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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Es war kurz nach halb sieben, als der letzte Kunde die kleine Löwenapotheke verließ. Frau Dr. Eveline Dehnhoff begleitete ihn bis zur Tür, um sie gleich nach ihm abzuschließen. Es war ein fast komischer Seufzer, der sich jetzt ihrer Brust entrang. Frau Dr. Dehnhoff war nicht die Frau, die zum Leiden neigte. Ihr ganzes Leben war voller Aktivität gewesen. Als ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, hatte sie die Leitung der Apotheke bald danach ganz allein übernommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag in ihrem hübschen Haus zu verbringen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Nein, das konnte sie wirklich nicht. Aber an diesem Tag war etwas geschehen, was sie zum ersten Mal hatte spüren lassen, dass sie doch schon auf Hilfe angewiesen war. Besonders auf Julias Hilfe. Eveline ging daran, die Ladenräume vorschriftsmäßig zu verschließen. Auch dies war eine Aufgabe, die sonst Julia ausführte. Aber Julia hatte mitten am Nachmittag während des größten Geschäftstrubels die Apotheke plötzlich verlassen, als widere sie der Betrieb auf einmal an. Nachdem alles Nötige getan war, zog Eveline Dehnhoff ihren Kittel aus, hängte ihn an einen Haken und stellte sich vor einen kleinen Spiegel. Obwohl sie schon bald fünfzig wurde, war ihr Gesicht noch straff und ihre Haut nur von einigen feinen Fältchen durchzogen, die eine gehörige Portion Humor und eine fast ständige Lachbereitschaft verrieten. Während sie mit einem Kamm durch ihre graugesträhnten Haare fuhr, blickte sie sich einen Moment fragend an, als erwarte sie von ihrem Spiegelbild eine klare Auskunft. Wie sollte sie sich Julia gegenüber verhalten? Sollte sie ihr Vorwürfe machen?
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Es war kurz nach halb sieben, als der letzte Kunde die kleine Löwenapotheke verließ. Frau Dr. Eveline Dehnhoff begleitete ihn bis zur Tür, um sie gleich nach ihm abzuschließen. Es war ein fast komischer Seufzer, der sich jetzt ihrer Brust entrang. Frau Dr. Dehnhoff war nicht die Frau, die zum Leiden neigte. Ihr ganzes Leben war voller Aktivität gewesen. Als ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, hatte sie die Leitung der Apotheke bald danach ganz allein übernommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag in ihrem hübschen Haus zu verbringen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Nein, das konnte sie wirklich nicht.
Aber an diesem Tag war etwas geschehen, was sie zum ersten Mal hatte spüren lassen, dass sie doch schon auf Hilfe angewiesen war. Besonders auf Julias Hilfe.
Eveline ging daran, die Ladenräume vorschriftsmäßig zu verschließen. Auch dies war eine Aufgabe, die sonst Julia ausführte. Aber Julia hatte mitten am Nachmittag während des größten Geschäftstrubels die Apotheke plötzlich verlassen, als widere sie der Betrieb auf einmal an.
Nachdem alles Nötige getan war, zog Eveline Dehnhoff ihren Kittel aus, hängte ihn an einen Haken und stellte sich vor einen kleinen Spiegel. Obwohl sie schon bald fünfzig wurde, war ihr Gesicht noch straff und ihre Haut nur von einigen feinen Fältchen durchzogen, die eine gehörige Portion Humor und eine fast ständige Lachbereitschaft verrieten. Während sie mit einem Kamm durch ihre graugesträhnten Haare fuhr, blickte sie sich einen Moment fragend an, als erwarte sie von ihrem Spiegelbild eine klare Auskunft. Wie sollte sie sich Julia gegenüber verhalten? Sollte sie ihr Vorwürfe machen? Oder sollte sie ihre Tochter fragen, was sie eigentlich bewogen habe, sich mitten im größten Geschäftsbetrieb einfach davonzuschleichen? Ob sie krank war?
