ehesten mit apathisch zu umschreiben. Sie schwitzte derart, dass Neeka befürchtete, die Frau würde vollends dehydriert sein, ehe sie medizinische Hilfe bekommen konnte.

Anton, der klein gewachsene Mann mit dem freundlichen Lächeln, der die Neoanarchisten in den letzten Monaten tatkräftig unterstützt hatte, wo er nur konnte, legte Savina eine Decke um die Schultern. Er half ihr aus dem Wagen und musste sie stützen, da sie selbst nicht mehr die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten.

»Geht es?«, wollte Neeka wissen.

Mit breitem russischem Akzent bejahte Anton ihre Frage. »Solange es nicht ansteckend ist. Ich kriege sonst wirklich Ärger zu Hause. Und wenn ich sage, dass ich nur dir helfen wollte, kriegst du wirklich Ärger.« Er zwinkerte ihr zu.

»Dann hoffe ich, die Diagnose von Frau Doktor fällt gut für uns beide aus. Trägst du Cyberware, Anton?«

»Nein, nein. Ich mag es bio!«

Neeka musste ob der Wortwahl schmunzeln. »Dann solltest du sicher sein. Ich fürchte eher um ein Softwareproblem als irgendetwas Bakterielles. Aber fuck, was habe ich schon für ’ne Ahnung von so etwas?«

Sie betraten das alte Kino. Noch immer konnte man unter sehr viel Staub verborgen den roten Teppich erahnen, der das Foyer ausfüllte. Die ehemaligen Tresen des Kartencenters waren nicht besetzt, aber eine breite Gestalt kam mit wiegenden Hüften auf sie zu. Der Zwerg, man konnte nicht klar erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, hielt eine klapprige Schrotflinte in den Händen. Auch wenn der Lauf auf den Teppich gerichtet war, machte der Metamensch keinen Hehl daraus, dass er oder sie die Waffe benutzen würde, wenn es darauf ankäme. Lange Haare rahmten ein dezent geschminktes Gesicht mit spärlichem Bartwuchs ein. Die Person trug Netzstrümpfe, schwarze Shorts und ein Shirt.

»Haben Sie einen Termin?« Die weiche Stimme half Neeka nicht bei der Bestimmung des Geschlechts ihres Gegenübers.

»Ich bin Neeka. Miray erwartet uns.«

»Der Notfall?« Sier warf Savina einen prüfenden Blick zu.

»Nicht ansteckend, soweit wir wissen«, warf Anton ein.

»Na, dann folgt mir mal.«

Neeka ging Anton zur Hand und gemeinsam stützten sie die schwerkranke Frau. Ihre Haut hatte mittlerweile die Farbe von verblichener Raufasertapete angenommen und lediglich die rot geränderten Augen bildeten einen grusligen Kontrast.

Am Eingang eines der drei Kinosäle stand ein aus Schrott zusammengeschweißter Rollstuhl, in den sie Savina setzten. Speichelfäden liefen ihr aus dem Mundwinkel.

»Wir beeilen uns mal lieber. Hier entlang.«

Die Sitzreihen in dem für sicherlich zweihundert Personen ausgelegten Saal wiesen zahlreiche Lücken auf. Dort, wo einst die ersten Reihen auf die viel zu nahe Leinwand hatten blicken müssen, waren sie flächendeckend demontiert. Stattdessen spannte sich dort ein Zelt aus halbtransparenten Folien in die Höhe, welche von innen durch helle Scheinwerfer beleuchtet wurden.Eine metamenschliche Silhouette bewegte sich um einen Operationstisch herum.

Eiligen Schrittes schoben sie den Stuhl die Senkung hinab, während ihre Begleitung rief: »Der Notfall ist da. Sieht nicht gut aus, Frau Doktor.«

Eine kleine Frau trat aus dem abgetrennten Bereich. Ein weißer Kittel hing schlaff über den viel zu schmalen Schultern der schwarzen Frau. Mit müden Augen blickte sie den Neuankömmlingen entgegen.

