Du bist nicht allein, mein Sohn - Isabell Rohde - E-Book

Du bist nicht allein, mein Sohn E-Book

Isabell Rohde

0,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ach, du meine Güte!«, rief Andrea von Lehn erschrocken, als sie merkte, dass ihr Wagen auf dem hartgefrorenen Schnee vor dem Schoeneicher Gutshaus ins Rutschen kam. Aber es geschah nichts, außer, dass sie ein wenig schräg parkte. Andrea stieg aus und blickte erleichtert zu der vermummten Gestalt hinüber, die ihre gefährliche Rutschpartie ängstlich beobachtet hatte. Es war der Chauffeur Hermann. Er hatte einen Kübel mit Asche bei sich, die er auf die Anfahrt streute. »Das ist ja noch einmal gutgegangen, Frau von Lehn!« Andrea lachte. »Das nächste Mal schicke ich ein Telegramm, Hermann. Dann streuen Sie nur dort, wo ich entlangfahre.« Andrea sah noch, dass er ihr heiter zuwinkte, dann stapfte sie über den knirschenden Schnee ins Haus. Es war bitterkalt, aber in der Halle knisterte das Feuer im Kamin und verbreitete eine wohlige Wärme. Gusti trug gerade einen Stapel frisch gebügelter Herren- und Knabenhemden nach oben. Sie sah sich nach Andrea um und strahlte über das ganze Gesicht, als sie sagte: »Frau von Schoen­ecker ist oben, Andrea. Soll ich Sie anmelden, oder wollen Sie …« »Ich will, Gusti.« Mit einer schwungvollen Bewegung streifte Andrea ihren gefütterten Ledermantel ab, band das wollene Tuch vom Kopf und rannte nach oben. Ja, sie wollte ihre geliebte Mutti überraschen. Aber trotzdem klopfte sie flüchtig an deren Zimmertür. »Wer ist da?«, hörte sie die weiche Stimme ihrer Mutter. Andrea verstellte sich. »Henrik, Mutti.« »Du darfst hereinkommen.« Andrea verbiss sich das Lachen. Sie öffnete die Tür mit einem Schwung, blieb dann aber mitten in der Bewegung verdutzt stehen. Denise von Schoenecker trug ein bodenlanges Brokatkleid mit einem

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 150

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust –126–

Du bist nicht allein, mein Sohn

Roman von Isabell Rohde

»Ach, du meine Güte!«, rief Andrea von Lehn erschrocken, als sie merkte, dass ihr Wagen auf dem hartgefrorenen Schnee vor dem Schoeneicher Gutshaus ins Rutschen kam. Aber es geschah nichts, außer, dass sie ein wenig schräg parkte.

Andrea stieg aus und blickte erleichtert zu der vermummten Gestalt hinüber, die ihre gefährliche Rutschpartie ängstlich beobachtet hatte. Es war der Chauffeur Hermann. Er hatte einen Kübel mit Asche bei sich, die er auf die Anfahrt streute.

»Das ist ja noch einmal gutgegangen, Frau von Lehn!«

Andrea lachte. »Das nächste Mal schicke ich ein Telegramm, Hermann. Dann streuen Sie nur dort, wo ich entlangfahre.«

Andrea sah noch, dass er ihr heiter zuwinkte, dann stapfte sie über den knirschenden Schnee ins Haus. Es war bitterkalt, aber in der Halle knisterte das Feuer im Kamin und verbreitete eine wohlige Wärme.

Gusti trug gerade einen Stapel frisch gebügelter Herren- und Knabenhemden nach oben. Sie sah sich nach Andrea um und strahlte über das ganze Gesicht, als sie sagte: »Frau von Schoen­ecker ist oben, Andrea. Soll ich Sie anmelden, oder wollen Sie …«

»Ich will, Gusti.«

Mit einer schwungvollen Bewegung streifte Andrea ihren gefütterten Ledermantel ab, band das wollene Tuch vom Kopf und rannte nach oben. Ja, sie wollte ihre geliebte Mutti überraschen. Aber trotzdem klopfte sie flüchtig an deren Zimmertür.

»Wer ist da?«, hörte sie die weiche Stimme ihrer Mutter.

Andrea verstellte sich. »Henrik, Mutti.«

»Du darfst hereinkommen.«

Andrea verbiss sich das Lachen. Sie öffnete die Tür mit einem Schwung, blieb dann aber mitten in der Bewegung verdutzt stehen.