Eveline schloss die Tür der Apotheke noch einmal auf, um nun selbst ins Freie zu treten. Von außen brauchte sie drei Schlüssel, um abzuschließen. Dann aber trat sie mit leichtfüßigen Schritten in den kühlen Märzabend hinaus. Schon nach einigen hundert Metern stand sie vor ihrem Grundstück.
Die Gartenpforte war nur angelehnt, in der altmodischen kleinen Villa brannte Licht. Dort saß Julia. Eveline wusste es. Seit ihr einziges Kind zu ihr zurückgekehrt war, bewohnte sie dieses hübsche Häuschen zusammen mit Julia. Zwischen Mutter und Tochter war es noch nie zu einem Streit gekommen, seit Julia ihren Ehemann verlassen hatte und nun in der elterlichen Apotheke ihrem erlernten Beruf nachging.
»Julia?«, rief Eveline leise, als sie das Haus betrat. Als niemand antwortete, stellte sie ihren Schirm ab, zog ihren sportlichen Mantel aus und trat dann ins Wohnzimmer.
Im Kamin knisterte ein wärmendes Feuer. Davor saß Julia in einem Schaukelstuhl und drehte ihrer Mutter den Rücken zu.
»Na, reizend!« Eveline sagte es fast spöttisch. Dann setzte sie sich ihrer Tochter gegenüber und blickte genauso sinnend ins Feuer. Aber das hielt sie nicht lange aus. Sie erhob sich wieder und holte sich eine Zigarette.
»Ach bitte, Mutti…« Fast wehmütig lächelnd streckte nun auch Julia ihre Hand nach der Schachtel aus. Die beiden Frauen waren gewohnt, sich untereinander mit nur wenigen Worten zu verständigen. Sie kannten sich zu gut, um irgendwelche abgedroschenen Höflichkeitsfloskeln benutzen zu müssen.
Eveline hatte sich wieder gesetzt. Schweigend nahm jede der Damen einige Züge.
Julia war eine hübsche Frau. Das konnte Eveline ohne Mutterstolz feststellen. Ihr halblanges, kastanienbraunes Haar fiel weich und ungekünstelt herab. Dichte Ponyfransen verdeckten in einem Bogen die Stirn und betonten Julias grünliche Augen, die durch die langen Wimpern wie von einem feinen Strich umrandet waren. Julias Mund war dagegen fast etwas zu groß. Aber ihre wohlgeformten Lippen waren glatt und jugendlich. Nur an den Mundwinkeln zogen sie sich ein wenig nach unten. Dort sah man, dass Julia Erfahrungen gemacht hatte, an denen sie noch immer litt.
»Wenn du mich das nächste Mal einfach so hinter dem Ladentisch sitzen lässt, dann sage bitte vorher Bescheid.«
»Verzeih, Mutti.« Mehr sagte Julia nicht.
Eveline unterdrückte jeden Vorwurf. Dass Julia weder krank noch müde war, das sah sie mit geübtem Auge.
Aber sie ahnte auch, was ihre Tochter quälte. Sie kannte ja diesen hoffnungslosen Blick von Julia, dieses deprimierende Schweigen, das so ganz anders war als das, was sonst zwischen ihnen bestand. Dieses Schweigen hatte nichts mit einem heiteren Einverständnis zu tun. Es drückte Kummer aus, tiefen Kummer.
Frau Dr. Dehnhoff hatte nie den Anspruch erhoben, die beste Freundin ihrer Tochter zu sein. Solche Sentimentalitäten lehnte sie ab. Julia war ihre erwachsene Tochter, weiter nichts. Ein Mensch, der eine glückliche Kindheit und eine erstklassige Erziehung genossen hatte. Ein Mensch, dessen Intelligenz und Verantwortlichkeit vollauf genügte, um mit beiden Beinen im Leben zu stehen, um Fehler zu machen, sie einzusehen und in Zukunft zu vermeiden.
Eveline warf einen letzten mürrischen Blick auf Julia und drückte ihre Zigarette aus. Dann erhob sie sich und ging in die hübsche Küche. Sie hatte Hunger und wollte für sich und Julia Abendbrot richten.