»Du schuldest mir etwas«, begrüßte sie Neeka mit einem knappen Nicken und wandte sich umgehend ihrer neuen Patientin zu. »Schiebt sie herein und legt sie auf den Tisch. Ich schaue mir an, was du mir mitgebracht hast. Denke dir diesmal etwas Besonderes als Gegenleistung aus. Der örtliche Fightclub hatte ein Turnier und ich bin hundemüde, nachdem ich so viele Nähte durchs Fleisch gezogen habe.«

Miray hatte Abkommen mit den Gangs der Umgebung. Niemand krümmte ihr ein Haar oder setzte sie auch nur unter Druck. Dafür flickte sie die Mädels und Jungs zusammen, wenn sie sich im Ring die Köpfe eingeschlagen hatten, bei einem Raub angeschossen worden waren oder ihr Motorrad gegen eine Mauer gesetzt hatten. Sie stellte keine Fragen und ihr Kino war neutrale Zone.

Der abgetrennte Behandlungsbereich war vollgestellt mit allerlei Medizintechnik, die auf den ersten Blick nicht besonders State of the Art aussah, jedoch gepflegter war als der Rest des Kinos. Neeka und Anton hoben Savina vorsichtig an und legten sie mit dem Rücken auf den zentralen Metalltisch.

»Ich könnte dir ein paar Jungs vorbeischicken, die dein Foyer mal ordentlich durchsaugen und das Drecksloch renovieren.«

Ausdruckslos blickte Miray sie an. Neeka konnte nicht einschätzen, ob die Ärztin im nächsten Augenblick laut lachen oder sie rauswerfen würde. Da Miray noch nie in ihrer Gegenwart gelacht hatte, rechnete sie mit dem Schlimmsten. Umso überraschter war sie, als die Ärztin trocken antwortete. »An so etwas in der Art hatte ich gedacht.«

Sie wandte sich ihrer Patientin zu. »Was haben wir denn da? Katatonischer Zustand …« Sie befestigte zwei Troden an den Handgelenken und blickte auf ein altertümliches Gerät, das auf einem Beistelltisch stand. Auf dem Display reihten sich kryptische Zahlenreihen aneinander, die Neeka nicht deuten konnte, die für Miray jedoch offenbar schlüssige Ergebnisse zutage förderten. »… erhöhter Puls … der Blutdruck schießt durch die Decke … der diastolische Wert sprengt mir gleich die Skala.«

»Wie ich schon sagte, die Gute hat echt viel Drek hinter sich.«

»Das rechtfertigt aber nur bedingt diese Werte. Ist sie BTL-süchtig?«

Neeka zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben sie aus einem Puppenhaus geholt. Auf ihrem Hirn lief ein fieses Personafix-Programm, wie es in solchen Häusern benutzt wird. Das hat Aggi beendet, wie bei den anderen auch.«

Bei der Erwähnung des Namens der Deckerin spannte Miray sich kurz an. »Vielleicht hat sie Mist gebaut, als sie die Software beendet hat.«

»Komm schon, Frau Doktor! Du redest hier immer noch von meiner Vruken, und wir beide wissen, dass sie ’ne novaheiße Deckerin ist. Es gibt nichts, was sie nicht mit Code anstellen kann. Sie hat es nicht verbockt.«

Wieder warf Miray ihr diesen vielsagenden Blick zu. Sie griff nach einem Glasfaserkabel und verband Savinas Datenbuchse mit dem Analysegerät. »Wir werden sehen.«

»Kann ich irgendwas machen? Ich bin nicht besonders gut im Warten.«

»Du kannst schon mal mit der Renovierung anfangen, während ich diese Signalspitzen mit Mustern aus der Matrix vergleiche. Hier marodiert etwas, was eigentlich still sitzen sollte. Sieht fast aus, als hätte jemand versucht, eine weitere Schicht Personalfix über den Verstand des armen Mädchens zu spielen. Aber solch einen merkwürdigen Algorithmus habe ich noch nie zuvor gesehen«, sinnierte Miray.