Denise von Schoenecker trug ein bodenlanges Brokatkleid mit einem tiefen Ausschnitt. Der kostbare Stoff saß hauteng an ihrer immer noch schlanken, mädchenhaften Figur. Trotzdem wirkte das Modell altbacken.

»Willst du deine verlorene Jugend zurückholen?«, scherzte Andrea.

Erstaunt sah Denise sich um. »Du bist es? Ich dachte, es sei Henrik.« Sie bot ihrer Tochter die Wange zur Begrüßung, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu lösen.

»Und warum darf Henrik dich so sehen, die anderen aber nicht?«

Denise warf den Kopf mit dem vollen dunklen Haar zurück und erwiderte lachend: »Weil Henrik noch so jung ist, dass es ihm an Kritik fehlt. Er würde mich in diesem Kleid schön finden. Alexander und Nick jedoch …« Sie rümpfte die Nase.

»Und warum ziehst du das Kleid dann an?«, fragte Andrea und machte keinen Hehl daraus, dass sie ihre Mutter in anderen Kleidern weitaus lieber sah.

»Ich ziehe es ja nicht an«, antwortete Denise mit der ihr eigenen Logik. »Ich probiere es nur. Alexander hat eine Einladung zu einem Klassentreffen im Februar bekommen. Es gibt einen großen Ball.« Sie streifte das enge Kleid ab und stand nun mit einem ratlosen Gesicht in ihrer Unterwäsche da. »Ich habe aber kein passendes Kleid.«

»Aber, Mutti!« Energisch, wie sie sein konnte, trat Andrea an den Kleiderschrank und sah ihn durch. Doch schon nach ein paar Minuten wusste sie, dass ihre Mutter recht hatte. Die langen Schottenröcke, die Kaminkleider, die feierlichen schwarzen Kleider für sehr offizielle Anlässe …, das alles war nicht das Richtige. Zum Tanzen und um ihre Schönheit ins rechte Licht zu rücken, dazu brauchte sie etwas ganz Besonderes.

»Ich habe ja auch schon daran gedacht, mir ein neues Abendkleid zu kaufen«, entschuldigte Denise sich vor ihrer entsetzten Tochter. »Aber dann wollte ich sparen. Irgendwo muss man ja beginnen. Und außerdem hätten wir andere Sachen viel nötiger.«

»Was denn?«, fragte Andrea und machte ein scheinheiliges Gesicht. Solange sie denken konnte, war immer alles dagewesen, was auf Sophienlust und Schoeneich gebraucht worden war. Ihre Eltern hatten zwar immer darauf geachtet, die Kinder nicht zu sinnlos verwöhnten Luxusgeschöpfen heranwachsen zu lassen, aber so richtig gefehlt hatte nie etwas.

»Wir brauchen einen Filmvorführapparat, Andrea. Im Sommer sind so viele entzückende Filme über Sophienlust entstanden. Es wäre doch herrlich, wenn Pünktchen oder Nick den anderen die Filme abends vorführen könnten.«

Andrea stützte ihre Hände in die schmale Taille und trommelte mit ihren Fingerspitzen auf das derbe Leder ihres sportlichen Gürtels.

»Dieser Filmvorführapparat wird ausgeliehen, Mutti. Ich kenne den Besitzer des Fotoladens in Wildmoos. Hans-Joachim behandelt seine Dackelhündin. Er wird dir bestimmt so eine Apparatur zur Verfügung stellen.«

Denise betrachtete ihr Brokatkleid noch immer mit einer gewissen Wehmut. »Damals war es wunderschön«, sagte sie leise und strich über den goldfarbenen Stoff.

»Heute ist es lächerlich«, erklärte Andrea unerschrocken und fügte hinzu: »Ich will nicht, dass die Frau meines Vaters wie ein abgetakelter Hollywoodstar herumläuft«

Denise musste lachen. »Gut, dann fahre ich bald nach Stuttgart und sehe mich in aller Ruhe nach einer neuen Robe um.« Sie lächelte Andrea an. »Kommst du mit und berätst mich?«

»Gern, Mutti. Liebend gern. Dann machen wir uns einen tollen Tag, ganz ohne Kinder.«

Diesmal war Denise es, die ein vorwurfsvolles »Aber, Andrea!«, ausstieß. Doch es klang mehr nach einem Scherz, denn sie hatten beide Kinder viel zu gern.