Gerade, als Eveline vier Eier in kochendes Wasser gelegt hatte, stand Julia in der Küche. »Verzeih, Mutti«, sagte sie noch einmal, und diesmal klang echtes Bedauern aus ihrer Stimme. »Ich bin so schnell gegangen, weil Frau Witt mich nach Guido gefragt hatte.«
Blitzschnell drehte Eveline sich zu ihrer Tochter um. »Frau Witt? Die von dem Möbelgeschäft? Was weiß die denn von Guido?«
»Sie hat ihn in Stuttgart als ›Prinz von Homburg‹ gesehen. Irgendjemand hat ihr erzählt, dass er mein Mann ist.«
»Ach, Gottchen!«, stieß Eveline belustigt hervor. »Und deswegen musst du gleich türmen?« Als Julia jedoch nicht antwortete, fuhr sie heiter plaudernd fort: »Was willst du eigentlich, Julia? Dass Guido dein Mann ist, weißt du seit fünf Jahren. Dass er nicht der richtige Mann ist, weißt du seit zwei Jahren. Wenn du mit ihm verheiratet bleiben willst, obwohl du ihn seit zwei Jahren nicht mehr wiedergesehen hast, bitte schön. Du wirst deine Gründe haben. Aber dann halte dein Herz auch fest, wenn es zu taktlosen Bemerkungen kommt. Schließlich ist Guido Staal ein berühmter Schauspieler.
Eveline wusste ja, wie sehr Julia unter der Ehe mit Guido gelitten hatte. Ihr kopfloses Verhalten am Nachmittag zeigte, dass sie noch immer litt. Aber konnte sie ihr helfen? Konnte sie ihr raten, sich scheiden zu lassen?
»Dr. Fechter war noch da«, warf Eveline schnell hin, um das Schweigen zwischen ihnen nicht allzu lastend werden zu lassen. »Er lässt dich grüßen.«
Über Julias Gesicht huschte ein kleines Lächeln. Sie ergriff den Wasserkessel und setzte Teewasser auf. »Ach, Dr. Fechter…«
»Dr. Fechter ist ein Mann, nach dem sich alle Mädchen der Stadt die Finger lecken, Julia«, begehrte Eveline auf. Sie musste zugeben, dass ihr der junge Tierarzt noch vor einigen Jahren selbst hätte gefährlich werden können. Denn obwohl sie mit Julias Vater bis zum Schluss eine glückliche Ehe geführt hatte, war sie doch den Freuden des Lebens sehr zugetan gewesen. In aller Anständigkeit natürlich. »Ich lecke mir aber nicht die Finger nach einem Mann, Mutti. Einmal und nicht wieder.«
»Sprich nicht so, Julia. Du bist erst sechsundzwanzig. Du musst doch nicht deshalb, weil Guido an anderen Mädchen Gefallen gefunden hat, gleich versauern.«
Ein energisches Klingeln unterbrach Evelines temperamentvolle Rede.
»Hoffentlich ist das nicht wieder Jochen Fechter«, schimpfte Julia und ging zur Tür.
Es war nicht Dr. Fechter. Es war der Eilbote. Er überreichte Julia ein Einschreiben. Sie unterschrieb mit Julia Staal, wie sie es gewohnt war. Dann ging sie mit dem Brief in die Küche zu ihrer Mutter. Ein Instinkt sagte ihr, dass sie nicht allein sein sollte, wenn sie den Umschlag öffnete.
Eveline unterbrach ihre Tätigkeit nicht, als ihre Tochter auf einen Stuhl sank. Julia war blass geworden, ihre Lippen bebten. »Guido…«, stammelte sie verwirrt und betroffen. »Guido will die Scheidung.«
»Na, endlich.« Eveline atmete auf, obwohl sie sah, wie sehr Julia unter dieser Nachricht litt.
Julia verließ wortlos die Küche. Langsam stieg sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort – in ihrem Zimmer – ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Den Brief presste sie dabei an ihre Brust. Es dauerte sehr lange, bis sich die ersten Tränen aus ihren Augen lösten. Eine Welt brach für sie zusammen. Es gab nun keine Hoffnung mehr für sie. Guido liebte sie nicht mehr. Wild schluchzend verbarg Julia mit den Armen ihre Augen.