»Was soll das heißen? Dass mehrere Typen mittels BTL-Drogen an ihrem Gehirn herumgepfuscht haben?«

Genervt blickte die Ärztin auf. »Geh um den Block, zähl brennende Mülltonnen oder so etwas. Ich brauche ein bis zwei Stunden. Aber hau nicht ab, ich will nicht, dass Leute ihre Bedürftigen bei mir abladen und dann verschwinden.«

Anton räusperte sich. »Ich kenne da ein spannendes, russisches Kartenspiel, wenn du magst.«

Neeka leckte sich über die Hauer, während sie abwog, der arroganten Frau Doktor auf orkische Art und Weise ordentlich die Meinung zu sagen oder den Ärger herunterzuschlucken. »Gehen wir«, knurrte sie zu Anton, ohne Miray dabei aus den Augen zu lassen.

»Ich zeige euch den Soykaf-Automaten«, sagte der oder die Zwergin und führte sie zurück ins Foyer und weiter in den als Wartezimmer bezeichneten Raum. Früher einmal war es wahrscheinlich ein Lagerraum gewesen, heute war es in ähnlich erbärmlichem Zustand wie der Rest des ehemaligen Kinos. Keine Reinigungsdrohne hatte die letzten Monate den Weg in den fensterlosen Raum gefunden. Zwei durchgesessene Sofas, ein vollautomatischer Automat für Heißgetränke, drei angeschlagene Kaffeebecher und sich von den Wänden lösende Tapeten waren alles, was der Raum zu bieten hatte.

»Ihr könnt hierbleiben. Wenn Miray fertig ist, werde ich euch holen.« Sie oder er schloss die Tür und ließ die beiden Wartenden zurück.

»Toller Drek«, sagte Neeka zu Anton und ließ sich in das Kunstleder des Sofas fallen. Ihr Körper versank tiefer, als sie vermutet hätte. »Das ist ’n Scheißort, um die Nacht zu verbringen.«

Anton wandte sich dem Display des Automaten zu und beschäftigte sich konzentriert mit der Anzeige. »Kann ich dir einen Soykaf machen? Hier gibt es sogar eine Auswahl an Geschmacksrichtungen.«

»Überrasche mich«, antwortete die Orkin und massierte sich die Schläfen. Es war nicht allein der Umstand, dass sie eine unbestimmte Zeit lang an diesem Ort verbringen musste, der ihr Stress bereitete. Es war vor allem die Sorge um die junge Frau, kaum älter als Neeka selbst, die ihr im wahrsten Sinne des Wortes Kopfschmerzen bereitete. Nichts in dieser Welt war fair. Das wusste sie nur allzu gut. Wer als Frau aufwächst, wer in Armut aufwächst und wem obendrein Hauer aus dem Unterkiefer wachsen, weiß, dass nichts in dieser Welt fair ist. Aber wenn Frauen, denen derart viel Leid zugefügt worden war, nach der Rettung in der Schattenklinik draufgehen sollten, war das mehr als unfair.

»Aloe vera war leer«, sagte Anton und reichte ihr einen dampfenden Becher mit nur noch halbem Henkel.

Sie schaute ihn ungläubig an.

»Sollte ein Scherz sein. Alle Aromenbehälter sind aufgebraucht. Der Soykaf ist schwarz.«

»Ist besser so«, murmelte sie und war nach dem ersten Schluck dankbar, dass die Flüssigkeit in dem Becher so heiß war, dass der widerliche Geschmack sich nicht voll entfaltete.

Neeka erwachte.

Der Geruch des modrigen Ledersofas hing klebrig in ihrer Nase und der Geschmack von industriell gefertigtem Soykaf kribbelte auf ihren Lippen. Trotz des Koffeins war sie rasch auf der Couch eingeschlafen. Anton war fort und der Raum in Dunkelheit gehüllt. Lediglich das Display der Soykafmaschine leuchtete in gespenstischem Grün.