»Warum lacht ihr denn so? Und warum stehst du hier im Unterkleid?«

Henrik war natürlich ohne anzuklopfen hereinmarschiert und wunderte sich jetzt. Dann ging er wie hypnotisiert auf das unmoderne Abendkleid seiner Mutter zu.

»Uiii! Ist das schön! Ein Prinzessinnen-Kleid! Ziehst du das heute Abend an, wenn Vati nach Hause kommt?«

Denise und Andrea lachten laut. »Nein, Henrik. Mutti hat es mir geschenkt. Ich nähe daraus ein Gewand für eure Kostümkammer. So haben wir alle unsere Freude daran.«

»Schön!«, staunte Henrik. »Aber was ziehst du jetzt an, Mutti? Du musst doch nach Sophienlust. Heute kommt ein neuer Junge, und Nick hat gesagt, er ist genauso alt wie ich.«

Denise nahm Henriks Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihren Sohn kurz auf die Nasenspitze. Aber die fröhliche Heiterkeit, die eben noch von ihr ausgegangen war, fehlte plötzlich.

»Ich habe es nicht vergessen, Henrik. Ich ziehe mich ganz warm an und fahre gleich los. Mach jetzt schnell deine Schularbeiten, dann kann Andrea dir noch ein wenig Gesellschaft leisten.«

»Klasse!«, sagte Henrik und strahlte seine große Schwester an. Dann trottete er davon.

Denise ging zu ihrem Kleiderschrank und holte eine wollene Bluse mit einem dezenten Karo, eine graue Flanellhose und eine passende Strickjacke heraus. Schweigend kleidete sie sich an und sah dabei nachdenklich aus dem Fenster in die eiskalte Winterlandschaft hinaus.

»Jetzt siehst du ganz anders aus«, sagte Andrea mit liebevollem Spott in der Stimme. »Nichts mehr von Hollywood. Jetzt erinnerst du eher an ein Beerdigungsinstitut.«

»Mir ist kalt, Andrea«, erwiderte ­Denise, ohne auf den leichten Ton ihrer Stieftochter einzugehen. »Aber das, was du sagst, ist gar nicht so falsch. Der Junge, den ich heute empfange, hat seinen Bruder und seine Mutter durch einen Autounfall verloren.«

»Das tut mir leid, Mutti. Ich wollte keine Geschmacklosigkeit begehen.«

»Das weiß ich.« Das verstehende Lächeln von Denise drückte viel Liebe für die temperamentvolle Andrea aus, die noch nichts von ihrer jungendlichen Spontanität verloren hatte, obwohl sie selbst schon Mutter war. Dann fügte sie ernst hinzu: »Es ist ein Zwilling, der heute nach Sophienlust kommt. Er hat sehr an seinem Bruder gehangen. Jetzt hat er nur noch seinen Vater.«

»Bringt dieser ihn wenigstens her?«

»Ja, Andrea. Zumindest hat er mir das versprochen. Aber er ist beruflich sehr engagiert. Er arbeitet beim Fernsehen als Aufnahmeleiter und ist stark beschäftigt.«

»Deswegen kann er wahrscheinlich seinen Sohn auch nicht richtig betreuen«, meinte Andrea und legte sich das Brokatkleid über den Arm. »Soll ich es wirklich für Irmela oder Pünktchen umarbeiten, Mutti?«

Denise fuhr sich gerade mit der Bürste über das Haar. Ihr Blick war ein wenig abwesend, aber sie nickte.

»Du bekommst auch deinen Filmvorführapparat, Mutti.« Andrea beugte sich kurz zu ihr und legte ihr Gesicht an Denises Wange. »Und schau nicht so traurig. Der kleine Junge wird schon über sein trauriges Schicksal hinwegkommen. Sophienlust und dein Einfühlungsvermögen haben das bis jetzt immer geschafft.«

»Und wenn nicht?«, fragte Denise ein wenig unsicher.

»Dann bring ihn zu mir, Mutti.«

*

Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick, zog den Reißverschluss seines Anoraks zu und stülpte sich die Kapuze über den Kopf. Er hatte eben mit den anderen Kindern aus Sophienlust eine ganze Familie von Schneemännern gebaut. Dabei war ihm warm geworden. Jetzt allerdings zog die erste Dämmerung über die weißen Flächen der Schneelandschaft, und sofort begann der Frost wieder zu beißen.