*
»Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Staal.« Guidos Anwalt war ein rundlicher Mann mit einem freundlichen Gesicht und einer dunklen Hornbrille. »Ihnen natürlich auch, Frau Staal«, fügte er schnell hinzu.
Alles Gute? Konnte man Frischgeschiedenen alles Gute wünschen? Nachdenklich sah Julia ihm nach, als er den langen Flur des Justizgebäudes entlangeilte.
Guido riss Julia aus ihren Gedanken. »Du siehst sehr gut aus, Julia. Es geht dir bestimmt gut bei deiner Mutter, nicht wahr?«
Julia blickte ihn an. Guido war ein schöner Mann. Sein hellbondes Haar fiel ihm wie einem kleinen Jungen frech ins Gesicht, und seine blitzblauen Augen strahlten mit einer fast hypnotischen Kraft unter den blonden Strähnen hervor. Er lachte. Sein kraftvoller Charme hatte etwas Bezwingendes. Julia konnte nicht glauben, dass sie seit zehn Minuten von ihm geschieden war, dass nun endgültig alles zu Ende sein sollte.
Julia schnürte den Gürtel ihres
Trenchcoats enger und bemühte sich, Guidos Blick ruhig und überlegen zu erwidern. »Ja, es geht mir gut. Die Arbeit macht mir Spaß.«
»Und deine Mutter? Geht sie dir nicht auf die Nerven?«
Langsam schlenderten die beiden auf den Ausgang des Gerichtes zu. Julia schüttelte den Kopf. »Es ist wohl eher umgekehrt.«
»Und hast du Freunde, Bekannte? Menschen, mit denen du sprechen kannst?«
Irgendwie rührte es Julia, wie sehr er sich plötzlich, nach über zwei Jahren, für ihr Leben interessierte. Beinahe hätte sie seine Hand genommen und sich bei ihm bedankt. Er, der strahlende, witzige Held, der begnadete Schauspieler, der Mann ihrer Träume, interessierte sich für sie, die kleine Frau, die sich so elend fühlte.
»Ich habe außer meiner Mutter noch einige Freunde. Schulfreundinnen und deren Männer. Es ist sehr nett.«
Guido blieb stehen. »Nett? Ich stelle es mir schrecklich langweilig vor. Ein Freundeskreis in der Provinz…«
Julia wollte ihm widersprechen, aber sie kam nicht dazu. Guido ergriff ihren Arm, schubste sie in eine Nische und verdeckte ihr die Aussicht, indem er sie umschlang. Über seine Schulter hinweg konnte sie gerade noch einen jungen Mann durch die große Schwingtür ins Freie treten sehen.
»Die Typen von der Presse«, sagte Guido. Dann atmete er auf. »Ein Glück, dass ich sie rechtzeitig bemerkt habe.«
Julia löste sich aus seiner Umarmung. Ihr Herz klopfte so stark wie in jenen Tagen, als noch Zärtlichkeit aus diesen Berührungen gesprochen hatte. »Lass uns gehen«, schlug sie schnell vor.
Gemeinsam traten sie aus der großen Tür. Helle Märzsonne umflutete sie, sodass sie die Augen zusammenkniffen. Auf dem großen Platz brauste der Verkehr. Es ging auf Mittag zu.
Unschlüssig stand Julia vor dem Mann, den sie noch immer liebte. Sie wusste, sie würden sich jetzt voneinander verabschieden wie zwei gute Freunde, die sich nach langer Zeit zufällig wiedergetroffen hatten.
Auch Guidos Augen blickten ernst. »Die Summe für das Haus«, sagte er, »die Summe für das Haus ist schon in den nächsten Tagen auf deinem Konto, Julia. Mach keine Dummheiten mit dem vielen Geld.«
Sie beugte sich über ihre Handtasche, um die Sonnenbrille hervorzukramen. Dunkle Gläser vor den Augen würden jetzt Wunder wirken. Nicht nur wegen der Frühlingssonne.
»Wenn du sonst noch etwas aus der Wohnung haben möchtest, Julia, ich meine, irgendetwas, woran dein Herz hängt, dann sage es mir. Unser Haus ist noch immer so eingerichtet, wie du es gewollt hast.«
Etwas, woran mein Herz hängt, dachte Julia, das ist doch nur er, mein strahlender, verwöhnter Guido. Begreift er das nicht?
»Ich brauche nichts, Guido. Mein Leben hat sich geändert und damit auch die Gegenstände in meiner Umgebung.«
»Ich muss jetzt zu den Proben«, sagte Guido. »Willst du nicht mitkommen, wie in alten Zeiten? Du wirst sehen, es ist etwas ganz Modernes. Ich spiele einen richtigen Tölpel.« Er lachte und entblößte zwei Reihen makelloser Zähne. »Einen Tölpel mit Herz. Die Rolle ist mir wie auf den Leib geschrieben.«
»Nein.« Julias Stimme klang ungewohnt energisch. Sie wusste, sie konnte nicht länger in seiner Nähe bleiben. Die Zeiten, in denen sie jedes seiner Worte voller Bewunderung in sich aufgenommen hatte, mussten endgültig vorbei sein.
Julia streckte ihre Hand aus, zwang sich zu einem Lächeln. »Alles Gute, Guido.«
»Auf Wiedersehen, Julia.«
Sie wandte sich ab und eilte den Bürgersteig entlang, als würde sie verfolgt. Bereits nach einigen Metern merkte sie, dass Guido ihr tatsächlich folgte.
»Wir können uns doch nicht einfach so trennen, Julia.« Er blickte sie forschend an.
»Wollen wir nicht wenigstens zusammen zu Mittag essen? In zwei Stunden bin ich frei.«
»Nein, Guido. Ich will den Zug um halb eins bekommen. Mutti steht allein in der Apotheke. Sie braucht mich.« Julia wunderte sich, wie glatt ihr diese Lüge von den Lippen ging.
»Spannt sie dich wirklich so ein?« Es war ihm anzusehen, dass er sich das nicht so recht vorstellen konnte.
»Ja. Aber ich lasse mich gern einspannen.«
Guido Staal schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, vergrub die Hände in den Taschen. Trotzig blickte er zur Seite. Er schien es als eine Herausforderung zu empfinden, dass sie ihm einen Korb gab.
Julia fühlte, wie sie sich schon wieder in Empfindungen verstrickte, die sie sich nicht leisten konnte.
»Wenn wir noch länger hier stehenbleiben, erwischt dich der Typ von der Presse doch noch.«
Julia wusste, dass er immer jede Art von Reklame und Zeitungstratsch gehasst hatte. Sie hoffte nun auf einen letzten, unwiederbringlichen Abschied.
Aber Guido machte keine Anstalten zu gehen. »Ich werde dir noch etwas sagen, Julia«, begann er ernst. »Du warst eine sehr gute Ehefrau. Ich habe dich geliebt. Maßlos geliebt. Wir hätten uns nie auseinander gelebt, wenn du mehr Verständnis für mich gehabt hättest. Aber du warst zu ernst, zu vernünftig. Deine Persönlichkeit war nicht stark genug, um mich vor den Versuchungen meines Berufes zu schützen.«
»Es reicht, Guido. Bitte, schweig!«
Diesmal reichte sie ihm nicht die Hand. Sie tat einen großen Schritt an ihm vorbei, trat an den Bürgersteig, blickte rechts und links und überquerte die Fahrbahn mit einer Ruhe, die sie sich selbst nie zugetraut hatte. Erst nachdem sie auf der anderen Straßenseite einige Geschäftsauslagen betrachtet hatte, drehte sie sich langsam um. Der Platz, an dem sie noch vor Minuten mit ihm gestanden hatte, war leer. Guido war gegangen. Er war ihr nicht gefolgt.
*
Julia wusste nicht, wie lange sie durch die Stadt gelaufen war. Stundenlang, so meinte sie, kämpfte sie schon gegen die Tränen an, die immer wieder in ihr aufstiegen.