Die Kleineren hatten sich schon nach drinnen verdrückt, um von Frau Rennert einen heißen Tee mit Milch in Empfang zu nehmen. Nick hatte dagegen noch mit Pünktchen, Fabian und Irmela ausgeharrt, um einen besonders behäbigen Schneemann fertigzustellen, den sie ›Diogenes‹ getauft hatten, weil er, wie Fabian behauptete, wie ein Fass aussah.

Irmela Groote und Nick hatten sich ein wenig über Fabians mangelnde Geschichtskenntnisse mokiert, waren aber zu taktvoll gewesen, um ihn auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Außerdem war das gar nicht so wichtig. Die Hauptsache war, dass der kleine Robby Thalmann, der an diesem Tag ankommen sollte, morgen früh von seinem Fenster aus diese Schneemänner würde betrachten können.

Nick wusste aus Erfahrung, wie man ein leidgeprüftes Kind in Sophienlust wieder glücklich machte. Er fand, die dicken Schneemänner waren gerade das richtige.

»Ob er richtig Trauer trägt?«, fragte Pünktchen.

»Wer?« Fabian klopfte die letzten Schneespuren von seinem Anorak ab und trat zu den anderen, um mit ihnen langsam auf das Haus zuzugehen.

»Der kleine Robby.«

»Das glaube ich nicht, Pünktchen. Ich habe noch nie ein Kind gesehen, das Trauer trägt. Das würde doch alles noch viel schlimmer machen. Stell dir mal vor, jeder fragt ihn, wer bei ihm gestorben ist.«

»Du hast recht, Nick«, sagte Irmela. Sie warf dem Fünfzehnjährigen einen kurzen Blick voller Anerkennung zu.

Die Kinder eilten die Treppe hoch und trampelten sich den Schnee von den Füßen. In diesem Moment rauschte der Wagen Denise von Schoeneckers heran.

»Tante Isi fährt prima«, meinte Fabian. »Sie rutscht überhaupt nicht.«

»Sie hat auch tolle Reifen«, sagte Nick. Er eilte die Treppe hinunter und hielt seiner Mutter den Schlag auf. »Herr Thalmann wollte um fünf da sein, nicht wahr, Mutti?«

»Ja, Nick.« Denise legte den Kragen ihre Mantels um. Unter ihrer dicken Wollmütze quollen einige dunkle Locken hervor. Ihre Wangen waren von der Kälte so rissig wie die eines Kindes. Sie sah reizend und jung aus, aber Nick spürte, dass die Ankunft des Halbwaisen Robby Thalmann sie bedrückte.

Jetzt leuchteten zwei Autoscheinwerfer durch die kahlen Bäume des Parks. Sehr schnell näherte sich ein Sportwagen. Er bremste so gekonnt, dass es auch bei ihm nicht zu der erwarteten Rutschpartie kam.

Die beiden Personen, die ausstiegen, machten keineswegs einen so bedrückenden Eindruck, wie Denise von Schoenecker erwartet hatte. Der Junge sah nur ein wenig blass aus.

Bernd Thalmann war ein etwas behäbiger, sympathischer Mann. Von ihm ging die vertrauenerweckende Ausstrahlung eines großen Jungen mit dem Herzen eines Löwen aus. Denise dachte sofort: Wie mag wohl seine Frau ausgesehen haben?

Der Besucher trug einen dicken Ledermantel mit Pelzfutter und eine Pelzmütze. Aus seinem Mund strömten ganze Dampfwolken, als er Denise höflich begrüßte und seinen Sohn vorstellte.

Justus kam sofort und wollte beim Gepäck tragen helfen, aber Bernd Thalmann lehnte das ab. Er übernahm die großen Stücke allein. Die Kleinigkeiten musste sein Sohn tragen.

»Robby ist ein patenter kleiner Kerl«, sagte er gutgelaunt. »Sie dürfen ihn nicht allzu sehr verwöhnen.«

»Keine Angst«, entfuhr es Nick. Die freundliche Art dieses Mannes nahm ihm jede Schau. Zugleich sah er, dass seiner Mutter einige Steine vom Herzen fielen.

Die beiden Besucher betraten das Haus, legten ihre Mäntel ab und begrüßten Frau Rennert. Die Heimleiterin ließ für Herrn Thalmann einen heißen Tee kommen und schlug vor, Robby zunächst sein Zimmer zu zeigen. Danach könne er den anderen Kindern im Aufenthaltsraum vorgestellt werden. Dort gäbe es Tee mit Kandiszucker und Milch oder Zitrone.