Eine alte Frau, die Maroni verkaufte, holte sie auf die Erde zurück.
»Ihre Nase ist schon ganz rot, Fräulein. Hier, heiße Maroni, das weckt die Lebensgeister.«
Julia lächelte schwach und zückte ihr Portemonnaie. Mit der Tüte in der Hand strebte sie dann auf die nächste Parfümerie zu.
»Einen Lippenstift, bitte.« Julia hatte das Gefühl, etwas für sich tun zu müssen, sich zu beweisen, dass sie eine Persönlichkeit war. Während sie die vielen verschiedenen Rottöne prüfte, hörte sie noch einmal Guidos letzte Worte.
Wenn sie keine Persönlichkeit war, warum war sie dann seine Ehefrau geworden? Weil er nur eine Puppe neben sich dulden konnte, ein langweiliges widerspruchsloses Geschöpf, das seine ständigen Eskapaden klaglos über sich ergehen ließ?
Für einen Moment schloss Julia die Augen. Guido war berühmt geworden. Der Erfolg hatte ihn verblendet. Die vielen kleinen Mädchen, die stets voller Bewunderung an seinen Lippen hingen und jede seiner eleganten, kontrollierten Bewegungen verfolgten, hatten seinen Sinn für die Wirklichkeit zerstört. Nein, sie war nicht schuld an der Scheidung. Es war nicht ihre mangelnde Kraft gewesen, die ihre Ehe zerstört hatte. Es war der fehlende Humor gewesen, der Guidos Liebe zu ihr hatte brüchig werden lassen. Sie hätte eben von Anfang an über ihn lachen müssen.
Die Winkel ihrer schönen, vollen Lippen hoben sich. Ein bezauberndes Lächeln machte sich auf ihnen breit.
»Den da nehme ich.« Julia hielt einen Lippenstift in der Hand, dessen helles Orange Guido zur Verzweiflung getrieben hätte. Sie kaufte ihn, um eine späte und vergebliche Rache an ihrem Ex-Ehemann zu üben. Sie würde den Stift nie benutzen, aber sein Besitz sollte sie vor den zärtlichen Erinnerungen an Guido schützen.
Eine halbe Stunde später stand Julia vor dem Theater. Sie hatte sich gezwungen, den Weg zu gehen, den sie früher so oft an Guidos Arm zurückgelegt hatte. Nun stand sie vor dem Schaukasten und blickte den Mann an, mit dem sie so viele Tage und Nächte verbracht hatte.
Guido war schön. Hier stand er als Prinz von Homburg, stolz, intelligent, unnahbar in seiner Sensibilität. Und dort unten war er der unwiderstehliche Komödiant. Auf seiner Oberlippe wuchs ein kleines Bärtchen, das die Frechheit seines Lächelns noch betonte. Julia kannte dieses Lächeln. Es war siegessicher und ironisch, wie das eines Mannes, der niemals einen Gedanken an seinen eigenen Wert verlor.
Julia wandte sich ab. Plötzlich fühlte sie sich einsam. Sie wollte nach Hause. Ihre beiden Zimmer im Hause ihrer Eltern waren jetzt ihre Welt. Sie hatte nichts mehr mit dem Glanz und Glimmer des Theaters zu tun.
Durch kleine Straßen, die den Weg zum Bahnhof abkürzten, schritt Julia mit schmerzenden, kaltgewordenen Füßen. Nichts zwang sie, sich zu beeilen. Aber sie huschte dahin wie eine Krähe, die verscheucht wird und zu schwach ist, um sich in die Lüfte zu erheben. Julia war es gleichgültig. Sie wollte nicht mehr schön und elegant sein. Sie war nicht mehr Guidos Frau, die mit den Kolleginnen und Bewunderinnen ihres Mannes konkurrieren musste.
Plötzlich verlangsamte Julia ihren Gang doch. Dort vorn war ein Antiquitätengeschäft, das sie noch kannte. Oft hatte sie dort herumgestöbert, um etwas für das gemeinsame Haus zu kaufen, das Guido damals erworben hatte.