Robby lächelte Denise voller Vertrauen an. Jetzt, da er ohne Pudelmütze vor ihr stand, sah er nicht mehr ganz so zart aus. Aber aus seinem Gesicht sprach Sensibilität und Klugheit sowie ein wacher Verstand.

Er wird sich gut mit den anderen verstehen, dachte Denise. Sie sah ihm nach, als er neben Nick die Treppe emporging, um sein Zimmer anzuschauen. Sie folgte den beiden mit seinem Vater.

Denise sah sofort, dass ihre Ängste umsonst gewesen waren. Bernd Thalmann machte wirklich nicht den Eindruck eines ängstlichen und überbesorgten Vaters. Er schien ein gesundes Selbstvertrauen zu haben und verfügte über eine gehörige Portion Humor.

»Donnerwetter«, staunte er, »hier ist es ja wie in einem piekfeinen Hotel.«

Sie traten in das Zimmer ein, das Robby mit Knut Willig teilen sollte, dessen Eltern in Scheidung lebten. Im Moment saß dieser Junge unten bei den anderen Kindern.

Robby schritt lächelnd durch das behagliche Zimmer. Man sah ihm an, dass er sich nicht vor der neuen Umgebung fürchtete. Er strich spielerisch über sein Bett, dann über das seines Zimmerkameraden. Ein verträumtes Lächeln lag auf seinen schön geschwungenen Lippen. »Es ist schön hier, Papsi«, sagte er.

Jetzt merkte Denise doch, dass Bernd Thalmann der Abschied von seinem Jungen nicht leichtfiel. Offensichtlich kämpfte er gegen eine heftige Gemütsbewegung an. Sein mächtiger Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar und den grauen Schläfen neigte sich zu Robby hinab. »Nicht wahr?«, sagte er mit seiner rauen Stimme. »Hier wirst du es aushalten können.«

»Ja, Papsi.« Robby umarmte seinen Vater und schmiegte sein Gesicht an ihn.

Nick wandte sich ab und schnupperte. Dann verkündete er: »Unsere Köchin Magda hat einen neuen Trick, Robby. Sie legt die Weihnachtsplätzchen noch einmal in den Ofen. Dann werden sie noch besser als zur gesegneten Adventszeit.«

»Ist das wahr?«, fragte Robby und strahlte. »Wollen wir sie probieren?«

Ohne sich noch einmal nach seinem Vater umzusehen, rannte er hinter Nick her.

*

»Ich möchte nicht zu spät nach Hause kommen, Frau von Schoenecker«, sagte Bernd Thalmann, als er zusammen mit Denise das Biedermeierzimmer betrat, wo inzwischen der Tee für die beiden Erwachsenen serviert worden war. »Aber meine Frau wird schon Verständnis dafür haben, dass ich Ihren Tee und die Weihnachtsplätzchen nicht unprobiert lassen konnte.«

»Ihre Frau?« Denise sah ihn überrascht an. »Lebt sie denn? Ich hatte Sie am Telefon so verstanden, dass Sie nun mit dem Jungen ganz allein seien.«

Der Produktionsleiter hatte ein freundliches, offenes Gesicht. Zu seinem Sporthemd trug er keine Krawatte, sondern einen Pullover, aus dem der Kragen heraussah. Als er sich nun räusperte, fingerte er verlegen daran herum.

»Ja, Frau von Schoenecker. Sie haben mich falsch verstanden. Meine Frau lebt, Gott sei Dank. Aber seit dem Tod unseres Sohnes Rolf, Robbys Zwillingsbruder, ist sie ganz verändert.«

»Das ist doch verständlich, Herr Thalmann.«

Denise sah auf ihre gepflegten Hände und überlegte. Ein kalter Schauer rieselte ihr den Rücken entlang bei dem Gedanken, wie sie sich wohl verändern würde, wenn eines ihrer Kinder von einem zum anderen Tag … Aber nein, daran konnte sie gar nicht denken.

»Rolfs Tod hat uns beide sehr getroffen, Frau von Schoenecker. Aber bei Renate kommt noch etwas anderes hinzu. Sie macht sich sehr große Vorwürfe. Sie glaubt, am Tod unseres Sohnes schuld zu sein.«

»Hat sie das Auto gelenkt, als der Unfall geschah?«

Bernd Thalmann schüttelte den Kopf. »Nein. Als die Buben zur Schule kamen und selbstständiger wurden, bildete meine Frau sich ein, von uns drei Männern nicht mehr so sehr gebraucht zu werden. Außerdem fühlte sie sich in dem Villenviertel, in dem wir einen Bungalow bewohnen, etwas einsam. Natürlich hatte sie recht. Aber ich konnte ihr trotzdem ausreden, wieder in ihren Beruf als Sekretärin zurückzukehren. Außer Robby und Rolf gibt es nämlich kaum Kinder bei uns. Die beiden wären völlig sich selbst überlassen gewesen und hätten keinen gehabt, der sie nachmittags betreut hätte.«

»Es sind doch zwei«, unterbrach Denise ihn.

»Ja, es sind immer zwei gewesen«, berichtigte Bernd Thalmann. »Und sie hingen aneinander wie Pech und Schwefel. Zuweilen machten meine Frau und ich uns schon Sorgen, was werden würde, wenn die beiden erwachsen sein würden.«

Ein schmerzliches Lächeln machte das Gesicht des Besuchers noch sympathischer. Er griff nach einem der guten Plätzchen und biss kräftig hinein. Dann fuhr er fort: »Schließlich einigte ich mich mit meiner Frau auf einen Kompromiss. Renate blieb vorerst zu Hause, nahm aber an einem Fernkurs teil, der ihr später den Wiedereintritt in den Beruf erleichtern sollte. Renate nahm das alles sehr ernst. Vielleicht träumte sie von einem Job bei einem Generaldirektor, vielleicht wollte sie eines Tages mehr verdienen als ich, auf jeden Fall mussten die Jungen ihr manche Arbeit im Haushalt abnehmen, unter anderem auch das Einkaufen.«

»Das ist doch ganz richtig, Herr Thalmann«, warf Denise ein. »Wenn die Kinder groß sind, suchen viele Frauen nach einer anderen Aufgabe. Für mich ist es selbstverständlich, dass ihnen die Familie dabei hilft. Aber erzählen Sie bitte weiter.«

Bernd Thalmann ließ sich eine zweite Tasse Tee einfüllen, kaute an einem Zuckergussplätzchen und überlegte lange.

»Meine Frau hat Rolf meistens mit den schwierigeren Aufgaben betraut«, berichtete er schließlich. »Sie hielt ihn immer für flinker und robuster. Robby war in ihren Augen ein verträumter, schwächlicher Junge mit sehr viel Herz und dem gleichen nervösen Ehrgeiz, den sie selbst auch aufbringen kann. Eines Abends meldete ich mich telefonisch und kündigte an, Besuch mitzubringen. Renate hatte den ganzen Nachmittag über ihren Büchern gesessen. Sie jammerte, dass sie sich noch die Haare waschen müsse. Aber dann schickte sie Rolf zum Lebensmittelhändler. Er musste eine ganze Liste von Esswaren besorgen. Mit den schweren Taschen war er überfordert. Der nächste Wagen, der heransauste, rutschte über die feuchten Herbstblätter am Boden. Rolf war sofort tot.«

Denise schloss die Augen. Sie konnte jetzt vieles verstehen.

»Sie hat aber doch keine Schuld, Herr Thalmann.«

»Natürlich hat sie keine Schuld«, erwiderte er. »Aber sie steigert sich da hinein und sieht in Robby einen Sohn, der immer zu verträumt und zu schwach war, um Aufgaben zu übernehmen, und sogar zu zart, um in den Tod zu laufen.«

Denise schluckte. Sie sah sich in ihrem geliebten Biedermeierzimmer um, als wäre es ihr plötzlich ganz fremd. In diesen vier Wänden hatte sie schon so viel Erschütterndes erfahren, dass sie sich wunderte, wie gern und wie oft sie hier saß.

»Und deswegen soll Robby vorerst bei uns bleiben, Herr Thalmann? Ist das der einzige Grund?«

»Reicht er nicht aus?«, fragte der Besucher fast aggressiv zurück.

»Doch«, erwiderte Denise schnell. »Hier wird Ihr Sohn genügend Spielkameraden haben, die seinen Bruder nicht kannten. Er wird bei uns wie alle anderen Kinder wieder glücklich werden.«